Fabrizio Gatti

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Leseprobe aus:
Fabrizio Gatti
Bilal
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Copyright © der deutschen Ausgabe by Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2010
u-bahnhof mailand, italien
Der Kopf ist schon seit einigen Monaten unterwegs. Der Bauch
und seine Ängste auch. Aber jeder Aufbruch hat seinen Ort
in Raum und Zeit. Die Trennlinie zwischen dem Vorher und
Nachher. Diese Reise beginnt vor einer trostlosen Endstation der U-Bahn. An einem Nachmittag, der nach Regen aussieht. Unter dem Gewicht des Rucksacks, mehr als zehn Kilo,
ein paar T-Shirts, die Kameras, Filme, drei Karten der Sahara,
denn über den Verlauf der Sandpisten dort gibt jede eine andere Auskunft. Nach einem stummen Abschied steigt sie wieder ins Auto, legt den Sicherheitsgurt an, startet den Motor und
dreht sich ein letztes Mal um. Sacht legt sie die rechte Hand
aufs Herz, auf die Lippen und die Stirn in einer fließenden Bewegung, bis sie schließlich die Handfläche ganz öffnet. Es ist
der eleganteste Abschiedsgruß, den uns die Völker der Wüste
überliefert haben. Du würdest gern noch etwas sagen. Stehen
bleiben. Umkehren.
Doch es ist zu spät.
1
vom senegal nach mali
I
m Fenster taucht unter einer Kuppel aus weißem Licht der
Flughafen von Dakar auf. Afrika liegt ein paar Dutzend Meter unter uns. Ringsum herrscht stockdunkle Nacht. Die große
Reise hat gerade erst begonnen und uns schon die ersten drei
Stunden Verspätung aufgezwungen. In Mailand war alles zum
Start bereit, die Sicherheitsgurte angeschnallt, die Türen geschlossen. Da fing ein Passagier zu schreien an, wollte sich das
blaue T-Shirt mit der Aufschrift «Italia» vom Leib reißen. Die
Stewardess forderte ihn immer wieder auf, den Sicherheitsgurt anzulegen. Er aber begann sich sogar den Hosengürtel herauszuziehen. Ein Mann um die dreißig, groß und kräftig. Wer
weiß, wann er Afrika verlassen hatte. Nun wollten sie ihn wieder zurückschicken; dem Flugkapitän war ein Identifizierungsformular übergeben worden, wie man es beim Transport von
Wertsachen oder bei Tieren macht, die im Gepäckraum in einem Käfig mitfliegen. Im Monopoly seines Lebens hatte er
überraschend die schlechteste Karte gezogen, für einen Einwanderer ist das der Abschiebungsbescheid. Als er den langen
Gang der Md-11 betrat, erkannte er, dass dies der einzige Moment war, in dem er in Europa Macht hatte. Ein ganzes Flugzeug, die Besatzung, mehr als zweihundert Passagiere. Alle in
seiner Hand. Das wurde ihm bewusst, und er wartete ab. Von
seinem Sitz aus konnte er die Piloten nicht sehen, aber er besaß
Geistesgegenwart. Als der Start freigegeben wurde, spielte er
seine letzte Karte aus.
– 11 –
Das Drama dauert seine Zeit. Zuerst eilen die Stewardessen herbei: «Bitte, beruhigen Sie sich.» Dann kommen die Stewards, schon etwas nachdrücklicher: «Wenn Sie nicht aufhören, verständigen wir den Kapitän.» Und schon taucht der
Kapitän auf, in tadelloser Uniformjacke, goldene Streifen an
der Mütze: «Ich bitte Sie, sonst müssen wir die Polizei rufen.»
Eine Stunde lang geht es hin und her, dann kommt schließlich
die Polizei an Bord. Aber was soll man einem Mann sagen, dem
gerade der Verlust all dessen droht, auf das er gesetzt hat? Dass
er festgenommen wird, wenn er sich nicht ruhig verhält?
