Kindheit und Entwicklung, 19 (3), 192 – 201 Hogrefe Verlag, Göttingen 2010 Aktuelle Kontroverse Früh beginnende bipolare Störungen, ADHS oder Störung der Affektregulation? Yvonne Grimmer1*, Sarah Hohmann1*, Tobias Banaschewski1 und Martin Holtmann1, 2 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim 2 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum Zusammenfassung. Die Arbeit gibt einen Überblick über die Hintergründe der Kontroverse und leitet daraus konkrete Schlussfolgerungen für die klinische Praxis ab. Bei der Diagnostik früher bipolarer Störungen ist vorrangig auf das Auftreten von abgrenzbaren Episoden mit eindeutigen Stimmungsänderungen und Veränderungen von Verhalten und Kognition zu achten. Das Mischbild aus ADHS und begleitender affektiver Dysregulation sollte nicht im Sinne einer beginnenden bipolaren Störung interpretiert werden, bedarf aber stärkerer Beachtung, insbesondere bei der Entwicklung geeigneter psycho- und pharmakotherapeutischer Ansätze. Erläutert werden zudem Gemeinsamkeiten und Unterschiede von bipolaren Störungen mit Schizophrenie, Depression, ADHS, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Substanzmissbrauch. Schlüsselwörter: Bipolare Störung, Depression, affektive Dysregulation, Manie, Kinder, Jugendliche Early-onset bipolar disorder, ADHD, or emotional dysregulation? Abstract. This review gives an overview of the background to the controversy along with orientations for clinical practice. For diagnosing early-onset BD, special emphasis should be laid on the occurrence of clearly demarcated affective episodes, accompanied by changes in behavior and cognition. The mixed phenotype of ADHD and severe affective dysregulation is not a correlate of BD but deserves more attention regarding the development of psychotherapeutic and pharmacotherapeutic procedures. Differential diagnostic considerations are made on the disparities and the overlap of BD with schizophrenia, depression, ADHD, borderline personality disorder, and substance misuse. Key words: bipolar disorder, depression, affective dysregulation, mania, children adolescents Seit einigen Jahren wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine kontroverse Debatte über die Häufigkeit und das klinische Bild bipolarer, d. h. manisch-depressiver Störungen vor der Adoleszenz geführt. Die Kontroverse bezieht sich vor allem auf die diagnostische und prognostische Einschätzung eines Symptomkomplexes aus Affektinstabilität, Reizbarkeit und Aufmerksamkeitsstörung. Zugespitzt lautet die Frage: Sollen Kinder und Jugendliche mit affektiver und behavioraler Dysregulation als bipolar diagnostiziert werden oder nicht? Die Debatte ist nicht nur akademischer Natur, sondern hat gravierende Auswirkungen auf den psycho- und * Beide Autorinnen haben in gleicher Weise zu diesem Manuskript beigetragen. DOI: 10.1026/0942-5403/a000025 pharmakotherapeutischen Umgang mit den betroffenen Kindern und die Beratung ihrer Familien (Holtmann, 2009). Auslöser der Diskussion sind die im Vergleich zu den europäischen Ländern auffällig hohen Prävalenzraten bipolarer Störungen bei Minderjährigen in den USA. Während US-amerikanische Arbeitsgruppen bei bis zu 20 % ihrer minderjährigen Patienten bipolare Störungen sehen (Biederman et al., 2005; Geller et al., 2002), werden z. B. in Deutschland bipolare Störungen vor der Adoleszenz kaum diagnostiziert und betreffen weniger als 0,5 % der Diagnosen in Kliniken und Praxen (Holtmann, Bölte & Poustka, 2008a; Meyer, Koßmann-Böhm & Schlottke, 2004). Auch andere europäische Länder berichten durchweg von niedrigen Raten an Heranwachsenden mit bipolaren Störungen: In Dänemark umfassen bipolare Störungen 1.2 % der in kinder- und jugend- Früh beginnende bipolare Störungen, ADHS oder Störung der Affektregulation? 193 Abbildung 1. Prozentuale Veränderung der Diagnosehäufigkeit bipolarer Störungen. (- -&- -) und psychotischer Störungen (––~––) sowie der Gesamthäufigkeit psychiatrischer Diagnosen (––*––) im Rahmen stationärer Behandlungen über die Jahre 2000 bis 2007 in Deutschland. psychiatrischen Kliniken gestellten Diagnosen, in Finnland 1.7 %, in Spanien 2.2 % (Soutullo, DelBello & Ochsner, 2002). Betrachtet man die Veränderung der Diagnoseraten in den letzten fünfzehn Jahren, so wird deutlich, dass die Prävalenz-Unterschiede auf einen rasanten Anstieg der Zahlen bipolar erkrankter Minderjähriger in den USA zurückzuführen sind. Zwischen 1994 und 2003 kam es dort zu einer Zunahme der ambulanten Kontakte wegen bipolarer Störungen um das 40-fache; stationäre Behandlungen erlebten einen 4- bis 5-fachen Anstieg, bei einem gleichzeitigen