DE EUROPÄISCHER RAT DER PRÄSIDE T Berlin, den 9. November 2013 EUCO 229/13 PRESSE 466 PR PCE 204 "EUROPA ACH DEM FALL DER MAUER" Rede von Herman Van Rompuy Präsident des Europäischen Rates In seiner heutigen Rede anlässlich des Jahrestages des Falls der Berliner Mauer hat Präsident Herman Van Rompuy dargelegt, wie die dramatischen Ereignisse Ende 1989 Deutschland und Europa insgesamt verändert haben und wie das, was damals in Gang gesetzt wurde, noch heute unser Handeln und unsere Debatten bestimmt. Und wie wir immer noch dabei sind, das ‘Europa nach dem Fall der Mauer’ zu gestalten. Präsident Van Rompuy legte den Schwerpunkt auf drei Dinge, die nach dem 9. -ovember 1989 beschlossen wurden: Euro, Freizügigkeit für alle EU-Bürger und Europas Außenpolitik. Zu Euro und Wirtschaft äußerte sich Präsident Van Rompuy wie folgt: "Die Rettung des Euro sowie die Stabilisierung und Festigung des Euro-Raums: das wird das Vermächtnis meiner Generation europäischer Politiker ausmachen." -Er betonte, wie wichtig es angesichts der immer stärkeren globalen Wettbewerbsfähigkeit ist, dass "ausnahmslos" alle europäischen Länder Reformen durchführen. In diesem Zusammenhang sagte er über Deutschland: "Deutschland hat in den letzten Jahren eine entscheidende Rolle im Euro-Währungsgebiet gespielt. Sie haben sich nicht nur zum Euro bekannt, Sie dürften wohl auch der stärkste Befürworter wirtschaftlicher Reformen gewesen sein – Sie haben dabei vor Risiken gewarnt und wirtschaftliche Weitsicht in die europäische Debatte gebracht. Dafür möchte ich Ihren führenden Politikern meine Anerkennung aussprechen. Ihr Land steht vor seinen eigenen vorhergesagten Risiken und Herausforderungen für die Zukunft. Damit diese Prognosen morgen nicht Realität werden, muss Ihr Land heute mutig handeln. Führung ist dann am überzeugendsten, wenn man mit gutem Beispiel vorangeht – dies gilt für Ergebnisse wie auch für Reformen." PRESSE Dirk De Backer - Sprecher des Präsidenten - ( +32 (0)2 281 9768 - +32 (0)497 59 99 19 Preben Aamann - Stellvertretender Sprecher des Präsidenten - ( +32 (0)2 281 2060 - +32 (0)476 85 05 43 [email protected] http://www.european-council.europa.eu/the-president EUCO 229/13 1 DE Präsident Van Rompuy ging auch auf den in vielen Ländern auftretenden Populismus ein. "Populismus: ein Ventil für Wut und Feindseligkeit, das Versprechen einer wiederhergestellten Identität, die Illusion, dass mit dem Schließen des Zauns die Zeit zurückgedreht werden kann, die Lüge, dass man auf dem globalen Markt ohne Anstrengungen bestehen kann ...." Um dieser Situation zu begegnen, lautet die "erste und grundlegende Antwort: Ergebnisse. Wir befinden uns ohne Zweifel in einer schwierigen Phase, doch wir sind auf dem richtigen Weg. Am Ende sind die Menschen am besten mit Ergebnissen zu überzeugen. Wenn das Wachstum zurückkehrt, wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn zu spüren ist, dass die Anstrengungen, die die Gesellschaft und die Regierungen – sowohl allein als auch gemeinsam als Europäische Union – unternehmen, sich auszahlen." Die Menschen zu überzeugen, ist aber nach Ansicht von Präsident Van Rompuy nicht allein eine Frage der Wirtschaft, es ist auch eine Frage der Worte: "Führende Politiker müssen die Wahrheit sagen. Eine dieser Wahrheiten lautet, dass es keine schnellen Lösungen gibt, dass Reformen in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung Zeit brauchen. Eine weitere Wahrheit lautet, dass die Lösung der Krise letztendlich nicht in neuen Finanzinstrumenten (Fonds oder Bonds) und auch nicht in der Rückkehr zu nationalen Währungen, sondern in den Veränderungen bei der realen Wirtschaft liegt. Und noch eine Wahrheit: Die Kosten wären, gäbe es kein Europa, nicht zu tragen. Wer behauptet, sein Land könne allein erfolgreich sein, der verbreitet Illusionen. In seinen Äußerungen über die jüngsten Bedenken wegen der Freizügigkeit aller EUBürger und der Zuwanderung nannte Präsident Van Rompuy das Recht auf Freizügigkeit ein "Zeichen von Zivilisation". "Wie jedes Recht wird auch dieses von einigen missbraucht. Das ist äußerst bedauerlich. Doch dies sollte kein Grund sein, das Recht zu beschneiden, sondern vielmehr ein Grund, den Missbrauch dieses Rechts zu bekämpfen. Die nationalen und kommunalen Behörden verfügen hierfür über die erforderlichen Mittel und rechtlichen Möglichkeiten – und die EU tut alles, um ihnen beizustehen." Und er fügte hinzu: "Und vergessen Sie nicht, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU in alle Richtungen funktioniert: so lassen sich beispielsweise für jeden polnischen Arbeitnehmer, der in der Hauptstadt eines europäischen Landes arbeitet, wiederum zwei Bürger dieses Landes an der spanischen Küste antreffen." Im Laufe seiner Rede stellte der Präsident nicht nur die Politik und die Beschlüsse der EU in den Mittelpunkt, sondern auch die konkreten Erfahrungen der Menschen des Kontinents. "Eine zentrale Frage lautet nämlich: Ist Europa einfach ein Raum, ein Gebiet, in dem man sich bewegt, oder auch ein Ort, der Heimat ist, an dem wir uns zu Hause fühlen können?" Abschließend brachte Präsident Van Rompuy seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Europa eines Tages nicht nur ein Raum der Freiheit und der Möglichkeiten, sondern auch ein Heimatort sein kann, ein Ort, an dem sich alle heimisch fühlen – "Osteuropäer, Westeuropäer, -ordeuropäer, Südeuropäer und 'neue' Europäer." Diese vierte Berliner "Europa-Rede" fand im Allianz-Forum am Pariser Platz statt und wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung Zukunft Berlin und der RobertBosch-Stiftung veranstaltet. EUCO 229/13 2 DE I. Einleitung Es ist eine große Freude und Ehre, hier in Berlin zur Erinnerung