In der ersten Klasse sitzt in der dritten Reihe jemand, der
dazu beitragen könnte, den Mann zu beruhigen. Karamoko el
Hadji ist ein berühmter senegalesischer Marabut. Die Senegalesen erkannten ihn beim Einsteigen, verbeugten sich vor ihm,
griffen nach seiner Hand und wünschten ihm und seinen zwei
Frauen, die er im gambischen Banjul und in Dakar zurückgelassen hat, alles Gute. El Hadji trägt ein Gri-gri auf der Brust,
ein zylinderförmiges Lederamulett, dessen Band um Hals und
Taille befestigt ist. Das Gri-gri enthält ein zusammengerolltes
Stück Papier mit einem Koranvers. Am Ringfinger seiner rechten Hand trägt el Hadji eine wuchtige silberne Kapsel, die ein
grünes Pulver enthält. «Das wehrt Böses ab», erklärt er und
zeigt auf das Gri-gri. «Es schützt dich, wenn sie auf dich schießen oder mit dem Messer zustechen. Der Ring dagegen besagt,
dass du Macht besitzt. Und die Menschen erkennen sie an.»
«Aber wer sollte auf jemanden wie Sie schießen?» «Das weiß
man nie. Wenn man afterhours, zum Beispiel nachts, unterwegs ist, kann es passieren.» «Bedeutet der Titel el Hadji, dass
Sie schon die Pilgerreise gemacht haben?» «Ein Hadschi? Ich?
Nein, noch nicht», erwidert er lächelnd und senkt den Blick:
«Die Reise nach Mekka ist teuer. Aber warum geht es nicht
los?»
– 12 –
Die Marabuts sind große Reisende. Sie brauchen nicht einmal den Ort zu wechseln. Tagtäglich, bei jedem der fünf Gebete, begeben sie sich, wo auch immer sie gerade sind, nach
Mekka und wieder zurück. Das Gesetz Gottes verlangt weder
Pass noch Visum. Das Gesetz der Menschen schon. Und deshalb versteht Karamoko el Hadji den Grund für die ganze Aufregung überhaupt nicht, die sich etwa zwanzig Reihen hinter
seinem Sitz abspielt.
«Jetzt reicht’s aber! Gib Ruhe oder du verlässt das Flugzeug!», schreit einer der Polizisten dort hinten. Normalerweise
lässt sich niemand freiwillig verhaften. Niemand, der die Gesetze achtet, ja nicht einmal der blutrünstigste Kriminelle. Aber
für diesen Mann dreht sich die Erde heute Abend genau andersherum. Und endlich tut man ihm den Gefallen. Es hat drei
Stunden und zwölf Minuten gedauert. Alle sind zufrieden. Die
Autorität hat sich durchgesetzt, die italienischen Passagiere applaudieren den Polizisten, der Kapitän kann die Turbinen hochfahren. Es geht los. Der Schuldige an diesem ganzen Ärger wird
noch einige Tage in Italien bleiben können. Bis man erneut versucht, ihn zurückzuschicken. Um ihn dann erneut festzunehmen. Dabei fehlt ihm nur ein Stück Papier, damit er in Europa
bleiben könnte: 25 × 15 m, ein Lichtbild, ein bisschen Tinte, ein
Stempel. Im Italien der Mafia, der Bestechung und der Bestochenen, die als Minister und Abgeordnete Gesetze zum Schutz
ihrer räuberischen Kumpane machen, ist es für einen Ausländer eine Katastrophe, dieses Stück Papier nicht zu besitzen.
Wie viel hat diese Szene heute Abend gekostet? Drei Beamte
im Nachtdienst, ein Wagen mit Blaulicht auf dem Rollfeld, die
Turbinen des Flugzeugs drei Stunden lang im Leerlauf, Überstunden für Piloten und Besatzung, das bereits bezahlte Ticket,
der Richter, der den Prozess führen wird, der Pflichtanwalt,
den der Staat bezahlt, der Verwaltungsaufwand, die Tage in der
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Zelle, die Papiere für die erneute Abschiebung und vielleicht ein
weiterer Flug, der aufgehalten wird. Eine Aufenthaltsgenehmigung würde sehr viel billiger kommen. Aber die Politiker brauchen dringend solche Szenen. Wie sollte man sonst ihre Wahl
rechtfertigen?
Gedanken in Freiheit. Und das angstvolle Gesicht dieses
Mannes, das sich mir tief einprägt, während er jetzt von einem Polizisten vor ihm und zweien hinter ihm abgeführt wird.
