Masterarbeit - Institut für Strafrecht und Kriminologie

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UNIVERSITÄT BERN
Rechtswissenschaftliche Fakultät
Institut für Strafrecht und Kriminologie
Prof. Dr. iur. Jonas Weber, Rechtsanwalt, LL.M.
Masterarbeit
"ANORDNUNG, VOLLZUG UND BEENDIGUNG DER STATIONÄREN UNTERBRINGUNG IM JUGENDSTRAFRECHT"
vorgelegt am 31.12.2012
von Kevin Sacher
I
Inhaltsverzeichnis
Literatur- und Materialienverzeichnis ........................................................ III
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. X
1. Einleitung ................................................................................................ 1
Teil I:
Die Anordnung der stationären Unterbringung .................................. 2
2. Voraussetzungen für die Anordnung ................................................... 2
2.1
Offene Unterbringung ........................................................................ 2
2.1.2 Vorbemerkungen ........................................................................... 2
2.2.2 Verhältnismässigkeit ...................................................................... 3
2.2
Geschlossene Unterbringung ............................................................ 7
Teil II: Der Vollzug der stationären Unterbringung ..................................... 11
3. Überblick über den Vollzug ................................................................. 11
3.1
Sozialpädagogische Arbeitsweise ................................................... 11
3.1.1 Ziele und Konzepte ...................................................................... 12
3.1.2 Konfrontative Pädagogik .............................................................. 15
3.2
Jugendheimlandschaft in der Schweiz ............................................ 16
3.3
Unterschiede zum Vollzug des jugendstrafrechtlichen
Freiheitsentzuges? .......................................................................... 19
II
Teil III:
Die Beendigung der stationären Unterbringung ........................... 24
4. Voraussetzungen für die Beendigung ................................................ 24
4.1
Beendigung im Fall des Erfolges ..................................................... 24
4.2
Beendigung im Fall des Misserfolges .............................................. 24
4.2.1 Sinn- und Zwecklosigkeit ............................................................. 24
4.2.2 Erreichen der absoluten Altersgrenze .......................................... 27
5. Mögliche Folgen der Beendigung ....................................................... 30
5.1
Weiterführender Freiheitsentzug ..................................................... 30
5.1.1 Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzugs ................... 30
5.1.2 Exkurs: Fürsorgerische Freiheitsentziehung als Rettungsanker? 34
5.2
Wiedereingliederung in Freiheit ....................................................... 39
5.2.1 Progressive Wiedereingliederung als Konzept ............................ 40
5.2.2 Massnahmenänderung
als
Instrument
der
progressiven
Wiedereingliederung .................................................................... 42
5.3
Umgehungsmöglichkeiten in der Praxis .......................................... 48
5.4
Gezielte unmittelbare Entlassung in die Freiheit ............................. 51
5.5
Sicherungsmassnahme bzw. Verwahrung im Jugendstrafrecht? .... 52
5.5.1 De lege lata und Praxis ................................................................ 52
5.5.2 De lege ferenda ........................................................................... 54
6. Übersicht der Lösungsvorschläge ..................................................... 60
7. Fazit ....................................................................................................... 61
III
Literatur- und Materialienverzeichnis
Zitierweise
Falls nicht anders vermerkt, werden Zitate im Text mit dem Nachnamen des
Autors sowie der Fundstelle innerhalb des Werkes, wenn vorhanden Kapitel/Artikel plus Randziffer, ansonsten als Seitenzahl genannt.
Literatur
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IV
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V
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29.12.2012. (zit. BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen)
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/jugendheime/jugendheim_lory/vollzug.assetref/content/dam/
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ssystem (JUBS) 7009.pdf>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem)
Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept – Kurzfassung, abrufbar unter:
<http://www.pom.be.ch/pom/de/index/freiheitsentzug-betreuung
/jugendheime/jugendheim_lory/vollzug/wohnangebot.assetref/conte
nt/dam/documents/POM/FB/de/Jugendheim_Lory/Päd_Konzept_20
10_Kurzfassung5125.pdf>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept)
IX
Jugendheim Prêles, Portrait, abrufbar unter: <http://www.pom.be.ch/pom/de
/index/freiheitsentzug-betreuung/jugendheime/jugendheim_preles
/portrait.html>, besucht am 29.12.2012. (zit. Jugendheim Prêles,
Portrait)
Materialien
Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine
Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und
des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das
Jugendstrafrecht vom 21. September 1998, BBl 1998 1979 ff. (zit.
Botschaft JStG)
Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutz, Personenrecht und
Kindesrecht),
Änderung
S. 725 ff. (zit. E-ZGB)
vom
19. Dezember 2008,
AS 2011,
X
Abkürzungsverzeichnis
Abs.