an den 9. November eine Rede halten zu dürfen. Vor drei Jahren schon war ich in Berlin zum selben Anlass. Jedoch hielt ich meine Rede an einem anderen Ort, im Pergamon Museum. Umgeben von olympischen Göttern und antiken Statuen – es war sehr beeindruckend. Heute nehme ich ein anderes Umfeld wahr, eine andere Perspektive…Wir haben die Antike verlassen und befinden uns stattdessen im 18. Jahrhundert, als dieser wunderschöne Platz gebaut wurde. Schon sein Name, den er einige Jahre später erhielt, als Ihre Stadt sich von den Napoleonischen Kriegen erholte, zeugt von einem Moment des Stolzes Preußens. Auch wenn der Name Pariser Platz eindeutig diplomatischer ist als das Londoner Pendant für die gleiche Schlacht ... Waterloo Station…! Für Sie, Berliner und Berlinerinnen, die Sie heute hier sind, erinnert der "Pariser Platz" an die jüngere Geschichte. Und bestimmt an den Tag, an dem wir den Mauerfall feiern. Von hier aus können wir fast das Brandenburger Tor sehen, wo sich vor 24 Jahren abends um 21.30 Uhr der Durst nach Freiheit Bahn brach. Ich habe es bereits vor drei Jahren gesagt, aber ich werde es heute wiederholen: Für mich ist der 9. November 1989 der vielleicht wichtigste Wendepunkt nicht nur für Deutschland, sondern auch für unsere jüngere europäische Geschichte. Deshalb habe ich die Einladung der Organisatoren, heute hierher zu kommen, gerne angenommen und danke ihnen allen. Ich hoffe, Sie erlauben mir, einer Person besonders zu danken, dem Präsidenten Hans-Gert Pöttering. Als ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und dessen dienstältestes Mitglied ist er zudem die treibende Kraft hinter dem "Haus der europäischen Geschichte" in Brüssel, in dem bald die Geschichte erzählt wird, warum wir Europäer uns zusammengeschlossen haben und warum wir uns weiter zusammenschließen müssen. Vielen Dank. II. Europa nach dem Fall der Mauer Ein europäischer Premierminister formulierte es damals folgendermaßen: "Die Geschichte galoppierte reiterlos, wie ein durchgegangenes Pferd, durch die -acht des Mauerfalls." Die Geschichte – "reiterlos, wie ein durchgegangenes Pferd": wie bekommt man die Zügel der Geschichte wieder in die Hand, wie kann ihre Kraft genutzt werden? Die Ereignisse der letzten Monate des Jahres 1989 scheinen vielleicht schon weit zurückzuliegen. Doch was damals in Gang gesetzt wurde, formt nach wie vor unsere heutige Welt. Der Fall der Berliner Mauer beendete die -achkriegszeit. Und läutete "die Zeit nach dem Fall der Mauer" ein. Und wir in Europa befinden uns heute noch in dieser Zeit. EUCO 229/13 3 DE Der 9. November führte zu einem vereinten Deutschland und zu einem stärker vereinten Europa. Politisch verlief die Wiedervereinigung Deutschlands äußerst rasant. In nur elf Monaten vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung. Allein schon dieses Tempo war atemberaubend. Bei der Gesellschaft, bei den Menschen dauerte es jedoch länger, bis dieser tiefgreifende Wandel in ihr Bewusstsein drang. Es bedurfte einiger Zeit und gewisser Anstrengungen, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln, bis alle sich in dem neuen Deutschland wirklich heimisch fühlen konnten. Manchmal herrschte Ostalgie, manchmal auch Westalgie. Nach und nach aber wurde das 'neue Deutschland' ganz einfach zum 'Deutschland' für alle. Vor einem Monat – ich glaube, es war in Stuttgart – sprach Bundespräsident Gauck darüber, dass Ihr Land stolz auf das ist, was Sie gemeinsam –"Ostdeutsche, Westdeutsche und Neudeutsche, alle zusammen" – seitdem erreicht haben. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, näher darauf einzugehen, wie sich dieser Prozess für Europa als Ganzes abgespielt hat. Er war in seiner Tragweite genauso tiefgreifend, jedoch vielleicht schwerer fassbar, da er sich im Schatten der Ereignisse in Deutschland und über einen längeren Zeitraum vollzog. Eigentlich sind wir in Europa noch mitten in der Bewältigung dieser neuen Lage. Wir haben den Zeitpunkt noch nicht erreicht, an dem wir sagen können: " Das 'neue' Europa ist genau das geworden, nämlich das 'Europa' für alle." Auch in Europa liefen die politischen Ereignisse in einem erstaunlichen Tempo ab. Innerhalb von vier Jahren wurde 1993 aus der alten Wirtschaftsgemeinschaft (der Europäischen Gemeinschaft) eine politische Union (die Europäische Union). Im Juni jenes Jahres erklärten sich die Staats- und Regierungschefs der damaligen zwölf westlichen Mitgliedstaaten bereit, die Länder im Osten, die hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt gewesen waren, in der Union willkommen zu heißen. Es war keine Wieder-Vereinigung, dennoch eine Vereinigung! Und am 1. November 1993 wurde mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht (oder des Vertrags über die Union) der Weg für die Unionsbürgerschaft, die einheitliche Währung und die gemeinsame Außenpolitik geebnet. Ein revolutionärer Wandel, der sich damals ohne die Ereignisse von 1989 nicht vollzogen hätte. So kam es also: Vom Mauerfall bis zur Europäischen Union. Doch – ebenso wie die Deutschen – brauchen die Europäer, die Menschen und die Gesellschaft Zeit, um mit diesen neuen Realitäten wirklich zurechtzukommen und sich in diesem neuen Europa nach dem Fall der Mauer wirklich heimisch zu fühlen. Eigentlich benötigen sie viel mehr Zeit, als die Menschen in Deutschland gebraucht haben. Auch im Fall Europas können wir Formen von -ostalgie sehen: Sehnsucht nach der trauten Gemeinschaft der Zwölf, nach den Tagen des Französischen Franc, der D-Mark, der Lira oder des Niederländischen Gulden. Doch keiner träumt von der Rückkehr in die Zeit vor 1989. Das Europa nach dem Fall der Mauer befindet sich nach wie vor im Aufbau. Die von mir erwähnten großen