Leseprobe aus: Fabrizio Gatti Bilal Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © der deutschen Ausgabe by Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2010 u-bahnhof mailand, italien Der Kopf ist schon seit einigen Monaten unterwegs. Der Bauch und seine Ängste auch. Aber jeder Aufbruch hat seinen Ort in Raum und Zeit. Die Trennlinie zwischen dem Vorher und Nachher. Diese Reise beginnt vor einer trostlosen Endstation der U-Bahn. An einem Nachmittag, der nach Regen aussieht. Unter dem Gewicht des Rucksacks, mehr als zehn Kilo, ein paar T-Shirts, die Kameras, Filme, drei Karten der Sahara, denn über den Verlauf der Sandpisten dort gibt jede eine andere Auskunft. Nach einem stummen Abschied steigt sie wieder ins Auto, legt den Sicherheitsgurt an, startet den Motor und dreht sich ein letztes Mal um. Sacht legt sie die rechte Hand aufs Herz, auf die Lippen und die Stirn in einer fließenden Bewegung, bis sie schließlich die Handfläche ganz öffnet. Es ist der eleganteste Abschiedsgruß, den uns die Völker der Wüste überliefert haben. Du würdest gern noch etwas sagen. Stehen bleiben. Umkehren. Doch es ist zu spät. 1 vom senegal nach mali I m Fenster taucht unter einer Kuppel aus weißem Licht der Flughafen von Dakar auf. Afrika liegt ein paar Dutzend Meter unter uns. Ringsum herrscht stockdunkle Nacht. Die große Reise hat gerade erst begonnen und uns schon die ersten drei Stunden Verspätung aufgezwungen. In Mailand war alles zum Start bereit, die Sicherheitsgurte angeschnallt, die Türen geschlossen. Da fing ein Passagier zu schreien an, wollte sich das blaue T-Shirt mit der Aufschrift «Italia» vom Leib reißen. Die Stewardess forderte ihn immer wieder auf, den Sicherheitsgurt anzulegen. Er aber begann sich sogar den Hosengürtel herauszuziehen. Ein Mann um die dreißig, groß und kräftig. Wer weiß, wann er Afrika verlassen hatte. Nun wollten sie ihn wieder zurückschicken; dem Flugkapitän war ein Identifizierungsformular übergeben worden, wie man es beim Transport von Wertsachen oder bei Tieren macht, die im Gepäckraum in einem Käfig mitfliegen. Im Monopoly seines Lebens hatte er überraschend die schlechteste Karte gezogen, für einen Einwanderer ist das der Abschiebungsbescheid. Als er den langen Gang der Md-11 betrat, erkannte er, dass dies der einzige Moment war, in dem er in Europa Macht hatte. Ein ganzes Flugzeug, die Besatzung, mehr als zweihundert Passagiere. Alle in seiner Hand. Das wurde ihm bewusst, und er wartete ab. Von seinem Sitz aus konnte er die Piloten nicht sehen, aber er besaß Geistesgegenwart. Als der Start freigegeben wurde, spielte er seine letzte Karte aus. – 11 – Das Drama dauert seine Zeit. Zuerst eilen die Stewardessen herbei: «Bitte, beruhigen Sie sich.» Dann kommen die Stewards, schon etwas nachdrücklicher: «Wenn Sie nicht aufhören, verständigen wir den Kapitän.» Und schon taucht der Kapitän auf, in tadelloser Uniformjacke, goldene Streifen an der Mütze: «Ich bitte Sie, sonst müssen wir die Polizei rufen.» Eine Stunde lang geht es hin und her, dann kommt schließlich die Polizei an Bord. Aber was soll man einem Mann sagen, dem gerade der Verlust all dessen droht, auf das er gesetzt hat? Dass er festgenommen wird, wenn er sich nicht ruhig verhält? In der ersten Klasse sitzt in der dritten Reihe jemand, der dazu beitragen könnte, den Mann zu beruhigen. Karamoko el Hadji ist ein berühmter senegalesischer Marabut. Die Senegalesen erkannten ihn beim Einsteigen, verbeugten sich vor