UNIVERSITÄT BERN Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Strafrecht und Kriminologie Prof. Dr. iur. Jonas Weber, Rechtsanwalt, LL.M. Masterarbeit "ANORDNUNG, VOLLZUG UND BEENDIGUNG DER STATIONÄREN UNTERBRINGUNG IM JUGENDSTRAFRECHT" vorgelegt am 31.12.2012 von Kevin Sacher I Inhaltsverzeichnis Literatur- und Materialienverzeichnis ........................................................ III Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. X 1. Einleitung ................................................................................................ 1 Teil I: Die Anordnung der stationären Unterbringung .................................. 2 2. Voraussetzungen für die Anordnung ................................................... 2 2.1 Offene Unterbringung ........................................................................ 2 2.1.2 Vorbemerkungen ........................................................................... 2 2.2.2 Verhältnismässigkeit ...................................................................... 3 2.2 Geschlossene Unterbringung ............................................................ 7 Teil II: Der Vollzug der stationären Unterbringung ..................................... 11 3. Überblick über den Vollzug ................................................................. 11 3.1 Sozialpädagogische Arbeitsweise ................................................... 11 3.1.1 Ziele und Konzepte ...................................................................... 12 3.1.2 Konfrontative Pädagogik .............................................................. 15 3.2 Jugendheimlandschaft in der Schweiz ............................................ 16 3.3 Unterschiede zum Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzuges? .......................................................................... 19 II Teil III: Die Beendigung der stationären Unterbringung ........................... 24 4. Voraussetzungen für die Beendigung ................................................ 24 4.1 Beendigung im Fall des Erfolges ..................................................... 24 4.2 Beendigung im Fall des Misserfolges .............................................. 24 4.2.1 Sinn- und Zwecklosigkeit ............................................................. 24 4.2.2 Erreichen der absoluten Altersgrenze .......................................... 27 5. Mögliche Folgen der Beendigung ....................................................... 30 5.1 Weiterführender Freiheitsentzug ..................................................... 30 5.1.1 Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzugs ................... 30 5.1.2 Exkurs: Fürsorgerische Freiheitsentziehung als Rettungsanker? 34 5.2 Wiedereingliederung in Freiheit ....................................................... 39 5.2.1 Progressive Wiedereingliederung als Konzept ............................ 40 5.2.2 Massnahmenänderung als Instrument der progressiven Wiedereingliederung .................................................................... 42 5.3 Umgehungsmöglichkeiten in der Praxis .......................................... 48 5.4 Gezielte unmittelbare Entlassung in die Freiheit ............................. 51 5.5 Sicherungsmassnahme bzw. Verwahrung im Jugendstrafrecht? .... 52 5.5.1 De lege lata und Praxis ................................................................ 52 5.5.2 De lege ferenda ........................................................................... 54 6. Übersicht der Lösungsvorschläge ..................................................... 60 7. Fazit ....................................................................................................... 61 III Literatur- und Materialienverzeichnis Zitierweise Falls nicht anders vermerkt, werden Zitate im Text mit dem Nachnamen des Autors sowie der Fundstelle innerhalb des Werkes, wenn vorhanden Kapitel/Artikel plus Randziffer, ansonsten als Seitenzahl genannt. Literatur AEBERHARD MARIANNE, Kriterien der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Jugendlichen – Eine rechtspsychologische Auseinandersetzung mit Schuldfähigkeit, Unrechtsbewusstsein und psychosozialer Reife, Diss. Bern 2012. AEBERSOLD PETER, Schweizerisches Jugendstrafrecht, 2. 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Aufl., Basel 2007. (zit. BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. … N …) GUTSCHNER DANIEL et al., Das neue Schweizerische Jugendstrafgesetz (JStG) – Wichtige Änderungen aus kinder- und jugendpsychologisch-psychiatrischer Sicht, ZStrR 125/2007, S. 44 ff. HEBEISEN DIETER, Das neue Jugendstrafgesetz: Geschichte, Hintergründe, aktuelle Situation, Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen, in: SCHWEIZERISCHE KRIMINALPRÄVENTION (Hrsg.), Jugend und Gewalt: ein Handbuch der Schweizerischen Kriminalprävention (SKP), Bern 2011, S. 63 ff. (zit. Hintergründe und Erfahrungen) HEBEISEN DIETER, Das neue materielle Jugendstrafrecht – Eine leicht kritische Übersicht über die wesentlichen Neuerungen, in: BÄNZIGER FELIX / HUBSCHMID ANNEMARIE / SOLLBERGER JÜRG (Hrsg.), Zur Revision des Allgemeinen Teils des Schweizerischen Strafrechts und zum neuen materiellen Jugendstrafrecht, 2. Aufl., Bern 2006, S. 187 ff. (zit. 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Kriminologie) MAUD PILLER EDITH / SCHNURR STEPHAN, Zum Umgang mit „Problemjugendlichen“ in der Schweiz, in: W ITTE MATTHIAS D. / SANDER UWE (Hrsg.), Erziehungsresistent?, – „Problemjugendliche“ als besondere Herausforderung für die Jugendhilfe, Hohengehren Baltmannsweiler 2006 = Reihe Grundlagen der Sozialen Arbeit Bd. 15, S. 93 ff. MEYER LÖHRER BEDA, „Im Ergebnis eine rein polizeilich motivierte Fürsorge“, plädoyer 6/2012, S. 20 ff. REHBERG JÖRG, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, Jugendstrafrecht, 7. Aufl., Zürich 2001. RIESEN-KUPPER MARCEL, Das neue Jugendstrafgesetz in der Praxis, in KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern 2010, S. 117 ff. (zit. RIESEN-KUPPER, Praxis) VII RIESEN MARCEL, Das neue Jugendstrafgesetz (JStG), ZStrR 123/2005, S. 18 ff. (zit. RIESEN-KUPPER, JStG) RUBERTUS MICHAEL, Resozialisierung in einem Massnahmenzentrum, in: KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern 2010, S. 307 ff. 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BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen) Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS), abrufbar unter: <http://www.pom.be.ch/pom/de/index/freiheitsentzug-betreuung /jugendheime/jugendheim_lory/vollzug.assetref/content/dam/ documents/POM/FB/de/Jugendheim_Lory/Jugendlichenbeurteilung ssystem (JUBS) 7009.pdf>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem) Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept – Kurzfassung, abrufbar unter: <http://www.pom.be.ch/pom/de/index/freiheitsentzug-betreuung /jugendheime/jugendheim_lory/vollzug/wohnangebot.assetref/conte nt/dam/documents/POM/FB/de/Jugendheim_Lory/Päd_Konzept_20 10_Kurzfassung5125.pdf>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept) IX Jugendheim Prêles, Portrait, abrufbar unter: <http://www.pom.be.ch/pom/de /index/freiheitsentzug-betreuung/jugendheime/jugendheim_preles /portrait.html>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Prêles, Portrait) Materialien Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21. September 1998, BBl 1998 1979 ff. (zit. Botschaft JStG) Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), Änderung S. 725 ff. (zit. E-ZGB) vom 19. Dezember 2008, AS 2011, X Abkürzungsverzeichnis Abs. Absatz AJP Aktuelle Juristische Praxis Art. Artikel Aufl. Auflage BBl Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft Bd. Band BFS Bundesamt für Statistik BGE Publizierter Leitentscheid des Schweizerischen Bundesgerichts BGer Schweizerisches Bundesgericht Ders. Derselbe Diss. Dissertation E-ZGB Entwurf zu dem am 1. Januar 2013 in Kraft tretenden neuen Schweizerischen Zivilgesetzbuch EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EJPD Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EMRK Europäische Menschenrechtskonvention 1950 (SR 0.101) et al. et alii/aliae (Deutsch: und andere) f. / ff. folgende (Seite / Seiten) FFE Fürsorgerische Freiheitsentziehung Fn. Fussnote Hrsg. Herausgeber i. e. S. im engeren Sinne i. S. v. im Sinne von vom 4. November XI i. V. m. in Verbindung mit ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) JStG Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003 (SR 311.1) Kap. Kapitel lit. litera LSMG Bundesgesetz über die Leistungen des Bundes für den Strafund Massnahmenvollzug vom 5. Oktober 1984 (SR 341) m. E. meines Erachtens N Randnote Rz. Randziffer S. Seite SR Systematische Sammlung des Bundesrechts StGB Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0) SZK Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie UN-KRK Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (SR 0.107) ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom (SR 210) zit. zitiert ZStrR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 10. Dezember 1907 1 1. Einleitung Wann ist eine jugendstrafrechtliche stationäre Unterbringung Jugendlicher angezeigt? Macht es Sinn, mit „schwierigen“ Jugendlichen überhaupt noch erzieherisch oder therapeutisch zu arbeiten? Wie begegnet man Jugendlichen, welche nicht „kooperieren“ oder gar „gefährlich“ sind? In den Medien und in der Politik ist zum Thema Jugendgewalt verbreitet eine Problemdramatisierung vorzufinden, da sich einerseits die kommerziellen Massenmedien zu profilieren versuchen und andererseits die Politiker mit dem Ruf nach hartem Einschreiten um die Wählergunst buhlen.1 Auch wenn es dem Strafrechtler schmeicheln könnte, ist der gerade in der Politik der offenbar unbegrenzte Glaube ans Strafrecht erstaunlich.2 So scheint es für eine Masterarbeit äusserst interessant, gerade die eingriffsintensivste Sanktion des Jugendstrafrechts zu betrachten. Da gewisse Regelungen zur stationären Unterbringung gerade auch von der Praxis teilweise scharf kritisiert werden, bietet sich eine vertiefte Bearbeitung besonders an. Die stationäre Unterbringung wird in dieser Arbeit verlaufsmässig so diskutiert, wie sie von den Jugendlichen durchlaufen wird, nämlich von der Anordnung, über den Vollzug, bis zu deren Beendigung. Zusätzlich zum Literaturstudium konnte ich mit dem Leitenden Jugendanwalt des Kantons Basel-Stadt, lic. iur. BEAT BURKHARDT, mit dem Leitenden Jugendanwalt der Stadt Zürich, lic. iur. HANSUELI GÜRBER und mit der Jugendanwältin lic. iur. ANNE-CATHERINE HATT von der Jugendanwaltschaft Uznach je ein Experteninterview führen. Diese Interviews haben nicht nur zur erforderlichen Klärung offener Fragen gedient, sondern haben mir auch ermöglicht, die Arbeit anschaulicher und praxisbezogener zu gestalten. Den Experten möchte ich hier ausdrücklich für ihre aufgewendete Zeit und ihre spannenden Inputs danken. 1 KUNZ, Jugendgewalt, S. 18. 2 RIEDO CHRISTOPH, Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht im Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik, SZK 1/2010, S. 27. 2 Teil I: Die Anordnung der stationären Unterbringung 2. Voraussetzungen für die Anordnung 2.1 Offene Unterbringung 2.1.2 Vorbemerkungen Da der Systematik von Art. 15 JStG zu entnehmen ist, dass die offene Unterbringung als gesetzlicher Grundsatz, und die geschlossene Unterbringung als Ausnahme gilt, werden alle Voraussetzungen, die für die stationäre Unterbringung als solche gelten, unter diesem Titel abgehandelt. Die stationäre Unterbringung ist eine sogenannte Schutzmassnahme, und somit eine Sanktion des Jugendstrafrechts.3 Jugendstrafrecht kommt gemäss Art. 3 Abs. 1 JStG zur Anwendung, wenn eine Person zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Lebensjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen hat. Diese Straftat muss tatbestandsmässig und rechtswidrig begangen worden sein.4 Schuldfähigkeit wird von Art. 10 Abs. 1 JStG für die Anordnung von Schutzmassnahmen hingegen nicht verlangt. Schutzmassnahmen werden gemäss Art. 10 Abs. 1 JStG nur angeordnet, wenn der Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischer Behandlung bedarf. Im Jugendstrafrecht herrscht ein Dualismus zwischen Strafen und Schutzmassnahmen vor.5 Bereits die Strafen haben keinen tatvergeltenden Charakter, sondern möchten den Jugendlichen vordringlich in spezialpräventiver Zielsetzung vor der Begehung weiterer Straftaten abhalten.6 Die Anordnung von Schutzmassnahmen orientiert sich noch weniger nach der Straftat an sich, sondern ausschliesslich an den pädagogischen, psychologischen und 3 vgl. HOLDEREGGER, Rz. 538. 4 HOLDEREGGER, Rz. 561. 5 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 120. 6 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 9 vor Art. 1 3 medizinischen Bedürfnissen des betroffenen Jugendlichen.7 Diese besonderen Bedürfnisse des Jugendlichen müssen zur Zeit der Verurteilung noch bestehen, nicht bloss zur Tatzeit.8 Ein Bedürfnis, welches nach der Tat und unabhängig von dieser auftritt, kann hingegen keine jugendstrafrechtliche Schutzmassnahme, sondern höchstens eine zivilrechtliche Massnahme zur Folge haben.9 Wenn eine offene Unterbringung zur Behandlung einer psychischen Störung angezeigt erscheint, so muss gemäss Art. 15 Abs. 3 JStG vor der definitiven Fremdplatzierung eine medizinische oder psychologische Begutachtung in Auftrag gegeben werden, wenn dies nicht schon aufgrund Art. 9 Abs. 3 JStG veranlasst wurde. 2.2.2 Verhältnismässigkeit Die Anordnung der stationären Unterbringung muss als Schutzmassnahme wie auch die Anordnung von Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts oder des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts verhältnismässig sein.10 Dies regelt Art. 1 Abs. 2 lit. c JStG, wo u. a. festgehalten wird, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip der erwachsenenstrafrechtlichen Massnahmen von Art. 56 Abs. 2 StGB grundsätzlich11 auch für das Jugendstrafrecht gilt. Die Unterbringung muss daher geeignet und erforderlich in Bezug auf Sozialintegration und Rückfallminderung sein, und sie muss i. e. S. verhältnismässig sein, also ein vernünftiges Verhältnis zwischen Eingriffszweck und Ein- 7 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121. 8 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122. 9 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122. 10 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121. 11 Bestimmungen des StGB dürfen gemäss Art. 1 Abs. 3 JStG nur unter der Voraussetzung angewandt werden, dass die jugendstrafrechtlichen Grundsätze nach Art. 2 JStG sowie Alter und Entwicklungsstand des betroffenen Jugendlichen zu seinen Gunsten berücksichtigt werden. 