Rückgang der diagnostizierten externalisierenden Störungen (Blader & Carlson, 2007; Moreno et al., 2007). Die klinische Relevanz dieser Entwicklung spiegelt sich in den deutlich gestiegenen Verschreibungszahlen von phasenstabilisierend wirkenden Antipsychotika in den USA um insgesamt 74 % in den Jahren 2002 bis 2006 wider. In Deutschland dagegen findet sich zwar ebenfalls ein Zuwachs bipolarer Diagnosen bei Jugendlichen und eine Zunahme der Verschreibungen von Antipsychotika, jedoch auf vergleichsweise niedrigem Niveau: Analysen bundesweiter stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Entlassdiagnosen für die Jahre 2000 bis 2007 (Holtmann et al., 2010) zeigen für Deutschland eine Zunahme stationärer Behandlungen wegen bipolarer Störungen um 68.5 Prozent, der über die generelle Zunahme kinder- und jugendpsychiatrischer Störungsbilder von 38.1 Prozent hinausgeht. Gleichzeitig kommt es zu einem relativen Rückgang der Störungen des Sozialverhaltens und einem absoluten Rückgang von stationären Aufnahmen wegen psychotischer Störungen (Holtmann et al, 2010; vgl. Abb. 1). Die Verschreibungen von Antipsychotika nahmen von 2000 bis 2006 von 0.4 auf 1.8 pro 1.000 Kinder und Jugendliche zu (Schubert, Köster & Lehmkuhl, 2009). Möglicherweise sind diese veränderten Zahlen der Hinweis auf eine Neu-Konzeptualisierung diagnostischer Vorstellungen: Störungen, die „früher“ als gereizt-aggressiv oder psychotisch angesehen wurden, werden heute vielleicht teilweise als manisch-depressiv gedeutet. Insgesamt bleibt jedoch die Gesamthäufigkeit bipolarer Störungsbilder mit 0.27 % aller stationären Diagnosen im Jahr 2007 und bundesweit weniger als 400 Fällen weiterhin sehr niedrig. Der Zuwachs beschränkt sich zudem auf die Altersgruppe über fünfzehn Jahre, im Unterschied zu den häufig in den USA diagnostizierten Kindern. Bipolare Erkrankungen bei Kindern können in Deutschland weiter als wirkliche Rarität gelten. Gründe für unterschiedliche transatlantische Prävalenzraten Angesichts der transatlantisch vergleichbaren, stabilen Prävalenzzahlen für bipolar erkrankte Erwachsene spricht wenig dafür, dass die unterschiedlichen Prävalenzen und die Zuwachsraten bei Kindern und Jugendlichen auf tatsächliche Unterschiede zurückzuführen sind. Mehrere Hypothesen zur Erklärung der diskrepanten Entwicklung in den USA und Europa wurden bisher aufgestellt und teilweise widerlegt. So postulieren einige Autoren, dass der höhere Gebrauch an Psychostimulantien und Antidepressiva in den USA manische Episoden bei entsprechend veranlagten Kindern fördern könnten. Dagegen steht jedoch eine wachsende Anzahl von sorgfältigen Studien, die zeigen, dass Stimulantien nicht die Entwicklung von bipolaren Störungen begünstigen (Gallanter et al., 2003; Tilman & Geller, 2006). Eher scheinen die in den USA üblichen restriktiven Regelungen bei der Kostenerstattung durch die Krankenkassen die Tendenz eines diagnostisches „Herauf-Kodierens“ von vermeintlich „einfachen“ Störungen des Sozialverhaltens und ADHS zugunsten der als gravierender angesehenen bipolaren Störungen zu fördern, um einen Krankenhausaufenthalt zu rechtfertigen. Höchstwahrscheinlich spielt die entscheidende Rolle jedoch die unterschiedliche diagnostische Bewertung eines Mischbildes aus Stimmungsinstabilität, Reizbarkeit und Aufmerksamkeitsstörung im Kindesalter. Mit Blick auf die früh beginnende Manie zeigten Dubicka, Carlson, Vail und Harrington (2008) wie stark unterschiedliche 194 Yvonne Grimmer, Sarah Hohmann, Tobias Banaschewski und Martin Holtmann diagnostische Konzepte, wie die stärkere Symptomorientierung und „Checklisten-Mentalität“ in den USA gegenüber der Orientierung an klassischen klinischen Bildern der europäischen Kollegen eine abweichende klassifikatorische Einordnung gleicher Verhaltensphänotypen zur Folge haben können. Identische Fallvignetten, bei denen Manie als Differentialdiagnose in Frage kam, wurden von Kinderpsychiatern in den USA viel häufiger als bipolare Störung eingeordnet als von britischen Kollegen. tensweisen, sexuelle Enthemmung oder psychotische Symptome vorkommen (siehe Kasten 1). Kasten 1. ICD-10-Kriterien für bipolare affektive Störungen (F31) und Manie (F30) Bipolare affektive Störung (F31): - Definition und klinisches Bild der bipolaren Störung Einen ersten Lösungsansatz zur Überwindung der Kontroverse über das klinische Bild früh beginnender bipolarer Störungen und der Frage, wie dieses von anderen Erkrankungen abgegrenzt werden könne, schlugen Leibenluft, Charney, Towbin, Bhangoo und Pine (2003) vor. Sie empfahlen die Unterscheidung zwischen einem „engen“ und einem „breiten“ Phänotyp