ihm, griffen nach seiner Hand und wünschten ihm und seinen zwei Frauen, die er im gambischen Banjul und in Dakar zurückgelassen hat, alles Gute. El Hadji trägt ein Gri-gri auf der Brust, ein zylinderförmiges Lederamulett, dessen Band um Hals und Taille befestigt ist. Das Gri-gri enthält ein zusammengerolltes Stück Papier mit einem Koranvers. Am Ringfinger seiner rechten Hand trägt el Hadji eine wuchtige silberne Kapsel, die ein grünes Pulver enthält. «Das wehrt Böses ab», erklärt er und zeigt auf das Gri-gri. «Es schützt dich, wenn sie auf dich schießen oder mit dem Messer zustechen. Der Ring dagegen besagt, dass du Macht besitzt. Und die Menschen erkennen sie an.» «Aber wer sollte auf jemanden wie Sie schießen?» «Das weiß man nie. Wenn man afterhours, zum Beispiel nachts, unterwegs ist, kann es passieren.» «Bedeutet der Titel el Hadji, dass Sie schon die Pilgerreise gemacht haben?» «Ein Hadschi? Ich? Nein, noch nicht», erwidert er lächelnd und senkt den Blick: «Die Reise nach Mekka ist teuer. Aber warum geht es nicht los?» – 12 – Die Marabuts sind große Reisende. Sie brauchen nicht einmal den Ort zu wechseln. Tagtäglich, bei jedem der fünf Gebete, begeben sie sich, wo auch immer sie gerade sind, nach Mekka und wieder zurück. Das Gesetz Gottes verlangt weder Pass noch Visum. Das Gesetz der Menschen schon. Und deshalb versteht Karamoko el Hadji den Grund für die ganze Aufregung überhaupt nicht, die sich etwa zwanzig Reihen hinter seinem Sitz abspielt. «Jetzt reicht’s aber! Gib Ruhe oder du verlässt das Flugzeug!», schreit einer der Polizisten dort hinten. Normalerweise lässt sich niemand freiwillig verhaften. Niemand, der die Gesetze achtet, ja nicht einmal der blutrünstigste Kriminelle. Aber für diesen Mann dreht sich die Erde heute Abend genau andersherum. Und endlich tut man ihm den Gefallen. Es hat drei Stunden und zwölf Minuten gedauert. Alle sind zufrieden. Die Autorität hat sich durchgesetzt, die italienischen Passagiere applaudieren den Polizisten, der Kapitän kann die Turbinen hochfahren. Es geht los. Der Schuldige an diesem ganzen Ärger wird noch einige Tage in Italien bleiben können. Bis man erneut versucht, ihn zurückzuschicken. Um ihn dann erneut festzunehmen. Dabei fehlt ihm nur ein Stück Papier, damit er in Europa bleiben könnte: 25 × 15 m, ein Lichtbild, ein bisschen Tinte, ein Stempel. Im Italien der Mafia, der Bestechung und der Bestochenen, die als Minister und Abgeordnete Gesetze zum Schutz ihrer räuberischen Kumpane machen, ist es für einen Ausländer eine Katastrophe, dieses Stück Papier nicht zu besitzen. Wie viel hat diese Szene heute Abend gekostet? Drei Beamte im Nachtdienst, ein Wagen mit Blaulicht auf dem Rollfeld, die Turbinen des Flugzeugs drei Stunden lang im Leerlauf, Überstunden für Piloten und Besatzung, das bereits bezahlte Ticket, der Richter, der den Prozess führen wird, der Pflichtanwalt, den der Staat bezahlt, der Verwaltungsaufwand, die Tage in der – 13 – Zelle, die Papiere für die erneute Abschiebung und vielleicht ein weiterer Flug, der aufgehalten wird. Eine Aufenthaltsgenehmigung würde sehr viel billiger kommen. Aber die Politiker brauchen dringend solche Szenen. Wie sollte man sonst ihre Wahl rechtfertigen? Gedanken in Freiheit. Und das angstvolle Gesicht dieses Mannes, das sich mir tief einprägt, während er jetzt von einem Polizisten vor ihm und zweien hinter ihm abgeführt wird. Freundlich schieben sie ihn zwischen den Sitzreihen zum Ausgang. Es ist unmöglich