4 griffsintensität wahren.12 Die Fremdplatzierung wird heute somit als klare ultima ratio verstanden, was speziell im frühen 20. Jahrhundert im Rahmen der Kinderretter-Bewegung noch anders beurteilt wurde.13 Im Jahr 2011 waren gerade noch 0.7% aller ausgesprochenen JStG-Sanktionen stationäre Unterbringungen.14 Vollzieht man eine Durchschnittsrechnung für die Jahre 2007 bis 2011, so machen die Unterbringungen 1.4% aller JStG-Sanktionen aus.15 Art. 15 Abs. 1 JStG hält heute im Sinne einer Subsidiarität16 explizit fest, dass eine Unterbringung nur Anwendung finden darf, wenn „die notwendige Erziehung und Behandlung des Jugendlichen nicht anders sichergestellt werden“ kann. Es darf also keine Möglichkeit bestehen, dass mit den eingriffsmilderen Schutzmassnahmen der Aufsicht (Art. 12 JStG), der persönlichen Betreuung (Art. 13 JStG) oder der ambulanten Behandlung (Art. 14 JStG) hinreichende Erziehungs- oder Therapieerfolge erzielt werden können.17 Eine wichtige Voraussetzung ist daher, dass die nicht zu vernachlässigenden Probleme des betroffenen Jugendlichen nicht mehr in seiner vertrauten Umgebung angegangen werden können.18 Nebst dem schlichten Prüfen solcher milderer Massnahmen ist allenfalls ein Erproben derselben angezeigt.19 Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass mildere Schutzmassnahmen bereits zwingend gescheitert sein müssen.20 Stationäre Unterbringungen sind bildhafter ausgedrückt häufig dort unumgänglich, wo Eltern hoffnungslos überfordert sind oder gar ihre Kinder durch Gewalt, sexuelle Übergriffe, Vernachlässigung oder Überbetreuung gefähr- 12 HOLDEREGGER, Rz. 561. 13 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144. 14 vgl. BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen. 15 vgl. BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen. 16 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3. 17 HOLDEREGGER, Rz. 562. 18 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144. 19 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3. 20 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122. 5 den.21 Weiter ist die Fremdplatzierung oft unausweichlich, wenn Störungen des Sozialverhaltens von Jugendlichen vorliegen, welche sich etwa in einer verfestigten Ausweich- und Fortlauf-Symptomatik oder in Gefährdungen Dritter äussern.22 Ebenso angezeigt ist die Unterbringung, wenn ohne Distanz zum subkulturellen Milieu eines Jugendlichen die Erziehung oder Behandlung nicht ausreichend gewährleistet werden kann.23 In Hinblick auf die Verhältnismässigkeit i. e. S. (auch als Angemessenheit bezeichnet24) ist zu prüfen, ob die Schutzmassnahme im Hinblick auf die Erziehungs- und Behandlungsbedürftigkeit des Täters (und nicht der Tat) angemessen ist.25 In diese Beurteilung ist insbesondere auch die Gefahr einzubeziehen, die für den Betroffenen selbst droht oder die, welche von ihm ausgeht.26 Ob die in der Literatur vorgenommene Auslegung der Angemessenheit unangefochten Sinn macht, kann m. E. in Frage gestellt werden. Es ist folglich die Gewichtung der Straftat selbst genauer zu beleuchten. Man könnte sich etwa folgendes Beispiel zur Diskussion im Hinblick auf die Unterbringung vorstellen: Ein 13-jähriger Junge wird zum wiederholten Mal beim Stehlen von T-Shirts in einer Kleiderboutique erwischt. Die familiäre Situation des Jungen erweist sich in der Untersuchung durch die Jugendanwaltschaft als verheerend. Beide Eltern sind schwer alkoholabhängig und vernachlässigen ihre Erziehungsarbeit. Einerseits schenken sie dem Jungen keine Aufmerksamkeit und andererseits teilen sie in willkürlich anmutenden Momenten Schläge aus. Abschliessend verweigern die Eltern auch jegliche Zusammenarbeit mit der Jugendanwaltschaft. 21 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3. 22 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144. 23 vgl. BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3. 24 etwa von AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121. 25 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 20 vor Art. 1. 26 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121. 6 Hier wäre wohl jede mildere Schutzmassnahme als die Unterbringung weder geeignet noch ausreichend, da bei milderen Massnahmen die Zusammenarbeit mit den Eltern vonnöten wäre. Weiter kann das Erziehungsbedürfnis des Jungen als klar erstellt betrachtet werden. Die stationäre Unterbringung wäre also geeignet, erforderlich und im Hinblick auf die erzieherischen Probleme des Jugendlichen angemessen. Doch stellt sich die Frage, ob hier nicht doch die Straftat an sich ein höheres Gewicht für die Angemessenheitsprüfung erhalten sollte. Mit REHBERG ist festzuhalten, dass eine strafrechtliche Fremdplatzierung nur dann erfolgen sollte, wenn das Delikt eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überstiegen hat.27 Schlussendlich wird der Junge im Beispielfall wohl zu Recht nicht verstehen, weshalb er wegen einigen gestohlenen T-Shirts womöglich mehrere Jahre stationär untergebracht werden könnte. Jugendliche empfinden Schutzmassnahmen nämlich regelmässig als Strafen.28 Bei Bagatelldelikten im Zusammenhang mit erheblichen Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen wäre daher m. E. eine zivilrechtliche Massnahme angebrachter. Die Jugendstrafbehörde kann in Anwendung von Art. 20 Abs. 1 lit. a JStG die Anordnung einer Massnahme bei der Kindesschutzbehörde beantragen oder unter den Voraussetzungen von Abs. 2 sogar übertragen. Es sollte trotz zugegebenermassen vergleichbarem Ergebnis und trotz der pädagogischen Ausrichtung der Schutzmassnahme m. E. nicht sein, dass ein Jugendlicher in solchen Fällen unter dem Vorwurf von persönlicher strafrechtlicher Schuld fremdplatziert werden kann. Auf den Beispielsfall angesprochen, meint BURKHARDT, dass hier „auf jeden Fall“ eine zivilrechtliche Massnahme angebrachter wäre.29 Im Bagatellbereich sei eine Unterbringung eher bei Gewaltdelikten angemessen, wobei eine Tätlichkeit u. U. genügen könne.30 GÜRBER und HATT hingegen erklären 27 Jedoch unter dem Vorbehalt, dass das Delikt nicht auf einer „besonders gravierenden Persönlichkeitesstörung“ beruht, REHBERG, S. 200. 28 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S.133. 29 BURKHARDT, Anhang 1, S. 2 f. 30 BURKHARDT, Anhang 1, S. 3. 7 im Interview, dass sie bei Bagatelldelikten v. a. auf den Willen des Jugendlichen selbst abstellten.31 Gerade in Fällen, wo ein Jugendlicher das Vertrauen gefasst habe zu äussern, er wolle sich seinen familiären Verhältnissen entziehen, sei es laut GÜRBER „absolut daneben“, den Jugendlichen noch den Kindesschutzbehörden zu übergeben.32 HATT führt ihrerseits jedoch an, dass sie den Weg über die zivile Behörde doch als den ersten Weg befürworten würde.33 Es stellt sich also bei Bagatelldelikten im Zusammenhang mit erheblichen Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen schliesslich die Frage, ob man das Kindeswohl im engen und vielleicht kurzfristigen Sinn oder eine dogmatisch klarere Abgrenzung höher gewichtet. Eine Bagatellgrenze scheint m. E. gerade für Straftaten ohne Gewaltkomponente aufgrund einer saubereren Angemessenheits-Auslegung dogmatisch mindestens prüfenswert. 2.2 Geschlossene Unterbringung Für die eingriffsintensivste aller jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen, nämlich für die geschlossene Unterbringung, gelten einerseits selbstverständlich alle Voraussetzungen, die bereits für die offene Unterbringung aufgeführt wurden. Weiter sieht Art. 15 Abs. 2 JStG weitere alternative Voraussetzungen vor: Lit. a bestimmt einerseits, dass die geschlossene Unterbringung angeordnet werden kann, wenn sie „für den persönlichen Schutz […] des Jugendlichen unumgänglich ist“. Hier muss eine Selbstgefährdung vorliegen, welche ein erhebliches Mass erreicht.34 Die Botschaft vom 21. September 1998 zum 31 GÜRBER, Anhang 2, S. 21 f.; HATT, Anhang 3, S. 41. 32 GÜRBER, Anhang 2, S. 21 f. 33 HATT, Anhang 3, S. 42. 34 HOLDEREGGER, Rz. 566. 8 neuen Jugendstrafgesetz erwähnt hier etwa Suizidalität des Jugendlichen als einen ausreichenden Grund für eine geschlossene Unterbringung.35 Andererseits sieht Art. 15 Abs. 2 lit. a JStG alternativ vor, dass das geschlossene Setting möglich ist, falls es „für die Behandlung der psychischen Störung des Jugendlichen unumgänglich ist“. Das Bundesgericht führt hierzu in einem Urteil vom 15. Februar 2011 aus, dass die Anordnung einer geschlossenen Unterbringung möglich sein soll, wenn ein Jugendlicher in einer milderen Schutzmassnahme stets entweiche, und so nicht sichergestellt werden könne, dass er die erforderliche psychotherapeutische Behandlung erhalte.36 Art. 15 Abs. 2 lit. b JStG wechselt die Perspektive und geht zu der möglichen Fremdgefährdung über.37 Als letzte Alternative darf die geschlossene Unterbringung nämlich angeordnet werden, wenn sie „für den Schutz Dritter vor schwer wiegender Gefährdung durch den Jugendlichen notwendig ist“. Die Botschaft hält hier fest, dass vom Jugendlichen aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse und auf die verübten Straftaten zu erwarten sein muss, dass er nach einer Flucht schwer wiegende Straftaten wie einen Raub oder eine Vergewaltigung begehen werde.38 Von HOLDEREGGER wird hier abstrahierend vorgeschlagen, dass drohende Verbrechen und Vergehen ausreichen sollten, jedoch drohende Übertretungen nicht genügend schwer wögen.39 Hierzu ist m. E. die Überlegung anzustellen, ob es dem Sinn der Norm nicht sogar näher kommen würde, wenn einschränkend ein Verbrechen drohen müsste, bei welchem die körperliche oder sexuelle Integrität mindestens bedroht oder gefährdet würde. Ob etwa eine drohende einfache Körperverletzung oder ein drohender Betrug reichen soll, um einen Jugendlichen u. U. jahrelang geschlossen zu führen, ist mindestens in Zweifel zu ziehen. 35 Botschaft JStG, S. 2234. 36 BGer 1B_32/2011, E. 2.7. 37 HOLDEREGGER, Rz. 564. 38 Botschaft JStG, S. 2234. 39 HOLDEREGGER, Rz. 568. 9 Festgehalten werden muss noch, dass geschlossene Unterbringungen in der Praxis viel häufiger nur vorübergehend angeordnet werden, und nicht i. S. v. Art. 15 Abs. 2 JStG dauerhaft bzw. definitiv angelegt werden.40 Am häufigsten werden geschlossene Unterbringungen als Initialphase einer Fremdplatzierung oder als Krisenintervention ausgestaltet, welche etwa drei Monate dauert.41 HOLDEREGGER nimmt hier an, dass die möglichen ersten drei Aufenthaltsmonate im geschlossenen Setting als Initialphase wegen ihrem kurzfristigen Charakter gar nicht erst als geschlossene Unterbringung i. S. v. Art. 15 Abs. 2 JStG zu verstehen seien.42 Diese Annahme wird hingegen von AEBERSOLD in Zweifel gestellt, denn die Einweisung an sich sei ja in einem solchen Fall (entgegen der Einweisung aufgrund einer Krisenintervention) sehr wohl auf Dauer angelegt.43 Zur oben44 geführten Diskussion der Verhältnismässigkeit bei Bagatelldelikten ist für die geschlossene Unterbringung noch Folgendes anzubringen: Wird etwa ein suizidaler Jugendlicher nach einem Bagatelldelikt mit einer geschlossenen Unterbringung sanktioniert, wird dies gemäss Art. 266 Abs. 3 lit. b StGB ins Schweizerische Strafregister eingetragen. Es ist m. E. zu bemerken, dass ein Strafregistereintrag dem Kindeswohl resp. dem Wohl des Jugendlichen nicht förderlich ist und somit in Fällen von Bagatelldelikten gerade geschlossene Unterbringungen nicht anzuordnen sind. Allenfalls sind zivilrechtliche Massnahmen anzuordnen. Vor jeder definitiven geschlossenen Unterbringung ist gemäss Art. 15 Abs. 3 JStG zwingend eine medizinische oder psychologische Begutachtung anzuordnen, wenn dies nicht schon aufgrund von Art. 9 Abs. 3 veranlasst wurde. 40 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 9. 41 GÜRBER, S. 40. 42 HOLDEREGGER, Rz. 552. 43 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 146. 44 siehe oben 2.2.2. 10 Die Begutachtung sei gemäss Botschaft zum JStG jedoch für die häufigeren Fälle sofortiger und zeitlich begrenzter Kriseninterventionen, welche i. V. m. Art. 5 JStG ausgesprochen werden, nicht erforderlich.45 Kinder- und Jugendpsychiater halten hierzu fest, dass eine Begutachtung für alle Jugendliche, die in die geschlossene Unterbringung genommen werden, „wenig sinnvoll“ sei, da nicht alle eine ausführliche Begutachtung benötigten.46 Sinnvoller scheine eine systematische, standardisierte Abklärung.47 45 Botschaft JStG, S. 2235. 46 GUTSCHNER et al., S. 48. 47 GUTSCHNER et al., S. 48 mit weiteren Hinweisen. 11 Teil II: Der Vollzug der stationären Unterbringung 3. Überblick über den Vollzug 3.1 Sozialpädagogische Arbeitsweise Obwohl gemäss Art. 15 Abs. 1 JStG in der stationären Unterbringung nebst erzieherischer auch therapeutische Hilfe angeboten werden kann, beschränkt sich dieses Kapitel im Wesentlichen auf die (sozial-)pädagogische Betreuung. Traditionell bemüht sich das Jugendstrafrecht einerseits um ein Gleichgewicht zwischen strafender Verantwortungszuweisung und Erziehung, und zwischen tatbezogenem Unrechtsausgleich und täterbezogener Wiedereingliederung.48 Der Vollzug der stationären Massnahme gestaltet sich in diesem Gleichgewicht sehr interdisziplinär: Es treffen nebst juristischen Denkmodellen namentlich auch sozialpädagogische, forensisch-therapeutische sowie schul- und berufsbildende Konzepte aufeinander.49 Das Recht und die Sozialpädagogik sollten somit nicht künstlich gegenüber gestellt werden, denn das Recht setzt schlicht den Handlungsrahmen für die Sozialpädagogik.50 Da trotzdem gerade aus Sicht der Sozialpädagogik teilweise die „fast uneingeschränkte Macht“ der Juristen in den Jugendstrafbehörden kritisiert wird,51 sollen in diesem Unterkapitel auch die sozialpädagogischen Denkmodelle ihren verdienten Platz erhalten. Es soll hier keineswegs ein Anspruch an Vollständigkeit und Ausgeglichenheit vermittelt werden. Beabsichtigt wird eher, dem Leser mit juristischem Hintergrund einige Bereiche des sozialpädagogischen Arbeitens in der Unterbringung aufzuzeigen. 48 KUNZ, Jugendgewalt, S. 19. 49 vgl. RUBERTUS, S. 309 f. 50 vgl. TRENCZEK, Kap. 6 Rz. 2. 51 vgl. etwa MAUD PILLER/SCHNURR, S. 106. 12 3.1.1 Ziele und Konzepte Einleitend soll die Frage beantwortet werden, was denn überhaupt unter Erziehung zu verstehen ist. Erziehung kann verstanden werden als planmässige Tätigkeit zur Formung junger Menschen, die mit all ihren Anlagen und Kräften zu vollentwickelten, verantwortungsbewussten und charakterfesten Persönlichkeiten gebildet werden sollten.52 Die Erziehung ist gemäss Art. 2 Abs. 1 JStG nebst dem Schutz wegleitend für die Anwendung des JStG, und somit auch für den Vollzug der Unterbringung. In der Sozialwissenschaft wird terminologisch zunehmend von „Intervention“ als von Erziehung oder gar Resozialisierung gesprochen.53 Intervention meint den bewussten Eingriff in ein aktuelles Geschehen, welches zum Ziel hat, Kräfte und Fähigkeiten für alternatives Verhalten zu mobilisieren.54 Hierzu bieten Institutionen wie Jugendheime durch die Herausnahme aus dem bestehenden Milieu die Chance, die Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion Jugendlicher zu modifizieren.55 Wie bereits aus dem ersten Teil dieser Arbeit ersichtlich wird, kann eine Unterbringung einerseits offen ausgestaltet werden, oder sie kann andererseits im geschlossenen Rahmen stattfinden. Beispielsweise bietet das Jugendheim Lory in Münsingen, welches ausschliesslich weibliche Jugendliche aufnimmt, ein Wohnangebot an, welches von einer geschlossenen, über eine halbgeschlossene, eine halboffene und eine offene Wohngruppe bis hin zu einem schlicht begleiteten Wohnen reicht.56 Grossen Wert wird in den Jugendheimen auf einen respektvollen Umgang und auf die Einhaltung der Regeln gelegt, wobei disziplinarische Massnah- 52 GÜRBER, S. 39. 