Freundlich schieben sie ihn zwischen den Sitzreihen zum Ausgang. Es ist unmöglich zu erfahren, wer er ist, unmöglich, ihn
nach seiner Geschichte zu fragen, danach, was er falsch gemacht
hat und was er zu finden hoffte. Es ist ein Illegaler. Eine neue soziale Schicht im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Mensch, der
unsichtbar ist, nicht zählt, überhaupt nicht vorhanden ist. Als
er an Karamoko el Hadji vorübergeht, würdigt dieser ihn keines Blickes.
Jetzt bei der Landung ist die Erinnerung an diese von den
Tränen und der Anspannung geröteten Augen immer noch gegenwärtig: reglos in der Dunkelheit, die Gesichter und Landschaft verschluckt, sobald man die Lichtkuppel des Flughafens
von Dakar verlässt. Weit aufgerissene Augen, verloren in den
von der Müdigkeit verlangsamten Gedanken. Das alte Taxi erleuchtet die Straße mit seinen schwachen Scheinwerfern. Nach
nicht einmal einem Kilometer bleibt es am Straßenrand stehen.
Eine Tür wird aufgemacht. Eine Frau steigt ein, dunkel wie die
Nacht und groß wie ein Basketballspieler. Nur ihre Stimme, die
Halbmonde ihres riesigen Busens und der enganliegende Minirock verraten, dass es sich um eine Frau handelt. «Wir fahren in
dein Hotel», befiehlt sie ohne weitere Erklärungen.
«Wie bitte?» «Nenn dem Taxifahrer dein Hotel. Los jetzt»,
entgegnet sie unwirsch. Der Fahrer dreht sich um und erwartet
eine Antwort. Bestimmt stecken sie unter einer Decke. «Also?»,
– 14 –
fragt der Taxifahrer. «Ich fahre in kein Hotel. Lassen Sie sie bitte
aussteigen.» Sie sprechen Wolof miteinander. Die Frau versucht
es noch einmal. Dann schaut sie schweigend vor sich hin. Sie
ist fast unsichtbar, im Dunkeln kann man ihr Profil nur erahnen. Das Auto schaukelt bei jeder Bewegung hin und her. Ihr
Atem geht langsam. Die Haut verströmt einen süßlichen Duft
von Blüten und Schweiß. Plötzlich wird ihre feuchte Hand am
Hals sichtbar. «Ich schlafe heute Nacht bei dir. Sag ihm bitte die
Adresse», fügt sie auf Französisch hinzu.
«Ich übernachte nirgends. Ich fahre zum Bahnhof.» «Zum
Bahnhof. Du meine Güte, und wo willst du hin? Um diese
Zeit fahren keine Züge.» «Wenn du willst, bring ich dich zum
Bahnhof. Oder sag einfach, wohin du willst. Ich bezahle dir die
Fahrt.» «Zu deinem Hotel.» «Ich habe kein Hotel.» Sie flucht
auf Wolof. Jetzt geht sie auf den Taxifahrer los und wirft ihm
vor, ihre Zeit zu vergeuden. Er zwingt sie auszusteigen.
«Diese Mädchen», bemerkt der Taxifahrer, nachdem er ein
paar Kilometer geschwiegen hat, «die machen keine anständige
Arbeit.» Da er keinerlei Antwort erhält, merkt er, dass es besser
ist, das Thema zu wechseln. Es ist schon fast hell, und das Hotel verspricht ein paar Stunden Schlaf.
Der Bahnhof von Dakar blendet durch seine Farben. Er liegt in
einer Kurve abseits des Verkehrsgewühls und der Abgase an der
Straße zum Frachthafen. Auf dem Parkplatz dominiert das Gelb
von ein paar Dutzend Taxis. Die Fassade erstrahlt im typischen
Weiß der Kolonialarchitektur. Es ist ein Uhr Mittag. In der engen Straße zur Linken drängen sich lärmende Menschen vor
Verkaufsständen mit Stoffen. Heute ist Freitag, Feiertag. Aber
die Bahnhofshalle ist menschenleer. Unter ihren Deckengewölben sind französische Soldaten durchgezogen, Sklavenhändler
und der junge Ernesto Che Guevara, der von hier aufbrach, um
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die Völker Afrikas zum Aufstand zu mobilisieren. Heute stehen keine Züge auf den Gleisen, keine Passagiere, kein Gepäck.