bipolarer Störungen. Dabei entspricht der „enge“ Phänotyp dem klassischen Symptomkomplex einer manischen Episode mit eindeutigen, episodenhaften affektiven Symptomen, während der „breite“ Phänotyp unspezifischere chronische Symptome umfasst. Enger Phänotyp: Die klassische manisch-depressive Störung In Deutschland wird eine bipolare Störung üblicherweise anhand der ICD-10-Kriterien (World Health Organisation, 1992) diagnostiziert, während in den USA das DSM IV (American Psychiatric Association, 2000) genutzt wird. Gemäß ICD-10 ist eine bipolare Störung durch mindestens zwei voneinander abgrenzbare affektive Episoden von mindestens einer Woche Dauer charakterisiert, in denen Stimmung und Aktivitätsniveau im Vergleich zum individuellen Normalniveau deutlich gestört sind. Dabei muss mindestens eine Episode eindeutige manische Merkmale beinhalten, sei es im Rahmen einer Manie (Bipolar I-Störung nach DSM IV), einer Hypomanie (Bipolar II-Störung nach DSM IV) oder einer gemischten Episode, in der gleichzeitig depressive und manische Symptome vorliegen. Unter manischen Symptomen wird eine deutlich gehobene, expansive oder gereizte Stimmungslage über mindestens sieben Tage (Manie) oder vier Tage in leichterer Ausprägung (Hypomanie) verstanden, wobei mindestens drei weitere Symptome wie Antriebssteigerung, überhöhte Selbsteinschätzung, vermindertes Schlafbedürfnis und Auffälligkeiten im formalen Denken wie Rededrang, Ideenflucht oder erhöhte Ablenkbarkeit vorliegen müssen. Zudem können risikoreiche Verhal- mindestens zwei abgrenzbare Episoden einer deutlichen affektiven Störung eine davon mit manischen Merkmalen (Manie, Hypomanie oder gemischte Episode) ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Manie (F30): A. gehobene, expansive oder gereizte Stimmung über mindestens 7 Tage in einem für den Betroffenen deutlich abnormen Ausmaß B. Mindestens drei der folgenden Merkmale müssen vorliegen (vier, wenn die Stimmung nur gereizt ist) und eine schwere Störung der alltäglichen Lebensführung verursachen 1. gesteigerte Aktivität oder motorische Ruhelosigkeit 2. gesteigerte Gesprächigkeit („Rededrang“) 3. Ideenflucht und subjektives Gefühl des Gedankenrasens 4. Verlust normaler sozialer Hemmungen 5. vermindertes Schlafbedürfnis 6. überhöhte Selbsteinschätzung und Größenwahn 7. Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Plänen oder Aktivitäten 8. tollkühnes oder rücksichtsloses Verhalten 9. gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit C. Die Episode ist nicht auf einen Missbrauch psychotroper Substanzen oder auf eine organische psychotische Störung zurückzuführen Namensgebend für die bipolare Störung ist der Wechsel zwischen den beiden Polen Manie und Depression bzw. zwischen manischen und depressiven Episoden oder Zyklen („Cycling“). Dieser Wechsel erfolgt bei Erwachsenen ganz überwiegend in längeren Intervallen, oft unterbrochen von Phasen relativen Wohlbefindens (Euthymie). Erst bei mehr als vier Episoden im Jahr wird von einem schnellen Zyklenwechsel („rapid cycling“) gesprochen. Bei bipolaren Störungen im Kindesalter wurde hingegen vermehrt eine extrem kurze Zyklenfolge beschrieben und mit den Begriffen „ultra-rapid cycling“ (wenige Tage anhaltende Episoden) und „ultradian cycling“ (stündlich bis minütlich wechselnde Phasen) charakterisiert. Früh beginnende bipolare Störungen, ADHS oder Störung der Affektregulation? Klinische Verlaufsstudien geben Hinweise auf Unterschiede zwischen Kindern bzw. Jugendlichen mit bipolaren Störungen und erkrankten Erwachsenen. Demnach zeigen Kinder viel häufigere Episodenwechsel pro Jahr als betroffene Erwachsene und mehr symptomatische Tage (Birmaher et al., 2006). Auch Geller, Tillman, Craney und Bolhofner (2004) berichteten, dass 80 % der bipolaren Kinder im Mittel drei bis vier affektive Episoden pro Tag erleben, von denen außerdem viele gemischt sind, d. h. manische und depressive Symptome gleichzeitig umfassen. Hier drängt sich die Frage auf, ob angesichts dieses klinischen Bildes überhaupt noch von (klar abgrenzbaren) Episoden gesprochen werden kann. In der Adoleszenz gleicht sich die Symptomatik der des Erwachsenenalters zunehmend an, wobei insgesamt häufiger psychotische Symptome auftreten (Kyte, Carlson & Goodyer, 2006; Masi et al., 2006). Bipolare Symptome im Kindesalter scheinen demnach ähnlich wie andere Krankheitsbilder variabler und weniger klar eingrenzbar zu sein als die Symptomatik im Erwachsenenalter. 