53 APELT, S. 372. 54 APELT, S. 372. 55 APELT, S. 373. 56 Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 4 ff. 13 men erst eingesetzt werden, wenn die erzieherischen gescheitert sind.57 Oft müssen Jugendliche im Vollzug lernen, nicht mehr ausschliesslich nach dem Lustprinzip zu leben, sondern sie müssen sich in ein neues Ganzes einfügen.58 Eine wichtige Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Massnahmenvollzug ist wie in jedem pädagogischen Arbeitsbereich das Beziehungsangebot.59 Dies bedeutet auch, dass für den Jugendlichen erkennbar sein muss, dass die involvierten Personen einerseits in der Strafverfolgung wie auch im Vollzug von Schutzmassnahmen am Jugendlichen interessiert sind.60 Die Massnahme an sich führt nämlich nicht automatisch zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung, sondern es müssen mit den Jugendlichen Lern- und Veränderungsprozesse erarbeitet werden.61 Stets werden Ziele und Wege gemeinsam erarbeitet, die u. U. auch wieder überarbeitet werden müssen.62 Beispielgebend will etwa das Jugendheim Prêles, welches ausgeprägt dissoziale männliche Jugendliche als ihre Zielgruppe sieht, hauptsächlich die Förderung der Legalbewährung, der finanziellen Unabhängigkeit und der Sozialkompetenz anstreben.63 Dies soll nebst schulischer und beruflicher Bildung mit einer Stärkung der Persönlichkeit, einer Begleitung zur schrittweise mehr zu übernehmenden Selbstverantwortung und natürlich mit individualisierten Erziehungsmassnahmen und Therapien erreicht werden.64 Das Jugendheim Lory beurteilt die eingewiesenen Jugendlichen durch das m. E. bemerkenswert detaillierte sogenannte „Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS)“ nach ihrem Alltagsverhalten und Regelumgang, dem Umgang 57 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295. 58 HEBEISEN, Hintergründe und Erfahrungen, S. 74. 59 GÜRBER, S. 39. 60 GÜRBER, S. 39. 61 TRENCZEK, Kap. 6 Rz. 2. 62 GÜRBER, S. 39. 63 Jugendheim Prêles, Portrait. 64 Jugendheim Prêles, Portrait. 14 mit sich selbst und mit den Mitmenschen und nach ihren Erfolgen in der Schule und/oder am Arbeitsplatz.65 Je nach Beurteilungsergebnis wird so ein Aufenthalt im Jugendheim kürzer oder länger ausgestaltet oder den Jugendlichen stehen mehr oder weniger Privilegien offen.66 Das Jugendheim Lory erwähnt in seinem pädagogischen Konzept, dass den Jugendlichen nach vielen Enttäuschungen im Leben auch wieder Erfolgserlebnisse ermöglicht werden sollen.67 Dies könne ein Weg sein, der zu mehr Selbstachtung und Wertschätzung gegenüber Mitmenschen führe.68 All dies zeigt, dass im Vollzug der stationären Unterbringung zunehmend versucht wird, mit den vorhandenen Ressourcen und Stärken der Jugendlichen zu arbeiten, als dass stets einzig Gewicht auf ihre wie auch immer gearteten Defizite gelegt wird.69 In den Jugendheimen ist weiter eine Tendenz zu der sogenannten systemischen Arbeitsweise festzustellen.70 Dies bedeutet, dass die Heime nicht ausschliesslich mit den betroffenen Jugendlichen arbeiten möchten, sondern dass sie auch etwa mittels Coaching das Familien- und Sozialsystem einbeziehen wollen.71 Beispielsweise erwähnt das Jugendheim Aarburg den systemischen Ansatz explizit in ihrem Leitbild.72 65 Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS), S. 2 ff. 66 Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS), S. 15 ff. 67 Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 3. 68 Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 3. 69 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 296. 70 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295. 71 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295. 72 Jugendheim Aarburg, Leitbild, abrufbar unter: <https://www.ag.ch/de/dvi/strafverfolgung_strafvollzug/jugendheim_aarburg/portrait_ 1/leitbild___konzept/leitbild___konzept_1.jsp>, besucht am 29.12.2012. 15 3.1.2 Konfrontative Pädagogik Für Jugendliche, welche ein starkes selbst- und fremdschädigendes Männerbild pflegen, ist es unentbehrlich, sich intensiv mit ihren gewaltlegitimierenden Einstellungen auseinander zu setzen und eine sozial angemessene Werthaltung zu erlernen, die ihnen ermöglicht Reue zu erleben und Verantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen.73 Der gewaltbereite Jugendliche muss also lernen zu verstehen, dass er sich nicht als Opfer seiner Lebensverhältnisse sehen kann, sondern dass er sich als Täter begreifen muss.74 Das Ziel der in diesem Zusammenhang angewandten sogenannten konfrontativen Pädagogik ist es, die Rückfallwahrscheinlichkeit konkret zu senken und dem Jugendlichen für die Zukunft die Faktoren bewusst zu machen, welche die Delinquenz in seinem Fall begünstigen können.75 Weiter sollen Feindbilder abgebaut werden, denn je weniger das Gegenüber als Feind wahrgenommen wird, desto schwerer fällt es den Jugendlichen aggressiv zu handeln.76 Nach Abschluss der Unterbringung verfügen sie idealerweise über neue Entscheidungsspielräume und alternative Verhaltensweisen, um kommende Probleme ohne selbst- und fremdschädigendes Verhalten zu lösen.77 Der aufgebaute Druck in den Institutionen kann jedoch auch dazu führen, dass die erworbenen Handlungspotenziale nur in der Institution selbst, aber nicht im anschliessenden Leben in der Freiheit die gewünschte Wirkung entfalten.78 Den jugendlichen Straftätern wird durch diese Arbeitsweise regelmässig ein wichtiger Teil ihrer Identität weggenommen, weshalb die Mitarbeiter der Einrichtungen in dieser labilen Situation stützend auftreten müssen und eine 73 vgl. RUBERTUS, S. 314. 74 RUBERTUS, S. 313. 75 RUBERTUS, S. 313. 76 W EIDNER, S. 23. 77 RUBERTUS, S. 324. 78 APELT, S. 373. 16 Balance zwischen blindem Vertrauen und immerwährendem Misstrauen finden sollen.79 In der Praxis ist von Wichtigkeit, dass das sozialpädagogische Personal sich einerseits grundsätzlich mit dem Untergebrachten als Individuum solidarisiert, sich jedoch andererseits vom delinquenten Verhalten entsolidarisiert.80 Dies sollte auch klar machen, dass es in der konfrontativen Pädagogik nicht darum geht, autoritäre Strukturen in einem neuen terminologischen Gewand wiederzubeleben, sondern dass der Beziehungsaufbau nebst der Konfrontation unabdingbar ist.81 3.2 Jugendheimlandschaft in der Schweiz Die Unterbringung kann gemäss Art. 15 Abs. 1 JStG namentlich bei Privatpersonen oder in Erziehungs- resp. in Behandlungseinrichtungen durchgeführt werden. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend.82 Weiter möglich sind etwa auch ein betreutes Wohnen oder reine Wohngemeinschaften.83 Die Jugendheime sind jedoch noch immer von grosser Bedeutung, da dort die meisten Unterbringungen vollzogen werden.84 Deswegen ist die Jugendheimlandschaft in der Schweiz in diesem Unterkapitel näher zu beleuchten. Die Deutschschweiz verfügt über ein dichtes Angebot an sozialpädagogischen Einrichtungen, welche u. a. auch Therapien anbieten.85 Diejenigen Jugendheime, welche strafrechtlich verurteilte Jugendliche aufnehmen, neh- 79 vgl. RUBERTUS, S. 315 f. 80 RUBERTUS, S. 312 f. 81 W EIDNER, S. 23. 82 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 5. 83 GÜRBER, Anhang 2, S. 29 f.; HATT, Anhang 3, S. 45. 84 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145. 85 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145. 17 men meist eine grössere Anzahl an Jugendlichen auf, welche zivilrechtlich eingewiesen wurden.86 In der Schweiz werden die allermeisten Jugendheime offen geführt. 87 Dies hat zur Folge, dass es vielerorts an geschlossenen Plätzen im Massnahmenvollzug mangelt.88 Weiter bietet keine Institution eine auf längere Dauer angelegte geschlossene Unterbringung an.89 HEBEISEN meint zusätzlich, dass für bis aufs Äusserste aggressive und gewaltbereite Jugendliche momentan überhaupt keine wirklich geeignete Einrichtung bestehe.90 Diese Meinung wird durch die Evaluation des JStG des Jahres 2012 gestützt, wo 88.4% der befragten Personen der Jugendstrafbehörden angaben, dass sie im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit Jugendliche getroffen haben, für welche aufgrund ihrer besonderen Verhaltensauffälligkeit keine geeignete Einrichtung existiert habe.91 Der Grossteil der Jugendheime wird nicht staatlich geführt, sondern untersteht der Leitung durch gemeinnützige Stiftungen oder Vereine.92 Dies bringt mit sich, dass das ganze Angebot weder sehr geplant noch koordiniert wirkt und dass eine wissenschaftliche Evaluation der einzelnen Konzepte der Einrichtungen oft ausgeblieben ist.93 Vor den Reformbemühungen im Massnahmenvollzug ab dem Jahr 2004 war es sogar üblich, dass ganze Jugendheime ihre eingewiesenen Jugendlichen über die Ferien in die Freiheit schickten, und dies der Sektion Straf- und Massnahmenvollzug des Bundesamtes für Justiz pflichtwidrig nicht gemeldet wurde.94 86 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 286. 87 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 294. 88 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 125. 89 W EIDKUHN, S. 100. 90 HEBEISEN, Hintergründe und Erfahrungen, S. 74. 91 URWYLER/NETT, S. 150. 92 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145. 93 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 293. 94 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 286 f. 18 Da der Schweiz ein koordinierendes Bundesgesetz über die Jugendhilfe fehlt, blieb dem Staat zur nötigen Qualitätssicherung nur offen, eine QuasiSteuerung über Subventionsbedingungen einzuführen.95 Die sogenannten „Justizheime“, welche die Qualitätsstandards und somit Subventionsbedingungen erfüllen, werden seit 2011 im entsprechenden „Verzeichnis der vom Bundesamt für Justiz anerkannten Erziehungseinrichtungen“96 geführt.97 Anerkennungsvoraussetzungen sind inzwischen etwa die Führung eines 365Tage-Betriebs, die qualifizierte Ausbildung des Personals und dass über ein Drittel der eingewiesenen Jugendlichen entweder strafrechtlich eingewiesen werden und/oder eine erhebliche Störung in ihrem Sozialverhalten aufweisen.98 Diese Justizheime weisen im internationalen Vergleich mittlerweile ein sehr hohes Qualitätsniveau auf und werden durch regelmässige Überprüfung streng kontrolliert.99 Da das Angebot an Jugendheimen wie aufgezeigt relativ breit gefächert ist, ist es unabdingbar, dass die Vollzugsbehörden gute Kenntnisse über die verschiedenen Institutionen aufweisen, und dass sie sich auch persönlich ein Bild von den Einrichtungen machen, indem sie diese auch besuchen und mit Leitung, Mitarbeiter und Untergebrachten Gespräche führen.100 95 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 293. 96 Verzeichnis der vom Bundesamt für Justiz anerkannten Erziehungseinrichtungen, abrufbar unter: <http://www.bj.admin.ch/content/dam/data/sicherheit/ straf_und_massnahmen/documentation/heimverzeichnis.pdf>, besucht am 29.12.2012. 97 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 287. 98 Bundesamt für Justiz, Voraussetzung für die Anerkennung der Beitragsberechtigung als Erziehungseinrichtung im Sinne des LSMG, abrufbar unter: <http://www.bj.admin.ch/content/dam/data/sicherheit/straf_und_massnahmen/anerke nnung/anerkennungsvoraussetzung-d.pdf>, besucht am 29.12.2012. 99 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 287. 100 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 6. 19 3.3 Unterschiede zum Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzuges? Da sich der Vollzug des Freiheitsentzuges mit der Revision des Jugendstrafrechts von 2003/2007 an den Vollzug der stationären Unterbringung angenähert hat,101 stellt sich die Frage, wo eigentlich noch Unterschiede zu finden sind. Diese Frage soll in diesem Unterkapitel beleuchtet werden. Ein frappanter Unterschied ist direkt sichtbar, wenn man den bisherigen Vollzug untersucht: Jugendliche, welche zu einem unbedingten Freiheitsentzug verurteilt wurden, mussten ihre Strafe bisher i. d. R. in Untersuchungsgefängnissen für Erwachsene absitzen.102 Die Rechtmässigkeit dieser Platzierung war theoretisch seit 1974 nicht mehr gegeben, jedoch wurde notgedrungen stets mit Übergangsfristen gearbeitet, da die erforderlichen Einrichtungen nie errichtet wurden.103 Art. 48 JStG setzt nun erneut eine zehnjährige Frist bis 2017 für die Errichtung der notwendigen Einrichtungen. Dass eine solch strikte Vollzugsart für Jugendliche überhaupt ermöglicht wurde, ist m. E. gerade im Hinblick auf entsprechende kriminologische Forschungsergebnisse bezüglich Rückfallgefahr104 bedenklich. Zusammenfassend kann nämlich gesagt werden, dass die Rückfallraten ansteigen, wo die Härte der Sanktion zunimmt.105 Ebenso wird dies statistisch in der Evaluation des JStG eindrücklich für verschiedene europäische Länder, die Schweiz eingeschlossen, dargelegt.106 Gerechterweise muss man für diesen Vergleich jedoch anbringen, dass auch stationäre Unterbringungen noch heute zu Teilen in Bezirks- oder Regional- 101 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 184. 102 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 289. 103 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 185. 104 vgl. übersichtsmässig KUNZ, Kriminologie, § 26 Rz. 14. 105 KUNZ, Kriminologie, § 26 Rz. 15. 106 URWYLER/NETT, S. 36. 20 gefängnissen vollzogen werden.107 Das Bundesgericht stützte in einem Urteil vom 12. Mai 2006 eine vorübergehende Unterbringung eines Jugendlichen in einem Bezirksgefängnis zur Überbrückung einer Notsituation, solange diese Platzierung nicht monatelang anhalte.108 Das Bundesgericht hielt jedoch fest, dass in Strafvollzugsanstalten oder Gefängnissen der Massnahmenzweck der Unterbringung nicht oder nur sehr eingeschränkt zu erreichen sei.109 HATT erwähnt hierzu im Interview, dass das Massnahmenzentrum Uitikon etwa eine Wartefrist von 6 Monaten bis zu einem Jahr führe, was zur Folge haben könne, dass man einen Jugendlichen in einem Gefängnis unterbringen müsse.110 Dies geschehe durchaus im Wissen, dass dies der „völlig falsche Ort“ sei, da ein Jugendlicher dort keinerlei Förderung erhalte.111 Ein klarer Unterschied ist de lege lata festzustellen, wenn man die stationäre Unterbringung mit dem Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzuges von unter einem Jahr vergleicht: Art. 27 Abs. 1 JStG hält nämlich fest, dass Freiheitsentzüge unter einem Jahr in Form der Halbgefangenschaft i. S. v. Art. 77b StGB vollzogen werden können. Art. 77b Satz 2 StGB hält hierzu fest: „Der Gefangene setzt dabei seine Arbeit oder Ausbildung ausserhalb der Anstalt fort und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt“. Die ratio hinter der Halbgefangenschaft ist nämlich, dass der Betroffene nicht aus der Schul- oder Arbeitswelt desintegriert wird.112 Die stationäre Unterbringung hingegen ist nicht in Form der Halbgefangenschaft zu vollziehen. Dies würde schon dem pädagogischen Sinn und Zweck der Schutzmassnahme zuwider laufen.113 Im Weiteren wird die stationäre Unterbringung deshalb sinnvoller- 107 GÜRBER, Anhang 2, S. 25; HATT, Anhang 3, S. 55. 108 BGer 6A.20/2006, E. 4.5. 