Veränderungen – Währung, Unionsbürgerschaft, Erweiterung und unsere gemeinsame Stimme in der Welt – werden heute, nach zwanzig Jahren, immer noch weiter ausgestaltet und sind weiterhin Gegenstand von Debatten. Und von diesen Veränderungen möchte ich heute sprechen. EUCO 229/13 4 DE III. Euro-Raum und Wirtschaft Ich möchte heute Morgen darüber sprechen, wie wir dieses neue Europa nach dem Fall der Mauer noch immer gestalten. Ich werde dabei auf drei Themen zu sprechen kommen: – was es bedeutet, eine gemeinsame Währung zu haben; – was es bedeutet, sich frei in jedem Land der EU bewegen und dort leben zu dürfen; – was wir bräuchten, um unserem ganzen Gewicht in der Welt Geltung zu verschaffen. Dabei will ich nicht nur auf die Politik und die politischen Weichenstellungen eingehen, sondern auch auf die Erfahrungen der Menschen in diesem neuen Europa. Lassen Sie mich jedoch mit dem ersten Punkt beginnen: dem Euro. Was ich soeben gesagt habe, nämlich dass wir im Jahr 2013 noch immer mit den Auswirkungen dessen zu tun haben, was zwischen dem Mauerfall und Maastricht beschlossen wurde, wird offensichtlich, wenn es um unsere Währung geht. Die Krise hat schmerzlich verdeutlicht, dass der Euro-Raum, wie er ursprünglich konzipiert wurde, bedauerlicherweise nicht ausreichend dafür gerüstet war, einem Sturm wie dem im Jahr 2010 standzuhalten. Seitdem haben wir ohne Unterlass gemeinsam gearbeitet. Mit Erfolg. Heute liegt die existenzielle Bedrohung für den Euro-Raum hinter uns. Die Rettung des Euro sowie die Stabilisierung und Festigung des Euro-Raums: das wird das Vermächtnis meiner Generation europäischer Politiker ausmachen. Die Geschichte wird Zeuge dafür sein, welch großen Anteil Kanzlerin Merkel und andere an dieser Leistung hatten. Der Schock der Euro-Krise war ein Weckruf. Ein Weckruf für die einzelnen Länder. Aber auch für alle zusammen. Die ganze Arbeit der letzten drei, vier Jahre – die Rettungsmechanismen, die Schuldenbremse, die neue Wirtschafts- und Haushaltsaufsicht, die Bankenunion, die gerade geschaffen wird – all dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir ziehen die Lehren aus der wechselseitigen Abhängigkeit. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, in verschiedenen Ländern eine gemeinsame Währung zu haben. Dies war nicht immer einfach. Zusammen als Europäer haben wir jedoch die Mittel und das Geld aufgebracht, um Länder in Not von den Märkten abzuschirmen. Dies war eine zuvor nie dagewesene Solidarität, für die sich – was deutlich sichtbar ist – kein Beispiel vor dem Bestehen der Union finden lässt. Natürlich gab es auch Kritik. Zum Beispiel Kritik gegen die "Austerität" oder gegen währungspolitische Entscheidungen. Bei dieser Kritik wird aber vielleicht vergessen, dass einige Länder enorme Probleme angehäuft hatten, bevor die Krise begonnen hat, und dass die Lösung dieser Probleme ohne den Euro viel schlimmer gewesen wäre. Vergessen wird vielleicht auch, dass es schlichtweg nicht funktionieren würde, eine Krise, die durch übermäßige Staatsschulden bedingt ist, durch noch mehr Schulden zu lösen. Bei dem Ruf nach einer langsameren Anpassung für Länder, die einem Programm unterliegen, wird außerdem die simple Tatsache übersehen, dass auf die eine oder andere Weise mehr Geld geliehen werden müsste, dass dann letztendlich auch wieder zurückgezahlt werden müsste. EUCO 229/13 5 DE Als Präsident des Europäischen Rates habe ich den Staats- und Regierungschefs von Beginn an immer wieder gesagt, dass wir an zwei Fronten arbeiten müssen: für mehr Verantwortung, für mehr Solidarität. Beides greift ineinander. Diese Gesamtbalance haben wir erreicht. Und zwar nicht, indem wir bei beidem Kompromisse gemacht haben, sondern indem wir beides verwirklicht haben. Denken Sie zum Beispiel an die Zwillingsverträge, die wir beschlossen haben, den Vertrag für den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den Vertrag für den Fiskalpakt – unser Solidaritätsvertrag, und unser Verantwortlichkeitsvertrag. Dies ist eine ausgezeichnete Balance. Lassen Sie uns nun über Europa hinaus sehen. Während wir existenzielle Probleme gelöst haben, hat die Welt nicht stillgestanden. Sie wird nun zu einem viel stärker wettbewerbsorientierten Raum, in dem hunderte Millionen Männer und Frauen aus der Armut heraustreten und mit Energie und Diplomen in den globalen Markt für Arbeitsplätze, Ideen und Ressourcen eintreten. Dabei holen nicht nur neue Wettbewerber auf, sondern alte Wettbewerber wagen es auch, vorzupreschen. Beispielsweise die Vereinigten Staaten, wo Energie nun viel billiger ist als bei uns. In Deutschland muss ich wohl niemanden daran erinnern. Hier in Europa sind wir 500 Millionen Menschen: im Allgemeinen gut ausgebildet, relativ wohlhabend und mit bürgerlichen Freiheiten und Sicherheit... Zusammen sind wir der größte Markt der Welt und eine Macht, mit der zu rechnen ist. Aber die Wahrheit ist: Wenn wir im Geschäft bleiben wollen, wenn wir unsere Sozialmodelle, unsere Arbeitsplätze, unsere einmalige Lebensweise bewahren wollen, dann können wir uns nicht zurücklehnen. Dies wäre der sicherste Weg, um die Zukunft der jüngeren Generationen zu vertun. Dies gilt für alle unsere Länder. Alle - ohne jede Ausnahme - müssen wettbewerbsfähiger werden. Alle müssen Reformen durchführen. Viele führen auch Reformen durch, besonders diejenigen, die am meisten von der Krise geschüttelt sind. Die Länder, in denen sich die Produktivität seit 2010 am meisten verbessert hat, sind die Länder der sogenannten Peripherie wie Spanien, Portugal oder Irland. Das Rad der Geschichte dreht sich allerdings auch für die Länder des sogenannten Nordens. Was hoch hinausgekommen ist, kann auch wieder zurückfallen. Auch sie