Absatz
AJP
Aktuelle Juristische Praxis
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
BBl
Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Bd.
Band
BFS
Bundesamt für Statistik
BGE
Publizierter Leitentscheid des Schweizerischen Bundesgerichts
BGer
Schweizerisches Bundesgericht
Ders.
Derselbe
Diss.
Dissertation
E-ZGB
Entwurf zu dem am 1. Januar 2013 in Kraft tretenden neuen
Schweizerischen Zivilgesetzbuch
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EJPD
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
EMRK
Europäische
Menschenrechtskonvention
1950 (SR 0.101)
et al.
et alii/aliae (Deutsch: und andere)
f. / ff.
folgende (Seite / Seiten)
FFE
Fürsorgerische Freiheitsentziehung
Fn.
Fussnote
Hrsg.
Herausgeber
i. e. S.
im engeren Sinne
i. S. v.
im Sinne von
vom 4. November
XI
i. V. m.
in Verbindung mit
ICD
International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems (Deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)
JStG
Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003
(SR 311.1)
Kap.
Kapitel
lit.
litera
LSMG
Bundesgesetz über die Leistungen des Bundes für den Strafund Massnahmenvollzug vom 5. Oktober 1984 (SR 341)
m. E.
meines Erachtens
N
Randnote
Rz.
Randziffer
S.
Seite
SR
Systematische Sammlung des Bundesrechts
StGB
Schweizerisches Strafgesetzbuch
vom 21. Dezember 1937
(SR 311.0)
SZK
Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie
UN-KRK
Übereinkommen
über
die
Rechte
des
Kindes
vom
20. November 1989 (SR 0.107)
ZGB
Schweizerisches
Zivilgesetzbuch
vom
(SR 210)
zit.
zitiert
ZStrR
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht
10. Dezember 1907
1
1.
Einleitung
Wann ist eine jugendstrafrechtliche stationäre Unterbringung Jugendlicher
angezeigt? Macht es Sinn, mit „schwierigen“ Jugendlichen überhaupt noch
erzieherisch oder therapeutisch zu arbeiten? Wie begegnet man Jugendlichen, welche nicht „kooperieren“ oder gar „gefährlich“ sind? In den Medien
und in der Politik ist zum Thema Jugendgewalt verbreitet eine Problemdramatisierung vorzufinden, da sich einerseits die kommerziellen Massenmedien zu profilieren versuchen und andererseits die Politiker mit dem Ruf nach
hartem Einschreiten um die Wählergunst buhlen.1 Auch wenn es dem Strafrechtler schmeicheln könnte, ist der gerade in der Politik der offenbar unbegrenzte Glaube ans Strafrecht erstaunlich.2 So scheint es für eine Masterarbeit äusserst interessant, gerade die eingriffsintensivste Sanktion des Jugendstrafrechts zu betrachten. Da gewisse Regelungen zur stationären Unterbringung gerade auch von der Praxis teilweise scharf kritisiert werden,
bietet sich eine vertiefte Bearbeitung besonders an.
Die stationäre Unterbringung wird in dieser Arbeit verlaufsmässig so diskutiert, wie sie von den Jugendlichen durchlaufen wird, nämlich von der Anordnung, über den Vollzug, bis zu deren Beendigung.
Zusätzlich zum Literaturstudium konnte ich mit dem Leitenden Jugendanwalt
des Kantons Basel-Stadt, lic. iur. BEAT BURKHARDT, mit dem Leitenden Jugendanwalt der Stadt Zürich, lic. iur. HANSUELI GÜRBER und mit der Jugendanwältin lic. iur. ANNE-CATHERINE HATT von der Jugendanwaltschaft Uznach
je ein Experteninterview führen. Diese Interviews haben nicht nur zur erforderlichen Klärung offener Fragen gedient, sondern haben mir auch ermöglicht, die Arbeit anschaulicher und praxisbezogener zu gestalten. Den Experten möchte ich hier ausdrücklich für ihre aufgewendete Zeit und ihre spannenden Inputs danken.
1
KUNZ, Jugendgewalt, S. 18.
2
RIEDO CHRISTOPH, Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht im Blickfeld von Öffentlichkeit und Politik, SZK 1/2010, S. 27.
2
Teil I:
Die Anordnung der stationären Unterbringung
2.
Voraussetzungen für die Anordnung
2.1
Offene Unterbringung
2.1.2
Vorbemerkungen
Da der Systematik von Art. 15 JStG zu entnehmen ist, dass die offene Unterbringung als gesetzlicher Grundsatz, und die geschlossene Unterbringung
als Ausnahme gilt, werden alle Voraussetzungen, die für die stationäre Unterbringung als solche gelten, unter diesem Titel abgehandelt.