109 BGer 6A.20/2006, E. 4.2. 110 HATT, Anhang 3, S. 55. 111 HATT, Anhang 3, S. 55. 112 vgl. BAECHTOLD, Kap. II/5, Rz. 45. 113 vgl. HOLDEREGGER, Rz. 582 f. 21 weise mit dem Vollzug von Freiheitsentzügen verglichen, bei welchem die Jugendlichen auch ihre Freizeit in der Einrichtung verbringen müssen. Künftig sollten die Einrichtungen des Jugendstrafvollzuges den Anforderungen von Art. 27 Abs. 2-5 JStG gerecht werden.114 Abs. 2 verlangt etwa die individuelle persönliche Betreuung und die Vorbereitung auf die soziale Eingliederung nach der Entlassung. Abs. 3 verlangt die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die schulische oder berufliche Bildung, welche bevorzugt ausserhalb der Vollzugsanstalt stattfinden soll. Abs. 4 verlangt weiter, dass auch Therapien angeboten werden müssen, wo dies individuell angezeigt ist. Das JStG fordert also klar qualifiziertes sozialpädagogisches Personal und ein therapeutisches Instrumentarium im Strafvollzug.115 Eine klare und deutliche Abgrenzung zwischen jugendstrafrechtlichem Freiheitsentzug und stationärer Unterbringung ist somit für den Vollzugsalltag nicht mehr möglich.116 Pragmatisch betrachtet gibt es in der gesetzeskonformen Praxis nur noch einen Unterschied zwischen dem Vollzug der Unterbringung und dem Vollzug des Freiheitsentzuges: Der mit Freiheitsentzug belegte Jugendliche hat einen gerichtlich festgelegten Endtermin, und der mit einer Unterbringung belegte Jugendliche muss im Vornherein zeitlich unbegrenzt bis maximal zu seinem beendeten 22. Altersjahr in der Einrichtung verbleiben.117 Dieser Unterscheid wurde sogar verstärkt, da seit 2007 die bedingte Entlassung aus dem jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug gemäss Art. 28 Abs. 1 JStG bereits ab der Hälfte der vollzogenen Strafe möglich ist.118 Da der Gesetzgeber also ähnliche bis gleiche Programme fordert wie im Massnahmenvollzug, verfügt momentan und in naher Zukunft v. a. das Mas- 114 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 290. 115 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 183. 116 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 184. 117 RUBERTUS, S. 309. 118 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 188. 22 snahmenzentrum Uitikon über eine geeignete Infrastruktur für längere jugendstrafrechtliche Freiheitsentzüge.119 Im Massnahmenzentrum Uitikon werden nebst stationären Unterbringungen und jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzügen auch Massnahmen für junge Erwachsene i. S. v. Art. 61 StGB vollzogen.120 Die Kombination mit Angeboten für junge Erwachsene ist für die laufenden Projekte neuer Einrichtungen der Normalfall.121 Momentan herrscht jedenfalls noch ein akuter Mangel an geeigneten Vollzugsplätzen.122 Unterschiede könnten jedoch weiter etwa im Bereich der Disziplinarmassnahmen gesucht werden. Art. 16 Abs. 2 JStG hält fest, dass ein untergebrachter Jugendlicher aufgrund einer disziplinarischen Massnahme nicht länger als sieben Tage ununterbrochen von den anderen Jugendlichen getrennt werden darf. Sucht man eine entsprechende Regelung für die den Freiheitsentzug, so wird man im JStG nicht fündig. Die für das Erwachsenenstrafrecht einschlägige Regel zum Disziplinarrecht in Art. 91 StGB ist im Jugendstrafrecht mit Blick auf Art. 1 JStG auch nicht anwendbar. Dass Disziplinarmassnahmen für Jugendliche im Freiheitsentzug jedoch ebenso notwendig sein können wie für massnahmenbedürftige Jugendliche, liegt m. E. auf der Hand. Es stellt sich somit die Frage, ob Disziplinarmassnahmen im jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug schlicht gestützt auf kantonales Straf- und Massnahmenvollzugsrecht angewendet werden. Für das Massnahmenzentrum Uitikon wurde mir auf schriftliche Anfrage hin genau diese Vorgehensweise von GREGOR TÖNNISSEN, dem Leiter der geschlossenen Abteilung, bestätigt.123 Die gesetzlichen Grundlagen fänden sich im Straf- und Vollzugsgesetz und in der Justizvollzugsverordnung des Kantons Zürich. Für die Jugendlichen bedeutet dies im Ergebnis für den Arrest, dass dieser gemäss § 53 der Hausordnung des Massnahmenzentrums Uitikon für einen Jugendlichen im 119 RUBERTUS, S. 309. 120 RUBERTUS, S. 309. 121 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 291. 122 JOSITSCH/MURER, S. 1101. 123 Mail des Massnahmenzentrums Uitikon, Anhang 4, S. 57. 23 Freiheitsentzug 13 Tage länger dauern kann als für einen Jugendlichen in der stationären Unterbringung.124 Falls der Freiheitsentzug länger als einen Monat dauern soll, so begleitet gemäss Art. 27 Abs. 5 JStG eine von der Einrichtung unabhängige Person den Jugendlichen und hilft ihm, seine Interessen wahrzunehmen. Diese unabhängige Begleitperson wird in der Literatur „Vertrauensperson“125 und in der Botschaft zum JStG „Ombudsperson“126 genannt. Die Vertrauensperson soll dem Jugendlichen Kontakt zu jemandem ermöglichen, welcher dessen Angelegenheiten nicht aus einer speziell fachlichen oder institutionellen Perspektive wahrnimmt.127 Weiter soll sie notfalls den Jugendlichen in seinen berechtigten Anliegen vertreten.128 Eine Vertrauensperson ist für die stationäre Unterbringung nicht vorgesehen. 124 Hausordnung Massnahmenzentrum Uitikon, S. 13, abrufbar unter: <http://www.justizvollzug.zh.ch/internet/justiz_inneres/juv/de/ueber_uns/organisation/ mzu/grundlagen/_jcr_content/contentPar/downloadlist_1290498838155/downloadite ms/hausordnung_mzu.spooler.download.1289044176468.pdf/Hausordnung_MZU. pdf>, besucht am 29.12.2012. 125 etwa von AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187. 126 Botschaft JStG, S. 2252. 127 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187. 128 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187. 24 Teil III: Die Beendigung der stationären Unterbringung 4. Voraussetzungen für die Beendigung 4.1 Beendigung im Fall des Erfolges Art. 19 Abs. 1 JStG bestimmt einerseits, die Schutzmassnahme sei aufzuheben, „wenn ihr Zweck erreicht ist“ und dass die entsprechende Prüfung jährlich zu erfolgen hat. Diese wird von Amtes wegen durchgeführt.129 Eine Zweckerreichung resp. der Erfolg der Schutzmassnahme ist anzunehmen, wenn der massnahmenbedürftige Zustand des Jugendlichen weitgehend beseitigt wurde und eine Rückfallgefahr mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann.130 Für den erziehungsbedürftigen Jugendlichen sollte sich also seine gesellschaftliche Integration dahin gehend entwickelt haben, dass er keiner erzieherischen Betreuung mehr bedarf und für den behandlungsbedürftigen Jugendlichen sollten aufgrund der eingetretenen Besserung keine therapeutische Massnahmen mehr nötig sein.131 4.2 Beendigung im Fall des Misserfolges 4.2.1 Sinn- und Zwecklosigkeit Des Weiteren regelt Art. 19 Abs. 1 JStG die Beendigung der Schutzmassnahmen, und somit auch der Unterbringung, wenn „feststeht, dass sie keine erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen mehr entfaltet“. Diese Möglichkeit der Beendigung bei Sinn- und Zwecklosigkeit war vor dem Inkrafttreten des JStG im Jahre 2007 nicht im Gesetz festgehalten. 132 Trotz 129 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153. 130 HOLDEREGGER, Rz. 850. 131 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 2. 132 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153. 25 der Absenz einer solchen Regelung mussten in der Praxis jedoch auch vor dem Jahre 2007 schon Massnahmen wegen Zwecklosigkeit aufgehoben werden.133 Der Neuregelung steht das Schrifttum grösstenteils positiv gegenüber.134 Kritischer hingegen äussert sich BURKHARDT, denn er hält die neue Beendigungs-Regelung gerade wegen ihrer Bedingungslosigkeit als „weitere neue Hürde“.135 Es stellt sich nun die Frage, wann eine Unterbringung als gescheitert erklärt werden muss. Dies trifft etwa zu, wenn sich der Jugendliche gegen alle Beeinflussungs- oder Behandlungsversuche in der Unterbringung wehrt, sich als unzulänglich erweist und auch eine Versetzung in eine andere Institution oder eine Änderung in eine mildere Schutzmassnahme keinen Sinn ergibt.136 Die Stimmen der Literatur, welche das Thema vertiefen, fordern eine restriktive Anwendung dieser Beendigung wegen Sinn- und Zwecklosigkeit.137 Hier sei die Beharrlichkeit und Geduld der Vollzugsbehörden gefragt, welche stets das Ziel der Intervention im Auge behalten müssten, nämlich die Unterbrechung einer kriminellen Karriere.138 Dies würden die Vollzugsbehörden explizit aufgrund von Art. 2 Abs. 1 JStG, dem Schutz- und Erziehungsgedanken als Leitprinzip schulden.139 Der Beendigungs-Entscheid sei somit nicht leichtfertig zu treffen, nur weil etwa eine Einrichtung die weitere Betreuung eines Jugendlichen ablehne.140 Gewisse Anbieter stellen nämlich schwierige jugendliche Klienten nur allzu schnell „zur Disposition“, oder Vollzugsbehörden verzichten gar aus Kostengründen auf eine Weiterführung einer Unterbrin- 133 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 3. 134 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4; HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194; HOLDEREGGER, Rz. 891; W EIDKUHN, S. 127. 135 BURKHARDT, S. 29. 136 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153. 137 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4; HOLDEREGGER, Rz. 852. 138 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4. 139 HOLDEREGGER, Rz. 852. 140 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153. 26 gung.141 Weiter sei die Unterbringung auch nicht zwingend zu beenden, nur weil der Jugendliche in der Schutzmassnahme erneut delinquiere, sondern es seien differenzierend die konkreten Umstände zu berücksichtigen.142 In der Praxis sei es somit auch so, dass renitentes Verhalten nur selten eine Beendigung der Unterbringung zur Folge habe.143 Es gibt jedoch zweifellos Jugendliche, bei welchen die Auseinandersetzung mit ihrem Delikt nie effektiv stattfinden kann, oder solche, die die gewährten Vollzugsöffnungen stets missbrauchen oder weitere Jugendliche, bei welchen jegliche Motivationsgespräche schlicht nichts mehr nützen.144 Einige Jugendliche kommen auch nie aus ihrer Opferhaltung heraus oder sie passen sich in der Unterbringung stets nur oberflächlich an, was unter dem Strich auch zu einer Beendigung aufgrund von Sinn- und Zwecklosigkeit führen kann.145 Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 12. Mai 2006 zur Frage der Sinnund Zwecklosigkeit eine m. E. grundsätzlich zu begrüssende restriktive Auslegung vorgenommen: Das Bundesgericht fand „keine Anhaltspunkte“ für das Vorliegen der Sinn- und Zwecklosigkeit bei einem Jugendlichen, bei welchem sich der Unterbringungsvollzug als äusserst schwierig gestaltet hat und daher verschiedene Platzierungen in Wohngruppen, Kliniken und Heimen und gar Kriseninterventionen in Bezirksgefängnissen vonnöten waren.146 Ob der Entscheid noch heute so ausfallen würde, ist m. E. zumindest deswegen in Frage zu stellen, da im Urteilszeitpunkt im Schweizerischen Jugendstrafrecht noch das monistische System, und noch nicht das dualistische-vikariierende System147 verankert war. 141 vgl. HOLDEREGGER, Rz. 852. 142 HOLDEREGGER, Rz. 854. 143 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124. 144 RUBERTUS, S. 322. 145 vgl. RUBERTUS, S. 323. 146 BGer 6A.20/2012, E. 5.6. 147 siehe unten 5.1.1. 27 4.2.2 Erreichen der absoluten Altersgrenze Gemäss Art. 19 Abs. 2 JStG enden alle Massnahmen mit dem Erreichen des 22. Altersjahres. Obwohl diese Altersgrenze bereits im alten Jugendstrafrecht bestand, 148 ist sie doch in dem Sinne neu, als die sogenannte „qualifizierte Heimeinweisung“ mit der Möglichkeit der Fremdplatzierung bis maximal zum vollendeten 25. Altersjahr mit dem Inkrafttreten des JStG 2007 gestrichen wurde.149 Nur Proteste aus der Praxis konnten den Bundesrat davon abhalten, die absolute Altersgrenze nicht sogar auf 18 Jahren festzulegen, wie dies bei den zivilrechtlichen Massnahmen der Fall ist.150 Diese heutige absolute Altersgrenze von 22 Jahren für Schutzmassnahmen wird in der Literatur breit und teils heftig kritisiert.151 Die Evaluation des JStG im Jahr 2012 hat ergeben, dass in der Praxis 75.8% der befragten Personen die Neuregelung als negativ oder eher negativ bewerten.152 Wertet man die (wenigen) evidenzbasierten Studien zur Behandlung von jugendlichen Straftätern aus, muss gesagt werden, dass keine „quick fix“Methode Wirkung zeigt, sondern es müssen strukturierte Programme zum Einsatz kommen, welche über mehrere Jahre dauern können.153 Für die Praxis kann folglich festgehalten werden, dass stationäre Unterbringungen i. d. R. erst nach mehreren Jahren beendet werden.154 Die für die Evaluation des JStG befragten Personen der Jugendstrafbehörden gaben daher an, 148 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 14. 149 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 17. 150 BURKHARDT, S. 29. 151 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 154; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 17; HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 193; HOLDEREGGER Rz. 858; JOSITSCH/MURER, S. 1097; RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30. 152 URWYLER/NETT, S. 111. 153 MANETSCH MADLEINA, Behandlung jugendlicher Straftäter – Evidenz und Effektivität, in: KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern 2010, S. 267. 154 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124. 28 dass die absolute Altersgrenze gerade dann problematisch ist, wenn ältere Jugendliche die stationäre Schutzmassnahme erst kurz vor Erreichen der Volljährigkeit antreten können.155 Speziell im Vergleich mit einem volljährigen Mittäter können sich krass ungleiche Sanktionsmöglichkeiten ergeben: Würde etwa ein 18-Jähriger mit seinem 17-jährigen Kollegen einen Mord begehen, muss der 18-Jährige gemäss Art. 112 StGB mit einer Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren und einer allfälligen Verwahrung rechnen, wobei der 17-Jährige nebst dem auszusprechenden Freiheitsentzug maximal bis zur Vollendung seines 22. Altersjahrs stationär untergebracht werden könnte.156 Deshalb machen sich einige Stimmen in der Literatur dafür stark, die absolute Altersgrenze mindestens bei besonderen Fällen von 22 auf 25 Jahre anzuheben.157 Die absolute Altersgrenze von 22 Jahren trage wohl weder der öffentlichen Sicherheit, noch den Bedürfnissen der betroffenen Jugendlichen selbst genügend Rechnung.158 Dem ist m. E. grundsätzlich zuzustimmen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das Austrittsalter 22 nämlich eher früh angesetzt.159 Zusätzlich scheint eine Erhöhung auf 25 Jahre auch kriminologisch sinnvoll, da sich die deutlich „kritischste Phase“ erneuter Verurteilungen zwischen 19 und 25 ansiedelt.160 Die Erhöhung würde letztlich ermöglichen, dass im Speziellen behandlungsbedürftige Jugendliche ihre Behandlung optimal weiterführen und so ihre Rückfallgefahr gesenkt werden kann.161 Die wenigen Gegner einer allfälligen Erhöhung der absoluten Altersgrenze führen in den Befragungen zur Evaluation des JStG an, dass wer bis 22 die 155 URWYLER/NETT, S. 111. 156 vgl. HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 193. 