195 Kasten 2. Diagnostische Kriterien für „Severe mood dysregulation“ (SMD, nach Leibenluft et al., 2003) Einschlusskriterien: - außergewöhnlich veränderte Stimmung (v. a. Ärger und Traurigkeit) über mindestens die Hälfte eines Tages, nahezu täglich - mindestens drei Symptome erhöhter Erregbarkeit: Schlafstörung, Ablenkbarkeit, Gedankenrasen, Unruhe, Ideenflucht, Rededrang, Intrusivität - Wutanfälle, Reizbarkeit, verbale oder körperliche Aggressivität mehr als dreimal pro Woche fi Alter 7 – 17 Jahre, Beginn der Symptomatik vor dem 12. Lebensjahr fi Dauer der oben genannten Symptome mehr als 12 Monate fi Beeinträchtigung in mindestens einem Funktionsbereich: Schule, Familie, Gleichaltrigengruppe ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– „Breiter“ Phänotyp: Severe mood dysregulation Einige US-amerikanische Gruppen diagnostizieren bipolare Störungen auch bei Kindern mit nicht-episodischer, chronischer Reizbarkeit (“irritability“) und bei schnellen, vielfach pro Tag auftretenden Stimmungsschwankungen, erhöhter Ablenkbarkeit und Aggressivität (Biederman, Klein, Pine & Klein, 1998; Geller et al., 1998). In europäischen Ländern wird dieser Verhaltensphänotyp häufig als „kompliziertes ADHS“ mit affektiver Dysregulation, kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, depressive Störung oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörung klassifiziert (vgl. Desman & Petermann, 2005). Etwa 15 bis 20 % der Kinder mit ADHS weisen eine solche erschwerende Symptomatik auf und zeigen darüber hinaus ein reduziertes Schlafbedürfnis, sexuell enthemmtes Verhalten und suizidale Krisen (Holtmann, Bölte & Poustka, 2008a). Als erste operationalisierten Leibenluft et al. (2003) unter dem Begriff „Severe mood dysregulation (SMD)“ (schwere Störung der Stimmungsregulation) Kriterien, die es erlauben, diese Patientengruppe genauer zu untersuchen, etwa im Hinblick auf den Krankheitsverlauf (Kasten 2). Kinder mit chronischer Irritabilität, die die diagnostischen Kriterien einer SMD erfüllten, wiesen demnach relevante Unterschiede zu Kindern mit episodischer Reizbarkeit auf: So ging episodische Reizbarkeit mit einem erhöhten Risiko der Entwicklung einer bipolaren Störung einher, während chronische Irritablilität die Wahrscheinlichkeit erhöhte, zunächst an einer Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung und im jungen Erwachsenenalter an einer Depression zu erkranken (Baroni, Lunsford, Luckenbaugh, Towbin & Leibenluft, Ausschlusskriterien: - - Vorliegen eines der drei Kardinalsymptome einer manischen Episode: • deutlich vermindertes Schlafbedürfnis • Größenideen, gesteigerter Selbstwert • gehobene, expansive, euphorische Stimmungslage die oben genannte Symptomatik zeigt klar episodischen Charakter (Dauer mehr als 4 Tage) Vorliegen einer Schizophrenie, Suchterkrankung oder Posttraumatischen Belastungsstörung 2009). Auch bezüglich der familiären psychiatrischen Belastung unterschieden sich die Gruppen deutlich. Während in der SMD-Gruppe (Brotman et al., 2007) nur 2,7 % der Eltern selbst bipolar erkrankt waren, erfüllten in der Gruppe der Minderjährigen mit episodischer Irritabilität ein Drittel der Eltern die Kriterien für eine bipolare Störung. Es ist also nach dem derzeitigen Wissensstand fragwürdig, bei Kindern mit chronischer Irritabilität eine bipolare Störung zu diagnostizieren. Der Symptomkomplex der SMD wird in den gegenwärtigen Klassifikationssystemen nicht angemessen abgebildet. Die Kinder, die von dieser Symptomatik betroffen sind, wurden daher treffend als „diagnostische Waisen“ bezeichnet (Carlson, 1998). Diese Überlegungen führten Anfang 2010 zu dem Vorschlag, in die für 2013 angekündigte V. Revision des DSM ein neues Krankheitsbild aufzunehmen, das unter dem Begriff „Temper Dysregulation Disorder with Dysphoria“ (TDD) diese Symptomatik beschreibt (American Psychiatric Association, 2010). 196 Yvonne Grimmer, Sarah Hohmann, Tobias Banaschewski und Martin Holtmann Einige Befunde zeigen einer Überlappung von SMD oder TDD mit Symptomen aus dem engeren bipolaren Formenkreis wie erhöhter Suizidalität, reduziertem Schlafbedürfnis oder sexueller Enthemmung (Geller et al., 2002; Holtmann, Goth, Wöckel, Poustka & Bölte, 2008b), so dass es im Einzelfall immer notwendig ist, genaue differentialdiagnostische Überlegungen anzustellen. Ein gutes Verständnis der frühen Symptome und des Verlaufs einer Störung ist dabei von entscheidender Bedeutung. Klinische Stadien einer Bipolaren Störung: Das Prodrom und die erste Episode Nach verlässlichen Daten beginnt bis zu ein Drittel aller bipolaren Erkrankungen vor dem 18. Lebensjahr (Perlis, Miyahara & Marangell et al., 2004). Frühe Erkrankungen werden in Deutschland trotz steigender Zahlen immer noch selten gesehen. Dies sollte bei aller Skepsis angesichts des „Bipolar-Booms“ Anlass zu genauerer Diagnostik insbesondere bei Jugendlichen mit affektiven Symptomen sein. Entgegen früherer Auffassungen gibt es zunehmend Belege, dass bipolare Störungen nicht „vom Himmel fallen“, sondern dass ihnen ähnlich den schizophrenen Psychosen eine längere Phase unspezifischer Prodromalsymptome vorausgeht. Duffy, Alda, Hajek, Sherry und Grof (2010) beschrieben auf der Grundlage einer gründlichen prospektiven Längsschnittstudie den prämorbiden Verlauf in den Jahren vor der Entwicklung einer bipolaren Störung. Sie beobachteten dazu 207 Hochrisikokinder mit einem bipolar erkrankten Elternteil (und damit einem etwa 10-fach erhöhten Risiko selbst an einer bipolaren Störung zu erkranken) und 87 Kinder gesunder Eltern und leiteten daraufhin eine Folge mehrerer klinischer Stadien ab, die häufig vor dem Auftreten der ersten manischen Phase durchlaufen werden. Die Autoren fanden bei den Hochrisikokindern präpubertär eine erhöhte Rate an nicht-affektiven Störungsbildern, unter anderem Schlafstörungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch, interessanterweise jedoch keine erhöhten Raten an ADHS. Insbesondere das Vorhandensein von Angststörungen im Kindesalter führte in der Hochrisikogruppe zu einem mehr als doppelt so hohen Risiko der Entwicklung einer schweren affektiven Störung im weiteren Verlauf. Gleichzeitig verdoppelte das Vorhandensein einer Depression oder Manie wiederum das Risiko eines Substanzmissbrauchs. Bei annähernd allen Kindern, die im jungen Erwachsenenalter die diagnostischen Kriterien einer bipolaren Störung erfüllten, trat als erste affektive Episode zunächst eine leichte oder mittelgradige Depression auf. Manische Symptome folgten im Durchschnitt drei Jahre nach der ersten depressiven Episode und in allen Fällen erst nach dem 14. Lebensjahr. In der klinischen Praxis stellt sich eine prodromale Symptomatik meist sehr vielgestaltig dar, ist häufig von zahlreichen äußeren Belastungsfaktoren begleitet und zeigt starke Überschneidungen zu anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern und insbesondere zu einem schizophrenen Prodrom (Correll et al., 2007). Im Einzelfall ist es daher oft nicht möglich eine Prognose über den weiteren Verlauf, z. B. der Entwicklung einer bipolaren Störung, abzugeben. Dennoch empfiehlt sich beim Vorliegen depressiver Symptome oder einer Angststörung und einer familiären Vorgeschichte bipolarer Erkrankungen eine engmaschige Betreuung und eine erhöhte Aufmerksamkeit bzgl. der Entwicklung manischer Symptome. Differentialdiagnostik bipolarer Störungen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Erkrankungen Die früh beginnende bipolare Störung zeigt Ähnlichkeiten und Überlappungen mit vielen anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern. Insbesondere um die Therapie entsprechend abzustimmen, ist deshalb eine genaue Sicherung der Diagnose unter Erwägung der verschiedenen differentialdiagnostischen Optionen dringend geboten (vgl. Tab. 1). In erster Linie ist die Abgrenzung zur hyperkinetischen Störung bzw. ADHS zu erwähnen. Der sogenannte „enge Phänotyp“ der bipolaren Erkrankung (Leibenluft et al., 2003) ist hiervon einfach zu unterscheiden, da sich der Krankheitsverlauf bei den Betroffenen episodisch gestaltet, im Gegensatz zum chronischen Verlauf bei Patienten mit hyperkinetischer Störung (Schmidt & Petermann, 2008; 2009; Petermann & Hampel, 2009); zudem treten maniespezifische Symptome, wie Größenideen oder euphorische Stimmungslage, auf. Die Unterscheidung zwischen dem „breiten“ Phänotyp der bipolaren Erkrankung (SMD) und einer schweren hyperkinetischen Störung mit komorbider Störung des Sozialverhaltens jedoch fällt deutlich schwerer. Auch scheinen Patienten mit ADHS und SMD gut auf Methylphenidat mit begleitender Verhaltenstherapie anzusprechen: Neben den ADHS-Symptomen bessert sich auch die Störung der Affektregulation, ohne dass manische Symptome provoziert werden (Waxmonsky et al., 2008). Die Abgrenzung einer depressiven Störung von einer „klassischen“ bipolaren Erkrankung erscheint auf den ersten Blick einfach. Um die Diagnose einer bipolaren Störung stellen zu können, ist nach DSM IV das Vorliegen einer einzigen manischen Episode ausreichend, die ICD10 verlangt mindestens zwei affektive Episoden, von denen ebenfalls eine Episode manischer oder hypomaner Natur sein muss. Allerdings werden hypomane Symptome oft nicht als solche erkannt, nicht als belastend oder krankhaft erlebt und auch nicht erfragt. Sind nur depres- Früh beginnende bipolare Störungen, ADHS oder Störung der Affektregulation? sive Phasen identifizierbar, sollte eine depressive