presse - Council of the European Union

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EUROPÄISCHER RAT
DER PRÄSIDE T
Berlin, den 9. November 2013
EUCO 229/13
PRESSE 466
PR PCE 204
"EUROPA ACH DEM FALL DER MAUER"
Rede von Herman Van Rompuy
Präsident des Europäischen Rates
In seiner heutigen Rede anlässlich des Jahrestages des Falls der Berliner Mauer hat
Präsident Herman Van Rompuy dargelegt, wie die dramatischen Ereignisse Ende 1989
Deutschland und Europa insgesamt verändert haben und wie das, was damals in Gang
gesetzt wurde, noch heute unser Handeln und unsere Debatten bestimmt. Und wie wir
immer noch dabei sind, das ‘Europa nach dem Fall der Mauer’ zu gestalten.
Präsident Van Rompuy legte den Schwerpunkt auf drei Dinge, die nach dem 9. -ovember
1989 beschlossen wurden: Euro, Freizügigkeit für alle EU-Bürger und Europas
Außenpolitik.
Zu Euro und Wirtschaft äußerte sich Präsident Van Rompuy wie folgt: "Die Rettung des
Euro sowie die Stabilisierung und Festigung des Euro-Raums: das wird das Vermächtnis
meiner Generation europäischer Politiker ausmachen." -Er betonte, wie wichtig es
angesichts der immer stärkeren globalen Wettbewerbsfähigkeit ist, dass "ausnahmslos"
alle europäischen Länder Reformen durchführen.
In diesem Zusammenhang sagte er über Deutschland: "Deutschland hat in den letzten
Jahren eine entscheidende Rolle im Euro-Währungsgebiet gespielt. Sie haben sich nicht
nur zum Euro bekannt, Sie dürften wohl auch der stärkste Befürworter wirtschaftlicher
Reformen gewesen sein – Sie haben dabei vor Risiken gewarnt und wirtschaftliche
Weitsicht in die europäische Debatte gebracht. Dafür möchte ich Ihren führenden
Politikern meine Anerkennung aussprechen. Ihr Land steht vor seinen eigenen
vorhergesagten Risiken und Herausforderungen für die Zukunft. Damit diese Prognosen
morgen nicht Realität werden, muss Ihr Land heute mutig handeln. Führung ist dann am
überzeugendsten, wenn man mit gutem Beispiel vorangeht – dies gilt für Ergebnisse wie
auch für Reformen."
PRESSE
Dirk De Backer - Sprecher des Präsidenten - ( +32 (0)2 281 9768 - +32 (0)497 59 99 19
Preben Aamann - Stellvertretender Sprecher des Präsidenten - ( +32 (0)2 281 2060 - +32 (0)476 85 05 43
[email protected] http://www.european-council.europa.eu/the-president
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Präsident Van Rompuy ging auch auf den in vielen Ländern auftretenden Populismus ein.
"Populismus: ein Ventil für Wut und Feindseligkeit, das Versprechen einer
wiederhergestellten Identität, die Illusion, dass mit dem Schließen des Zauns die Zeit
zurückgedreht werden kann, die Lüge, dass man auf dem globalen Markt ohne
Anstrengungen bestehen kann ...."
Um dieser Situation zu begegnen, lautet die "erste und grundlegende Antwort: Ergebnisse.
Wir befinden uns ohne Zweifel in einer schwierigen Phase, doch wir sind auf dem richtigen
Weg. Am Ende sind die Menschen am besten mit Ergebnissen zu überzeugen. Wenn das
Wachstum zurückkehrt, wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn zu spüren ist,
dass die Anstrengungen, die die Gesellschaft und die Regierungen – sowohl allein als auch
gemeinsam als Europäische Union – unternehmen, sich auszahlen."
Die Menschen zu überzeugen, ist aber nach Ansicht von Präsident Van Rompuy nicht
allein eine Frage der Wirtschaft, es ist auch eine Frage der Worte: "Führende Politiker
müssen die Wahrheit sagen. Eine dieser Wahrheiten lautet, dass es keine schnellen
Lösungen gibt, dass Reformen in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung Zeit
brauchen. Eine weitere Wahrheit lautet, dass die Lösung der Krise letztendlich nicht in
neuen Finanzinstrumenten (Fonds oder Bonds) und auch nicht in der Rückkehr zu
nationalen Währungen, sondern in den Veränderungen bei der realen Wirtschaft liegt.
Und noch eine Wahrheit: Die Kosten wären, gäbe es kein Europa, nicht zu tragen. Wer
behauptet, sein Land könne allein erfolgreich sein, der verbreitet Illusionen.
In seinen Äußerungen über die jüngsten Bedenken wegen der Freizügigkeit aller EUBürger und der Zuwanderung nannte Präsident Van Rompuy das Recht auf Freizügigkeit
ein "Zeichen von Zivilisation". "Wie jedes Recht wird auch dieses von einigen missbraucht.
Das ist äußerst bedauerlich. Doch dies sollte kein Grund sein, das Recht zu beschneiden,
sondern vielmehr ein Grund, den Missbrauch dieses Rechts zu bekämpfen. Die nationalen
und kommunalen Behörden verfügen hierfür über die erforderlichen Mittel und rechtlichen
Möglichkeiten – und die EU tut alles, um ihnen beizustehen." Und er fügte hinzu: "Und
vergessen Sie nicht, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU in alle Richtungen
funktioniert: so lassen sich beispielsweise für jeden polnischen Arbeitnehmer, der in der
Hauptstadt eines europäischen Landes arbeitet, wiederum zwei Bürger dieses Landes an
der spanischen Küste antreffen."
Im Laufe seiner Rede stellte der Präsident nicht nur die Politik und die Beschlüsse der EU
in den Mittelpunkt, sondern auch die konkreten Erfahrungen der Menschen des Kontinents.
"Eine zentrale Frage lautet nämlich: Ist Europa einfach ein Raum, ein Gebiet, in dem man
sich bewegt, oder auch ein Ort, der Heimat ist, an dem wir uns zu Hause fühlen können?"
Abschließend brachte Präsident Van Rompuy seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Europa
eines Tages nicht nur ein Raum der Freiheit und der Möglichkeiten, sondern auch ein
Heimatort sein kann, ein Ort, an dem sich alle heimisch fühlen – "Osteuropäer,
Westeuropäer, -ordeuropäer, Südeuropäer und 'neue' Europäer."
Diese vierte Berliner "Europa-Rede" fand im Allianz-Forum am Pariser Platz statt und
wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung Zukunft Berlin und der RobertBosch-Stiftung veranstaltet.