157 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 154; HOLDEREGGER, Rz. 892; JOSITSCH/MURER, S. 1097 f. 158 HOLDEREGGER, Rz. 892. 159 AEBERHARD, S. 267. 160 vgl. KERNER HANS-JÜRGEN, Von der Wiege bis zur Bahre… (Einmal kriminell, immer kriminell), in: KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern 2010, S. 293 f. 161 JOSITSCH/MURER, S. 1098. 29 erhoffte Verhaltensänderung nicht vollziehen könne, diese wohl auch bis 25 nicht vollziehen könne, da mit zunehmendem Alter die notwendige Motivation sowieso abnähme.162 Obwohl sich GÜRBER im Ergebnis nicht gegen die Erhöhung ausspricht, äussert er gleichwohl m. E. interessante Bedenken im Interview: Es könne sein, dass wegen der Erhöhung auf 25 dann Berufslehren von gewissen Jugendlichen bewusst hinausgezögert werden könnten.163 Dies könne gerade bei Jugendlichen, die sich bei der Jugendanwaltschaft sehr gut aufgehoben fühlten, einen gewissen Hospitalismus fördern.164 Als einzige jugendstrafrechtliche Änderung in der angestrebten Änderung des Sanktionenrechts will der Bundesrat nun die absolute Altersgrenze bei Schutzmassnahmen Jugendlicher generell von 22 auf 25 anheben.165 Eine m. E. prüfenswerte Idee äussert GÜRBER im Interview: Ambulante Schutzmassnahmen sollten auch über die absolute Altersgrenze von 22 oder eben 25 Altersjahren hinauslaufen dürfen.166 Es sei verständlich, dass für die stationäre Unterbringung eine fixe Altersgrenze installiert werden müsse, jedoch könnte eine ambulante Weiterführung gerade bei Fällen grosser Rückfallgefahr entgegen wirken.167 Welche Instrumente sonst nach dem Erreichen der absoluten Altersgrenze greifen oder greifen könnten, wird in den Kapiteln 5.1.2 und 5.5.2 diskutiert. 162 URWYLER/NETT, S. 112. 163 GÜRBER, Anhang 2, S. 32. 164 GÜRBER, Anhang 2, S. 32 f. 165 Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Änderungen des Sanktionenrechts), BBl 2012 4721 ff., S. 4754. 166 GÜRBER, Anhang 2, S. 34. 167 GÜRBER, Anhang 2, S. 34. 30 5. Mögliche Folgen der Beendigung 5.1 Weiterführender Freiheitsentzug 5.1.1 Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzugs Jugendliche, die massnahmenbedürftig sind und schuldhaft gehandelt haben, sind gemäss Art. 11 Abs. 1 JStG grundsätzlich168 zusätzlich mit einer Strafe zu belegen. Für das Zusammentreffen von Unterbringung und Freiheitsentzug regelt Art. 32 Abs. 1 JStG den Vorrang des Unterbringungsvollzuges. Art. 32 Abs. 3 JStG hält zusätzlich fest, dass der dualistisch ausgesprochene Freiheitsentzug noch vollzogen werden kann, wenn die Unterbringung als Misserfolg erklärt wird und beendet werden muss. Der Behörde eröffnen sich drei Varianten des Vorgehens: Entweder entscheidet sie, dass der Freiheitsentzug gänzlich noch zu vollziehen sei, dass allenfalls nur ein Teil des Freiheitsentzugs noch zu vollziehen sei, oder sie entscheidet gar auf vollen Verzicht eines Strafvollzugs.169 Im Hinblick auf das freie Ermessen der Jugendstrafbehörde ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Gründe zum Abbruch geführt haben, wie sich die Kriminalprognose gestaltet und welche Vorgehensweise im Einzelfall schliesslich pädagogisch am sinnvollsten erscheint.170 Das System, dass zwar die Unterbringung gegenüber dem Freiheitsentzug den Vorrang geniesst, bei dem Scheitern der Unterbringung jedoch der Freiheitsentzug u. U. noch zu vollziehen ist, wird als „vikariierend“ bezeichnet.171 Vor 2007 war es hingegen grundsätzlich nur möglich, im monistischen Sinne entweder eine Strafe oder eine Massnahme auszusprechen.172 Das dualistisch-vikariierende System wird von Kinder- und Jugendpsychiatern als „sehr sinnvoll“ bezeichnet, da gerade durch die äusserlich sichtbare 168 Vorbehalten sind die Strafbefreiungsgründe in Art. 21 JStG. 169 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 32 N 6. 170 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194 f. 171 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 94. 172 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 93. 31 Strafe dem Jugendlichen so Grenzen gesetzt werden können, durch welche sich „reife innere Strukturen“ bilden könnten.173 In der Jugendstrafrechtspraxis regt sich hingegen Widerstand gegen das dualistisch-vikariierende System: 67.4% der befragten Personen der Jugendstrafbehörden gaben in der Evaluation des JStG an, dass sie die spezialpräventive Wirkung dieser Bestimmung für negativ erachten.174 BURKHARDT kritisiert, dass sich der Druck, sich auf eine stationäre Massnahme einzulassen, durch den Systemwechsel vom vikariierende System vermindert habe. monistischen auf das dualistisch- 175 Art. 32 Abs. 3 JStG hält fest, dass die mit der Unterbringung verbundene Freiheitsbeschränkung anzurechnen ist. Der Umfang dieser Anrechnung hat sich daran zu auszurichten, in welchem Ausmass in der Unterbringung eine Beschränkung der persönlichen Freiheit vorgenommen wurde.176 Um dieser Regel ein Gesicht zu geben, ist hier die Vorgehensweise des Kantons Bern aufzuzeigen: Im Kanton Bern werden geschlossene Unterbringungen zu 100% und offene Unterbringungen in Jugendheimen zu 75% an den zu vollziehenden Freiheitsentzug angerechnet.177 Unterbringungen in Wohngemeinschaften oder in Lehrlingsheimen werden zu 50%, und Unterbringungen in Familien zu 25% angerechnet.178 GÜRBER schlägt für die Anrechnung im Interview vor, geschlossene Unterbringungen zu 100%, die Unterbringung in traditionellen Jugendheimen wie Prêles oder Aarburg zu zwei Dritteln, und die lockerer betreute Unterbringung bzw. das einzelbetreute Wohnen zu einem Drittel anzurechnen.179 173 GUTSCHNER et al., S. 55. 174 URWYLER/NETT, S. 117. 175 BURKHARDT, S. 29. 176 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 32 N 6. 177 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194. 178 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194. 179 GÜRBER, Anhang 2, S. 29 f. 32 Keine Äusserungen finden sich in Art. 32 Abs. 3 JStG über den Zeitpunkt der effektiven Anrechnung. In der Botschaft zum JStG finden sich bei Art. 31 des JStG-Entwurfes ebenso keine Angaben.180 Das Bundesgericht hat in BGE 137 IV 7 entschieden, dass nur im Falle einer Änderung oder Aufhebung im Sachurteil über die Anrechnung zu befinden sei, ansonsten sei erst nach der Beendigung der Massnahme zu entschieden.181 Grundsätzlich eröffnet Art. 37 Abs. 2 JStG die Möglichkeit, Jugendstrafen bis zur Vollendung des 25. Altersjahres zu vollziehen, also über die absolute Altersgrenze der Schutzmassnahmen von 22 Altersjahren gemäss Art. 19 Abs. 2 JStG hinaus. Da die mit der Unterbringung verbundene Freiheitsbeschränkung an den jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug anzurechnen ist, bleibt jedoch i. d. R. nur noch eine geringfügige oder keine Reststrafe zum Vollzug mehr übrig.182 Genau rechnende und sich einer wirklichen Veränderung verschliessende Untergebrachte können die Schutzmassnahme daher auf den Tag genau zum Scheitern bringen, wo die Zeit aus der Unterbringung bereits derart angerechnet wird, so dass kein Strafvollzug mehr möglich ist.183 In den Interviews wird jedoch von allen Jugendanwälten klargestellt, dass zwar teilweise grosser Widerstand geleistet wird, dass dieser jedoch nicht oder nur selten gezielt oder berechnend auf den Abbruch der Schutzmassnahme hin ausgelegt sei.184 Das Problem des gezielten Sabotierens der Unterbringung kommt gemäss Befragungen der Jugendstrafbehörden bei geschätzten 15% aller untergebrachten Jugendlichen vor. 185 GÜRBER erklärt hierzu, dass dies eher am Anfang der Unterbringung vorkomme, was jedoch im Hinblick auf die Lebenslagen der Jugendlichen auch durchaus verständ- 180 vgl. Botschaft JStG, S. 2255 f. 181 BGE 137 IV 7 E. 1.6.2 S. 13. 182 JOSITSCH/MURER, S. 1098. 183 RUBERTUS, S. 322. 184 BURKHARDT, Anhang 1, S. 10; GÜRBER, Anhang 2, S. 28; HATT, Anhang 3, S. 47. 185 URWYLER/NETT, S. 117 f. 33 lich sei.186 Schlussendlich ist der klar begrenzte Freiheitsentzug für Jugendliche aber tatsächlich regelmässig bequemer als die zeitlich unbegrenzte Unterbringung, bei welcher zusätzlich eine ständige Auseinandersetzung im Vollzug Tatsache ist.187 Es kann somit davon ausgegangen werden, dass der drohende Freiheitsentzug seine erzieherische Wirkung verliert, wenn der Jugendliche damit rechnen kann, dass der Vollzug nach einer gewissen Aufenthaltsdauer in der Unterbringung ohnehin hinfällig wird, ganz egal ob die Unterbringung von Erfolg oder Misserfolg gekrönt wird.188 Auf der anderen Seite werden auch die Jugendstrafbehörden gerade im Hinblick auf den momentanen Zeitgeist wie auch auf Spardruck und Arbeitsbelastung versucht sein, bei Jugendlichen mit erheblichen Schwierigkeiten auf den weniger arbeitsintensiven Freiheitsentzug umzustellen.189 Bei Schwerstdelikten und insbesondere auch, falls eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegt, werden die Gerichte aber weiterhin nebst dem Freiheitsentzug eine geschlossene Unterbringung anordnen, welche bei renitentem Verhalten nur in Ausnahmefällen als gescheitert erklärt wird. 190 De lege ferenda könnte man sich m. E. überlegen, ob bei jeder noch so hartnäckigen Sabotage der Schutzmassnahme eine volle Anrechnung tatsächlich zwingend sein soll. BURKHARDT bringt hier im Interview an, dass auch eine teilweise Anrechnung wenig bringen würde, denn gerade falls bereits Untersuchungshaft oder eine vorsorgliche Unterbringung zu einer definitiven Unterbringung dazu komme, sei der Freiheitsentzug sowieso regelmässig bereits verpufft.191 GÜRBER stellt im Interview ebenso fest, dass praktisch nie eine Möglichkeit zum Strafvollzug verbleibe.192 Bleibe ein Freiheitsentzug 186 GÜRBER, Anhang 2, S. 28. 187 GÜRBER, S. 39. 188 JOSITSCH/MURER, S. 1098. 189 GÜRBER, S. 39. 190 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124. 191 BURKHARDT, Anhang 1, S. 12. 192 GÜRBER, Anhang 2, S. 30. 34 übrig, dann sei die Unterbringung wohl sowieso zu früh abgebrochen worden.193 Das Problem des meist hinfällig gewordenen Freiheitsentzugs verschärfe sich laut BURKHARDT gerade bei jugendlichen Sexualstraftätern, welche nicht in den Anwendungsbereich des längeren, bis zu vierjährigen Freiheitsentzugs von Art. 25 Abs. 2 JStG fallen, womit das Druckmittel in der Unterbringung versage.194 Letztlich führt HATT im Interview an, dass bei Jugendlichen, welche in der Unterbringung auf „Kurve“ gingen, um sich so der Schutzmassnahme zu entziehen, mindestens die Kurventage nicht anzurechnen seien.195 5.1.2 Exkurs: Fürsorgerische Freiheitsentziehung als Rettungsanker? Es stellt sich insbesondere aus aktuellem Anlass die Frage, ob für rückfallgefährdete junge Erwachsene, welche die absolute Altersgrenze erreicht haben, weitere Möglichkeiten ausserhalb des (Jugend-)Strafrechts bestehen, mittels derer man der Rückfallgefahr begegnen könnte.196 Art. 19 Abs. 3 JStG ermöglicht eine Beantragung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen, falls der Wegfall einer Schutzmassnahme für den Betroffenen selbst oder für die Sicherheit Dritter mit schwer wiegenden Nachteilen verbunden ist und diesen Nachteilen nicht auf andere Weise begegnet werden kann. Die Evaluation des JStG hat ergeben, dass 34.9% der befragten Personen der Jugendstrafbehörden bereits gestützt auf Art. 19 Abs. 3 JStG die Anordnung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen beantragt haben.197 Über die Hälfte dieser zivilrechtlichen Massnahmen betrugen zwar 193 GÜRBER, Anhang 2, S. 30. 194 BURKHARDT, Anhang 1, S. 13. 195 HATT, Anhang 3, S. 48. 196 Die Frage stellte sich prominent beim Fall des Aarauer Prostituiertenmörders, welcher durch das Bundesgericht entschieden wurde in BGer 5A_607/2012 vom 5. September 2012 (zur Publikation vorgesehen). 197 URWYLER/NETT, S. 113. 35 sogenannte Beistandschaften, aber 9.4% der Massnahmen eine fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE).198 Gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB darf „eine mündige oder entmündigte Person […] wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann.“ Weiter soll laut Abs. 2 ebenso berücksichtigt werden, welche Belastung die Person für ihre Umgebung bedeutet. Die betroffene Person muss schliesslich gemäss Abs. 3 entlassen werden, sobald es ihr Zustand erlaubt. Von der Bundesversammlung wurde am 19. Dezember 2008 die Neuregelung des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts angenommen.199 Der Bundesrat hat das Inkrafttreten des neuen Rechts auf den 1. Januar 2013 festgelegt.200 Art. 426 Abs. 1 E-ZGB wird sodann regeln, dass eine „Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, […] in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden“ darf, „wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann.“201 Am 5. September 2012 hat die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts den Entscheid gefällt, dass eine FFE gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB im Anschluss an das beendete 22. Altersjahr in der jugendstrafrechtlichen stationären Unterbringung angeordnet werden kann, wenn der Untergebrachte ein erhebliches Fremdgefährdungspotenzial aufgrund seiner Geisteskrank- 198 URWYLER/NETT, S. 113. 199 Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), Änderung vom 19. Dezember 2008, BBl 2009 141 ff., S. 141. 200 E-ZGB, S. 744. 201 E-ZGB, S. 767 36 heit aufweist.202 Der Entscheid entfaltet jedoch nicht nur Geltung für jugendstrafrechtlich Untergebrachte.203 Auf die Erwägungen ist im Folgenden einzugehen: Das Bundesgericht hält einerseits fest, dass das Gesetz keine FFE alleine wegen Fremdgefährdung vorsieht.204 Dies verleitet das Bundesgericht schliesslich zu folgender Erwägung: „Tatsächlich ergibt sich aus dem Fremdgefährdungspotenzial eines Geisteskranken fast zwangsläufig ein Beistands- und Fürsorgebedürfnis: Wer die Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig […].“205 Der Anwendungsbereich der FFE wurde damit erstmalig in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf Fälle reiner Fremdgefährdung und somit auf polizeiliche Interessen ausgedehnt.206 Noch am 12. Mai 2009 hatte die strafrechtliche Abteilung hingegen festgehalten, dass vom Gesetzgeber nicht bezweckt wurde, die Bevölkerung per FFE vor gefährlichen Geisteskranken zu schützen, und dass die FFE darüber hinaus auch nicht dafür geeignet sei. 207 HOLDEREGGER führt aus, dass die Behörden bei ernstlichem Risiko der öffentlichen Sicherheit durch eine Person, welche die absolute Altersgrenze des JStG erreicht habe, das Rechtsinstitut der FFE durchaus einsetzen könnten.208 Kritisch wird ergänzend aufgezeigt, dass dabei jedoch „eine gewisse Zweckentfremdung dieses Rechtsinstituts nicht zu übersehen“ sei, dies aber in solchen seltenen Fällen nach einer Güterabwägung wohl in Kauf zu neh- 202 BGer 5A_607/2012, E. 5.2. 203 BGer 5A_607/2012, E. 5.2. 204 BGer 5A_607/2012, E. 3. 205 BGer 5A_607/2012, E. 5.2. 206 MEYER LÖHRER, S. 20. 207 BGer 6B_786/2008, E. 2.2. 208 HOLDEREGGER, Rz. 859. 