Störung diagnostiziert werden. Ein „switch“ hin zu einer bipolaren Störung ist jedoch im weiteren Verlauf möglich und tritt etwa in 10 % der Fälle auf (Duffy et al., 2010). Die Unterscheidung einer depressiven Störung von der schweren affektiven Dysregulation gelingt aufgrund des zumeist episodischen Charakters der Depression im Gegensatz zur chronischen Irritabilität bei Kindern mit SMD. Auch zeigen depressive Kinder in der Regel nicht die beschriebene maniform anmutende Symptomatik. Es ist jedoch beschrieben, dass Kinder mit SMD ein größeres Risiko haben im späteren Leben an einer depressiven Störung zu erkranken (Baroni et al., 2009); insofern könnte die SMD eher im Sinne eines Vorläufers einer Major Depression gewertet werden. Die Abgrenzung einer schizophrenen Erkrankung von einer bipolaren Störung ist im Frühstadium beider Erkrankungen, das zahlreiche Überlappungen aufweist (Correll et al., 2007), nicht leicht zu treffen. Initial finden sich bei beiden Erkrankungen häufig depressive Verstimmung, Antriebsstörungen, sowie Kontakt- und Konzentrationsstörungen. Bei der bipolaren Erkrankung imponiert vor allem die affektive Symptomatik; eventuell vorhandene psychotische Symptome, wie z. B. Größenoder Schuldwahn, sind im Allgemeinen stimmungskongruent. Während des schizophrenen Prodroms imponieren eher ungewöhnliche Ideen oder auch psychotische Symptome, insgesamt gibt es jedoch viele Überschneidungen. Beiden Erkrankungen gehen mehr oder weniger lange Phasen unspezifischer Symptome, wie z. B. nachlassende Leistungsfähigkeit, erhöhte Irritabilität oder affektive Schwankungen voraus. Die SMD ist vom Vollbild einer schizophrenen Psychose leicht abzugrenzen, deutlich geringer fällt jedoch die Trennschärfe in Bezug auf die prodromale Symptomatik aus. Hier kann als Anhalt dienen, dass SMD zumeist bereits früh in der Kindheit beginnt, während sich Prodromalsymptome einer Schizophrenie zumeist erst in der Jugend/Adoleszenz zeigen. Substanzmissbrauch kann sich ebenfalls in Symptomen äußern, die denen einer manischen Episode ähneln. Zumeist lassen die Symptome jedoch nach Abklingen der Wirkung des konsumierten Stoffes nach und es lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Konsum und der Symptomatik herstellen. Allerdings stellen Suchterkrankungen eine sehr häufige Komorbidität (Duffy et al., 2010) bei Patienten mit bipolaren Störungen dar. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine ausführliche Anamnese bezüglich der Zeiten, in denen kein Konsum stattfand. Treten bipolare Symptome auch unabhängig von der Einnahme auf, so ist das Vorliegen einer affektiven Erkrankung wahrscheinlich. Die Unterscheidung zwischen einer beginnenden emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und einer bipolaren Störung kann vor allem aufgrund der Schnelligkeit der Phasenwechsel getroffen werden. Patienten mit 197 emotional instabilen Persönlichkeitszügen leiden unter sehr schnell wechselnder Stimmung, oft schwankt diese in Abhängigkeit von verschiedenen äußeren Stressoren mehrfach täglich. Insgesamt zeigt sich ein chronischer Verlauf im Gegensatz zum episodischen Charakter der bipolaren Störung; es fehlen Phasen des relativen Wohlbefindens. Die Abgrenzung zur schweren affektiven Dysregulation gelingt weniger leicht, vermutlich sind die Übergänge zwischen diesen beiden Krankheitsentitäten fließend. Beide Patientengruppen zeichnen sich durch eine deutlich erhöhte Impulsivität in Verbindung mit Stimmungsschwankungen und etwa Ängsten aus. Während SMD-Patienten ihre aggressiven Impulse vor allem nach außen richten, zeigen emotional instabile Individuen eher selbstverletzendes Verhalten. Auch wird die Diagnose der SMD in der Regel in der späten Kindheit gestellt, in dem die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung noch nicht angemessen erscheint. Diagnostik bipolarer Störungen Die Diagnose einer früh beginnenden bipolaren Störung erfolgt derzeit in der Regel klinisch, dies auch deshalb, weil bislang in deutscher Sprache praktisch keine validierten Instrumente zur Diagnosesicherung vorliegen. Eine strukturiertere Möglichkeit stellt die Verwendung eines diagnostischen klinischen Interviews wie z. B. des Kiddie-SADS-PL (Schedule for Affective Disorders and Schizophrenia for School Age Children – Present and Lifetime Version ; Kaufman et al. , 1997) dar, das zahlreiche Störungsbilder abdeckt und sowohl mit den Eltern der Betroffenen, als auch mit den Patienten selbst durchgeführt werden kann. Da dieses Verfahren jedoch sehr umfangreich ist, ist die Notwendigkeit für weniger aufwendige Screeningverfahren gegeben. Hier existiert