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I. Einleitung
Es ist eine große Freude und Ehre, hier in Berlin zur Erinnerung an den 9. November eine
Rede halten zu dürfen.
Vor drei Jahren schon war ich in Berlin zum selben Anlass. Jedoch hielt ich meine Rede an
einem anderen Ort, im Pergamon Museum. Umgeben von olympischen Göttern und
antiken Statuen – es war sehr beeindruckend. Heute nehme ich ein anderes Umfeld wahr,
eine andere Perspektive…Wir haben die Antike verlassen und befinden uns stattdessen im
18. Jahrhundert, als dieser wunderschöne Platz gebaut wurde.
Schon sein Name, den er einige Jahre später erhielt, als Ihre Stadt sich von den
Napoleonischen Kriegen erholte, zeugt von einem Moment des Stolzes Preußens. Auch
wenn der Name Pariser Platz eindeutig diplomatischer ist als das Londoner Pendant für
die gleiche Schlacht ... Waterloo Station…!
Für Sie, Berliner und Berlinerinnen, die Sie heute hier sind, erinnert der "Pariser Platz" an
die jüngere Geschichte. Und bestimmt an den Tag, an dem wir den Mauerfall feiern. Von
hier aus können wir fast das Brandenburger Tor sehen, wo sich vor 24 Jahren abends um
21.30 Uhr der Durst nach Freiheit Bahn brach.
Ich habe es bereits vor drei Jahren gesagt, aber ich werde es heute wiederholen: Für mich
ist der 9. November 1989 der vielleicht wichtigste Wendepunkt nicht nur für Deutschland,
sondern auch für unsere jüngere europäische Geschichte.
Deshalb habe ich die Einladung der Organisatoren, heute hierher zu kommen, gerne
angenommen und danke ihnen allen. Ich hoffe, Sie erlauben mir, einer Person besonders zu
danken, dem Präsidenten Hans-Gert Pöttering. Als ehemaliger Präsident des
Europäischen Parlaments und dessen dienstältestes Mitglied ist er zudem die treibende
Kraft hinter dem "Haus der europäischen Geschichte" in Brüssel, in dem bald die
Geschichte erzählt wird, warum wir Europäer uns zusammengeschlossen haben und
warum wir uns weiter zusammenschließen müssen. Vielen Dank.
II. Europa nach dem Fall der Mauer
Ein europäischer Premierminister formulierte es damals folgendermaßen: "Die Geschichte
galoppierte reiterlos, wie ein durchgegangenes Pferd, durch die -acht des Mauerfalls."
Die Geschichte – "reiterlos, wie ein durchgegangenes Pferd": wie bekommt man die Zügel
der Geschichte wieder in die Hand, wie kann ihre Kraft genutzt werden?
Die Ereignisse der letzten Monate des Jahres 1989 scheinen vielleicht schon weit
zurückzuliegen. Doch was damals in Gang gesetzt wurde, formt nach wie vor unsere
heutige Welt. Der Fall der Berliner Mauer beendete die -achkriegszeit. Und läutete "die
Zeit nach dem Fall der Mauer" ein. Und wir in Europa befinden uns heute noch in dieser
Zeit.
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Der 9. November führte zu einem vereinten Deutschland und zu einem stärker vereinten
Europa. Politisch verlief die Wiedervereinigung Deutschlands äußerst rasant. In nur elf
Monaten vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung. Allein schon dieses Tempo war
atemberaubend. Bei der Gesellschaft, bei den Menschen dauerte es jedoch länger, bis
dieser tiefgreifende Wandel in ihr Bewusstsein drang. Es bedurfte einiger Zeit und
gewisser Anstrengungen, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln, bis alle sich
in dem neuen Deutschland wirklich heimisch fühlen konnten. Manchmal herrschte
Ostalgie, manchmal auch Westalgie. Nach und nach aber wurde das 'neue Deutschland'
ganz einfach zum 'Deutschland' für alle.
Vor einem Monat – ich glaube, es war in Stuttgart – sprach Bundespräsident Gauck
darüber, dass Ihr Land stolz auf das ist, was Sie gemeinsam –"Ostdeutsche, Westdeutsche
und Neudeutsche, alle zusammen" – seitdem erreicht haben.
Nehmen wir uns einen Moment Zeit, näher darauf einzugehen, wie sich dieser Prozess für
Europa als Ganzes abgespielt hat. Er war in seiner Tragweite genauso tiefgreifend, jedoch
vielleicht schwerer fassbar, da er sich im Schatten der Ereignisse in Deutschland und über
einen längeren Zeitraum vollzog. Eigentlich sind wir in Europa noch mitten in der
Bewältigung dieser neuen Lage. Wir haben den Zeitpunkt noch nicht erreicht, an dem wir
sagen können: " Das 'neue' Europa ist genau das geworden, nämlich das 'Europa' für alle."
Auch in Europa liefen die politischen Ereignisse in einem erstaunlichen Tempo ab.
Innerhalb von vier Jahren wurde 1993 aus der alten Wirtschaftsgemeinschaft (der
Europäischen Gemeinschaft) eine politische Union (die Europäische Union). Im Juni jenes
Jahres erklärten sich die Staats- und Regierungschefs der damaligen zwölf westlichen
Mitgliedstaaten bereit, die Länder im Osten, die hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt
gewesen waren, in der Union willkommen zu heißen. Es war keine Wieder-Vereinigung,
dennoch eine Vereinigung!
Und am 1. November 1993 wurde mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht (oder
des Vertrags über die Union) der Weg für die Unionsbürgerschaft, die einheitliche
Währung und die gemeinsame Außenpolitik geebnet. Ein revolutionärer Wandel, der sich
damals ohne die Ereignisse von 1989 nicht vollzogen hätte.
So kam es also: Vom Mauerfall bis zur Europäischen Union.
Doch – ebenso wie die Deutschen – brauchen die Europäer, die Menschen und die
Gesellschaft Zeit, um mit diesen neuen Realitäten wirklich zurechtzukommen und sich in
diesem neuen Europa nach dem Fall der Mauer wirklich heimisch zu fühlen. Eigentlich
benötigen sie viel mehr Zeit, als die Menschen in Deutschland gebraucht haben.
Auch im Fall Europas können wir Formen von -ostalgie sehen: Sehnsucht nach der
trauten Gemeinschaft der Zwölf, nach den Tagen des Französischen Franc, der D-Mark,
der Lira oder des Niederländischen Gulden. Doch keiner träumt von der Rückkehr in die
Zeit vor 1989. Das Europa nach dem Fall der Mauer befindet sich nach wie vor im Aufbau.