müssen Reformen durchführen. Dies schließt natürlich Deutschland mit ein: Denken Sie an die großen demografischen Herausforderungen Deutschlands, an die Qualität der Straßeninfrastruktur oder das ungenutzte Potenzial Ihrer Dienstleistungsmärkte oder auch an die hohen Energiekosten... Ich weiß aber, dass diese Fragen hier in Deutschland durchaus zur öffentlichen Debatte gehören. Deutschland hat in den letzten Jahren eine entscheidende Rolle im Euro-Währungsgebiet gespielt. Sie haben sich nicht nur zum Euro bekannt, Sie dürften wohl auch der stärkste Befürworter wirtschaftlicher Reformen gewesen sein – Sie haben dabei vor Risiken gewarnt und wirtschaftliche Weitsicht in die europäische Debatte gebracht. Dafür möchte ich Ihren führenden Politikern meine Anerkennung aussprechen. Ihr Land steht vor seinen eigenen vorhergesagten Risiken und Herausforderungen für die Zukunft. Damit diese Prognosen morgen nicht zur Realität werden, muss Ihr Land heute mutig handeln. Führung ist dann am überzeugendsten, wenn man mit gutem Beispiel vorangeht – dies gilt für Ergebnisse wie auch für Reformen. In der Krise ist uns bewusst geworden, dass sich die wirtschaftliche Not in einem Land auf uns alle auswirken kann, ebenso wie der Erfolg eines Landes für alle anderen von Vorteil sein kann. Dies nennen wir wechselseitige Abhängigkeit. In der Eurozone müssen wir uns die einzelnen Teile und das Ganze anschauen. Eine gemeinsame Währung macht mehr gemeinsame Politik erforderlich: So einfach ist das. EUCO 229/13 6 DE Mehrere neue Instrumente für mehr Wirtschaftskoordinierung stehen jetzt bereit. Ein wichtiges Element fehlt noch: die "Verträge", in denen sich Länder verpflichten, bestimmte wichtige Reformen durchzuführen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung verbessert wird, die aber auch Solidaritätsaspekte enthalten. An diesem Thema werden wir im Dezember weiterarbeiten. Bis dahin werden wir auch über die nächsten Schritte für die Bankenunion entscheiden. Nach der einheitlichen Aufsicht über Banken der Eurozone, die wir schon jetzt einrichten, kommt nun der einheitliche Abwicklungsmechanismus. Beides geht Hand in Hand. Zur Vorbereitung werden sich die Banken einer Überprüfung der Aktiva-Qualität unterziehen müssen, damit sichergestellt wird, dass sie solide sind, bevor sie in unsere gemeinsame Bankenunion eintreten. Mit all diesen Maßnahmen ist der Bericht, den ich den Staats- und Regierungsschefs der EU zu der Frage vorgelegt habe, wie eine echte Wirtschafts- und Währungsunion zu erreichen wäre, so gut wie verwirklicht. Gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung zum Euro. Ergebnis dieser Arbeit Sofortmaßnahmen, Verhütung künftiger Krisen, langfristige Ziele - ist, dass die Europäer nun besser dafür gerüstet sind, Turbulenzen zu verkraften. Das Ausmaß der Krise hat bewirkt, dass nun, zumindest bei den führenden Politikern, das Bewusstsein für die Größe der wirtschaftlichen Herausforderung geschärft ist. Die Krise war für sie gleichsam ein Weckruf. Und ein guter Ausgangspunkt. Die Schwierigkeit liegt nun jedoch darin, die Unterstützung der Öffentlichkeit für diese und für künftige Änderungen zu mobilisieren... Nur so bleibt der europäische Kontinent in der Welt der attraktive Ort, der er ist. IV. Populismus; Europa als Raum und als Ort Die Arbeit, die die europäischen Regierungen leisten, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen, ist eine Sache, die Erfahrungen der Menschen in Europa sind oft eine ganz andere Sache. Die Menschen machen sich Sorgen. Dies ist verständlich. Im globalen Wettbewerb wird es schwieriger, einen Arbeitsplatz zu behalten – oder einen zu finden. Für viele ist es schwieriger als früher, über die Runden zu kommen, und für ihre Kinder könnte es noch schwieriger werden. Mangelnde Orientierung kann Angst schüren – das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Sie kann zu einem Rückzug führen, einem Rückzug in geschlossene Kreise, auf der Suche nach einem Halt. Oder sogar zu einer selbstsüchtigen Gleichgültigkeit, zu einem "Jeder für sich". Dies sind verbreitete Phänomene, die es schon 10 oder 20 Jahre vor der Finanzkrise gab. In einigen Ländern — und Deutschland ist da vielleicht heute eine Ausnahme, eine wichtige Ausnahme – sehen wir, wie dieser Mix aus Veränderung und Angst Populismus schürt. Populismus: ein Ventil für Wut und Feindseligkeit, das Versprechen einer wiederhergestellten Identität, die Illusion, dass mit dem Schließen des Zauns die Zeit zurückgedreht werden kann, die Lüge, dass man auf dem globalen Markt ohne Anstrengungen bestehen kann .... Der Erfolg des Populismus – in seinen verschiedenen Ausprägungen – auf dem Markt der Politik verdeutlicht auch die Schwäche des Angebots auf der anderen Seite. Er verdeutlicht die Krise der traditionellen Politik in vielen Mitgliedstaaten. Verdeutlicht an vielen Orten schwindendes Vertrauen der Wähler in ihre Volksvertreter. Vertrauen ist dabei tatsächlich das Schlüsselwort. EUCO 229/13 7 DE In Anbetracht des globalen Wandels wissen die Menschen, dass sich in unserer Gesellschaft einiges ändern muss. Es ist aber nie einfach, zu entscheiden, was genau wann und wie zu ändern ist. Wir bezahlen einen Preis dafür, dass unsere Gesellschaft nicht imstande ist, den Knoten zu durchschlagen. Die Menschen geben der Globalisierung die Schuld. Aber viel öfter sind die "Opfer" der Globalisierung in Wahrheit Opfer ausgebliebener Reformen. Manchmal ist es wohl ein Teufelskreis: kein politisches Vertrauen bedeutet, dass kein Mandat für den Wandel vorhanden ist. Ausbleibender Wandel wird aber schließlich das Vertrauen weiter einbrechen lassen... Wir können und müssen diesen Kreislauf durchbrechen und eine Perspektive