bereits die Elternversion der „Young Mania Rating Scale“ (Gracious, Youngstrom, Findling & Calabrese, 2002), deren deutsche Fassung derzeit validiert wird. Darüber hinaus gibt es erste Erfahrungen bei Jugendlichen mit einem Screeninginstrument für hypomane Phasen, der Hypomanie-Checkliste (HCL-32 ; Holtmann et al. , 2009b). Schwere Störungen der Affekt- und Verhaltensregulation können mittels eines Profils auf der Child Behavior Checklist erfasst werden (Achenbach & Edelbrock, 1983 ; Arbeitsgruppe Deutsche CBCL, 1998). Dieses Dysregulations-Profil ist gekennzeichnet durch klinisch relevante Werte auf den Syndromskalen “Ängstlich/depressiv”, “Aufmerksamkeitsprobleme” und “Aggressives Verhalten” (Holtmann et al. , 2007; Holtmann, 2008b). Dieses Risikoprofil erlaubt jedoch allenfalls die Identifikation der Untergruppe von Patienten, die unter “severe mood dysregulation” leiden. Ob Kinder mit diesem Risiko-Profil später bipolare 198 Yvonne Grimmer, Sarah Hohmann, Tobias Banaschewski und Martin Holtmann Tabelle 1. Die wichtigsten Differentialdiagnosen zur früh beginnenden bipolaren Störung mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden Erkrankung Gemeinsamkeiten Unterschiede Hyperkinetische Störung Gesteigerter Antrieb, Rededrang, vermindertes Schlafbedürfnis Chronischer Verlauf, Beginn in der frühen Kindheit, affektive Symptomatik eher reaktiv bei z. B. Schwierigkeiten im schulischen Bereich Depression Episodischer Verlauf, Beginn in der Jugend Keine manischen/hypomanen Phasen Schizophrenie Ähnliche Prodromalphase mit depressiver Verstimmung, Antriebs-, Kontakt- und Konzentrationsstörungen Eher paranoide Wahninhalte, diese sind nicht stimmungskongruent, affektive Beteiligung möglich, aber nicht im Vordergrund Substanzmissbrauch Symptomatik kann die einer Manie/ Hypomanie imitieren Klarer Zusammenhang der Symptome zum Substanzkonsum, bei Abstinenz meist keine Symptomatik Emotional instabile Stimmungsschwankungen, Suizidgedanken Chronischer Verlauf, Selbstverletzung, oft Persönlichkeitsstörung Trauma in der Vorgeschichte, kaum längere Phasen relativen Wohlbefindens Störungen entwickeln, ist sehr umstritten. Vermutlich geht dieser Verhaltensphänotyp einher mit einem höheren Risiko für depressive Störungen, Substanzmissbrauch und Suizidalität im jungen Erwachsenenalter. So kann die CBCL hilfreich in Bezug auf die Identifikation von schwer hyperkinetischen Patienten mit zusätzlichen affektiven Risikofaktoren sein, die im Verlauf eine engmaschige Betreuung benötigen. Zur Diagnosestellung einer jugendlichen bipolaren Störung erscheint sie nicht hilfreich. Kinder bipolarer Eltern Besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf die Prävention und Früherkennung des Auftretens einer bipolaren Störung gebührt den Kindern von bereits an einer solchen Störung erkrankten Eltern, da diese in etwa 10 % der Fälle im Laufe ihres Lebens ebenfalls eine bipolare Störung entwickeln (Duffy, Grof, Robertson & Alda, 2000). Bei der Frage, ob Kinder psychisch kranker Eltern später selbst erkranken, spielen neben genetischen Faktoren auch Risiko- und Schutzfaktoren in der familiären Umwelt eine entscheidende Rolle (WiegandGrefe, Peers, Plaß, Petermann & Riedesser, 2009). Tritt bei den betroffenen Individuen zusätzlich eine Angsterkrankung in der Kindheit oder frühen Jugend auf, so steigt das Risiko für die Entwicklung einer bipolaren Erkrankung noch einmal deutlich an (Duffy et al. , 2010). Bei diesen Kindern wird deshalb eine beobachtende Begleitung (“watchful waiting”) empfohlen. Therapeutische Ansätze Psychotherapie Häufige Stimmungsschwankungen sind der wichtigste Prädiktor für einen ungünstigen Verlauf affektiver Störungen (Akiskal et al., 1995). Ziel der psychotherapeutischen Behandlung ist daher insbesondere eine verbesserte Emotionsregulation. Es liegen derzeit keine etablierten Psychotherapie-Manuale für jugendliche bipolare Störungen vor, weder für den engen, noch für den breiten Phänotyp. Psychotherapeutisch orientiert man sich in der Therapie der SMD sowie der klassischen bipolaren Symptomatik daher zumeist an derzeit bereits für verwandte kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen etablierten Verfahren und an Manualen für Erwachsene und wendet so bereits vorhandene Bausteine für verschiedene Problembereiche an. So können zur Behandlung bei den Kindern mit SMD, welche zumeist auch an einer hyperkinetischen Störung erkrankt sind, für ADHSKinder ausgerichtete Therapieprogramme herangezogen werden (Döpfner et al., 1997; Waxmonsky et al., 2008; Gerber-von Müller et al., 2009; Özmen, 2009). Auch neuere Verfahren wie z. B. Neurofeedback