37 men sei.209 Die FFE wurde mit dem Entscheid vom 5. September 2012 also klar zweckentfremdet.210 Es wird daher m. E. deutlich, dass die Formel des Bundesgerichts, Fremdgefährdung sei Selbstgefährdung,211 einer rein pragmatischen und rechtsstaatlich fragwürdigen Logik entspringt. Weiter führt das Bundesgericht aus, es gehöre zum Schutzauftrag, eine kranke bzw. verwirrte Person davon abzuhalten, eine schwere Straftat zu begehen.212 Diese Aussage bezeichnet der renommierte Solothurner Rechtsanwalt KONRAD JEKER als „Killerargument“.213 Man könnte hier m. E. die dogmatisch womöglich nicht ganz saubere Frage aufwerfen, wie das Bundesgericht eine solche Art von wohlverstandener Fürsorge gegenüber einer Person für erforderlich halten kann, welcher es auf der anderen Seite volle Schuldfähigkeit zugestanden hat. Die eben diskutierten Erwägungen des Bundesgerichtes wirken aus strafrechtlicher Sicht m. E. befremdend. Es kann hier unter dem Strich von einer Ausschaltung des (Jugend-)Strafrechts durch das Zivilrecht gesprochen werden. Es wurde nach einer Lösung gesucht, den tatsächlich bedauerlichen Umstand abzufedern, dass gemäss Art. 19 Abs. 2 JStG alle Schutzmassnahmen des Jugendstrafrechts zwingend mit dem vollendeten 22. Altersjahr zu enden haben. Treffend formuliert m. E. JEKER hierzu sarkastisch die Frage, ob es nicht wunderbar sei, wie sich die verschiedenen Rechtsgebiete gegenseitig ergänzen, um das gewünschte Ergebnis juristisch begründen zu können.214 209 HOLDEREGGER, Fn. 1540. 210 MEYER LÖHRER, S. 21. 211 BGer 5A_607/2012, E. 5.2. 212 BGer 5A_607/2012, E. 5.2 mit Verweis auf die Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), BBl 2006 7001 ff., S. 7062 f. 213 JEKER, Blog-Eintrag vom 24.09.2012. 214 JEKER, Blog-Eintrag vom 24.09.2012. 38 Ebenso kaum problematisch scheint es dem Bundesgericht, die betroffene Person zu ihrer Fürsorge in einer Justizvollzugsanstalt zu belassen, sofern diese Einrichtung in der Lage sei, die wesentlichen Bedürfnisse der eingewiesenen Person im Hinblick auf ihre Betreuung zu befriedigen.215 Es solle jedoch in absehbarer Zeit eine für die Behandlung besser geeignete Einrichtung gefunden werden.216 Im Ergebnis scheint die neue FFE gerade auch im Hinblick auf den Vollzug einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB oder gar einer Verwahrung nach Art. 64 StGB gleichzukommen.217 BURKHARDT führt im Interview aus, er sei sehr froh um diesen Entscheid, weil er grosse Angst gehabt habe, selbst 22-Jährige entlassen zu müssen, welche er als durchaus gefährlich einstufe, da diese sogar gegenüber Kindern übergriffig seien.218 Angesprochen auf die dogmatischen Ungereimtheiten des Entscheides, bringt BURKHARDT jedoch an, der Entscheid sei „ergebnisorientiert und nicht juristisch fundiert“.219 Weiter hegt BURKHARDT grosse Zweifel, ob der Entscheid vor dem EGMR standhalten wird. 220 Es fragt sich nämlich tatsächlich, ob das Bundesgericht hier nicht das Verbot der doppelten Bestrafung (ne bis in idem) gemäss Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls221 zur EMRK verletzt hat.222 Wie eben aufgezeigt, verfolgt diese neue Variante der FFE nämlich rein polizeiliche Interessen, was diese FFE aufgrund des klassischen Strafzwecks als Strafe im Sinne der EMRK qualifizieren lässt.223 215 BGer 5A_607/2012, E. 8.1. 216 BGer 5A_607/2012, E. 8.3. 217 MEYER LÖHRER, S. 22. 218 BURKHARDT, Anhang 1, S. 14. 219 BURKHARDT, Anhang 1, S. 16. 220 BURKHARDT, Anhang 1, S. 17. 221 SR 0.101.07. 222 MEYER LÖHRER, S. 22. 223 MEYER LÖHRER, S. 22. 39 Das Bundesgericht erlaubt die Anwendung der neu erarbeiteten Grundsätze grundsätzlich ebenso unter dem kommenden neuen Erwachsenenschutzrecht. 224 Welches jugendstrafrechtliche Institut diesem rechtlichen Spagat de lege ferenda allenfalls Abhilfe verschaffen könnte, wird in Kapitel 5.5.2 besprochen. 5.2 Wiedereingliederung in Freiheit Zum Einstieg in dieses Unterkapitel ist auf die Begrifflichkeiten zu sprechen zu kommen. Der diesbezüglich bekannte Begriff der „Resozialisierung“ ist weniger ein Fachbegriff mit klarer Definition, als ein Synonym für ein ganzes Programm, welches die Rückführung in die Gesellschaft meinen könnte. 225 Unscharf ist der Begriff m. E. insbesondere, weil er die Einwirkung auf den Verurteilten im Sanktionenvollzug mit den Bemühungen nach Beendigung des Vollzugs vermischt. Es ist weiter klar, dass sich auch Menschen im Sanktionenvollzug befinden, die durchaus als „sozialisiert“ zu beurteilen sind.226 Heute herrscht letztlich die Erkenntnis vor, dass die Sozialisation an sich sowieso ein lebenslanger Prozess bedeutet.227 Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der (progressiven bzw. stufenweisen) Wiedereingliederung verwendet, wo die Bemühungen nach der Beendigung der Unterbringung diskutiert werden. 224 BGer 5A_607/2012, E. 5.2. 225 CORNEL, Kap. 1 Rz. 1. 226 BAECHTOLD, Kap. 3/Diverses 32.6. 227 CORNEL, Kap. 1 Rz. 1. 40 5.2.1 Progressive Wiedereingliederung als Konzept Bis weit ins Mittelalter war eine zweckgerichtete Freiheitsstrafe, welche etwa auf Besserung oder Erziehung abzielte, entweder weitgehend nicht vorhanden oder diese Zwecke spielten eine schlicht untergeordnete Rolle.228 Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wird die „Besserung“ des Gefangenen als ein Ziel des Strafvollzuges gesehen.229 Ebenso wurden in jener Zeit erste Bemühungen mit dem Ziel der (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft sichtbar.230 Deutlich progressiv wird der Strafvollzug mit dem englischen und dem weitergeführten irischen Vollzugssystem.231 Ende 18. Jahrhundert führte England die sogenannte Transportationsstrafe ein, wobei ein Verurteilter des Landes verwiesen wurde und die Strafe in einem damaligen Kolonialland zu vollziehen hatte.232 Nachdem der Verurteilte in einer ersten Stufe harte öffentliche Kolonisationsarbeiten verrichten musste, wurde ihm in einer zweiten Stufe ermöglicht, gemeinschaftliche Zwangsarbeiten unter mehr Freiheit zu verrichten.233 Bei weiterer Bewährung durfte der Verurteilte später zu nicht straffälligen englischen Aussiedler gelangen und diese bei der Ansiedlung unterstützen.234 Als letzte Progressionsstufe war es idealerweise möglich ein sogenanntes „ticket of leave“ zu erhalten, also vorzeitig entlassen zu werden.235 Ab Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm Irland die progressive Wiedereingliederung von England und führte sie weiter.236 Zwischen der Stufe der Gemeinschaftshaft und der bedingten Entlassung führte Irland eine weniger rigide geführte, offene Zwischenanstalt ein, durch welche der Übergang in die 228 KRÜGER, S. 32. 229 AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18. 230 KRÜGER, S. 34. 231 BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 8. 232 KRÜGER, S. 41. 233 KRÜGER, S. 41. 234 KRÜGER, S. 41. 235 BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 8. 236 KRÜGER, S. 45. 41 Freiheit erleichtert werden sollte.237 Mit den neuen Freiheiten konnten mehr Verantwortung und Pflichtbewusstsein verknüpft werden, was ermöglichte, dass sich die Inhaftierten an die Lebensverhältnisse ausserhalb der Anstalt gewöhnen konnten.238 In der Schweiz stiess das Progressionssystem nach irischem Vorbild rasch auf Anerkennung in der Fachwelt und setzte sich schliesslich ohne Kontroverse durch.239 Mit dem progressiven Vollzug machte die Schweiz gute Erfahrungen und so wurde er auch im neuen Eidgenössischen StGB normiert.240 Das Konzept der Wiedereingliederung Straffälliger wurde in der Schweiz zwar nicht aufgegeben, im politischen Alltagsdiskurs ist jedoch eine zunehmende Bedeutungslosigkeit für dieses Anliegen festzustellen.241 Gerade die Erreichbarkeit des Ziels und damit seine kriminalpolitische Berechtigung werden immer öfter in Frage gestellt.242 Dieser schwindende Kredit für das Sozialisierungskonzept ist u. a. auf die Tendenz zurückzuführen, dass eine Verlagerung von der Täter- auf die Opferperspektive und eine Tendenz zu einem symbolischen Strafrecht vorherrscht.243 237 KRÜGER, S. 45 f. 238 KRÜGER, S. 46. 239 BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 9. 240 BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 10. 241 KUNZ, Kriminologie, § 30 Rz. 2. 242 AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18. 243 AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18. 42 5.2.2 Massnahmenänderung als Instrument der progressiven Wiedereingliederung Nun ist zu untersuchen, inwieweit das JStG im Rahmen der Beendigung von stationären Unterbringungen eine progressive Wiedereingliederung ermöglicht. Da die Schutzmassnahmen zeitlich unbegrenzt angeordnet werden und die Jugendlichen während der Zeit der Massnahme Veränderungen offenbaren können, muss die Verhältnismässigkeit und Zweckmässigkeit periodisch überprüft werden.244 Art. 18 Abs. 1 JStG sieht sodann vor, dass eine Massnahme durch eine andere ersetzt werden kann, wenn sich die „Verhältnisse geändert“ haben. Eine solche Verhältnisänderung ist als vorliegend zu betrachten, wenn im Vollzug klar wurde, dass sich eine andere Massnahme als erforderlich erweist oder sich jedenfalls als zweckmässiger zeigt.245 Für die stationäre Unterbringung liegt dies regelmässig vor, wenn die in der Einrichtung (oder Abteilung) vorhandene Unterstützung, Betreuung und Begleitung das aus erzieherischer und/oder therapeutischer Sicht noch notwendige Mass überschreitet.246 Die Massnahmenänderung ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht ganz unbedenklich.247 Sie ist nämlich eine Abweichung vom Grundsatz der res iudicata.248 Weiter ist sie problematisch, da ab der Anordnung der Schutzmassnahme keine Mindestdauer bis zur allfälligen Änderung festgehalten wurde.249 244 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 3. 245 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 4. 246 vgl. HOLDEREGGER, Rz. 790. 247 RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30. 248 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 2. 249 RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30. 43 Vor dem Inkrafttreten des JStG im Jahre 2007 existierte für die Schutzmassnahmen noch die bedingte Entlassung.250 Es herrscht eine bemerkenswert geschlossene Übereinstimmung in der Literatur darüber, dass die Streichung der bedingten Entlassung bei den Schutzmassnahmen gerade für die stationäre Unterbringung zu bedauern ist.251 Die bedingte Entlassung hatte zur Folge, dass Jugendliche, welche sich nicht bewährt haben, relativ einfach erneut stationär in den Massnahmenvollzug versetzt werden konnten.252 Nun ist dafür ein aufwändigeres Massnahmenänderungsverfahren vonnöten.253 Gemäss Art. 18 Abs. 1 Satz 2 ist nämlich stets die urteilende Behörde zuständig, sofern die neu anzuordnende Massnahme härter ist. Obwohl vor 2007 die Möglichkeit der Massnahmenänderung bereits existierte, gab es aufgrund der Möglichkeit zur bedingten Entlassung kaum ein Bedürfnis, von der Massnahmenänderung Gebrauch zu machen.254 Eher von Bedeutung war vor der Revision der umgekehrte Schritt, nämlich die Änderung einer milderen Massnahme in eine Unterbringung.255 Als mildere Massnahme im Sinne einer stufenweisen, also progressiven Wiedereingliederung kommt im aktuellen Recht vorwiegend die persönliche Betreuung gemäss Art. 13 JStG in Frage.256 Für die persönliche Betreuung bestimmt jedoch Art. 13 Abs. 4 JStG, dass diese mildere Schutzmassnahme nach Erreichen des Mündigkeitsalters nur noch angeordnet werden kann, falls der Betroffene sein Einverständnis gegeben hat. Das gleiche Problem stellt sich bei der mildesten Schutzmassnahme der Aufsicht gemäss Art. 12 250 vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S.152. 251 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 38 vor Art. 1; HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194; HOLDEREGGER, Rz. 893; RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 120. 252 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121. 253 HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194. 254 vgl. REHBERG, S. 211. 255 vgl. REHBERG, S. 210. 256 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 11. 44 JStG.257 Es ist also möglich, dass ein Jugendlicher durch die Verweigerung seiner Zustimmung aus der betreuungsintensiven Unterbringung entlassen wird ohne jegliche Möglichkeit auf Nachbetreuung.258 Dies bedeutet bildhafter gesprochen, dass der Jugendliche fähig sein muss, einen Schritt von „hundert auf null“ zu meistern.259 Hier wird m. E. von den Jugendlichen unbegreiflich viel verlangt. Ist die progressive Vollzugsplanung im Erwachsenenstrafrecht doch ein Instrument von zentraler Bedeutung zur Verhinderung von kriminellen Rückfällen,260 welches sich auch historisch deutlich bewährt hat,261 so ist diese Vorgehensweise im Jugendstrafrecht nun schwer behindert worden.262 Die Abschaffung der bedingten Entlassung verhindert also, dass eine Stabilisierung der Jugendlichen nach Beendigung der Unterbringung sinnvoll angegangen werden kann.263 Letztlich kann der krasse Wegfall der Nachbetreuung insbesondere für die Berufsbildung ein Problem darstellen: Jugendliche befinden sich im letzten Lehrjahr oft ausserhalb des geschützten Rahmens der Einrichtung, wo bei fehlender Zustimmung zur persönlichen Betreuung der Lehrabschluss regelmässig gefährdet wird.264 Das Ersatzinstitut zur bedingten Entlassung zeigt sich also unter dem Strich als nicht praktikabel.265 Es ist m. E. weiter in Frage zu stellen, ob die Schweiz mit dieser Gesetzgebung ihre internationalen Verpflichtungen einhalten kann. Ein spezielles Augenmerk ist im Folgenden auf die „Europäischen Grundsätze für die von Sanktionen und Massnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen“, die Rec (2008) 11 des Ministerkomitees des Europarates vom 257 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136. 258 BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 12. 259 BURKHARDT, S. 31. 260 ANGST/GÜNTER/NOLL, S. 50. 261 siehe oben 5.2.1. 262 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136. 263 BURKHARDT, S. 29. 264 GÜRBER, S. 40. 265 HOLDEREGGER, Rz. 893. 45 5. November 2008266 zu richten. Der Grundsatz Nr. 2 der Rec (2008) 11 hält u. a. fest, dass alle Sanktionen oder Massnahmen auf den Prinzipien der Wiedereingliederung, der Erziehung und der Rückfallverhütung beruhen müssen. Die Empfehlungen fordern also einen eindeutig resozialisierungsorientierten Vollzug, welcher differenziert die Erziehung fördern soll.267 Konkreter werden folgende Grundsätze: Grundsatz 100.1. hält fest, dass allen Jugendlichen, denen die Freiheit entzogen ist, im Hinblick auf den Wiedereintritt in die Gemeinschaft Unterstützung gewährt werden muss. Weitergehend führt Grundsatz 101.1. sogar auf, dass Massnahmen zu treffen sind, um den Jugendlichen eine schrittweise Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Gemäss Grundsatz 102.1. sind solche Unterstützungsmöglichkeiten u. a. die Unterstützung bei der Rückkehr in die Familie des Jugendlichen oder die Suche nach einer anderen Unterkunft und die Fortführung der schulischen und beruflichen Ausbildung. Im Hinblick auf die gänzlich fehlende Unterstützungsmöglichkeit bei Jugendlichen, welche aus der Unterbringung entlassen werden, und keiner persönlichen Betreuung zustimmen, ist hier m. E. ein Verstoss der Rec (2008) 11 zu bemängeln. Die Rechtslage und die Rechtswirklichkeit in der Schweiz können den europäischen Standards daher nicht ausnahmslos gerecht werden, auch wenn die Grundausrichtung des Schweizerischen Jugendstrafrechts durch die Empfehlung bestätigt wird.268 Letztlich ist anzubringen, dass neben der UN-KRK im Jugendstrafrecht auf internationaler Ebene nur soft law existiert.269 Daher entfalten die angesprochenen Empfehlungen des Europarates für die Schweiz keine verbindlichen Rechtswirkungen und so kann deren Missachtung nicht als Verstoss gegen verfassungsmässige Rechte gewertet werden.270 Werden jedoch kriminalpolitische Ziele in Empfehlungen festgelegt, so wäre eigentlich die Legislative 266 abrufbar unter: <http://www.ejpd.admin.ch/content/dam/data/sicherheit /straf_und_massnahmen/documentation/empfehlung-europarat-jugendstraftaeterd.pdf>, besucht am 29.12.2012. 