für positiven Wandel eröffnen. In diesem Klima steht die Europäische Union unter doppeltem Druck: Sie leidet unter dem geringen Vertrauen in die Politik im Allgemeinen, ist aber davon besonders betroffen. Beispielsweise wird "Europa" nun die Schuld für das gegeben, was die Globalisierung fordert. Die Angst vor den Kräften des globalen Markts war natürlich schon lange vor dem anti-europäischen Populismus da. Der gemeinsame Schutzschild wird nun aber als äußere Bedrohung aufgefasst. Die Wirtschaftskrise hat die Europäische Union in eine neue Rolle gezwängt. Viele Jahrzehnte lang (einmal abgesehen von den Klagen über den Krümmungsgrad von Gurken) stand Europa für die Eröffnung, die Freisetzung und die Schaffung von Möglichkeiten, für Emanzipierung, für Befähigung... Heute wird Europa als einmischend gesehen, als diktierend, urteilend, korrigierend, vorschreibend, auferlegend, ja sogar bestrafend... Leider muss nun einmal darauf hingewiesen werden, dass die Institutionen von den Regierungen ja gerade beauftragt worden sind, diese Rolle zu spielen; so als hätten sie ihr "Über-Ich" nach Brüssel verlagert... Anders gesagt, wenn die Selbstkontrolle versagt, wenn gemeinsame Regeln gebrochen werden, dann muss eben Zwang ins Spiel kommen. Dies ist nicht angenehm, für keine Seite. Es läuft alles auf Folgendes hinaus: Viele Menschen in Europa haben den Eindruck, dass Europa sie schwächt. Das Grundversprechen war aber, dass Europa die Menschen und die Länder stärker machen würde. Was können wir tun, um hier Abhilfe zu schaffen? Die erste und grundlegende Antwort lautet: Ergebnisse. Wir befinden uns ohne Zweifel in einer schwierigen Phase, doch wir sind auf dem richtigen Weg. Am Ende sind die Menschen am besten mit Ergebnissen zu überzeugen. Wenn das Wachstum zurückkehrt, wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn zu spüren ist, dass die Anstrengungen, die die Gesellschaft und die Regierungen – sowohl allein als auch gemeinsam als Europäische Union – unternehmen, sich auszahlen. Die Menschen davon zu überzeugen, dass Europa Teil der Lösung ist, ist aber nicht allein eine Frage der Wirtschaft, es ist auch eine Frage der Worte. Führende Politiker müssen die Wahrheit sagen. Eine dieser Wahrheiten lautet, dass es keine schnellen Lösungen gibt, dass Reformen in den Bereichen Wachstum und Beschäftigung Zeit brauchen. Eine weitere Wahrheit lautet, dass die Lösung der Krise letztendlich nicht in neuen Finanzinstrumenten (Fonds oder Bonds) und auch nicht in der Rückkehr zu nationalen Währungen, sondern in den Veränderungen bei der realen Wirtschaft liegt. Und noch eine Wahrheit: Die Kosten wären, gäbe es kein Europa, nicht zu tragen. EUCO 229/13 8 DE Wer behauptet, dass sein Land allein erfolgreich sein kann, verbreitet Illusionen. Populismus und Nationalismus können keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit sein. Die Politiker müssen deutlich machen, was auf dem Spiel steht. Sie müssen außerdem ihre europäischen Überzeugungen laut und deutlich aussprechen. Wie kann man erwarten, dass die europäische Sache befürwortet wird, wenn die führenden Politiker nicht den Mut haben, die europäische Integration zu verteidigen und ihr Geltung zu verschaffen? So einfach ist es. Wir brauchen einen positiven Diskurs – wie ich ihn von den führenden Politikern dieses Landes höre. Alle müssen nach vorn tragen, was wir erreichen, und zwar nicht halbherzig, sondern mit Überzeugung. Ergebnisse, deutliche Worte, Überzeugung: Dies sind die elementaren Begriffe. Einige Kommentatoren sind der Meinung, dass der mangelnden Popularität der EU auch auf anderem Wege begegnet werden könnte, nämlich durch eine Generalüberholung der Institutionen. Für mich geht dies weit am Thema vorbei. Ich möchte mir mit Ihnen stattdessen etwas anderes ansehen, etwas vielleicht viel Grundsätzlicheres, das die wirkliche Erfahrung der Menschen auf unserem Kontinent ausmacht. Eine zentrale Frage lautet nämlich: Ist Europa einfach ein Raum, ein Gebiet, in dem man sich bewegt, oder auch ein Ort, der Heimat ist, an dem wir uns zu Hause fühlen können? Die beiden Aspekte sind nicht das Gleiche, sie können sich sogar widersprechen. Bei einem Ort geht es um Ordnung, er bringt Stabilität und Vorhersehbarkeit. Zwei Dinge können sich zum Beispiel nicht am gleichen Ort befinden. Bei einem Raum geht es dagegen um Bewegung und um Möglichkeiten. Bei einem Raum kommen die Elemente Richtung, Geschwindigkeit und Zeit ins Spiel. Dies scheinen abstrakte Begriffe zu sein, aber ihnen kommt in der Europäischen Union von heute ein deutliche Rolle zu. Lassen Sie uns einmal darüber nachdenken. Die führenden Politiker Europas haben jahrzehntelang daran gearbeitet, das Gebiet der Mitgliedstaaten zu einem Raum zu machen. Von Beginn an wurde die Gemeinschaft unter einem Bewegungsaspekt begründet. Das typische Vorgehen war die Beseitigung von Grenzen: Waren, Dienstleistungen und Kapital sollten frei zirkulieren können, Menschen sollten ungehindert reisen können. Alles ging – und geht noch – darum, Möglichkeiten zu eröffnen: Möglichkeiten für Menschen und Unternehmen, mobil zu sein, Initiativen zu ergreifen, anderenorts Chancen zu nutzen. Wie viel Energie, Weitblick und Überzeugung ist nicht in diese Aufgabe gesetzt worden. Auch heute noch – bei den Themen Energie, Dienstleistungen, Telekommunikation, digitale Wirtschaft – ist das Niederreißen von Grenzen eine Aufgabe. Es wird also seit langem dafür gerungen, dieses Europa als Raum zu erschaffen. Sehr viel weniger Aufmerksamkeit ist darauf verwendet worden, Europa als Ort, als Heimat zu erschaffen. Während des kalten Krieges hat niemand auch nur erwartet, dass sich Europa von einem Markt zu einer Heimat wandelt. Aus