Auch die Fahrkartenschalter sind geschlossen. Nur die Cafeteria am Eingang ist offen. Ein langer staubiger Tresen vor fast
leeren Regalen mit Gläsern und Tassen. Die Regeln der Höflichkeit verlangen eine ausführliche Begrüßung.
«Guten Tag, wie geht es Ihnen?» «Gut, so Gott will, und
­Ihnen?» «Gut, danke.» «Und was macht die Gesundheit?»
«Gut, so Gott will.» «Und die Arbeit?» «Gut, so Gott will.»
«Und die Familie?» «Gut, und Ihre Gesundheit?» «Gut, so Gott
will.» «Und Ihre Arbeit?» «Gut, so Gott will.» «Und die Familie?» «Gut, so Gott will.»
«Wie kann ich Ihnen helfen?», fragt der Kellner endlich.
«Ich muss nach Bamako. Fährt morgen ein Zug?» «Oh, Bamako.
Nein, morgen fahren keine Züge.» «Und wann fährt wieder
einer?» «Der Zug kommt am Montag, so Gott will. Vielleicht.»
«Er kommt am Montag. Vielleicht. Und wann fährt er wieder
ab?» «Am Mittwoch. Oder am Samstag, so Gott will.» «Aber
heute ist Freitag. Bis zum nächsten Samstag kein Zug nach Bamako, was ist passiert?»
«In Kidira ist ein Zug entgleist, und man muss ihn wieder
auf die Gleise setzen. Kommen Sie Montag wieder.» «Aber
wann ist er denn entgleist?» «Wann? Keine Ahnung. Auf jeden Fall hieß es, dass er morgen nicht ankommt. Fragen Sie am
Montag noch einmal nach.» «Und wie kommt man ohne Zug
nach Kidira?» Der Kellner berät sich auf Wolof mit zwei Helfern. «Es gibt einen Bus», sagt er dann, «aber der ist gestern gefahren. Der nächste geht am Donnerstag. Vielleicht.»
«Und wenn es jemand eilig hat, nach Bamako zu kommen?»
«Mein Freund, in Afrika hat es niemand eilig, irgendwohin
zu kommen. Wenn Sie aber wirklich nicht in Dakar warten
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wollen, können Sie ein alhamdulillah nehmen.» «Ein ‹Gelobt sei
Gott›?»
Der Kellner lacht über die Skepsis, die dieses arabische Wort
ausgelöst hat. «Ja, ein Danke», erwidert er, «für jedes Mal, dass
sie uns sicher und unversehrt ans Ziel gebracht haben. Die alhamdulillahs sind die Sammeltaxis, sie fahren vom Markt ab. Ich
weiß nicht, ob sie bis Kidira fahren, so Gott will. Aber Sie können ja fragen.»
«Natürlich kann ich fragen, so Gott will.»
In der Rue Alpha Hachamiyou Tall, in einer vornehmen
Wohngegend, stehen Männer und Frauen vor den mit Stacheldraht bewehrten Mauern einer großen Villa Schlange und warten auf irgendetwas. Von weitem wirken die Farben der Haut
und der Kleider vor dem Kalkweiß der Mauern wie ein riesiges
Wandgemälde. Sie warten schwitzend in der Sonne, bis sie an
der Reihe sind. Viele pressen die Zunge gegen die Zähne und
spucken auf den Asphalt. Man muss die Menge eine Weile beobachten, um zu verstehen, was vor sich geht. Sicher haben sie
seit dem Morgengrauen nichts getrunken, denn es ist Ramadan.
Die Hitze, der Durst und der Hunger des Fastens erhöhen den
Speichelfluss. Durch einen Schlitz im schusssicheren Glas des
Pförtnerhäuschens nimmt ein senegalesischer Angestellter in
khakifarbener Uniform Papiere und Fotos entgegen. Dann ruft
er den Nächsten auf. Die Wartezeit beträgt eine halbe Stunde.
Nach dem, was am Schalter angeschlagen ist, müsste in wenigen Minuten geschlossen werden.
«Guten Tag, wie geht’s?», fragt der Angestellte auf Französisch. «Gut, so Gott will.» «Aber Sie sind Italiener?» «Ja, ich
möchte …» «Bitte, bitte, Sie können eintreten», unterbricht er
mich.
Mit einem metallischen Schnappgeräusch öffnet sich das
Tor unter dem Objektiv einer großen Überwachungskamera.