zu erfahren, wer er ist, unmöglich, ihn nach seiner Geschichte zu fragen, danach, was er falsch gemacht hat und was er zu finden hoffte. Es ist ein Illegaler. Eine neue soziale Schicht im Europa des 21. Jahrhunderts. Ein Mensch, der unsichtbar ist, nicht zählt, überhaupt nicht vorhanden ist. Als er an Karamoko el Hadji vorübergeht, würdigt dieser ihn keines Blickes. Jetzt bei der Landung ist die Erinnerung an diese von den Tränen und der Anspannung geröteten Augen immer noch gegenwärtig: reglos in der Dunkelheit, die Gesichter und Landschaft verschluckt, sobald man die Lichtkuppel des Flughafens von Dakar verlässt. Weit aufgerissene Augen, verloren in den von der Müdigkeit verlangsamten Gedanken. Das alte Taxi erleuchtet die Straße mit seinen schwachen Scheinwerfern. Nach nicht einmal einem Kilometer bleibt es am Straßenrand stehen. Eine Tür wird aufgemacht. Eine Frau steigt ein, dunkel wie die Nacht und groß wie ein Basketballspieler. Nur ihre Stimme, die Halbmonde ihres riesigen Busens und der enganliegende Minirock verraten, dass es sich um eine Frau handelt. «Wir fahren in dein Hotel», befiehlt sie ohne weitere Erklärungen. «Wie bitte?» «Nenn dem Taxifahrer dein Hotel. Los jetzt», entgegnet sie unwirsch. Der Fahrer dreht sich um und erwartet eine Antwort. Bestimmt stecken sie unter einer Decke. «Also?», – 14 – fragt der Taxifahrer. «Ich fahre in kein Hotel. Lassen Sie sie bitte aussteigen.» Sie sprechen Wolof miteinander. Die Frau versucht es noch einmal. Dann schaut sie schweigend vor sich hin. Sie ist fast unsichtbar, im Dunkeln kann man ihr Profil nur erahnen. Das Auto schaukelt bei jeder Bewegung hin und her. Ihr Atem geht langsam. Die Haut verströmt einen süßlichen Duft von Blüten und Schweiß. Plötzlich wird ihre feuchte Hand am Hals sichtbar. «Ich schlafe heute Nacht bei dir. Sag ihm bitte die Adresse», fügt sie auf Französisch hinzu. «Ich übernachte nirgends. Ich fahre zum Bahnhof.» «Zum Bahnhof. Du meine Güte, und wo willst du hin? Um diese Zeit fahren keine Züge.» «Wenn du willst, bring ich dich zum Bahnhof. Oder sag einfach, wohin du willst. Ich bezahle dir die Fahrt.» «Zu deinem Hotel.» «Ich habe kein Hotel.» Sie flucht auf Wolof. Jetzt geht sie auf den Taxifahrer los und wirft ihm vor, ihre Zeit zu vergeuden. Er zwingt sie auszusteigen. «Diese Mädchen», bemerkt der Taxifahrer, nachdem er ein paar Kilometer geschwiegen hat, «die machen keine anständige Arbeit.» Da er keinerlei Antwort erhält, merkt er, dass es besser ist, das Thema zu wechseln. Es ist schon fast hell, und das Hotel verspricht ein paar Stunden Schlaf. Der Bahnhof von Dakar blendet durch seine Farben. Er liegt in einer Kurve abseits des Verkehrsgewühls und der Abgase an der Straße zum Frachthafen. Auf dem Parkplatz dominiert das Gelb von ein paar Dutzend Taxis. Die Fassade erstrahlt im typischen Weiß der Kolonialarchitektur. Es ist ein Uhr Mittag. In der engen Straße zur Linken drängen sich lärmende Menschen vor Verkaufsständen mit Stoffen. Heute ist Freitag, Feiertag. Aber die Bahnhofshalle ist menschenleer. Unter ihren Deckengewölben sind französische Soldaten durchgezogen, Sklavenhändler und der junge Ernesto Che Guevara, der von hier aufbrach, um – 15 – die Völker Afrikas zum Aufstand zu mobilisieren. Heute stehen keine Züge auf den Gleisen, keine Passagiere, kein Gepäck. Auch die Fahrkartenschalter sind geschlossen. Nur die Cafeteria am Eingang ist offen. Ein langer staubiger Tresen vor fast leeren Regalen mit