Die stationäre Unterbringung ist eine sogenannte Schutzmassnahme, und
somit eine Sanktion des Jugendstrafrechts.3 Jugendstrafrecht kommt gemäss Art. 3 Abs. 1 JStG zur Anwendung, wenn eine Person zwischen dem
vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Lebensjahr eine mit Strafe bedrohte
Tat begangen hat. Diese Straftat muss tatbestandsmässig und rechtswidrig
begangen worden sein.4 Schuldfähigkeit wird von Art. 10 Abs. 1 JStG für die
Anordnung von Schutzmassnahmen hingegen nicht verlangt. Schutzmassnahmen werden gemäss Art. 10 Abs. 1 JStG nur angeordnet, wenn der Jugendliche einer besonderen erzieherischen Betreuung oder therapeutischer
Behandlung bedarf.
Im Jugendstrafrecht herrscht ein Dualismus zwischen Strafen und Schutzmassnahmen vor.5 Bereits die Strafen haben keinen tatvergeltenden Charakter, sondern möchten den Jugendlichen vordringlich in spezialpräventiver
Zielsetzung vor der Begehung weiterer Straftaten abhalten.6 Die Anordnung
von Schutzmassnahmen orientiert sich noch weniger nach der Straftat an
sich, sondern ausschliesslich an den pädagogischen, psychologischen und
3
vgl. HOLDEREGGER, Rz. 538.
4
HOLDEREGGER, Rz. 561.
5
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 120.
6
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 9 vor Art. 1
3
medizinischen Bedürfnissen des betroffenen Jugendlichen.7 Diese besonderen Bedürfnisse des Jugendlichen müssen zur Zeit der Verurteilung noch
bestehen, nicht bloss zur Tatzeit.8 Ein Bedürfnis, welches nach der Tat und
unabhängig von dieser auftritt, kann hingegen keine jugendstrafrechtliche
Schutzmassnahme, sondern höchstens eine zivilrechtliche Massnahme zur
Folge haben.9
Wenn eine offene Unterbringung zur Behandlung einer psychischen Störung
angezeigt erscheint, so muss gemäss Art. 15 Abs. 3 JStG vor der definitiven
Fremdplatzierung eine medizinische oder psychologische Begutachtung in
Auftrag gegeben werden, wenn dies nicht schon aufgrund Art. 9 Abs. 3 JStG
veranlasst wurde.
2.2.2
Verhältnismässigkeit
Die Anordnung der stationären Unterbringung muss als Schutzmassnahme
wie auch die Anordnung von Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts oder
des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts verhältnismässig sein.10 Dies
regelt Art. 1 Abs. 2 lit. c JStG, wo u. a. festgehalten wird, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip der erwachsenenstrafrechtlichen Massnahmen von
Art. 56 Abs. 2 StGB grundsätzlich11 auch für das Jugendstrafrecht gilt.
Die Unterbringung muss daher geeignet und erforderlich in Bezug auf Sozialintegration und Rückfallminderung sein, und sie muss i. e. S. verhältnismässig sein, also ein vernünftiges Verhältnis zwischen Eingriffszweck und Ein-
7
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121.
8
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122.
9
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122.
10
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121.
11
Bestimmungen des StGB dürfen gemäss Art. 1 Abs. 3 JStG nur unter der Voraussetzung angewandt werden, dass die jugendstrafrechtlichen Grundsätze nach Art. 2
JStG sowie Alter und Entwicklungsstand des betroffenen Jugendlichen zu seinen
Gunsten berücksichtigt werden.