Die von mir erwähnten großen Veränderungen – Währung, Unionsbürgerschaft,
Erweiterung und unsere gemeinsame Stimme in der Welt – werden heute, nach zwanzig
Jahren, immer noch weiter ausgestaltet und sind weiterhin Gegenstand von Debatten. Und
von diesen Veränderungen möchte ich heute sprechen.
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III. Euro-Raum und Wirtschaft
Ich möchte heute Morgen darüber sprechen, wie wir dieses neue Europa nach dem Fall der
Mauer noch immer gestalten. Ich werde dabei auf drei Themen zu sprechen kommen:
–
was es bedeutet, eine gemeinsame Währung zu haben;
–
was es bedeutet, sich frei in jedem Land der EU bewegen und dort leben zu
dürfen;
–
was wir bräuchten, um unserem ganzen Gewicht in der Welt Geltung zu
verschaffen.
Dabei will ich nicht nur auf die Politik und die politischen Weichenstellungen eingehen,
sondern auch auf die Erfahrungen der Menschen in diesem neuen Europa.
Lassen Sie mich jedoch mit dem ersten Punkt beginnen: dem Euro. Was ich soeben gesagt
habe, nämlich dass wir im Jahr 2013 noch immer mit den Auswirkungen dessen zu tun
haben, was zwischen dem Mauerfall und Maastricht beschlossen wurde, wird
offensichtlich, wenn es um unsere Währung geht.
Die Krise hat schmerzlich verdeutlicht, dass der Euro-Raum, wie er ursprünglich
konzipiert wurde, bedauerlicherweise nicht ausreichend dafür gerüstet war, einem Sturm
wie dem im Jahr 2010 standzuhalten.
Seitdem haben wir ohne Unterlass gemeinsam gearbeitet. Mit Erfolg. Heute liegt die
existenzielle Bedrohung für den Euro-Raum hinter uns. Die Rettung des Euro sowie die
Stabilisierung und Festigung des Euro-Raums: das wird das Vermächtnis meiner
Generation europäischer Politiker ausmachen. Die Geschichte wird Zeuge dafür sein,
welch großen Anteil Kanzlerin Merkel und andere an dieser Leistung hatten.
Der Schock der Euro-Krise war ein Weckruf. Ein Weckruf für die einzelnen Länder. Aber
auch für alle zusammen.
Die ganze Arbeit der letzten drei, vier Jahre – die Rettungsmechanismen, die
Schuldenbremse, die neue Wirtschafts- und Haushaltsaufsicht, die Bankenunion, die
gerade geschaffen wird – all dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir ziehen die
Lehren aus der wechselseitigen Abhängigkeit. Wir haben uns damit auseinandergesetzt,
was es bedeutet, in verschiedenen Ländern eine gemeinsame Währung zu haben.
Dies war nicht immer einfach. Zusammen als Europäer haben wir jedoch die Mittel und
das Geld aufgebracht, um Länder in Not von den Märkten abzuschirmen. Dies war eine
zuvor nie dagewesene Solidarität, für die sich – was deutlich sichtbar ist – kein Beispiel
vor dem Bestehen der Union finden lässt.
Natürlich gab es auch Kritik. Zum Beispiel Kritik gegen die "Austerität" oder gegen
währungspolitische Entscheidungen. Bei dieser Kritik wird aber vielleicht vergessen, dass
einige Länder enorme Probleme angehäuft hatten, bevor die Krise begonnen hat, und dass
die Lösung dieser Probleme ohne den Euro viel schlimmer gewesen wäre. Vergessen wird
vielleicht auch, dass es schlichtweg nicht funktionieren würde, eine Krise, die durch
übermäßige Staatsschulden bedingt ist, durch noch mehr Schulden zu lösen. Bei dem Ruf
nach einer langsameren Anpassung für Länder, die einem Programm unterliegen, wird
außerdem die simple Tatsache übersehen, dass auf die eine oder andere Weise mehr Geld
geliehen werden müsste, dass dann letztendlich auch wieder zurückgezahlt werden müsste.
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Als Präsident des Europäischen Rates habe ich den Staats- und Regierungschefs von
Beginn an immer wieder gesagt, dass wir an zwei Fronten arbeiten müssen: für mehr
Verantwortung, für mehr Solidarität. Beides greift ineinander. Diese Gesamtbalance
haben wir erreicht. Und zwar nicht, indem wir bei beidem Kompromisse gemacht haben,
sondern indem wir beides verwirklicht haben. Denken Sie zum Beispiel an die
Zwillingsverträge, die wir beschlossen haben, den Vertrag für den Europäischen
Stabilitätsmechanismus und den Vertrag für den Fiskalpakt – unser Solidaritätsvertrag,
und unser Verantwortlichkeitsvertrag. Dies ist eine ausgezeichnete Balance.
Lassen Sie uns nun über Europa hinaus sehen. Während wir existenzielle Probleme
gelöst haben, hat die Welt nicht stillgestanden. Sie wird nun zu einem viel stärker
wettbewerbsorientierten Raum, in dem hunderte Millionen Männer und Frauen aus der
Armut heraustreten und mit Energie und Diplomen in den globalen Markt für
Arbeitsplätze, Ideen und Ressourcen eintreten.
Dabei holen nicht nur neue Wettbewerber auf, sondern alte Wettbewerber wagen es auch,
vorzupreschen. Beispielsweise die Vereinigten Staaten, wo Energie nun viel billiger ist als
bei uns. In Deutschland muss ich wohl niemanden daran erinnern.
Hier in Europa sind wir 500 Millionen Menschen: im Allgemeinen gut ausgebildet, relativ
wohlhabend und mit bürgerlichen Freiheiten und Sicherheit... Zusammen sind wir der
größte Markt der Welt und eine Macht, mit der zu rechnen ist.
Aber die Wahrheit ist: Wenn wir im Geschäft bleiben wollen, wenn wir unsere
Sozialmodelle, unsere Arbeitsplätze, unsere einmalige Lebensweise bewahren wollen,
dann können wir uns nicht zurücklehnen. Dies wäre der sicherste Weg, um die Zukunft der
jüngeren Generationen zu vertun.
Dies gilt für alle unsere Länder. Alle - ohne jede Ausnahme - müssen wettbewerbsfähiger
werden. Alle müssen Reformen durchführen. Viele führen auch Reformen durch,
besonders diejenigen, die am meisten von der Krise geschüttelt sind. Die Länder, in denen
sich die Produktivität seit 2010 am meisten verbessert hat, sind die Länder der
sogenannten Peripherie wie Spanien, Portugal oder Irland.