Gläsern und Tassen. Die Regeln der Höflichkeit verlangen eine ausführliche Begrüßung. «Guten Tag, wie geht es Ihnen?» «Gut, so Gott will, und ­Ihnen?» «Gut, danke.» «Und was macht die Gesundheit?» «Gut, so Gott will.» «Und die Arbeit?» «Gut, so Gott will.» «Und die Familie?» «Gut, und Ihre Gesundheit?» «Gut, so Gott will.» «Und Ihre Arbeit?» «Gut, so Gott will.» «Und die Familie?» «Gut, so Gott will.» «Wie kann ich Ihnen helfen?», fragt der Kellner endlich. «Ich muss nach Bamako. Fährt morgen ein Zug?» «Oh, Bamako. Nein, morgen fahren keine Züge.» «Und wann fährt wieder einer?» «Der Zug kommt am Montag, so Gott will. Vielleicht.» «Er kommt am Montag. Vielleicht. Und wann fährt er wieder ab?» «Am Mittwoch. Oder am Samstag, so Gott will.» «Aber heute ist Freitag. Bis zum nächsten Samstag kein Zug nach Bamako, was ist passiert?» «In Kidira ist ein Zug entgleist, und man muss ihn wieder auf die Gleise setzen. Kommen Sie Montag wieder.» «Aber wann ist er denn entgleist?» «Wann? Keine Ahnung. Auf jeden Fall hieß es, dass er morgen nicht ankommt. Fragen Sie am Montag noch einmal nach.» «Und wie kommt man ohne Zug nach Kidira?» Der Kellner berät sich auf Wolof mit zwei Helfern. «Es gibt einen Bus», sagt er dann, «aber der ist gestern gefahren. Der nächste geht am Donnerstag. Vielleicht.» «Und wenn es jemand eilig hat, nach Bamako zu kommen?» «Mein Freund, in Afrika hat es niemand eilig, irgendwohin zu kommen. Wenn Sie aber wirklich nicht in Dakar warten – 16 – wollen, können Sie ein alhamdulillah nehmen.» «Ein ‹Gelobt sei Gott›?» Der Kellner lacht über die Skepsis, die dieses arabische Wort ausgelöst hat. «Ja, ein Danke», erwidert er, «für jedes Mal, dass sie uns sicher und unversehrt ans Ziel gebracht haben. Die alhamdulillahs sind die Sammeltaxis, sie fahren vom Markt ab. Ich weiß nicht, ob sie bis Kidira fahren, so Gott will. Aber Sie können ja fragen.» «Natürlich kann ich fragen, so Gott will.» In der Rue Alpha Hachamiyou Tall, in einer vornehmen Wohngegend, stehen Männer und Frauen vor den mit Stacheldraht bewehrten Mauern einer großen Villa Schlange und warten auf irgendetwas. Von weitem wirken die Farben der Haut und der Kleider vor dem Kalkweiß der Mauern wie ein riesiges Wandgemälde. Sie warten schwitzend in der Sonne, bis sie an der Reihe sind. Viele pressen die Zunge gegen die Zähne und spucken auf den Asphalt. Man muss die Menge eine Weile beobachten, um zu verstehen, was vor sich geht. Sicher haben sie seit dem Morgengrauen nichts getrunken, denn es ist Ramadan. Die Hitze, der Durst und der Hunger des Fastens erhöhen den Speichelfluss. Durch einen Schlitz im schusssicheren Glas des Pförtnerhäuschens nimmt ein senegalesischer Angestellter in khakifarbener Uniform Papiere und Fotos entgegen. Dann ruft er den Nächsten auf. Die Wartezeit beträgt eine halbe Stunde. Nach dem, was am Schalter angeschlagen ist, müsste in wenigen Minuten geschlossen werden. «Guten Tag, wie geht’s?», fragt der Angestellte auf Französisch. «Gut, so Gott will.» «Aber Sie sind Italiener?» «Ja, ich möchte …» «Bitte, bitte, Sie können eintreten», unterbricht er mich. Mit einem metallischen Schnappgeräusch öffnet sich das Tor unter dem Objektiv einer großen Überwachungskamera. – 17 – In diesem Vorposten der Festung Europa wird alles elektronisch überwacht. Drei Stufen führen ins Einwanderungsbüro der italienischen Botschaft. Man wird mit der für diplomatische Vertretungen typischen Höflichkeit behandelt. Eine Angestellte benachrichtigt