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In diesem Vorposten der Festung Europa wird alles elektronisch überwacht. Drei Stufen führen ins Einwanderungsbüro
der italienischen Botschaft. Man wird mit der für diplomatische Vertretungen typischen Höflichkeit behandelt. Eine Angestellte benachrichtigt umgehend den Ersten Sekretär.
«Wie viele Menschen da draußen warten.»
Der junge Beamte lächelt über diese banale Feststellung. Die
italienische Flagge ziert neben der europäischen seinen Schreibtisch, über seinem Kopf prangt das Foto des Staatspräsidenten
an der Wand. Alles sieht aus wie in einem beliebigen Büro der
öffentlichen Verwaltung Europas: ordentlich, sauber und kühl.
«Was führt Sie also her?», fragt er mich, während er aufsteht,
um mir die Hand zu geben.
«Die, die da draußen anstehen.»
Der Erste Sekretär dreht sich zum Fenster zu seiner Rechten.
«Jede Woche, jeden Tag ist es so. Wir bekommen wöchentlich
hundertfünfzig Visumanträge. Mal zweiundfünfzig, das können Sie selbst ausrechnen.» «Nur hundertfünfzig Anträge, das
sind weniger als achttausend Visa im Jahr. Ich dachte, viel mehr
Menschen wollten von hier nach Europa.» «In der Tat sind es
viel mehr. Das sind nur die Anträge, die wir akzeptieren. Die allermeisten werden abgelehnt, weil sie unvollständig oder nicht
vertrauenerweckend sind.»
«Sie stellen also ungefähr achttausend Visa im Jahr aus.»
«Nein, nein, nein», erwidert der Beamte mit Nachdruck.
«Nicht alle Anträge, die wir annehmen, führen, obwohl sie vollständig und, sagen wir, vertrauenerweckend sind, zu einer Einreiseerlaubnis. Letzten Endes stellen wir nicht mehr als zweitausend Visa aus. Die Hälfte für Ehefrauen und Kinder, die ihre
Angehörigen in Italien aufsuchen. Der Rest sind Kurzzeitvisa
für Geschäfts- oder Urlaubsreisen. Die Familienzusammenführung erfordert ein ziemlich langfristiges Prozedere, aber dabei
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arbeiten die lokalen Behörden für den Nachweis der tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehungen eng mit uns zusammen.
Immer wieder wird versucht, sich mit gefälschten Bescheinigungen und Papieren ein Visum zu erschleichen. Die Geburtenrate hier ist sehr hoch, und viele geben ihre eigenen Kinder als
die von Verwandten aus, die bereits in Italien leben. Nach dem
Gesetz aber haben Neffen oder Cousins kein Anrecht auf Familienzusammenführung.»
«Und wie lange dauert es, um ein Visum für eine Geschäftsoder Urlaubsreise zu bekommen?»
«Die Kurzzeitvisa erteilen wir innerhalb weniger Tage, aber
natürlich nur, wenn die entsprechenden Bedingungen vorliegen: finanzielle Unabhängigkeit, glaubhafte Motive, das heißt,
wir müssen die Sicherheit haben, dass die Antragsteller nach
Ablauf des Visums wieder zurückkehren.»
«Es gibt also jedes Jahr mindestens sechstausend Senegalesen, die leer ausgehen. Hinzu kommen weitere, sicherlich Tausende, deren Anträge aus den von Ihnen genannten Gründen
zurückgewiesen werden. Außerdem noch die Zigtausende,
die es nicht einmal bis zur Botschaft schaffen. Und dasselbe
gilt ­sicherlich für die Botschaft jedes europäischen Landes. Ein
­regelrechtes Glücksspiel.»
«Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber es ist leider so. Es handelt sich nicht nur um Senegalesen. Unsere Botschaft ist nicht
nur für den Senegal zuständig, sondern auch für Mauretanien, Mali und Guinea. Wir können natürlich nicht allen eine
Einreiseerlaubnis erteilen. Wissen Sie, dass Italiener manchmal als Touristen hierherkommen und dann einen Afrikaner
mit nach Hause nehmen wollen, der vielleicht hier ihr Fremdenführer war? Sie schließen Freundschaft und wollen dann
­helfen.»
«Und was tun Sie in einem solchen Fall?»