4
griffsintensität wahren.12 Die Fremdplatzierung wird heute somit als klare ultima ratio verstanden, was speziell im frühen 20. Jahrhundert im Rahmen der
Kinderretter-Bewegung noch anders beurteilt wurde.13 Im Jahr 2011 waren
gerade noch 0.7% aller ausgesprochenen JStG-Sanktionen stationäre Unterbringungen.14 Vollzieht man eine Durchschnittsrechnung für die Jahre
2007 bis 2011, so machen die Unterbringungen 1.4% aller JStG-Sanktionen
aus.15 Art. 15 Abs. 1 JStG hält heute im Sinne einer Subsidiarität16 explizit
fest, dass eine Unterbringung nur Anwendung finden darf, wenn „die notwendige Erziehung und Behandlung des Jugendlichen nicht anders sichergestellt werden“ kann. Es darf also keine Möglichkeit bestehen, dass mit den
eingriffsmilderen Schutzmassnahmen der Aufsicht (Art. 12 JStG), der persönlichen Betreuung (Art. 13 JStG) oder der ambulanten Behandlung (Art. 14
JStG) hinreichende Erziehungs- oder Therapieerfolge erzielt werden können.17 Eine wichtige Voraussetzung ist daher, dass die nicht zu vernachlässigenden Probleme des betroffenen Jugendlichen nicht mehr in seiner vertrauten Umgebung angegangen werden können.18 Nebst dem schlichten
Prüfen solcher milderer Massnahmen ist allenfalls ein Erproben derselben
angezeigt.19 Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass mildere Schutzmassnahmen bereits zwingend gescheitert sein müssen.20
Stationäre Unterbringungen sind bildhafter ausgedrückt häufig dort unumgänglich, wo Eltern hoffnungslos überfordert sind oder gar ihre Kinder durch
Gewalt, sexuelle Übergriffe, Vernachlässigung oder Überbetreuung gefähr-
12
HOLDEREGGER, Rz. 561.
13
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144.
14
vgl. BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen.
15
vgl. BFS, Jugendstrafurteile 2011 nach Sanktionen.
16
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3.
17
HOLDEREGGER, Rz. 562.
18
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144.
19
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3.
20
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 122.
5
den.21 Weiter ist die Fremdplatzierung oft unausweichlich, wenn Störungen
des Sozialverhaltens von Jugendlichen vorliegen, welche sich etwa in einer
verfestigten Ausweich- und Fortlauf-Symptomatik oder in Gefährdungen Dritter äussern.22 Ebenso angezeigt ist die Unterbringung, wenn ohne Distanz
zum subkulturellen Milieu eines Jugendlichen die Erziehung oder Behandlung nicht ausreichend gewährleistet werden kann.23
In Hinblick auf die Verhältnismässigkeit i. e. S. (auch als Angemessenheit
bezeichnet24) ist zu prüfen, ob die Schutzmassnahme im Hinblick auf die Erziehungs- und Behandlungsbedürftigkeit des Täters (und nicht der Tat) angemessen ist.25 In diese Beurteilung ist insbesondere auch die Gefahr einzubeziehen, die für den Betroffenen selbst droht oder die, welche von ihm ausgeht.26
Ob die in der Literatur vorgenommene Auslegung der Angemessenheit unangefochten Sinn macht, kann m. E. in Frage gestellt werden. Es ist folglich
die Gewichtung der Straftat selbst genauer zu beleuchten. Man könnte sich
etwa folgendes Beispiel zur Diskussion im Hinblick auf die Unterbringung
vorstellen: Ein 13-jähriger Junge wird zum wiederholten Mal beim Stehlen
von T-Shirts in einer Kleiderboutique erwischt. Die familiäre Situation des
Jungen erweist sich in der Untersuchung durch die Jugendanwaltschaft als
verheerend. Beide Eltern sind schwer alkoholabhängig und vernachlässigen
ihre Erziehungsarbeit. Einerseits schenken sie dem Jungen keine Aufmerksamkeit und andererseits teilen sie in willkürlich anmutenden Momenten
Schläge aus. Abschliessend verweigern die Eltern auch jegliche Zusammenarbeit mit der Jugendanwaltschaft.
21
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3.
22
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 144.
23
vgl. BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 3.
24
etwa von AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121.
25
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 20 vor Art. 1.
26
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 121.
6
Hier wäre wohl jede mildere Schutzmassnahme als die Unterbringung weder
geeignet noch ausreichend, da bei milderen Massnahmen die Zusammenarbeit mit den Eltern vonnöten wäre. Weiter kann das Erziehungsbedürfnis des
Jungen als klar erstellt betrachtet werden. Die stationäre Unterbringung wäre
also geeignet, erforderlich und im Hinblick auf die erzieherischen Probleme
des Jugendlichen angemessen. Doch stellt sich die Frage, ob hier nicht doch
die Straftat an sich ein höheres Gewicht für die Angemessenheitsprüfung
erhalten sollte. Mit REHBERG ist festzuhalten, dass eine strafrechtliche
Fremdplatzierung nur dann erfolgen sollte, wenn das Delikt eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überstiegen hat.27 Schlussendlich wird der Junge im
Beispielfall wohl zu Recht nicht verstehen, weshalb er wegen einigen gestohlenen T-Shirts womöglich mehrere Jahre stationär untergebracht werden
könnte. Jugendliche empfinden Schutzmassnahmen nämlich regelmässig als
Strafen.28 Bei Bagatelldelikten im Zusammenhang mit erheblichen Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen wäre daher m. E. eine zivilrechtliche
Massnahme angebrachter. Die Jugendstrafbehörde kann in Anwendung von
Art. 20 Abs. 1 lit. a JStG die Anordnung einer Massnahme bei der Kindesschutzbehörde beantragen oder unter den Voraussetzungen von Abs. 2 sogar übertragen. Es sollte trotz zugegebenermassen vergleichbarem Ergebnis
und trotz der pädagogischen Ausrichtung der Schutzmassnahme m. E. nicht
sein, dass ein Jugendlicher in solchen Fällen unter dem Vorwurf von persönlicher strafrechtlicher Schuld fremdplatziert werden kann.