umgehend den Ersten Sekretär. «Wie viele Menschen da draußen warten.» Der junge Beamte lächelt über diese banale Feststellung. Die italienische Flagge ziert neben der europäischen seinen Schreibtisch, über seinem Kopf prangt das Foto des Staatspräsidenten an der Wand. Alles sieht aus wie in einem beliebigen Büro der öffentlichen Verwaltung Europas: ordentlich, sauber und kühl. «Was führt Sie also her?», fragt er mich, während er aufsteht, um mir die Hand zu geben. «Die, die da draußen anstehen.» Der Erste Sekretär dreht sich zum Fenster zu seiner Rechten. «Jede Woche, jeden Tag ist es so. Wir bekommen wöchentlich hundertfünfzig Visumanträge. Mal zweiundfünfzig, das können Sie selbst ausrechnen.» «Nur hundertfünfzig Anträge, das sind weniger als achttausend Visa im Jahr. Ich dachte, viel mehr Menschen wollten von hier nach Europa.» «In der Tat sind es viel mehr. Das sind nur die Anträge, die wir akzeptieren. Die allermeisten werden abgelehnt, weil sie unvollständig oder nicht vertrauenerweckend sind.» «Sie stellen also ungefähr achttausend Visa im Jahr aus.» «Nein, nein, nein», erwidert der Beamte mit Nachdruck. «Nicht alle Anträge, die wir annehmen, führen, obwohl sie vollständig und, sagen wir, vertrauenerweckend sind, zu einer Einreiseerlaubnis. Letzten Endes stellen wir nicht mehr als zweitausend Visa aus. Die Hälfte für Ehefrauen und Kinder, die ihre Angehörigen in Italien aufsuchen. Der Rest sind Kurzzeitvisa für Geschäfts- oder Urlaubsreisen. Die Familienzusammenführung erfordert ein ziemlich langfristiges Prozedere, aber dabei – 18 – arbeiten die lokalen Behörden für den Nachweis der tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehungen eng mit uns zusammen. Immer wieder wird versucht, sich mit gefälschten Bescheinigungen und Papieren ein Visum zu erschleichen. Die Geburtenrate hier ist sehr hoch, und viele geben ihre eigenen Kinder als die von Verwandten aus, die bereits in Italien leben. Nach dem Gesetz aber haben Neffen oder Cousins kein Anrecht auf Familienzusammenführung.» «Und wie lange dauert es, um ein Visum für eine Geschäftsoder Urlaubsreise zu bekommen?» «Die Kurzzeitvisa erteilen wir innerhalb weniger Tage, aber natürlich nur, wenn die entsprechenden Bedingungen vorliegen: finanzielle Unabhängigkeit, glaubhafte Motive, das heißt, wir müssen die Sicherheit haben, dass die Antragsteller nach Ablauf des Visums wieder zurückkehren.» «Es gibt also jedes Jahr mindestens sechstausend Senegalesen, die leer ausgehen. Hinzu kommen weitere, sicherlich Tausende, deren Anträge aus den von Ihnen genannten Gründen zurückgewiesen werden. Außerdem noch die Zigtausende, die es nicht einmal bis zur Botschaft schaffen. Und dasselbe gilt ­sicherlich für die Botschaft jedes europäischen Landes. Ein ­regelrechtes Glücksspiel.» «Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber es ist leider so. Es handelt sich nicht nur um Senegalesen. Unsere Botschaft ist nicht nur für den Senegal zuständig, sondern auch für Mauretanien, Mali und Guinea. Wir können natürlich nicht allen eine Einreiseerlaubnis erteilen. Wissen Sie, dass Italiener manchmal als Touristen hierherkommen und dann einen Afrikaner mit nach Hause nehmen wollen, der vielleicht hier ihr Fremdenführer war? Sie schließen Freundschaft und wollen dann ­helfen.» «Und was tun Sie in einem solchen Fall?» – 19 – «Wir weisen derartige Visaanträge in der Regel selbstverständlich ab», antwortet der junge Sekretär. «Selbstverständlich. Beantragt