gutem Grunde: Stabilität und Vorhersehbarkeit, Schutz und Zugehörigkeitsgefühl, das war Sache der Mitgliedstaaten – denken Sie an die Wohlfahrtsstaaten. Stillschweigende Abmachung war, dass die Union da nicht hineinspielt. Eine gute Arbeitsteilung, aber eine Arbeitsteilung, die unter Druck geraten ist – nicht zuletzt wegen der Krise. Dies führt zu bisweilen widersprüchlichen Forderungen. Manche fordern heute, dass sich Europa weniger einmischt, sich mehr heraushält. Manche fordern wiederum, dass es sich einbringt, dass es mehr hilft. Wir brauchen eine Balance. Jedenfalls muss die Union, damit Europa ein Ort wird, damit es sich stärker wie eine Heimat anfühlt, imstande sein, wenn nicht die Menschen schützen, so doch zumindest die Orte des Schutzes und der Zugehörigkeit achten – seien es bestimmte nationale Wohlfahrtsaspekte oder lokale Käsesorten. EUCO 229/13 9 DE Es gibt noch eine andere Herausforderung: Unsere noch offene Geografie, die es Europa nicht leichter macht, zu einer Heimat zu werden, zu einem Heimatort. Immer wenn die Union wächst, verlangen wir von den Menschen, dass sie sich in einem neuen Club zu Hause fühlen. Sicher haben sich durch die aufeinanderfolgenden Erweiterungen die politischen und geografischen Identitäten Europas angenähert. Die meisten Länder unseres Kontinents sind nun in der Union. Dennoch, wo endet "Europa"? Wir müssen zugeben, dass wir darauf noch keine Antwort haben. Deshalb müssen wir uns jedoch nicht schämen, das passiert im Leben bei vielen wichtigen Fragen! Einige Fälle sind klar. Wie der Balkan, dessen Zukunft fest in der Union verankert ist. Nach Kroatien, das unser jüngstes Mitglied ist, werden andere folgen, sofern sie die Kriterien erfüllen – dies ist ihre offensichtliche Bestimmung. Andere Fälle sind nicht klar. Ganz allgemein können wir aus leicht zu erklärenden Gründen wohl nicht definieren, wo sich die endgültigen Grenzen Europas befinden werden. Für Diplomaten ist dies eine Realität, aber für die Bürger ist es eine ungute Erfahrung. In dieser Woche haben wir die Verhandlungen mit der Türkei wieder aufgenommen: dies ist eine gute Sache. Dieser Fall verdeutlicht für Europa auch, was ich zuvor gesagt habe, Europa als ein Raum kann für einige im Widerspruch dazu stehen, dass es zu einem Ort wird... V. Freizügigkeit und Migration Wenn ich vom Raum spreche, denken Sie vielleicht, dass ich ganz und gar abgeschweift bin... Aber dem ist nicht so! Für unser Verhältnis zur Geografie ist es wichtig, die beiden anderen Bereiche zu verstehen, die sich vom Mauerfall bis Maastricht grundlegend geändert haben: die Unionsbürgerschaft und unsere Rolle in der Welt. Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt, aber vor acht Tagen hätten die meisten von uns, die über 20 sind, den 20. Jahrestag ihrer Unionsbürgerschaft feiern können. Dies war eine Neuheit des Vertrags von Maastricht, die vom ersten Tag an Realität wurde, zumindest rechtlich. Mit der neuen Unionsbürgerschaft wurde unter anderem das Recht aller Bürger der Mitgliedstaaten begründet, sich innerhalb unserer Union frei zu bewegen und überall zu leben. Diese Freiheit knüpft an schon früher im ursprünglichen Römischen Vertrag bestehende Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitskräfte an. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte war als Wirtschaftsvorschrift für den Gemeinsamen Markt gedacht – genauso wie der freie Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Die grundlegende Änderung, der Durchbruch nach dem Mauerfall, war, dass diese Wirtschaftsvorschrift zu einer Grundfreiheit geworden ist, zu einem politischen Recht. Ich finde, es ist ein schöner Gedanke, dass aus dem, was 1989 als Flucht vor Tyrannei begann– das Aufkeimen der Freiheit in Danzig, Budapest, Prag und Leipzig mit dem Höhepunkt genau hier am Brandenburger Tor – die Freizügigkeit für alle Europäer geworden ist. Seither haben zahllose Frauen und Männer aus Ost und West, aus Nord und Süd ihre Chancen genutzt, Europäer zu werden, zu Hause oder im Ausland. EUCO 229/13 10 DE Nach meiner Vorstellung ist ein Raum der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit – für unermüdlich Reisende ebenso wie für häusliche Mitbürger – mehr als nur eine Komponente einer wirtschaftlichen Union: er bildet einen Grundpfeiler eines neuen Europas nach dem Fall der Mauer, er ist ein Zeichen von Zivilisation. In der letzten Zeit hat diese großartige Errungenschaft einige Kritik erfahren. Dies ist leider auf die gegenwärtig unsichere wirtschafliche Lage zurückzuführen, was natürlich keineswegs überrascht. Durch Schlagwörter wie "Sozialtourismus" oder "Sozialdumping" besteht die Tendenz, dass allerlei Probleme – ob sie nun tatsächlich vorliegen oder nur als solche empfunden werden – vermischt werden. Bei all diesem Durcheinander und all diesen Emotionen haben die Vorurteile gegenüber anderen EU-Bürgern in besorgniserregender Weise zugenommen. Und diese Entwicklung gilt es mit Nachdruck zu bekämpfen, und zwar mit Fakten, mit Verständnis und mit Überzeugungskraft. Oder um den Vertrag zu zitieren...