Das Rad der Geschichte dreht sich allerdings auch für die Länder des sogenannten
Nordens. Was hoch hinausgekommen ist, kann auch wieder zurückfallen. Auch sie
müssen Reformen durchführen. Dies schließt natürlich Deutschland mit ein: Denken Sie an
die großen demografischen Herausforderungen Deutschlands, an die Qualität der
Straßeninfrastruktur oder das ungenutzte Potenzial Ihrer Dienstleistungsmärkte oder auch
an die hohen Energiekosten... Ich weiß aber, dass diese Fragen hier in Deutschland
durchaus zur öffentlichen Debatte gehören.
Deutschland hat in den letzten Jahren eine entscheidende Rolle im Euro-Währungsgebiet
gespielt. Sie haben sich nicht nur zum Euro bekannt, Sie dürften wohl auch der stärkste
Befürworter wirtschaftlicher Reformen gewesen sein – Sie haben dabei vor Risiken
gewarnt und wirtschaftliche Weitsicht in die europäische Debatte gebracht. Dafür möchte
ich Ihren führenden Politikern meine Anerkennung aussprechen.
Ihr Land steht vor seinen eigenen vorhergesagten Risiken und Herausforderungen für die
Zukunft. Damit diese Prognosen morgen nicht zur Realität werden, muss Ihr Land heute
mutig handeln. Führung ist dann am überzeugendsten, wenn man mit gutem Beispiel
vorangeht – dies gilt für Ergebnisse wie auch für Reformen.
In der Krise ist uns bewusst geworden, dass sich die wirtschaftliche Not in einem Land auf
uns alle auswirken kann, ebenso wie der Erfolg eines Landes für alle anderen von Vorteil
sein kann. Dies nennen wir wechselseitige Abhängigkeit. In der Eurozone müssen wir uns
die einzelnen Teile und das Ganze anschauen. Eine gemeinsame Währung macht mehr
gemeinsame Politik erforderlich: So einfach ist das.
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Mehrere neue Instrumente für mehr Wirtschaftskoordinierung stehen jetzt bereit. Ein
wichtiges Element fehlt noch: die "Verträge", in denen sich Länder verpflichten,
bestimmte wichtige Reformen durchzuführen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit und die
Beschäftigung verbessert wird, die aber auch Solidaritätsaspekte enthalten. An diesem
Thema werden wir im Dezember weiterarbeiten.
Bis dahin werden wir auch über die nächsten Schritte für die Bankenunion entscheiden.
Nach der einheitlichen Aufsicht über Banken der Eurozone, die wir schon jetzt einrichten,
kommt nun der einheitliche Abwicklungsmechanismus. Beides geht Hand in Hand. Zur
Vorbereitung werden sich die Banken einer Überprüfung der Aktiva-Qualität unterziehen
müssen, damit sichergestellt wird, dass sie solide sind, bevor sie in unsere gemeinsame
Bankenunion eintreten.
Mit all diesen Maßnahmen ist der Bericht, den ich den Staats- und Regierungsschefs der
EU zu der Frage vorgelegt habe, wie eine echte Wirtschafts- und Währungsunion zu
erreichen wäre, so gut wie verwirklicht.
Gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung zum Euro. Ergebnis dieser Arbeit Sofortmaßnahmen, Verhütung künftiger Krisen, langfristige Ziele - ist, dass die Europäer
nun besser dafür gerüstet sind, Turbulenzen zu verkraften. Das Ausmaß der Krise hat
bewirkt, dass nun, zumindest bei den führenden Politikern, das Bewusstsein für die Größe
der wirtschaftlichen Herausforderung geschärft ist. Die Krise war für sie gleichsam ein
Weckruf. Und ein guter Ausgangspunkt. Die Schwierigkeit liegt nun jedoch darin, die
Unterstützung der Öffentlichkeit für diese und für künftige Änderungen zu
mobilisieren... Nur so bleibt der europäische Kontinent in der Welt der attraktive Ort, der
er ist.
IV. Populismus; Europa als Raum und als Ort
Die Arbeit, die die europäischen Regierungen leisten, um die Wirtschaft in Ordnung zu
bringen, ist eine Sache, die Erfahrungen der Menschen in Europa sind oft eine ganz
andere Sache.
Die Menschen machen sich Sorgen. Dies ist verständlich. Im globalen Wettbewerb wird es
schwieriger, einen Arbeitsplatz zu behalten – oder einen zu finden. Für viele ist es
schwieriger als früher, über die Runden zu kommen, und für ihre Kinder könnte es noch
schwieriger werden. Mangelnde Orientierung kann Angst schüren – das Gefühl, die
Kontrolle zu verlieren.
Sie kann zu einem Rückzug führen, einem Rückzug in geschlossene Kreise, auf der Suche
nach einem Halt. Oder sogar zu einer selbstsüchtigen Gleichgültigkeit, zu einem "Jeder für
sich". Dies sind verbreitete Phänomene, die es schon 10 oder 20 Jahre vor der Finanzkrise
gab. In einigen Ländern — und Deutschland ist da vielleicht heute eine Ausnahme, eine
wichtige Ausnahme – sehen wir, wie dieser Mix aus Veränderung und Angst Populismus
schürt.
Populismus: ein Ventil für Wut und Feindseligkeit, das Versprechen einer
wiederhergestellten Identität, die Illusion, dass mit dem Schließen des Zauns die Zeit
zurückgedreht werden kann, die Lüge, dass man auf dem globalen Markt ohne
Anstrengungen bestehen kann ....
Der Erfolg des Populismus – in seinen verschiedenen Ausprägungen – auf dem Markt der
Politik verdeutlicht auch die Schwäche des Angebots auf der anderen Seite. Er verdeutlicht
die Krise der traditionellen Politik in vielen Mitgliedstaaten. Verdeutlicht an vielen Orten
schwindendes Vertrauen der Wähler in ihre Volksvertreter. Vertrauen ist dabei tatsächlich
das Schlüsselwort.
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In Anbetracht des globalen Wandels wissen die Menschen, dass sich in unserer
Gesellschaft einiges ändern muss. Es ist aber nie einfach, zu entscheiden, was genau wann
und wie zu ändern ist. Wir bezahlen einen Preis dafür, dass unsere Gesellschaft nicht
imstande ist, den Knoten zu durchschlagen. Die Menschen geben der Globalisierung die
Schuld. Aber viel öfter sind die "Opfer" der Globalisierung in Wahrheit Opfer
ausgebliebener Reformen.