267 BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 58. 268 vgl. BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 58. 269 W EIDKUHN, S. 63 f. 270 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 278. 46 gehalten, diese Ziele auch zu verwirklichen.271 Verstösse gegen die Empfehlungen sind m. E. speziell im Hinblick darauf, dass die Schweiz resp. das EJPD als Mitherausgeber auftritt, immerhin als unerfreulich zu bezeichnen. Da sich die Schweiz häufig bereits im Einklang mit den internationalen Standards sieht, offenbart sie bei den Defiziten eine gewisse Nachlässigkeit.272 Das Bundesgericht hält jedoch fest, dass es die Empfehlungen bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen von Bundesverfassung und Menschenrechtskonvention gleichwohl mitberücksichtige.273 All diese negativen Folgen der Abschaffung der bedingten Entlassung für die jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen erhöhen m. E. den Erklärungsbedarf seitens der Gesetzgebung. Aus der Botschaft zum JStG schreibt der Bundesrat, dass er inhaltlich die Schutzmassnahmen den zivilrechtlichen Massnahmen angleichen wolle und diese daher klar von den Strafen abgrenzen wolle, bei welchen regelmässig eine bedingte Entlassung möglich sei. 274 Hier ist m. E. in Frage zu stellen, ob der Bundesrat die Neuregelung auch konsequent zu Ende gedacht hat. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die eben aufgeführten Probleme tatsächlich in Kauf genommen wurden. Es wird hier m. E. nämlich mindestens theoretisch ein Zustand für die betroffenen Jugendlichen geschaffen, welcher die Erhöhung der Rückfallgefahr in gewissen Fällen geradezu fördern könnte. Manche Jugendliche sind wohl insbesondere wegen allfällig fehlender Lehrabschlüsse gehalten, wieder in ihr Familienhaus und in ihre angestammte Peer-Group zurückzukehren. Dieses angestammte Umfeld ist jedoch in nicht wenigen Fällen gerade als Ursprung der Erziehungsbedürftigkeit zu bezeichnen. Ohne Nachbetreuung irgendwelcher Art liegt der Gedanken nahe, dass diese drastische Änderung im Leben für einige Jugendliche nur schlecht zu bewältigen ist. Im Erwachsenenstrafrecht scheint es nämlich klar auf der Hand zu liegen, dass es aus 271 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 278. 272 vgl. W EIDKUHN, S. 258. 273 BGE 125 I 127 E. 7c S. 145; vgl. weiter BGer 1B_245/2012, E. 1.2.2. 274 Botschaft JStG, S. 2238. 47 legalprognostischer Sicht kontraproduktiv ist, einen Gefangenen bis zum letzten Vollzugstag etwa in einem geschlossenen Regime zu führen, um ihn dann am darauf folgenden Tag übergangslos in die Freiheit zu versetzen.275 Warum diese Erkenntnis nicht umfassend in die Erarbeitung des JStG eingeflossen ist, ist m. E. unverständlich. Mit HOLDEREGGER ist daher festzuhalten, dass die Abschaffung der bedingten Entlassung für die Schutzmassnahmen einer „gesetzgeberischen Fehlleistung“276 gleichkommt. Alle Interviewpartner weisen jedoch darauf hin, dass sich die theoretischen Probleme mit der progressiven Wiedereingliederung in der Praxis zu einem grossen Teil entschärften, weil für die Endphase der Unterbringung bereits sehr offene Platzierungsmöglichkeiten existierten und somit eine nicht zu unterschätzende Progression innerhalb der stationären Unterbringung selbst möglich sei.277 Kein Einverständnis ist hingegen nötig für eine ambulante Behandlung gemäss Art. 14 JStG. Diese Schutzmassnahme ist laut Art. 14 Abs. 1 JStG anwendbar auf Jugendliche mit psychischen Störungen, Abhängigkeiten oder Beeinträchtigungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Die ambulante Behandlung ist also eher auf pathologische und nicht auf rein erzieherische Defizite ausgerichtet.278 In der Praxis ist es teilweise jedoch der Fall, dass trotz dieser Ausrichtung von Art. 14 JStG Verhaltenstherapien ohne das Vorliegen einer ICD-Diagnose angeordnet werden.279 Diese Vorgehensweise ist jedoch nur in denjenigen Fällen der Jugendstrafbehörde ins pflichtgemässe Ermessen zu stellen, in welchen kein zwingendes Begutachtungserfordernis gemäss Art. 9 Abs. 3 JStG besteht.280 Hierzu eröffnen sich m. E. sinnvolle An- 275 ANGST/GÜNTER/NOLL, S. 47. 276 HOLDEREGGER, Rz. 893. 277 BURKHARDT, Anhang 1, S. 6; GÜRBER, Anhang 2, S. 27; HATT, ANHANG 3, S. 45. 278 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 140. 279 BURKHARDT, Anhang 1, S. 9. 280 HOLDEREGGER, Rz. 483. 48 ordnungsmöglichkeiten, welche gerade bei Jugendlichen mit einer Gewaltproblematik genutzt werden können, um dem Problem des Zustimmungserfordernisses zu den sonstigen milderen Massnahmen zu begegnen. GÜRBER meint im Interview jedoch zu Verhaltenstherapien, dass diese eher zu Beginn und während der Unterbringung als zu deren Beendigung Sinn machten.281 5.3 Umgehungsmöglichkeiten in der Praxis In der Praxis offenbart sich ein spannendes Bild: In den Interviews zeigt sich nämlich, dass die Regelungen zu den Folgen der UnterbringungsBeendigung, insbesondere diejenigen zur progressiven Wiedereingliederung, von den Experten vorwiegend kritisiert werden.282 Andererseits täten sich aber sehr wohl Möglichkeiten zur Umgehung der kritisierten Bestimmungen auf.283 Eine zentrale Umgehungsmöglichkeit eröffnet sich mit der Möglichkeit, dass die Vollzugsbehörde ein Einverständnis zur Persönlichen Betreuung oder zur Aufsicht schlicht als Beendigungs-Voraussetzung der stationären Unterbringung sieht.284 Im Ergebnis kann dies bedeuten, dass die Vollzugsbehörden den Jugendlichen bei fehlender Bereitschaft zu milderen Schutzmassnahmen einfach länger in der stationären Unterbringung behalten.285 Alle Interviewpartner sehen dies grundsätzlich als gangbaren Weg.286 Jedoch mache gemäss BURKHARDT und HATT gerade eine persönliche Betreuung dann unter keinen Umständen Sinn, wenn der Jugendliche überhaupt keine Bereitschaft 281 GÜRBER, Anhang 2, S. 28. 282 BURKHARDT, Anhang 1, S. 8; GÜRBER, Anhang 2, S. 27. 283 BURKHARDT, Anhang 1, S. 8 f.; GÜRBER, Anhang 2, S. 25. 284 vgl. URWYLER/NETT, S. 114. 285 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121. 286 BURKHARDT, Anhang 1, S. 7; GÜRBER, Anhang 2, S. 25; HATT, Anhang 3, S. 45 f. 49 zeige, mit den Verantwortlichen im Vollzug zusammenzuarbeiten.287 GÜRBER bringt jedoch im Interview an, dass dies eigentlich stets einverständlich ablaufe und dass der Jugendliche sein Einverständnis zur persönlichen Betreuung gerne unterschreibe, wenn er dafür aus der Unterbringung entlassen werde.288 HATT führt hier letztlich an, dass man sich aus Sicht der Vollzugsbehörde einfach bewusst sein müsse, dass der Jugendliche in diesem Szenario sein Einverständnis zu milderen Massnahmen auch wieder zurückziehen könne.289 Diese Umgehungsmöglichkeit ist m. E. grundsätzlich zu begrüssen. Davon absehen müssen die Vollzugsbehörden jedoch dann, wenn das Vorgehen, wie es in den Interviews richtig erkannt wird, zu sehr „Nötigungscharakter“290 annimmt oder gar in Richtung „Erpressung“291 geht. Zu suggerieren, der Jugendliche solle jetzt unterschreiben, sonst komme er nie aus der Unterbringung raus, ist wegen der Möglichkeit zum Widerruf des Einverständnisses nicht nur unsinnig, sondern auch mit den Grundsätzen des Jugendstrafrechts nicht zu vereinbaren. Weiter möglich ist es, für Jugendliche eine faktische Bewährungszeit zu schaffen, wobei rechtlich eine Beurlaubung aus dem Massnahmenvollzug angeordnet wird.292 Dies ermöglicht explizit Art. 1 Abs. 2 lit. g JStG, der u. a. die Anwendung der Urlaubsregelung für Erwachsene in Art. 84 Abs. 6 StGB auch für das Jugendstrafrecht erlaubt. Alle Interviewpartner erachten dies als gangbaren Weg.293 Art. 1 Abs. 2 lit. i JStG erlaubt zusätzlich die Anwendung der Regelung zur Unterbrechung des Sanktionenvollzugs gemäss Art. 92 StGB aus wichtigen Gründen. Im Kanton Basel-Stadt wurde diese Möglich- 287 BURKHARDT, Anhang 1, S. 7; HATT, Anhang 3, S. 44. 288 GÜRBER, Anhang 2, S. 25. 289 HATT, Anhang 3, S. 46. 290 GÜRBER, Anhang 2, S. 25. 291 HATT, Anhang 3, S. 45. 292 RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121. 293 BURKHARDT, Anhang 1, S. 8; GÜRBER, Anhang 2, S. 26; HATT, ANHANG 3, S. 46. 50 keit der Vollzugssistierung im Jugendstrafrecht sogar zusätzlich gesetzlich verankert: So regelt § 5 Abs. 4 des Gesetzes über den Vollzug von jugendstrafrechtlichen Sanktionen (JStVG) des Kantons Basel-Stadt294, dass aus wichtigen Gründen der Vollzug von Strafen oder Schutzmassnahmen vorübergehend sistiert oder aufgeschoben werden kann. GÜRBER sieht den Vollzugsunterbruch als Möglichkeit, die Verantwortung in die Hände des Jugendlichen zurückzugeben, wobei danach auch beurteilt werden könne, welche ambulante Massnahme die Unterbringung womöglich ablösen könnte.295 HATT schlägt vor, diese Vollzugssistierung oder Beurlaubung nicht länger als drei Monate laufen lassen.296 Diese Sistierung oder Beurlaubung aus dem Unterbringungsvollzug scheint m. E. im Hinblick auf die Bewährungsmöglichkeit für Jugendliche logisch und äusserst sinnvoll. Hiermit kann auf überzeugende Weise und ohne Konflikte mit den gesetzlichen Grundlagen eine Art bedingte Entlassung aus der Unterbringung geschaffen werden. BURKHARDT erklärt, dass letztlich auch noch die Möglichkeit bestehe, eine bedingte Strafe i. S. v. Art. 35 JStG plus eine sogenannte Begleitung gemäss Art. 29 Abs. 3 JStG anzuordnen, falls neue Straftaten während der Zeit des Unterbringungsvollzugs begangen würden.297 Hier könnten die Jugendlichen gestützt auf Art. 29 Abs. 2 JStG durch Weisungen motiviert werden mit der Begleitperson zusammenzuarbeiten, da sonst allenfalls die Strafe vollzogen werde.298 294 abrufbar unter: <http://www.stawa.bs.ch/jstvg.pdf>, besucht am 29.12.2012. 295 GÜRBER, Anhang 2, S. 26. 296 HATT, Anhang 3, S. 46. 297 BURKHARDT, Anhang 1, S. 9. 298 BURKHARDT, Anhang 1, S. 9 f. 51 5.4 Gezielte unmittelbare Entlassung in die Freiheit Art. 19 Abs. 1 JStG ermöglicht letztlich auch schlicht eine unmittelbare Entlassung aus der Unterbringung, ohne im Rahmen einer progressiven Abfederung mildere Schutzmassnahmen anzuordnen. Es stellt sich nun sowohl für den Erfolgsfall wie für den Misserfolgsfall die Frage, ob eine solche gezielte unmittelbare Entlassung in die Freiheit praktiziert wird. Im Interview hält BURKHARDT fest, dass in Erfolgsfällen dieser Erfolg dann auch stabilisiert werden soll, und daher weitere Begleitung stets sinnvoll sei.299 GÜRBER hingegen wendet diese unmittelbare Entlassung durchaus an, denn das Endstadium der Unterbringung könne gerade durch ein betreutes Wohnen sehr offen ausgestaltet werden.300 Im Misserfolgsfall könne es gemäss BURKHARDT vorkommen, dass man direkt entlässt, denn mit „kontra-indizierten“ Massnahmen könnten durchaus Erfolge erzielt werden.301 HATT verfährt hier ähnlich, insbesondere wenn sich ein Jugendlicher stets der Betreuung entziehe und auch nach verschiedenen Wechseln der Unterbringungsform keine Erfolge erzielt würden.302 Das Fallenlassen geschehe in der Hoffnung, dass der Jugendliche dann endlich „erwache“.303 GÜRBER hat eine solche direkte Entlassung im Misserfolgsfall ohne Vorliegen neuer Delikte noch nie vorgenommen, sondern höchstens angedroht, um den Jugendlichen zu mehr Eigeninitiative zu motivieren.304 299 BURKHARDT, Anhang 1, S. 4. 300 GÜRBER, Anhang 2, S. 23. 301 BURKHARDT, Anhang 1, S. 4. 302 HATT, Anhang 3, S. 43 f. 303 HATT, Anhang 3, S. 43. 304 GÜRBER, Anhang 2, S. 24. 52 5.5 Sicherungsmassnahme bzw. Verwahrung im Jugendstrafrecht? 5.5.1 De lege lata und Praxis Da zumindest im politischen Diskurs und zunehmend auch in der Literatur immer wieder eine Sicherungsmassnahme bzw. eine Verwahrung als gesetzliche Möglichkeit für das Jugendstrafrecht zur Diskussion gelangt,305 ist vorerst zu beantworten, inwieweit das geltende Recht bereits allfällige Verwahrungen zulässt. Das JStG sieht einerseits keine Sanktion vor, welche sich direkt am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung orientiert.306 Andererseits berücksichtigt die geschlossene Unterbringung aber auch negativ-spezialpräventive Zielsetzungen.307 Es ist jedoch festzuhalten, dass eine reine Sicherungsmassnahme, welche sich hauptsächlich an der öffentlichen Sicherheit orientieren würde, nicht mit dem übergeordneten Leitprinzip des Schutzes und der Erziehung von Art. 2 Abs. 1 JStG zu vereinbaren wäre.308 Wo Schutz und Erziehung angestrebt wird, darf m. E. für die Unschädlichmachung bzw. die unpersönliche Risikominimierung309 Jugendlicher de lege lata kein Platz bleiben. Da jedoch bedauerlicherweise den Grundsatz-Schlagworten von Art. 2 JStG keine Konkretisierung dieser Pädagogik-Ziele folgt,310 bleibt es weitgehend offen, was der Gesetzgeber alles unter Schutz und Erziehung zu stellen gedachte. Wie bei der progressiven Wiedereingliederung aufgezeigt,311 hält der Grundsatz Nr. 2 der Rec (2008) 11 fest, dass alle Sanktionen oder Massnahmen auf 305 siehe unten 5.5.2. 306 JOSITSCH/LOHRI, S. 796. 307 HOLDEREGGER, Rz. 859. 308 HOLDEREGGER, Rz. 859. 309 vgl. zum Sprachgebrauch W ALTER/NEUBACHER, Rz. 493. 310 GÜRBER, S. 39. 311 siehe oben 5.2.2. 53 den Prinzipien der Wiedereingliederung, der Erziehung und der Rückfallverhütung beruhen müssen. Es wird also sowohl rein generalpräventiven als auch rein sichernden Strafzwecken eine eindeutige Absage erteilt.312 Es stellt sich jedoch die Frage, wie die Praxis mit dieser Problematik verfährt. Diese Fragestellung ist an einem Beispiel zu diskutieren, von welchem HUGO STULZ, Leiter Ausbildung des Jugendheims Prêles, auf einer Führung durch das Heim berichtet hat. Ein Jugendlicher, welcher in der geschlossenen Unterbringung sei, ergreife bei jeder Vollzugslockerung regelmässig die Flucht, stehle ein Auto und gefährde so auf halsbrecherische Weise sein und das Leben der anderen Strassenbenützer. Im eigentlichen Vollzugsalltag ergäben sich hingegen keine Probleme. Trotzdem sei der Jugendliche im Hinblick auf seine „bevorzugten“ Delikte zurzeit nicht empfänglich für jegliche pädagogische Einwirkung. Zu diesem Beispiel kann man sich mindestens die Frage stellen, ob hier nicht der sichernde Aspekt den pädagogischen Unterbringungszweck deutlich überlagert. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen, dass mit der geschlossenen Unterbringung dem Schutz des betroffenen Jugendlichen genüge getan wird. Schliesslich ist eine halsbrecherische Fahrt mit einem Auto ebenso eine schwere Gefährdung seines eigenen Lebens und seiner eigenen Gesundheit. Zur Frage, ob de lege lata bereits Verwahrungszwecke verfolgt werden können, äussert GÜRBER im Interview, dass mit der zunehmenden Anzahl geschlossener Unterbringungsplätze einfach auch die Tendenz steige, Jugendliche „bequem“ zu versorgen, anstatt mit ihnen mühsame alternative Lösungen auszuarbeiten.313 Zunehmend werde so auch der gesellschaftliche Druck steigen, schwierige Jugendliche eben einfach zu „verstauen“.314 Dies sei 312 BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 51 mit weiteren Hinweisen. 