(ich tue dies nicht alle Tage, ich weiß aber, dass das deutsche Publikum dies gut aufnimmt): "Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (...) frei zu bewegen und aufzuhalten": Dies ist eine Freiheit, die in unseren Grundrechten verankert ist. Rechtlich gesehen sind europäische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit in der Union in Anspruch nehmen, somit vollkommen anders einzuordnen als Zuwanderer, also als Menschen, die von außerhalb der Union zu uns kommen. Natürlich gibt es bestimmte Voraussetzungen für die Freizügigkeit (etwa einen gültigen Pass mit sich zu führen oder dem Wohlfahrtsstaat des Gastlandes nicht zur Last zu fallen). Wie jedes Recht wird jedoch auch dieses von einigen missbraucht. Das ist äußerst bedauerlich. Doch dies sollte kein Grund sein, das Recht zu beschneiden, sondern vielmehr ein Grund, den Missbrauch zu bekämpfen. Die nationalen und kommunalen Behörden verfügen hierfür über die erforderlichen Mittel und rechtlichen Möglichkeiten – und die EU tut alles, um ihnen beizustehen. So wird beispielsweise gegen Scheinehen zur Erlangung der Unionsbürgerschaft vorgegangen. Die Regierungen müssen aber nicht nur der Sorge ihrer Bürger Rechnung tragen, sondern sie haben auch die Pflicht, das richtige Maß zu wahren. Heutzutage leben weniger als 3 % aller Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat. Die große Mehrheit von ihnen tut dies aus beruflichen Gründen und leistet somit einen Beitrag zum Gemeinwohl. Normalerweise entrichten diese Mitbürger nämlich einen höheren Betrag an Steuern im Gastland als sie an Sozialleistungen empfangen, da sie im Durchschnitt eher jünger, besser ausgebildet und wirtschaftlich aktiver sind als die Arbeitskräfte des Gastlandes selbst. Und vergessen Sie nicht, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU in alle Richtungen funktioniert: so lassen sich beispielsweise für jeden polnischen Arbeitnehmer, der in der Hauptstadt eines europäischen Landes arbeitet, wiederum zwei Bürger dieses Landes an der spanischen Küste antreffen. Der Grundgedanke der Freizügigkeit ist immer noch, dass sich die Menschen innerhalb der Union ungehindert in den Mitgliedstaat begeben können, in dem ihre Qualifikationen und Kompetenzen am meisten gebraucht werden. Selbst heutzutage, wo so viele Menschen in der Union ohne Beschäftigung sind, gibt es weiterhin zwei Millionen freie Stellen, und zwar genau deshalb, weil die Unternehmen nicht die geeigneten Arbeitnehmer finden können. Deutschland ist ein Paradebeispiel hierfür. Also lassen all diese freien Stellen den Schluss zu, dass wir in der Union bei weitem nicht zu viel, sondern vielmehr tatsächlich eher zu wenig Mobilität haben. EUCO 229/13 11 DE Wie ich bereits erläutert habe, ist die interne Freizügigkeit eine Sache, Zuwanderung hingegen ist etwas völlig Anderes. Betrachten Sie nur einmal, wohin sich die Menschen in der Welt bewegen. Heutzutage fliehen die Menschen nicht mehr aus Europa, wie es in früheren Jahrhunderten der Fall war, sondern sie fliehen nach Europa. Denken Sie nur an die Millionen von Iren, Deutschen, Polen, Juden oder Italiener, die vor Hunger und Armut, Kriegen und Völkermord von europäischem Boden geflohen sind. Dies sollten wir nicht vergessen, wenn wir über Asylfragen sprechen. Schlussendlich sind wir nunmehr der reichste Kontinent der Welt. Diese Art der Solidarität sollte uns also mit Stolz erfüllen. Dennoch darf die legale Migration nicht fälschlicherweise mit der illegalen Migration verwechselt werden. Die illegale Einwanderung in die Europäische Union ist ein Problem, nicht nur für die Stabilität unserer Gesellschaften, sondern auch für die Migranten selbst. Wir alle haben die jüngste Tragödie vor der Küste Lampedusas noch deutlich vor Augen. Auf dem Oktobergipfel des Europäischen Rates waren sich alle Staats- und Regierungschefs darin einig, dass konsequente Maßnahmen ergriffen werden sollten, um zu verhindern, dass Menschen auf See ihr Leben verlieren und dass sich solche menschlichen Tragödien wiederholen. Wir möchten die eigentlichen Ursachen der illegalen Migrationsströme angehen – und dabei mit den Herkunfts- und Transitländern zusammenarbeiten. Wir möchten Schleusung und Menschenhandel stärker bekämpfen. Wir werden unsere Präsenz und unsere Tätigkeiten im Mittelmeer verstärken und hierzu Grenzpatrouillen einsetzen, auch um Schiffe ausfindig zu machen und Leben zu schützen und zu retten. Auch in dieser Frage ist es gut, das richtige Maß zu wahren, das uns doch so manches Mal verloren geht. Ich möchte nur einige Zahlen nennen: – In der EU werden jedes Jahr etwas mehr als 300 000 Asylanträge gestellt. – In einem Drittel der Fälle wurde im vergangenen Jahr Asylschutz gewährt. Das entspricht ungefähr 200 Asylbewerbern auf eine Million EU-Bürger .... zweifelsohne handelt es sich hier um Größenordnungen, die gut zu bewältigen sind. – Beinahe drei Viertel aller Bewerber verteilten sich auf nur fünf Länder, nämlich Deutschland, Frankreich, Schweden, das Vereinigte Königreich und Belgien; die Länder, die die meisten Flüchtlinge pro Einwohner aufnahmen, waren indessen Malta, Luxemburg und Schweden. – Was die Asylbewerber selbst anbelangt, so kamen im vergangenen Jahr die meisten aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und Somalia; es handelt sich also um Flüchtlinge aus Kriegsgebieten. Und an dieser Stelle ist es wirklich wichtig, die Dinge in ein richtiges Verhältnis zu setzen: in zwei Kriegsjahren kamen ungefähr 40 000 Flüchtlinge aus Syrien in unseren 28 Mitgliedstaaten an, gegenüber nunmehr 2 Millionen Flüchtlingen, die allein in Jordanien, Libanon und der Türkei eingetroffen sind. Ich hoffe, diese Zahlen relativieren einige Diskussionen etwas.... VI. Europa in der Welt Dies führt mich zum Abschluss und in aller Kürze zum dritten Thema des heutigen Tages: unsere Tätigkeit in der Welt. Unsere gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik spiegelt den Umstand wider, dass wir (und vor allem die Schengen-Länder) über eine gemeinsame Außengrenze verfügen. In gewisser Weise bildet dies den Ausgangspunkt für eine gemeinsamen Außenpolitik. EUCO 229/13 12 DE Es ist die Erkenntnis, dass die Geschehnisse auf der anderen Seite der Grenze nicht nur unser EU-Nachbarland angehen, sondern vielmehr uns alle. Ich habe festgestellt, dass dieses Bewusstsein