Manchmal ist es wohl ein Teufelskreis: kein politisches Vertrauen bedeutet, dass kein
Mandat für den Wandel vorhanden ist. Ausbleibender Wandel wird aber schließlich das
Vertrauen weiter einbrechen lassen... Wir können und müssen diesen Kreislauf
durchbrechen und eine Perspektive für positiven Wandel eröffnen.
In diesem Klima steht die Europäische Union unter doppeltem Druck: Sie leidet unter
dem geringen Vertrauen in die Politik im Allgemeinen, ist aber davon besonders betroffen.
Beispielsweise wird "Europa" nun die Schuld für das gegeben, was die Globalisierung
fordert. Die Angst vor den Kräften des globalen Markts war natürlich schon lange vor dem
anti-europäischen Populismus da. Der gemeinsame Schutzschild wird nun aber als äußere
Bedrohung aufgefasst.
Die Wirtschaftskrise hat die Europäische Union in eine neue Rolle gezwängt. Viele
Jahrzehnte lang (einmal abgesehen von den Klagen über den Krümmungsgrad von
Gurken) stand Europa für die Eröffnung, die Freisetzung und die Schaffung von
Möglichkeiten, für Emanzipierung, für Befähigung... Heute wird Europa als einmischend
gesehen, als diktierend, urteilend, korrigierend, vorschreibend, auferlegend, ja sogar
bestrafend...
Leider muss nun einmal darauf hingewiesen werden, dass die Institutionen von den
Regierungen ja gerade beauftragt worden sind, diese Rolle zu spielen; so als hätten sie ihr
"Über-Ich" nach Brüssel verlagert... Anders gesagt, wenn die Selbstkontrolle versagt, wenn
gemeinsame Regeln gebrochen werden, dann muss eben Zwang ins Spiel kommen. Dies ist
nicht angenehm, für keine Seite.
Es läuft alles auf Folgendes hinaus: Viele Menschen in Europa haben den Eindruck, dass
Europa sie schwächt. Das Grundversprechen war aber, dass Europa die Menschen und die
Länder stärker machen würde. Was können wir tun, um hier Abhilfe zu schaffen?
Die erste und grundlegende Antwort lautet: Ergebnisse. Wir befinden uns ohne Zweifel in
einer schwierigen Phase, doch wir sind auf dem richtigen Weg. Am Ende sind die
Menschen am besten mit Ergebnissen zu überzeugen. Wenn das Wachstum zurückkehrt,
wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn zu spüren ist, dass die Anstrengungen,
die die Gesellschaft und die Regierungen – sowohl allein als auch gemeinsam als
Europäische Union – unternehmen, sich auszahlen.
Die Menschen davon zu überzeugen, dass Europa Teil der Lösung ist, ist aber nicht allein
eine Frage der Wirtschaft, es ist auch eine Frage der Worte.
Führende Politiker müssen die Wahrheit sagen. Eine dieser Wahrheiten lautet, dass es
keine schnellen Lösungen gibt, dass Reformen in den Bereichen Wachstum und
Beschäftigung Zeit brauchen. Eine weitere Wahrheit lautet, dass die Lösung der Krise
letztendlich nicht in neuen Finanzinstrumenten (Fonds oder Bonds) und auch nicht in der
Rückkehr zu nationalen Währungen, sondern in den Veränderungen bei der realen
Wirtschaft liegt. Und noch eine Wahrheit: Die Kosten wären, gäbe es kein Europa, nicht zu
tragen.
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Wer behauptet, dass sein Land allein erfolgreich sein kann, verbreitet Illusionen.
Populismus und Nationalismus können keine Antworten auf die Herausforderungen
unserer Zeit sein. Die Politiker müssen deutlich machen, was auf dem Spiel steht. Sie
müssen außerdem ihre europäischen Überzeugungen laut und deutlich aussprechen.
Wie kann man erwarten, dass die europäische Sache befürwortet wird, wenn die führenden
Politiker nicht den Mut haben, die europäische Integration zu verteidigen und ihr Geltung
zu verschaffen? So einfach ist es. Wir brauchen einen positiven Diskurs – wie ich ihn von
den führenden Politikern dieses Landes höre. Alle müssen nach vorn tragen, was wir
erreichen, und zwar nicht halbherzig, sondern mit Überzeugung.
Ergebnisse, deutliche Worte, Überzeugung: Dies sind die elementaren Begriffe. Einige
Kommentatoren sind der Meinung, dass der mangelnden Popularität der EU auch auf
anderem Wege begegnet werden könnte, nämlich durch eine Generalüberholung der
Institutionen. Für mich geht dies weit am Thema vorbei.
Ich möchte mir mit Ihnen stattdessen etwas anderes ansehen, etwas vielleicht viel
Grundsätzlicheres, das die wirkliche Erfahrung der Menschen auf unserem Kontinent
ausmacht.
Eine zentrale Frage lautet nämlich: Ist Europa einfach ein Raum, ein Gebiet, in dem
man sich bewegt, oder auch ein Ort, der Heimat ist, an dem wir uns zu Hause fühlen
können? Die beiden Aspekte sind nicht das Gleiche, sie können sich sogar widersprechen.
Bei einem Ort geht es um Ordnung, er bringt Stabilität und Vorhersehbarkeit. Zwei Dinge
können sich zum Beispiel nicht am gleichen Ort befinden. Bei einem Raum geht es
dagegen um Bewegung und um Möglichkeiten. Bei einem Raum kommen die Elemente
Richtung, Geschwindigkeit und Zeit ins Spiel. Dies scheinen abstrakte Begriffe zu sein,
aber ihnen kommt in der Europäischen Union von heute ein deutliche Rolle zu.
Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken. Die führenden Politiker Europas haben
jahrzehntelang daran gearbeitet, das Gebiet der Mitgliedstaaten zu einem Raum zu
machen. Von Beginn an wurde die Gemeinschaft unter einem Bewegungsaspekt
begründet. Das typische Vorgehen war die Beseitigung von Grenzen: Waren,
Dienstleistungen und Kapital sollten frei zirkulieren können, Menschen sollten ungehindert
reisen können. Alles ging – und geht noch – darum, Möglichkeiten zu eröffnen:
Möglichkeiten für Menschen und Unternehmen, mobil zu sein, Initiativen zu ergreifen,
anderenorts Chancen zu nutzen. Wie viel Energie, Weitblick und Überzeugung ist nicht in
diese Aufgabe gesetzt worden. Auch heute noch – bei den Themen Energie,
Dienstleistungen, Telekommunikation, digitale Wirtschaft – ist das Niederreißen von
Grenzen eine Aufgabe. Es wird also seit langem dafür gerungen, dieses Europa als Raum
zu erschaffen.