Auf den Beispielsfall angesprochen, meint BURKHARDT, dass hier „auf jeden
Fall“ eine zivilrechtliche Massnahme angebrachter wäre.29 Im Bagatellbereich sei eine Unterbringung eher bei Gewaltdelikten angemessen, wobei
eine Tätlichkeit u. U. genügen könne.30 GÜRBER und HATT hingegen erklären
27
Jedoch unter dem Vorbehalt, dass das Delikt nicht auf einer „besonders gravierenden Persönlichkeitesstörung“ beruht, REHBERG, S. 200.
28
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S.133.
29
BURKHARDT, Anhang 1, S. 2 f.
30
BURKHARDT, Anhang 1, S. 3.
7
im Interview, dass sie bei Bagatelldelikten v. a. auf den Willen des Jugendlichen selbst abstellten.31 Gerade in Fällen, wo ein Jugendlicher das Vertrauen gefasst habe zu äussern, er wolle sich seinen familiären Verhältnissen
entziehen, sei es laut GÜRBER „absolut daneben“, den Jugendlichen noch
den Kindesschutzbehörden zu übergeben.32 HATT führt ihrerseits jedoch an,
dass sie den Weg über die zivile Behörde doch als den ersten Weg befürworten würde.33 Es stellt sich also bei Bagatelldelikten im Zusammenhang mit
erheblichen Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen schliesslich die Frage, ob man das Kindeswohl im engen und vielleicht kurzfristigen Sinn oder
eine dogmatisch klarere Abgrenzung höher gewichtet. Eine Bagatellgrenze
scheint m. E. gerade für Straftaten ohne Gewaltkomponente aufgrund einer
saubereren Angemessenheits-Auslegung dogmatisch mindestens prüfenswert.
2.2
Geschlossene Unterbringung
Für die eingriffsintensivste aller jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen,
nämlich für die geschlossene Unterbringung, gelten einerseits selbstverständlich alle Voraussetzungen, die bereits für die offene Unterbringung aufgeführt wurden.
Weiter sieht Art. 15 Abs. 2 JStG weitere alternative Voraussetzungen vor:
Lit. a bestimmt einerseits, dass die geschlossene Unterbringung angeordnet
werden kann, wenn sie „für den persönlichen Schutz […] des Jugendlichen
unumgänglich ist“. Hier muss eine Selbstgefährdung vorliegen, welche ein
erhebliches Mass erreicht.34 Die Botschaft vom 21. September 1998 zum
31
GÜRBER, Anhang 2, S. 21 f.; HATT, Anhang 3, S. 41.
32
GÜRBER, Anhang 2, S. 21 f.
33
HATT, Anhang 3, S. 42.
34
HOLDEREGGER, Rz. 566.
8
neuen Jugendstrafgesetz erwähnt hier etwa Suizidalität des Jugendlichen als
einen ausreichenden Grund für eine geschlossene Unterbringung.35
Andererseits sieht Art. 15 Abs. 2 lit. a JStG alternativ vor, dass das geschlossene Setting möglich ist, falls es „für die Behandlung der psychischen Störung des Jugendlichen unumgänglich ist“. Das Bundesgericht führt hierzu in
einem Urteil vom 15. Februar 2011 aus, dass die Anordnung einer geschlossenen Unterbringung möglich sein soll, wenn ein Jugendlicher in einer milderen Schutzmassnahme stets entweiche, und so nicht sichergestellt werden
könne, dass er die erforderliche psychotherapeutische Behandlung erhalte.36
Art. 15 Abs. 2 lit. b JStG wechselt die Perspektive und geht zu der möglichen
Fremdgefährdung über.37 Als letzte Alternative darf die geschlossene Unterbringung nämlich angeordnet werden, wenn sie „für den Schutz Dritter vor
schwer wiegender Gefährdung durch den Jugendlichen notwendig ist“. Die
Botschaft hält hier fest, dass vom Jugendlichen aufgrund seiner persönlichen
Verhältnisse und auf die verübten Straftaten zu erwarten sein muss, dass er
nach einer Flucht schwer wiegende Straftaten wie einen Raub oder eine
Vergewaltigung begehen werde.38 Von HOLDEREGGER wird hier abstrahierend
vorgeschlagen, dass drohende Verbrechen und Vergehen ausreichen sollten, jedoch drohende Übertretungen nicht genügend schwer wögen.39 Hierzu
ist m. E. die Überlegung anzustellen, ob es dem Sinn der Norm nicht sogar
näher kommen würde, wenn einschränkend ein Verbrechen drohen müsste,
bei welchem die körperliche oder sexuelle Integrität mindestens bedroht oder
gefährdet würde. Ob etwa eine drohende einfache Körperverletzung oder ein
drohender Betrug reichen soll, um einen Jugendlichen u. U. jahrelang geschlossen zu führen, ist mindestens in Zweifel zu ziehen.