313 GÜRBER, Anhang 2, S. 39. 314 GÜRBER, Anhang 2, S. 39. 54 zwar keine Verwahrung, aber es werde so einzig das kurzfristige Sicherheitsdenken bedient.315 5.5.2 De lege ferenda Es wird von JOSITSCH/LOHRI in Zweifel gestellt, ob spezialpräventive Zielsetzungen bei jedem jugendlichen Täter uneingeschränkt den Vorrang vor dem Schutz und der Sicherheit der Gesellschaft geniessen sollen.316 JOSITSCH/LOHRI halten fest, dass eine Sicherungsmassnahme für Jugendliche keineswegs wie im Erwachsenenstrafrecht zeitlich unbegrenzt auszusprechen sein sollte, da dies der grundsätzlichen Erziehungsfähigkeit von Jugendlichen nicht gerecht würde.317 Die Sicherungsmassnahme soll maximal bis zur Vollendung des 25. Altersjahres dauern und v. a. auf Jugendliche zugeschnitten sein, welche entweder die Schutzmassnahme sabotieren oder das 22. Altersjahr in der Unterbringung vollendet haben und noch stets eine grosse Rückfallgefahr bzgl. schweren Verbrechen oder Vergehen aufweisen. Weiter halten JOSITSCH/LOHRI fest, dass der Vollzug der Sicherungsmassnahme trotz allem auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ausgerichtet soll und dass eine Änderung in eine spezialpräventiv ausgerichtete Schutzmassnahme jederzeit möglich sein soll.318 BURKHARDT fordert ebenso eine Enttabuisierung der Verwahrung im Jugendstrafrecht, denn eine solche sei in Einzelfällen durchaus nötig.319 Er führt einleitend an, dass das JStG gar nicht ausschliesslich auf Schutz und Erziehung i. S. v. Art. 2 ausgerichtet ist, da auch politische Ideen aus dem Allgemeinen 315 GÜRBER, Anhang 2, S. 39 f. 316 JOSITSCH/LOHRI, S. 791. 317 JOSITSCH/LOHRI, S. 796. 318 JOSITSCH/LOHRI, S. 796. 319 BURKHARDT, S. 28. 55 Teil des StGB in die Revision eingeflossen seien.320 Weiter bemerkt BURKHARDT, dass eine Verwahrung die Grundpfeiler des schweizerischen Jugend- strafrechts schützen würde, weil dann nach medial spektakulären Fällen nicht das an sich bewährte Recht politisch erodiert werden müsste, um auch äusserst schwierigen Jugendlichen zu begegnen.321 Es müssten schwerste Delikte drohen, insoweit könnten die Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1 StGB auch für das Jugendstrafrecht Anwendung finden.322 Im Interview hält BURKHARDT bezüglich des möglichen Adressatenkreises fest, dass eine Verwahrung für junge Menschen ohne psychische Störungen nicht mehr nötig sein würde, falls die absolute Altersgrenze für Schutzmassnahmen auf 25 angehoben wird.323 Laut BURKHARDT wäre es weiter fatal, wenn bereits zum Urteilszeitpunkt eine definitive Verwahrung ausgesprochen werden könnte, denn vielmehr sei die Entwicklung in der Schutzmassnahme zu berücksichtigen, oder es sei gar erst vor der möglichen Entlassung zu entscheiden.324 Vielmehr brauche es zum Urteilszeitpunkt einen Vorbehalt zur Verwahrungsanordnung, was wohl auch die Therapiewilligkeit von Jugendlichen erhöhen würde, welche sonst die Schutzmassnahme sabotieren könnten.325 Im Verwahrungsvollzug solle eine delikts- oder persönlichkeitsspezifische Therapie möglich sein und alle anderen Massnahmen, die darauf abzielen, die Verwahrung zu beenden.326 Die Erforderlichkeit der Verwahrung solle weiter alljährlich überprüft werden und solle bis über das 30. Altersjahr hinaus dauern können, wobei über 30-Jährige aber nicht mehr in Einrichtungen für junge Erwachsene, sondern in Erwachsenenanstalten oder in geschlossenen forensischen Kliniken geführt werden sollten.327 320 BURKHARDT, S. 28. 321 BURKHARDT, S. 31. 322 BURKHARDT, S. 31. 323 BURKHARDT, Anhang 1, S. 18. 324 BURKHARDT, S. 32. 325 BURKHARDT, S. 32. 326 BURKHARDT, S. 32. 327 BURKHARDT, S. 32. 56 CHRISTOPH BURKHARD, ehemaliger leitender Jugendanwalt des Kantons Bern, bezeichnet die Forderung nach einer Verwahrung für das Jugendstrafrecht hingegen scharf als „Ungeheuerlichkeit“, von welcher man sich erst erholen müsse.328 Da Jugendliche häufig nach der Vollendung ihres 18. Altersjahres erneut delinquierten, stünde so regelmässig der gesamte Sanktionenkatalog des Erwachsenenstrafrechts offen, inklusive der Verwahrung.329 Weiter hält BURKHARD fest, dass Jugendliche ja bis zur Vollendung des 22. (und wohl bald schon des 25.) Altersjahres im stationären Massnahmenvollzug zurückgehalten werden können, und dass dies daher reichen sollte, die Sozialverträglichkeit zu steigern und die Rückfallgefahr auf ein erträgliches Mass zu senken.330 Abschliessend seien die Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowieso oft zweifelhaft oder gar nicht erst zu erstellen, da psychische Störungen im Jugendalter oft stark vom Entwicklungsaspekt überlagert seien.331 Dies verunmögliche bereits eine gewissenhafte Anwendung einer Verwahrungsbestimmung im Jugendstrafrecht, was eine solche Massnahme daher a priori unverhältnismässig mache.332 GÜRBER warnt im Interview ebenso vor der Installierung eines solchen Rechtsinstituts, weil es klar sei, dass dann unausweichlich auch junge Leute verwahrt würden, die dies gar nicht nötig hätten.333 Gerade junge Jugendanwälte, die noch viel zu verlieren hätten, seien in der von Angst durchzogenen heutigen Zeit praktisch dazu gezwungen, sich für denjenigen Weg zu entscheiden, welcher für den Betroffenen am meisten Geschlossenheit vorsähe.334 Dasselbe zeige sich bei den Gutachtern.335 Momentan sei v. a. bei 328 BURKHARD, S. 33. 329 BURKHARD, S. 34. 330 BURKHARD, S. 34. 331 BURKHARD, S. 35. 332 BURKHARD, S. 35. 333 GÜRBER, Anhang 2, S. 35. 334 GÜRBER, Anhang 2, S. 38. 335 GÜRBER, Anhang 2, S. 38. 57 schweren Fällen nicht auf das Augenmass der rechtsanwendenden Behörden zu vertrauen.336 Letztlich würde die Sicherheit durch eine Sicherungsmassnahme auch „nicht wahnsinnig“ erhöht.337 Da die Annahme von Rückfallgefahr bzw. Gefährlichkeit eines Straftäters einerseits eine sozial konstruierte Wertung ist, und die entsprechenden Toleranzgrenzen von einer politischen Wertung abhängen,338 wird es m. E. vorwiegend eine gesellschaftspolitische Frage sein, ob wir bereit sind, dieses Rückfallrisiko als Gesamtgesellschaft zu tragen. Heute herrscht v. a. im Erwachsenenstrafrecht bereits eine Tendenz zur Übersicherung, angefeuert durch ein Klima der Verunsicherung und Angst. 339 Die Forderung, sogenannt gefährliche Straftäter nie mehr entlassen zu wollen, ist salonfähig geworden.340 Auch in der Diskussion der Jugendgewalt herrscht eine Grundstimmung vor, die von diffuser Verunsicherung und dem Bedürfnis nach einer illusionären und haltgebenden Sicherheit geprägt ist. 341 Hier ist m. E. aufzupassen, dass im Jugendstrafrecht das Grundprinzip einer pädagogischen Ausrichtung nicht im Sog des Sicherheitsgedankens geopfert wird. Eine Tendenz, den Anspruch des täterorientierten Strafens zugunsten vermeintlicher öffentlicher Sicherheitsbedürfnisse zu unterlaufen, war nämlich zu Teilen bereits mit der Errichtung des JStG zu erkennen.342 Nach diesem Stand der Dinge wäre m. E. eine Sicherungsmassnahme daher nicht nur für Jugendliche, sondern auch für junge Erwachsene abzulehnen, welche die absolute Altersgrenze der Schutzmassnahmen erreicht haben. 336 GÜRBER, Anhang 2, S. 39. 337 GÜRBER, Anhang 2, S. 36. 338 W ALTER/NEUBACHER, Rz. 464. 339 BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 22. 340 BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 22. 341 KUNZ, Jugendgewalt, S. 18. 342 MAUD PILLER/SCHNURR, S. 109. 58 Einzuwerfen ist jedoch, dass die Sicherungsdiskussion im Jugendstrafrecht durch den Entscheid des Bundesgerichts vom 5. September 2012 (5A_607/2012) zu grossen Teilen bereits überholt scheint. Das Bundesgericht hat in der Zwischenzeit wie bereits aufgezeigt343 eine Quasi-Verwahrung für psychisch gestörte und rückfallgefährdete Personen per FFE ermöglicht. Eine zusätzliche jugendstrafrechtliche Massnahme für psychisch Gestörte nun doch zu prüfen, ist im Lichte dieser neusten Rechtsprechung jedenfalls junge Erwachsene an der Schwelle zur absoluten Altersgrenze wohl unumgänglich geworden. Die Rechtssicherheit könnte durch eine neue jugendstrafrechtliche Massnahme im Vergleich zu einer FFE für die Betroffenen erhöht werden. Es sollte auch dogmatisch einleuchtend sein, dass es sich bei solchen Fällen nicht um Selbstgefährdungen, sondern um klare und ausschliessliche Fremdgefährdungen handelt. Hier muss daher schon nur aus dogmatischer Sicht (jugend-) strafrechtliches Massnahmenrecht zum Zuge kommen. Mit BURKHARDT und HATT ist m. E. klar festzuhalten, dass eine solche neue Massnahme tatsächlich erst mit dem Erreichen der absoluten Altersgrenze angeordnet werden dürfte,344 weil die Diagnose einer psychischen Störung vorher tatsächlich nur eingeschränkt zu fällen ist, da sie vom Entwicklungsaspekt überlagert ist.345 So wären denn auch nicht Jugendliche i. S. v. Art. 1 Abs. 1 lit. a JStG betroffen, sondern eben junge Erwachsene. Nur so kann wohl auch garantiert werden, dass eine solche Massnahme überhaupt mit dem rechtlich verbindlichen346 Art. 37 lit. b UN-KRK vereinbar ist, welcher u. a. für Freiheitsentziehungen vorschreibt, dass diese bei Kindern nur für die kürzest angemessene Zeit angewendet werden dürfen. Es muss jedoch kritisch angeführt werden, dass momentan trotz erheblicher Anstrengungen auch für Erwachsene kein wirklich befriedigendes Prognose- 343 siehe oben 5.1.2. 344 BURKHARDT, S. 32; HATT, Anhang 3, S. 52. 345 AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 52; BURKHARD S. 35. 346 siehe oben 5.2.2. 59 verfahren existiert.347 Statistische Prognosen ihrerseits sind ebenso kaum in der Lage, die Zukunft vorweg zu nehmen, auch wenn sie den gefühlsmässigen Einschätzungen überlegen scheinen.348 Die Risiken werden denn auch tendenziell zu hoch eingeschätzt.349 Dass sich die Anwendung einer solchen neuen Massnahme daher auf prognostisch extreme Fälle beschränken muss, sollte im Sinne einer restriktiven Anwendung m. E. auf der Hand liegen. Der Anlasstatenkatalog müsste daher auch auf die Katalogtaten von Art. 64 Abs. 1 StGB beschränkt sein oder sogar enger gefasst sein. Eine deutliche Absage ist einer jugendstrafrechtlichen Sicherung von Personen zu erteilen, welche keine psychischen Störungen aufweisen. Eine fixe Altersgrenze sollte m. E. keine festgelegt werden. Solche Altersgrenzen stehen nämlich im Widerspruch zu aktuellen Annahmen und Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie.350 Hinsichtlich der Selbst- und Impulskontrolle können entwicklungsbedingte Veränderungen bis zum 30. Altersjahr festgestellt werden. 351 Unverzichtbar wäre m. E. einerseits eine jährliche Prüfung der Vollzugsbehörden, ob die Sicherungsmassnahme aufgehoben werden kann. Andererseits sollte die Massnahme wie in Art. 59 Abs. 4 StGB höchstens für fünf Jahre ausgesprochen werden können, bevor das Gericht eine erneute zwingende Überprüfung vornehmen muss. Es sind letztlich Vollzugsregelungen nötig, die auf junge Erwachsene mit psychischen Störungen zugeschnitten sind und bei einer allfälligen Wiedereingliederung in die Freiheit stützender wirken, als dies die Entlassung aus der FFE ermöglicht. Eine Umkehr der Rechtsprechung ist in der zuvor aufgezeigten momentanen kriminalpolitischen Stimmung nämlich nicht zu erwar- 347 W ALTER/NEUBACHER, Rz. 499. 348 W ALTER/NEUBACHER, Rz. 506. 349 W ALTER/NEUBACHER, Rz. 506 mit weiteren Hinweisen. 350 AEBERHARD, S. 277. 351 AEBERHARD, S. 278 mit weiteren Hinweisen. 60 ten. Auf den Vorschlag angesprochen, warnt BURKHARDT jedoch vor einer Überregulierung.352 Das rechtsstaatlich ungute Gefühl beim Gedanken, dass eine Person von ihrer Jugend bis ans Lebensende geschlossen geführt werden könnte, lässt sich hingegen keineswegs abschütteln. 6. Übersicht der Lösungsvorschläge Eine deliktsbezogene Bagatellgrenze soll ermöglichen, die jugendstrafrechtliche Unterbringung dogmatisch besser von zivilrechtlichen Massnahmen abzugrenzen. Die absolute Altersgrenze für die Schutzmassnahmen soll für besondere Fälle auf 25 Jahre erhöht werden. Die bedingte Entlassung aus der Unterbringung soll wieder eingeführt werden. Bei Jugendlichen, welche die Unterbringung gezielt sabotieren, soll eine Anrechnung der Freiheitsbeschränkung an den zu vollziehenden Freiheitsentzug ins pflichtgemässe Ermessen der Vollzugsbehörde gestellt werden. Eine neue jugendstrafrechtliche Massnahme für psychisch gestörte und besonders rückfallgefährdete Jugendliche soll den aus strafrechtlicher Sicht unhaltbaren Zustand des FFE-Entscheids des Bundesgerichts ablösen. 352 BURKHARDT, Anhang 1, S. 20. 61 7. Fazit Die stationäre Unterbringung Jugendlicher ist ein Rechtsinstitut, ohne welches die Jugendstrafrechtspflege in ihrer heutigen Form nicht denkbar wäre. Dennoch hat die Praxis aufmerksam dafür zu sorgen, dass die Unterbringung ihre Funktion als ultima ratio nicht verliert. Ebenso wichtig scheint mir, dass im Vollzug stets die konfrontative Arbeit mit den Untergebrachten gesucht werden muss, und dass mit allen Mitteln verhindert werden soll, dass im Vollzug eine Verwahrmentalität Platz greifen kann. Die Jugendlichen sind im Vollzug nicht sich selbst zu überlassen, sondern es ist ein intensives Fördern und Fordern zu unterstützen. Es bleibt weiterhin unverständlich, dass der Gesetzgeber eine solch ungenügende Regelung für die Wiedereingliederung in die Freiheit nach der Unterbringung vorgesehen hat. Der Praxis ist es zwar möglich, den Zustand abzufedern, jedoch sollte eine ungenügende Betreuung in der Wiedereingliederungsphase vom JStG gar nicht erst ermöglicht werden. Der Revisionsbedarf liegt hier auf der Hand. In der Frage um eine Sicherungsmassnahme zeigt sich ein schier unlösbares Dilemma. Einerseits ist verständlich, dass Teile der Jugendstrafrechtspflege ein Instrument zur Verfügung haben möchten, welches erlauben würde, psychisch gestörte und schwer rückfallgefährdete junge Erwachsene nicht Knall auf Fall (sei es mit 22 oder mit 25) entlassen zu müssen. Andererseits zeigt sich, dass Sicherungen dann womöglich überschiessend angewendet würden, was keinesfalls anzustreben ist. Der Entscheid des Bundesgerichts vom 5. September 2012 (5A_607/2012) hat jedoch einen dogmatisch unhaltbaren Zustand geschaffen. Es sollte daher vom Gesetzgeber eine zusätzliche jugendstrafrechtliche Massnahme ausgearbeitet werden. Art. 2 JStG muss daher allenfalls angepasst werden. 62 Im Allgemeinen ist dringend eine konsequentere professionelle Medienarbeit der Jugendstrafbehörden und der Führungskräfte der Jugendheime und Massnahmenzentren nötig, um die fehlende Kenntnis und die Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen.353 Mit GÜRBER ist als Schlusswort anzubringen, dass eine verstärkte Prävention und Früherkennung und letztlich auch das nicht derart repressive Jugendstrafrecht langfristig am meisten zur Sicherheit beitragen.354 353 vgl. BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 26. 354 GÜRBER, Anhang 2, S. 36.