Sehr viel weniger Aufmerksamkeit ist darauf verwendet worden, Europa als Ort, als
Heimat zu erschaffen. Während des kalten Krieges hat niemand auch nur erwartet, dass
sich Europa von einem Markt zu einer Heimat wandelt. Aus gutem Grunde: Stabilität und
Vorhersehbarkeit, Schutz und Zugehörigkeitsgefühl, das war Sache der Mitgliedstaaten –
denken Sie an die Wohlfahrtsstaaten.
Stillschweigende Abmachung war, dass die Union da nicht hineinspielt. Eine gute
Arbeitsteilung, aber eine Arbeitsteilung, die unter Druck geraten ist – nicht zuletzt wegen
der Krise. Dies führt zu bisweilen widersprüchlichen Forderungen. Manche fordern heute,
dass sich Europa weniger einmischt, sich mehr heraushält. Manche fordern wiederum, dass
es sich einbringt, dass es mehr hilft. Wir brauchen eine Balance.
Jedenfalls muss die Union, damit Europa ein Ort wird, damit es sich stärker wie eine
Heimat anfühlt, imstande sein, wenn nicht die Menschen schützen, so doch zumindest die
Orte des Schutzes und der Zugehörigkeit achten – seien es bestimmte nationale
Wohlfahrtsaspekte oder lokale Käsesorten.
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Es gibt noch eine andere Herausforderung: Unsere noch offene Geografie, die es Europa
nicht leichter macht, zu einer Heimat zu werden, zu einem Heimatort. Immer wenn die
Union wächst, verlangen wir von den Menschen, dass sie sich in einem neuen Club zu
Hause fühlen.
Sicher haben sich durch die aufeinanderfolgenden Erweiterungen die politischen und
geografischen Identitäten Europas angenähert. Die meisten Länder unseres Kontinents sind
nun in der Union. Dennoch, wo endet "Europa"? Wir müssen zugeben, dass wir darauf
noch keine Antwort haben. Deshalb müssen wir uns jedoch nicht schämen, das passiert im
Leben bei vielen wichtigen Fragen!
Einige Fälle sind klar. Wie der Balkan, dessen Zukunft fest in der Union verankert ist.
Nach Kroatien, das unser jüngstes Mitglied ist, werden andere folgen, sofern sie die
Kriterien erfüllen – dies ist ihre offensichtliche Bestimmung.
Andere Fälle sind nicht klar. Ganz allgemein können wir aus leicht zu erklärenden
Gründen wohl nicht definieren, wo sich die endgültigen Grenzen Europas befinden
werden. Für Diplomaten ist dies eine Realität, aber für die Bürger ist es eine ungute
Erfahrung.
In dieser Woche haben wir die Verhandlungen mit der Türkei wieder aufgenommen: dies
ist eine gute Sache. Dieser Fall verdeutlicht für Europa auch, was ich zuvor gesagt habe,
Europa als ein Raum kann für einige im Widerspruch dazu stehen, dass es zu einem Ort
wird...
V. Freizügigkeit und Migration
Wenn ich vom Raum spreche, denken Sie vielleicht, dass ich ganz und gar abgeschweift
bin... Aber dem ist nicht so! Für unser Verhältnis zur Geografie ist es wichtig, die beiden
anderen Bereiche zu verstehen, die sich vom Mauerfall bis Maastricht grundlegend
geändert haben: die Unionsbürgerschaft und unsere Rolle in der Welt.
Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt, aber vor acht Tagen hätten die meisten von uns, die
über 20 sind, den 20. Jahrestag ihrer Unionsbürgerschaft feiern können.
Dies war eine Neuheit des Vertrags von Maastricht, die vom ersten Tag an Realität wurde,
zumindest rechtlich. Mit der neuen Unionsbürgerschaft wurde unter anderem das Recht
aller Bürger der Mitgliedstaaten begründet, sich innerhalb unserer Union frei zu bewegen
und überall zu leben.
Diese Freiheit knüpft an schon früher im ursprünglichen Römischen Vertrag bestehende
Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitskräfte an. Die Freizügigkeit der
Arbeitskräfte war als Wirtschaftsvorschrift für den Gemeinsamen Markt gedacht – genauso
wie der freie Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr.
Die grundlegende Änderung, der Durchbruch nach dem Mauerfall, war, dass diese
Wirtschaftsvorschrift zu einer Grundfreiheit geworden ist, zu einem politischen Recht.
Ich finde, es ist ein schöner Gedanke, dass aus dem, was 1989 als Flucht vor Tyrannei
begann– das Aufkeimen der Freiheit in Danzig, Budapest, Prag und Leipzig mit dem
Höhepunkt genau hier am Brandenburger Tor – die Freizügigkeit für alle Europäer
geworden ist.
Seither haben zahllose Frauen und Männer aus Ost und West, aus Nord und Süd ihre
Chancen genutzt, Europäer zu werden, zu Hause oder im Ausland.
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Nach meiner Vorstellung ist ein Raum der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit – für
unermüdlich Reisende ebenso wie für häusliche Mitbürger – mehr als nur eine
Komponente einer wirtschaftlichen Union: er bildet einen Grundpfeiler eines neuen
Europas nach dem Fall der Mauer, er ist ein Zeichen von Zivilisation.
In der letzten Zeit hat diese großartige Errungenschaft einige Kritik erfahren. Dies ist leider
auf die gegenwärtig unsichere wirtschafliche Lage zurückzuführen, was natürlich
keineswegs überrascht. Durch Schlagwörter wie "Sozialtourismus" oder "Sozialdumping"
besteht die Tendenz, dass allerlei Probleme – ob sie nun tatsächlich vorliegen oder nur als
solche empfunden werden – vermischt werden.
Bei all diesem Durcheinander und all diesen Emotionen haben die Vorurteile gegenüber
anderen EU-Bürgern in besorgniserregender Weise zugenommen. Und diese Entwicklung
gilt es mit Nachdruck zu bekämpfen, und zwar mit Fakten, mit Verständnis und mit
Überzeugungskraft.
Oder um den Vertrag zu zitieren...(ich tue dies nicht alle Tage, ich weiß aber, dass das
deutsche Publikum dies gut aufnimmt): "Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (...) frei zu bewegen und aufzuhalten": Dies ist eine
Freiheit, die in unseren Grundrechten verankert ist. Rechtlich gesehen sind europäische
Mitbürgerinnen und Mitbürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit in der Union in Anspruch
nehmen, somit vollkommen anders einzuordnen als Zuwanderer, also als Menschen, die
von außerhalb der Union zu uns kommen.