denn niemand ein Visum, um in Italien zu arbeiten?» «Für einen Studien- oder Arbeitsaufenthalt gibt es eine Quote. Sie wird auf der Grundlage der Zuwanderungsstatistik jedes Jahr neu festgesetzt. Das Problem besteht darin, dass der Senegal keine eigene Quote hat, sondern, sagen wir, der übrigen Welt zugerechnet wird. Die Botschaft nimmt die Anträge an, und wenn die Quote erreicht ist, teilt uns das Außenministerium mit, dass keine Plätze mehr frei sind.» «Wie viele Plätze kann die Botschaft von Dakar auf diese Weise vergeben?» Der Botschaftssekretär lächelt: «Oh, das sind nur wenige. Höchstens ein paar Hundert. Nie mehr als vierhundert pro Jahr. Zuerst kommen Länder wie Albanien oder Tunesien, mit denen Italien bilaterale Verträge geschlossen hat. Wie Sie sich leicht vorstellen können, ist der Rest in wenigen Tagen vergeben. Besser gesagt, in wenigen Stunden.» «Man kann also von hier aus nur einreisen, wenn schon der Vater, der Ehemann oder der Sohn in Italien ist, denn aus dem Senegal wandern hauptsächlich Männer nach Italien ein. Oder wenn man Geld hat und sich eine Urlaubsreise leisten kann. Oder wenn man hier gut verdient, etwa als Unternehmer, Kaufmann oder Vertreter eines multinationalen Unternehmens …» «So ist es.» Das Lächeln des Beamten unterstreicht noch einmal, dass die Welt und die Gesetze so und nicht anders sind und sein können. «Jetzt muss ich mich von Ihnen verabschieden. In Mauretanien gab es einen Putschversuch, und ich muss mich um das Schicksal von vierzig unserer Landsleute kümmern. Heuer hat es wenigstens reichlich geregnet», fügt er noch hinzu. «Ich wünsche ­Ihnen eine gute Reise.» «Entschuldigen Sie, was heißt das: ‹Es – 20 – hat reichlich geregnet›?» «Das heißt, nach zwei Jahren Dürre hat es endlich geregnet. Der Regen spielt in diesen Fällen eine große Rolle. In Dürrezeiten, wenn die Ernte ausfällt, fliehen Tausende Familien vom Land in die Hauptstadt. In den Vorstädten von Dakar verschlechtern sich die Lebensbedingungen, und deshalb nimmt die Zahl derer zu, die, sagen wir, die Auswanderung von Afrika aus weiter nach Europa versuchen. Es sind vielleicht dieselben, die vor drei, vier oder fünf Jahren vom Land in die Stadt gekommen sind. Und dann geht die Wirtschaft den Bach runter. Vierzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts der frankophonen Länder Afrikas basierten früher auf dem Reichtum der Elfenbeinküste. Dort aber ist die Lage inzwischen katastrophal. Wir können nur auf den Regen hoffen.» «Hoffen wir auf den Regen.» Ungelöst bleibt aber ein Problem: Wie kommt man nach ­K idira? Aus einer Baracke, die zwischen dem Atlantik und der Küstenstraße nach Kap Verde liegt, steigen Rauch und der Geruch von gebratenem Fisch auf. Ein paar windschiefe Plastiktische und rußgeschwärzte, fettige Pfannen auf einem verrosteten Herd. Als Tresen dient ein Brett auf vier Akazienstümpfen, der uralte Kühlschrank ist über und über mit bunten Aufklebern französischer Fußballvereine beklebt. Die Kellnerin hat die Haare straff zum Pferdeschwanz gebunden, der ihren überlangen Hals freilegt, sie trägt eine nicht mehr ganz saubere weiße Bluse, einen blauen Pulli und ein dunkles Tuch um die Hüften, das ihr bis zu den Füßen reicht. Diese Kleidung verrät geheime Absichten, ehrgeizige Pläne und längst getroffene Entscheidungen. Auch wenn der untere Teil ihres Körpers noch von der Tradition umhüllt ist, hat sich der obere, dem Kopf nähere, schon der europäischen Mode ergeben. – 21 –