scheinen erfolgsversprechend zu sein, da diese sich vor allem auf die bei SMD Kindern deutlich erhöhte Impulsivität positiv auswirken (Holtmann et al., 2009a). Zur Erarbeitung einer besseren Affektregulation können Anleihen bei Bausteinen aus etablierten Programmen für Jugendliche gemacht werden, etwa bei der dialektisch-behavioralen Therapie für Adoleszente, die sich bei emotionaler Instabilität bewährt hat (DBT-A, in der deutschen Version von Fleischhaker, Munz, Böhme, Sixt & Schulze, 2006) oder dem SELBST-Programm (Rademacher, Walter & Döpf- Früh beginnende bipolare Störungen, ADHS oder Störung der Affektregulation? ner, 2002). Bei Jugendlichen mit dem engen Phänotyp einer bipolaren Erkrankung ist die Anwendung einer interpersonellen Psychotherapie unter Berücksichtigung der sozialen Rhythmik (social-rhythm-therapy; Frank, Swartz & Boland, 2000, Modifikation für Jugendliche nach Hlastala & Frank, 2006) zu erwägen, die im Kern auf die Wiederherstellung eines strukturierten, haltgebenden Alltags und Tagesrhythmus zielt. Pharmakotherapie Es existieren derzeit nur wenige spezifische therapeutische Ansätze für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit bipolaren Störungen. Empfohlen wird bei jugendlichen Patienten, die eine klassisch bipolare Symptomatik zeigen, eine stimmungsstabilisierende Therapie mit einem atypischen Antipsychotikum, wie z. B. Olanzapin, Quetiapin und Aripiprazol, oder eine sog. Phasenprophylaxe, etwa mit Valproat, Lamotrigin oder Lithium (Smarty & Findling, 2007). Da es mit diesen Medikamenten jedoch nur wenige Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter gibt und z. T. mit deutlichen Nebenwirkungen zu rechnen ist, ist eine Behandlung nur bei strenger Indikationsstellung zu rechtfertigen (Vloet & Hagenah, 2009). Die prophylaktische Behandlung von nicht-symptomatischen Kindern, die aufgrund genetischer Belastung zu der Hochrisikogruppe zu rechnen sind, ist abzulehnen. Patienten mit schwerer affektiver Dysregulation scheinen dagegen (entgegen früherer Befürchtungen) die klassischerweise bei hyperkinetischer Störung eingesetzte Stimulanzientherapie gut zu tolerieren und auch hinsichtlich der Affektregulation davon zu profitieren, ohne dass hierdurch manische Phasen begünstigt würden (Waxmonsky et al., 2008). Schlussfolgerungen für die Praxis Das klassische Bild bipolarer Störungen wird in der deutschen Versorgungswirklichkeit im Jugendalter wenig und in der Kindheit praktisch gar nicht gesehen. Da aber bis zu ein Drittel der bipolaren Erkrankungen vor dem 18. Lebensjahr beginnt, sollten wir – bei aller Skepsis gegenüber dem „Bipolar-Boom“ – einer selbstkritischen Überprüfung nicht ausweichen und unsere Bemühungen zum Verständnis früher Symptome einer manisch-depressiven Erkrankung verstärken. Folgende praktische Handlungsempfehlungen sind derzeit als Orientierung hilfreich: • Bei der Diagnostik früher bipolarer Störungen sollte weiterhin vorrangig auf das Auftreten von abgrenzbaren Episoden mit eindeutigen Stimmungsänderungen und begleitenden Veränderungen von Verhalten und Kognition geachtet werden. Liegen derartige 199 Episoden nicht vor, sollte auch keine bipolare Störung diagnostiziert werden. • Führen depressive Störungen zur Vorstellung, muss immer auch nach hypomanen Symptomen gefragt werden, die meist nicht spontan berichtet werden. Manisch-depressive Erkrankungen in der Familie sollten regelhaft direkt erfragt werden, wobei oft nur depressive und sehr ausgeprägte manische Phasen erinnert werden und der Begriff “bipolar” den Familien meist nicht vertraut ist. Hilfreich ist es eher von ausgeprägten “Hochs” und Tiefs” zu sprechen. • Die als affektive Dysregulation oder „severe mood dysregulation“ bezeichnete Symptomatik sollte nicht im Sinne einer früh beginnenden bipolaren Störung interpretiert werden. Die an affektiver Dysregulation leidenden Kinder entwickeln im jungen Erwachsenenalter nicht klassische bipolare Störungen, sondern eher eine depressive Symptomtik, antisoziale Störungen, Substanzmissbrauch und suizidale Krisen (Baroni et al., 2009). Allerdings bedarf die Hochrisikogruppe mit einem Mischbild aus ADHS und begleitender affektiver Dysregulation stärkerer Beachtung, insbesondere bei der Entwicklung geeigneter psychound pharmakotherapeutischer Ansätze. Diese Kinder und Jugendlichen und ihre Familien sollten langfristig aufmerksam begleitet werden. Literatur Achenbach, T. M. & Edelbrock, C. S. (1983). Manual for Child Behavior Checklist and revised Behavior Profile. Burlington, VT: University of Vermont. Akiskal, H. S., Maser, J. 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