– 19 –
«Wir weisen derartige Visaanträge in der Regel selbstverständlich ab», antwortet der junge Sekretär.
«Selbstverständlich. Beantragt denn niemand ein Visum,
um in Italien zu arbeiten?»
«Für einen Studien- oder Arbeitsaufenthalt gibt es eine
Quote. Sie wird auf der Grundlage der Zuwanderungsstatistik
jedes Jahr neu festgesetzt. Das Problem besteht darin, dass der
Senegal keine eigene Quote hat, sondern, sagen wir, der übrigen Welt zugerechnet wird. Die Botschaft nimmt die Anträge
an, und wenn die Quote erreicht ist, teilt uns das Außenministerium mit, dass keine Plätze mehr frei sind.»
«Wie viele Plätze kann die Botschaft von Dakar auf diese
Weise vergeben?» Der Botschaftssekretär lächelt: «Oh, das sind
nur wenige. Höchstens ein paar Hundert. Nie mehr als vierhundert pro Jahr. Zuerst kommen Länder wie Albanien oder Tunesien, mit denen Italien bilaterale Verträge geschlossen hat. Wie
Sie sich leicht vorstellen können, ist der Rest in wenigen Tagen
vergeben. Besser gesagt, in wenigen Stunden.»
«Man kann also von hier aus nur einreisen, wenn schon der
Vater, der Ehemann oder der Sohn in Italien ist, denn aus dem
Senegal wandern hauptsächlich Männer nach Italien ein. Oder
wenn man Geld hat und sich eine Urlaubsreise leisten kann.
Oder wenn man hier gut verdient, etwa als Unternehmer, Kaufmann oder Vertreter eines multinationalen Unternehmens …»
«So ist es.»
Das Lächeln des Beamten unterstreicht noch einmal, dass die
Welt und die Gesetze so und nicht anders sind und sein können.
«Jetzt muss ich mich von Ihnen verabschieden. In Mauretanien
gab es einen Putschversuch, und ich muss mich um das Schicksal von vierzig unserer Landsleute kümmern. Heuer hat es wenigstens reichlich geregnet», fügt er noch hinzu. «Ich wünsche
­Ihnen eine gute Reise.» «Entschuldigen Sie, was heißt das: ‹Es
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hat reichlich geregnet›?» «Das heißt, nach zwei Jahren Dürre hat
es endlich geregnet. Der Regen spielt in diesen Fällen eine große
Rolle. In Dürrezeiten, wenn die Ernte ausfällt, fliehen Tausende
Familien vom Land in die Hauptstadt. In den Vorstädten von
Dakar verschlechtern sich die Lebensbedingungen, und deshalb
nimmt die Zahl derer zu, die, sagen wir, die Auswanderung von
Afrika aus weiter nach Europa versuchen. Es sind vielleicht dieselben, die vor drei, vier oder fünf Jahren vom Land in die Stadt
gekommen sind. Und dann geht die Wirtschaft den Bach runter. Vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts der frankophonen Länder Afrikas basierten früher auf dem Reichtum der Elfenbeinküste. Dort aber ist die Lage inzwischen katastrophal.
Wir können nur auf den Regen hoffen.»
«Hoffen wir auf den Regen.»
Ungelöst bleibt aber ein Problem: Wie kommt man nach
­K idira?
Aus einer Baracke, die zwischen dem Atlantik und der Küstenstraße nach Kap Verde liegt, steigen Rauch und der Geruch
von gebratenem Fisch auf. Ein paar windschiefe Plastiktische
und rußgeschwärzte, fettige Pfannen auf einem verrosteten
Herd. Als Tresen dient ein Brett auf vier Akazienstümpfen, der
uralte Kühlschrank ist über und über mit bunten Aufklebern
französischer Fußballvereine beklebt. Die Kellnerin hat die
Haare straff zum Pferdeschwanz gebunden, der ihren überlangen Hals freilegt, sie trägt eine nicht mehr ganz saubere weiße
Bluse, einen blauen Pulli und ein dunkles Tuch um die Hüften,
das ihr bis zu den Füßen reicht. Diese Kleidung verrät geheime
Absichten, ehrgeizige Pläne und längst getroffene Entscheidungen. Auch wenn der untere Teil ihres Körpers noch von der Tradition umhüllt ist, hat sich der obere, dem Kopf nähere, schon
der europäischen Mode ergeben.
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