in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen hat. Ich kann den Unterschied gegenüber dem Beginn meiner Amtszeit deutlich ausmachen. Auch hierzu möchte ich ein Beispiel nennen: In zwei Wochen werden wir auf einem Gipfeltreffen im Vilnius entscheiden, ob die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnen kann. Während diese Beziehungen – etwas überspitzt ausgedrückt – vor fünf Jahren noch als ein Interesse Polens betrachtet wurden, sind sich heute alle Politiker – von Spanien über die Niederlande bis Österreich – darüber im Klaren, dass das Geschehen in der Ukraine eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse ist. In gleicher Weise haben die Ereignisse in der arabischen Welt seit 2011 deutlich gemacht, dass die Entwicklungen in Tunesien oder Ägypten nicht nur Auswirkungen für Italien Malta oder Spanien sondern für alle europäischen Bürger haben. Diese Erkenntnis ist völlig neu. Eine gemeinsame achbarschaft, eine gemeinsame Verantwortung Die europäischen Länder führen weltweit weitaus mehr gemeinsame Aktionen durch als gemeinhin angenommen. Wir sind mit Abstand der größte Geber von Entwicklungshilfe in der Welt. Trotz der Finanzkrise hat die EU in den letzten beiden Jahren nicht weniger als fünf neue zivile oder militärische Missionen eingeleitet, und zwar in Mali, in Südsudan, in der Sahelzone, an den Grenzen Libyens und vor der Küste Somalias. Im Jahr 2013 haben wir außerdem Operationen in Afghanistan, Georgien und der Demokratischen Republik Kongo fortgesetzt. Europa ist in Krisen- und Konfliktgebieten durch Ärzte und Nothilfepersonal, Landwirtschaftsexperten und Ingenieure, aber auch durch Richter und Staatsanwälte, Polizeibeamte und Soldaten vertreten. Sie alle sind dort, um die Arbeit ihrer Partner vor Ort zu unterstützen, ein Land zu stabilisieren, Ordnung und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, das Bewusstsein für Recht zu stärken und Hoffnung für die Zukunft zu bringen. Die Europäische Union ist als solche natürlich keine Militärmacht. In der Welt von heute nimmt die Bedeutung militärischer Macht ohnehin ab. Wirtschaftliche Macht zählt dafür umso mehr. Bei einigen der demokratischen Länder mit den größten Armeen sehen wir außerdem – denken Sie nur an die Reaktionen auf Syrien –, dass der Einsatz militärischer Macht durch die öffentliche Meinung oder die Parlamente weiter eingeschränkt wird... In Anbetracht der Turbulenzen in der Welt um uns herum müssen wir allerdings in der Lage sein, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Die geopolitische Neuausrichtung unseres Verbündeten Vereinigte Staaten veranlasst uns noch mehr dazu, dies zu tun. Aber sind wir auch bereit, die Mittel dafür einzubringen? Die Menschen schauen auf die Länder Europas, einschließlich Deutschlands, um zu sehen, ob sie bereit sind, ihrer Rolle gerecht zu werden. Dies gilt für die finanziellen Ressourcen, aber auch für die personellen Ressourcen. Die Frage der finanziellen Ressourcen ist in Anbetracht der gegenwärtigen großen Haushaltszwänge sogar noch akuter geworden. Ich habe daher das Thema Verteidigung auf die Tagesordnung der Dezember-Tagung des Europäischen Rates gesetzt. Zusammen geben wir für Verteidigung mehr aus als die Vereinigten Staaten. Die Wirkung ist jedoch unterschiedlich...Wir sollten unser Geld effizienter nutzen, indem wir Ressourcen zusammenlegen und teilen. EUCO 229/13 13 DE Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im vergangenen Dezember erklärten die europäischen Staats- und Regierungschefs, dass die Europäische Union denen beistehen wird, die nach Frieden und Menschenwürde streben. Damit wir dieser Verantwortung gerecht werden, müssen uns die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen. VII. Fazit Wenn ich mir die Arbeit betrachte, die gegenwärtig geleistet wird, die in den vergangenen Jahren, in denen ich dieses Amt bekleidet habe, von den Regierungen und Institutionen, von den Frauen und Männern auf unserem ganzen Kontinent geleistet wurde, so bin ich zuversichtlich. Wir überwinden nicht nur die schwerste Wirtschaftskrise, von der wir in zwei Generationen betroffen waren, sondern wir vereinen auch unsere Kräfte für die Zukunft. Wir gestalten gemeinsam das Europa nach dem Fall der Mauer. Das "Europa nach dem Fall der Mauer" gestalten wir gemeinsam. Vor uns wird noch ein weiter Weg liegen, und wir werden auf diesem Weg vielleicht noch Überraschungen erleben, aber wir haben in den vergangenen Jahren der Welt und uns selbst bewiesen, dass wir den politischen Willen haben, gemeinsam gestärkt aus der Krise herauszugehen. Wie ich bereits gesagt habe, besteht die Herausforderung heute darin, diese Arbeit in einem Moment, der für die Menschen Europas nicht schwieriger sein könnte, fortzusetzen: Die Ergebnisse, mit denen die Menschen überzeugt werden können, liegen noch nicht alle vor, und die Globalisierung und die Krise haben ihre Spuren hinterlassen. Aber ich vertraue darauf, dass diese Überzeugungsarbeit Erfolg haben wird und dass die Bürger Europas der Lage gewachsen sind. Einer meiner Nachfolger wird eines Tages vielleicht in Berlin oder Stuttgart, vielleicht in Athen oder Warschau eine Rede halten, in der er oder sie nachzeichnen kann, wie wir Europäer es geschafft haben, in den Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer unseren Kontinent als Osteuropäer, Westeuropäer, -ordeuropäer, Südeuropäer und -eueuropäer, alle zusammen, neu zu gestalten. Und ich hoffe, dass Europa uns immer mehr auch ein Heimatort sein kann. Heimat, so wie es Johann Wolfgang von Goethe gemeint haben mag, als er an einem heiteren Novembertag sagte: "Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne." Vielen Dank. EUCO 229/13 14 DE