35
Botschaft JStG, S. 2234.
36
BGer 1B_32/2011, E. 2.7.
37
HOLDEREGGER, Rz. 564.
38
Botschaft JStG, S. 2234.
39
HOLDEREGGER, Rz. 568.
9
Festgehalten werden muss noch, dass geschlossene Unterbringungen in der
Praxis viel häufiger nur vorübergehend angeordnet werden, und nicht i. S. v.
Art. 15 Abs. 2 JStG dauerhaft bzw. definitiv angelegt werden.40 Am häufigsten werden geschlossene Unterbringungen als Initialphase einer Fremdplatzierung oder als Krisenintervention ausgestaltet, welche etwa drei Monate
dauert.41 HOLDEREGGER nimmt hier an, dass die möglichen ersten drei Aufenthaltsmonate im geschlossenen Setting als Initialphase wegen ihrem kurzfristigen Charakter gar nicht erst als geschlossene Unterbringung i. S. v.
Art. 15 Abs. 2 JStG zu verstehen seien.42 Diese Annahme wird hingegen von
AEBERSOLD in Zweifel gestellt, denn die Einweisung an sich sei ja in einem
solchen Fall (entgegen der Einweisung aufgrund einer Krisenintervention)
sehr wohl auf Dauer angelegt.43
Zur oben44 geführten Diskussion der Verhältnismässigkeit bei Bagatelldelikten ist für die geschlossene Unterbringung noch Folgendes anzubringen:
Wird etwa ein suizidaler Jugendlicher nach einem Bagatelldelikt mit einer
geschlossenen Unterbringung sanktioniert, wird dies gemäss Art. 266 Abs. 3
lit. b StGB ins Schweizerische Strafregister eingetragen. Es ist m. E. zu bemerken, dass ein Strafregistereintrag dem Kindeswohl resp. dem Wohl des
Jugendlichen nicht förderlich ist und somit in Fällen von Bagatelldelikten gerade geschlossene Unterbringungen nicht anzuordnen sind. Allenfalls sind
zivilrechtliche Massnahmen anzuordnen.
Vor jeder definitiven geschlossenen Unterbringung ist gemäss Art. 15 Abs. 3
JStG zwingend eine medizinische oder psychologische Begutachtung anzuordnen, wenn dies nicht schon aufgrund von Art. 9 Abs. 3 veranlasst wurde.
40
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 9.
41
GÜRBER, S. 40.
42
HOLDEREGGER, Rz. 552.
43
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 146.
44
siehe oben 2.2.2.
10
Die Begutachtung sei gemäss Botschaft zum JStG jedoch für die häufigeren
Fälle sofortiger und zeitlich begrenzter Kriseninterventionen, welche i. V. m.
Art. 5 JStG ausgesprochen werden, nicht erforderlich.45
Kinder- und Jugendpsychiater halten hierzu fest, dass eine Begutachtung für
alle Jugendliche, die in die geschlossene Unterbringung genommen werden,
„wenig sinnvoll“ sei, da nicht alle eine ausführliche Begutachtung benötigten.46 Sinnvoller scheine eine systematische, standardisierte Abklärung.47
45
Botschaft JStG, S. 2235.
46
GUTSCHNER et al., S. 48.
47
GUTSCHNER et al., S. 48 mit weiteren Hinweisen.
11
Teil II: Der Vollzug der stationären Unterbringung
3.
Überblick über den Vollzug
3.1
Sozialpädagogische Arbeitsweise
Obwohl gemäss Art. 15 Abs. 1 JStG in der stationären Unterbringung nebst
erzieherischer auch therapeutische Hilfe angeboten werden kann, beschränkt sich dieses Kapitel im Wesentlichen auf die (sozial-)pädagogische
Betreuung.