Natürlich gibt es bestimmte Voraussetzungen für die Freizügigkeit (etwa einen gültigen
Pass mit sich zu führen oder dem Wohlfahrtsstaat des Gastlandes nicht zur Last zu fallen).
Wie jedes Recht wird jedoch auch dieses von einigen missbraucht. Das ist äußerst
bedauerlich. Doch dies sollte kein Grund sein, das Recht zu beschneiden, sondern vielmehr
ein Grund, den Missbrauch zu bekämpfen. Die nationalen und kommunalen Behörden
verfügen hierfür über die erforderlichen Mittel und rechtlichen Möglichkeiten – und die
EU tut alles, um ihnen beizustehen. So wird beispielsweise gegen Scheinehen zur
Erlangung der Unionsbürgerschaft vorgegangen.
Die Regierungen müssen aber nicht nur der Sorge ihrer Bürger Rechnung tragen, sondern
sie haben auch die Pflicht, das richtige Maß zu wahren. Heutzutage leben weniger als 3 %
aller Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat. Die große Mehrheit von ihnen tut dies
aus beruflichen Gründen und leistet somit einen Beitrag zum Gemeinwohl. Normalerweise
entrichten diese Mitbürger nämlich einen höheren Betrag an Steuern im Gastland als sie an
Sozialleistungen empfangen, da sie im Durchschnitt eher jünger, besser ausgebildet und
wirtschaftlich aktiver sind als die Arbeitskräfte des Gastlandes selbst. Und vergessen Sie
nicht, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU in alle Richtungen funktioniert: so lassen
sich beispielsweise für jeden polnischen Arbeitnehmer, der in der Hauptstadt eines
europäischen Landes arbeitet, wiederum zwei Bürger dieses Landes an der spanischen
Küste antreffen.
Der Grundgedanke der Freizügigkeit ist immer noch, dass sich die Menschen innerhalb der
Union ungehindert in den Mitgliedstaat begeben können, in dem ihre Qualifikationen und
Kompetenzen am meisten gebraucht werden. Selbst heutzutage, wo so viele Menschen in
der Union ohne Beschäftigung sind, gibt es weiterhin zwei Millionen freie Stellen, und
zwar genau deshalb, weil die Unternehmen nicht die geeigneten Arbeitnehmer finden
können. Deutschland ist ein Paradebeispiel hierfür. Also lassen all diese freien Stellen den
Schluss zu, dass wir in der Union bei weitem nicht zu viel, sondern vielmehr tatsächlich
eher zu wenig Mobilität haben.
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Wie ich bereits erläutert habe, ist die interne Freizügigkeit eine Sache, Zuwanderung
hingegen ist etwas völlig Anderes. Betrachten Sie nur einmal, wohin sich die Menschen in
der Welt bewegen. Heutzutage fliehen die Menschen nicht mehr aus Europa, wie es in
früheren Jahrhunderten der Fall war, sondern sie fliehen nach Europa. Denken Sie nur an
die Millionen von Iren, Deutschen, Polen, Juden oder Italiener, die vor Hunger und Armut,
Kriegen und Völkermord von europäischem Boden geflohen sind. Dies sollten wir nicht
vergessen, wenn wir über Asylfragen sprechen. Schlussendlich sind wir nunmehr der
reichste Kontinent der Welt. Diese Art der Solidarität sollte uns also mit Stolz erfüllen.
Dennoch darf die legale Migration nicht fälschlicherweise mit der illegalen Migration
verwechselt werden. Die illegale Einwanderung in die Europäische Union ist ein Problem,
nicht nur für die Stabilität unserer Gesellschaften, sondern auch für die Migranten selbst.
Wir alle haben die jüngste Tragödie vor der Küste Lampedusas noch deutlich vor Augen.
Auf dem Oktobergipfel des Europäischen Rates waren sich alle Staats- und
Regierungschefs darin einig, dass konsequente Maßnahmen ergriffen werden sollten, um
zu verhindern, dass Menschen auf See ihr Leben verlieren und dass sich solche
menschlichen Tragödien wiederholen.
Wir möchten die eigentlichen Ursachen der illegalen Migrationsströme angehen – und
dabei mit den Herkunfts- und Transitländern zusammenarbeiten. Wir möchten Schleusung
und Menschenhandel stärker bekämpfen. Wir werden unsere Präsenz und unsere
Tätigkeiten im Mittelmeer verstärken und hierzu Grenzpatrouillen einsetzen, auch um
Schiffe ausfindig zu machen und Leben zu schützen und zu retten.
Auch in dieser Frage ist es gut, das richtige Maß zu wahren, das uns doch so manches Mal
verloren geht. Ich möchte nur einige Zahlen nennen:
–
In der EU werden jedes Jahr etwas mehr als 300 000 Asylanträge gestellt.
–
In einem Drittel der Fälle wurde im vergangenen Jahr Asylschutz gewährt. Das
entspricht ungefähr 200 Asylbewerbern auf eine Million EU-Bürger ....
zweifelsohne handelt es sich hier um Größenordnungen, die gut zu bewältigen
sind.
–
Beinahe drei Viertel aller Bewerber verteilten sich auf nur fünf Länder, nämlich
Deutschland, Frankreich, Schweden, das Vereinigte Königreich und Belgien; die
Länder, die die meisten Flüchtlinge pro Einwohner aufnahmen, waren indessen
Malta, Luxemburg und Schweden.
–
Was die Asylbewerber selbst anbelangt, so kamen im vergangenen Jahr die
meisten aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und Somalia; es handelt sich also um
Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Und an dieser Stelle ist es wirklich wichtig, die
Dinge in ein richtiges Verhältnis zu setzen: in zwei Kriegsjahren kamen ungefähr
40 000 Flüchtlinge aus Syrien in unseren 28 Mitgliedstaaten an, gegenüber
nunmehr 2 Millionen Flüchtlingen, die allein in Jordanien, Libanon und der
Türkei eingetroffen sind.
Ich hoffe, diese Zahlen relativieren einige Diskussionen etwas....
VI. Europa in der Welt
Dies führt mich zum Abschluss und in aller Kürze zum dritten Thema des heutigen Tages:
unsere Tätigkeit in der Welt.
Unsere gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik spiegelt den Umstand wider, dass wir
(und vor allem die Schengen-Länder) über eine gemeinsame Außengrenze verfügen. In
gewisser Weise bildet dies den Ausgangspunkt für eine gemeinsamen Außenpolitik.