Traditionell bemüht sich das Jugendstrafrecht einerseits um ein Gleichgewicht zwischen strafender Verantwortungszuweisung und Erziehung, und
zwischen tatbezogenem Unrechtsausgleich und täterbezogener Wiedereingliederung.48 Der Vollzug der stationären Massnahme gestaltet sich in diesem Gleichgewicht sehr interdisziplinär: Es treffen nebst juristischen Denkmodellen namentlich auch sozialpädagogische, forensisch-therapeutische
sowie schul- und berufsbildende Konzepte aufeinander.49 Das Recht und die
Sozialpädagogik sollten somit nicht künstlich gegenüber gestellt werden,
denn das Recht setzt schlicht den Handlungsrahmen für die Sozialpädagogik.50 Da trotzdem gerade aus Sicht der Sozialpädagogik teilweise die „fast
uneingeschränkte Macht“ der Juristen in den Jugendstrafbehörden kritisiert
wird,51 sollen in diesem Unterkapitel auch die sozialpädagogischen Denkmodelle ihren verdienten Platz erhalten. Es soll hier keineswegs ein Anspruch
an Vollständigkeit und Ausgeglichenheit vermittelt werden. Beabsichtigt wird
eher, dem Leser mit juristischem Hintergrund einige Bereiche des sozialpädagogischen Arbeitens in der Unterbringung aufzuzeigen.
48
KUNZ, Jugendgewalt, S. 19.
49
vgl. RUBERTUS, S. 309 f.
50
vgl. TRENCZEK, Kap. 6 Rz. 2.
51
vgl. etwa MAUD PILLER/SCHNURR, S. 106.
12
3.1.1
Ziele und Konzepte
Einleitend soll die Frage beantwortet werden, was denn überhaupt unter Erziehung zu verstehen ist. Erziehung kann verstanden werden als planmässige Tätigkeit zur Formung junger Menschen, die mit all ihren Anlagen und
Kräften zu vollentwickelten, verantwortungsbewussten und charakterfesten
Persönlichkeiten gebildet werden sollten.52 Die Erziehung ist gemäss Art. 2
Abs. 1 JStG nebst dem Schutz wegleitend für die Anwendung des JStG, und
somit auch für den Vollzug der Unterbringung. In der Sozialwissenschaft wird
terminologisch zunehmend von „Intervention“ als von Erziehung oder gar
Resozialisierung gesprochen.53 Intervention meint den bewussten Eingriff in
ein aktuelles Geschehen, welches zum Ziel hat, Kräfte und Fähigkeiten für
alternatives Verhalten zu mobilisieren.54 Hierzu bieten Institutionen wie Jugendheime durch die Herausnahme aus dem bestehenden Milieu die Chance, die Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion Jugendlicher zu modifizieren.55
Wie bereits aus dem ersten Teil dieser Arbeit ersichtlich wird, kann eine Unterbringung einerseits offen ausgestaltet werden, oder sie kann andererseits
im geschlossenen Rahmen stattfinden. Beispielsweise bietet das Jugendheim Lory in Münsingen, welches ausschliesslich weibliche Jugendliche aufnimmt, ein Wohnangebot an, welches von einer geschlossenen, über eine
halbgeschlossene, eine halboffene und eine offene Wohngruppe bis hin zu
einem schlicht begleiteten Wohnen reicht.56
Grossen Wert wird in den Jugendheimen auf einen respektvollen Umgang
und auf die Einhaltung der Regeln gelegt, wobei disziplinarische Massnah-
52
GÜRBER, S. 39.
53
APELT, S. 372.
54
APELT, S. 372.
55
APELT, S. 373.
56
Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 4 ff.