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Es ist die Erkenntnis, dass die Geschehnisse auf der anderen Seite der Grenze nicht nur
unser EU-Nachbarland angehen, sondern vielmehr uns alle. Ich habe festgestellt, dass
dieses Bewusstsein in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen hat. Ich kann den
Unterschied gegenüber dem Beginn meiner Amtszeit deutlich ausmachen.
Auch hierzu möchte ich ein Beispiel nennen: In zwei Wochen werden wir auf einem
Gipfeltreffen im Vilnius entscheiden, ob die EU ein Assoziierungsabkommen mit der
Ukraine unterzeichnen kann.
Während diese Beziehungen – etwas überspitzt ausgedrückt – vor fünf Jahren noch als ein
Interesse Polens betrachtet wurden, sind sich heute alle Politiker – von Spanien über die
Niederlande bis Österreich – darüber im Klaren, dass das Geschehen in der Ukraine eine
Angelegenheit von gemeinsamem Interesse ist.
In gleicher Weise haben die Ereignisse in der arabischen Welt seit 2011 deutlich gemacht,
dass die Entwicklungen in Tunesien oder Ägypten nicht nur Auswirkungen für Italien
Malta oder Spanien sondern für alle europäischen Bürger haben. Diese Erkenntnis ist
völlig neu.
Eine gemeinsame achbarschaft, eine gemeinsame Verantwortung
Die europäischen Länder führen weltweit weitaus mehr gemeinsame Aktionen durch als
gemeinhin angenommen.
Wir sind mit Abstand der größte Geber von Entwicklungshilfe in der Welt. Trotz der
Finanzkrise hat die EU in den letzten beiden Jahren nicht weniger als fünf neue zivile oder
militärische Missionen eingeleitet, und zwar in Mali, in Südsudan, in der Sahelzone, an
den Grenzen Libyens und vor der Küste Somalias. Im Jahr 2013 haben wir außerdem
Operationen in Afghanistan, Georgien und der Demokratischen Republik Kongo
fortgesetzt.
Europa ist in Krisen- und Konfliktgebieten durch Ärzte und Nothilfepersonal,
Landwirtschaftsexperten und Ingenieure, aber auch durch Richter und Staatsanwälte,
Polizeibeamte und Soldaten vertreten. Sie alle sind dort, um die Arbeit ihrer Partner vor
Ort zu unterstützen, ein Land zu stabilisieren, Ordnung und Rechtsstaatlichkeit
wiederherzustellen, das Bewusstsein für Recht zu stärken und Hoffnung für die Zukunft zu
bringen.
Die Europäische Union ist als solche natürlich keine Militärmacht. In der Welt von heute
nimmt die Bedeutung militärischer Macht ohnehin ab. Wirtschaftliche Macht zählt dafür
umso mehr. Bei einigen der demokratischen Länder mit den größten Armeen sehen wir
außerdem – denken Sie nur an die Reaktionen auf Syrien –, dass der Einsatz militärischer
Macht durch die öffentliche Meinung oder die Parlamente weiter eingeschränkt wird... In
Anbetracht der Turbulenzen in der Welt um uns herum müssen wir allerdings in der Lage
sein, unserer Verantwortung gerecht zu werden.
Die geopolitische Neuausrichtung unseres Verbündeten Vereinigte Staaten veranlasst uns
noch mehr dazu, dies zu tun. Aber sind wir auch bereit, die Mittel dafür einzubringen?
Die Menschen schauen auf die Länder Europas, einschließlich Deutschlands, um zu sehen,
ob sie bereit sind, ihrer Rolle gerecht zu werden. Dies gilt für die finanziellen Ressourcen,
aber auch für die personellen Ressourcen. Die Frage der finanziellen Ressourcen ist in
Anbetracht der gegenwärtigen großen Haushaltszwänge sogar noch akuter geworden. Ich
habe daher das Thema Verteidigung auf die Tagesordnung der Dezember-Tagung des
Europäischen Rates gesetzt. Zusammen geben wir für Verteidigung mehr aus als die
Vereinigten Staaten. Die Wirkung ist jedoch unterschiedlich...Wir sollten unser Geld
effizienter nutzen, indem wir Ressourcen zusammenlegen und teilen.
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Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im vergangenen Dezember erklärten die
europäischen Staats- und Regierungschefs, dass die Europäische Union denen beistehen
wird, die nach Frieden und Menschenwürde streben. Damit wir dieser Verantwortung
gerecht werden, müssen uns die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen.
VII. Fazit
Wenn ich mir die Arbeit betrachte, die gegenwärtig geleistet wird, die in den vergangenen
Jahren, in denen ich dieses Amt bekleidet habe, von den Regierungen und Institutionen,
von den Frauen und Männern auf unserem ganzen Kontinent geleistet wurde, so bin ich
zuversichtlich. Wir überwinden nicht nur die schwerste Wirtschaftskrise, von der wir in
zwei Generationen betroffen waren, sondern wir vereinen auch unsere Kräfte für die
Zukunft. Wir gestalten gemeinsam das Europa nach dem Fall der Mauer. Das "Europa
nach dem Fall der Mauer" gestalten wir gemeinsam.
Vor uns wird noch ein weiter Weg liegen, und wir werden auf diesem Weg vielleicht noch
Überraschungen erleben, aber wir haben in den vergangenen Jahren der Welt und uns
selbst bewiesen, dass wir den politischen Willen haben, gemeinsam gestärkt aus der Krise
herauszugehen.
Wie ich bereits gesagt habe, besteht die Herausforderung heute darin, diese Arbeit in
einem Moment, der für die Menschen Europas nicht schwieriger sein könnte, fortzusetzen:
Die Ergebnisse, mit denen die Menschen überzeugt werden können, liegen noch nicht alle
vor, und die Globalisierung und die Krise haben ihre Spuren hinterlassen. Aber ich
vertraue darauf, dass diese Überzeugungsarbeit Erfolg haben wird und dass die Bürger
Europas der Lage gewachsen sind.
Einer meiner Nachfolger wird eines Tages vielleicht in Berlin oder Stuttgart, vielleicht in
Athen oder Warschau eine Rede halten, in der er oder sie nachzeichnen kann, wie wir
Europäer es geschafft haben, in den Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer unseren
Kontinent als Osteuropäer, Westeuropäer, -ordeuropäer, Südeuropäer und -eueuropäer,
alle zusammen, neu zu gestalten.
Und ich hoffe, dass Europa uns immer mehr auch ein Heimatort sein kann. Heimat, so wie
es Johann Wolfgang von Goethe gemeint haben mag, als er an einem heiteren
Novembertag sagte: "Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein
angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne." Vielen Dank.
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