13
men erst eingesetzt werden, wenn die erzieherischen gescheitert sind.57 Oft
müssen Jugendliche im Vollzug lernen, nicht mehr ausschliesslich nach dem
Lustprinzip zu leben, sondern sie müssen sich in ein neues Ganzes einfügen.58
Eine wichtige Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Massnahmenvollzug ist wie in jedem pädagogischen Arbeitsbereich das Beziehungsangebot.59 Dies bedeutet auch, dass für den Jugendlichen erkennbar sein muss,
dass die involvierten Personen einerseits in der Strafverfolgung wie auch im
Vollzug von Schutzmassnahmen am Jugendlichen interessiert sind.60 Die
Massnahme an sich führt nämlich nicht automatisch zu einer nachhaltigen
Verhaltensänderung, sondern es müssen mit den Jugendlichen Lern- und
Veränderungsprozesse erarbeitet werden.61 Stets werden Ziele und Wege
gemeinsam erarbeitet, die u. U. auch wieder überarbeitet werden müssen.62
Beispielgebend will etwa das Jugendheim Prêles, welches ausgeprägt dissoziale männliche Jugendliche als ihre Zielgruppe sieht, hauptsächlich die Förderung der Legalbewährung, der finanziellen Unabhängigkeit und der Sozialkompetenz anstreben.63 Dies soll nebst schulischer und beruflicher Bildung
mit einer Stärkung der Persönlichkeit, einer Begleitung zur schrittweise mehr
zu übernehmenden Selbstverantwortung und natürlich mit individualisierten
Erziehungsmassnahmen und Therapien erreicht werden.64
Das Jugendheim Lory beurteilt die eingewiesenen Jugendlichen durch das
m. E. bemerkenswert detaillierte sogenannte „Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS)“ nach ihrem Alltagsverhalten und Regelumgang, dem Umgang
57
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295.
58
HEBEISEN, Hintergründe und Erfahrungen, S. 74.
59
GÜRBER, S. 39.
60
GÜRBER, S. 39.
61
TRENCZEK, Kap. 6 Rz. 2.
62
GÜRBER, S. 39.
63
Jugendheim Prêles, Portrait.
64
Jugendheim Prêles, Portrait.
14
mit sich selbst und mit den Mitmenschen und nach ihren Erfolgen in der
Schule und/oder am Arbeitsplatz.65 Je nach Beurteilungsergebnis wird so ein
Aufenthalt im Jugendheim kürzer oder länger ausgestaltet oder den Jugendlichen stehen mehr oder weniger Privilegien offen.66 Das Jugendheim Lory
erwähnt in seinem pädagogischen Konzept, dass den Jugendlichen nach
vielen Enttäuschungen im Leben auch wieder Erfolgserlebnisse ermöglicht
werden sollen.67 Dies könne ein Weg sein, der zu mehr Selbstachtung und
Wertschätzung gegenüber Mitmenschen führe.68
All dies zeigt, dass im Vollzug der stationären Unterbringung zunehmend
versucht wird, mit den vorhandenen Ressourcen und Stärken der Jugendlichen zu arbeiten, als dass stets einzig Gewicht auf ihre wie auch immer gearteten Defizite gelegt wird.69 In den Jugendheimen ist weiter eine Tendenz
zu der sogenannten systemischen Arbeitsweise festzustellen.70 Dies bedeutet, dass die Heime nicht ausschliesslich mit den betroffenen Jugendlichen
arbeiten möchten, sondern dass sie auch etwa mittels Coaching das Familien- und Sozialsystem einbeziehen wollen.71 Beispielsweise erwähnt das
Jugendheim Aarburg den systemischen Ansatz explizit in ihrem Leitbild.72
65
Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS), S. 2 ff.
66
Jugendheim Lory, Jugendlichenbeurteilungssystem (JUBS), S. 15 ff.
67
Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 3.
68
Jugendheim Lory, Pädagogisches Konzept, S. 3.
69
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 296.
70
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295.
71
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 295.
72
Jugendheim Aarburg, Leitbild, abrufbar unter:
<https://www.ag.ch/de/dvi/strafverfolgung_strafvollzug/jugendheim_aarburg/portrait_
1/leitbild___konzept/leitbild___konzept_1.jsp>, besucht am 29.12.2012.
15
3.1.2
Konfrontative Pädagogik
Für Jugendliche, welche ein starkes selbst- und fremdschädigendes Männerbild pflegen, ist es unentbehrlich, sich intensiv mit ihren gewaltlegitimierenden Einstellungen auseinander zu setzen und eine sozial angemessene
Werthaltung zu erlernen, die ihnen ermöglicht Reue zu erleben und Verantwortung für ihr Denken und Handeln zu übernehmen.73 Der gewaltbereite
Jugendliche muss also lernen zu verstehen, dass er sich nicht als Opfer seiner Lebensverhältnisse sehen kann, sondern dass er sich als Täter begreifen
muss.74
Das Ziel der in diesem Zusammenhang angewandten sogenannten konfrontativen Pädagogik ist es, die Rückfallwahrscheinlichkeit konkret zu senken
und dem Jugendlichen für die Zukunft die Faktoren bewusst zu machen, welche die Delinquenz in seinem Fall begünstigen können.75 Weiter sollen
Feindbilder abgebaut werden, denn je weniger das Gegenüber als Feind
wahrgenommen wird, desto schwerer fällt es den Jugendlichen aggressiv zu
handeln.76 Nach Abschluss der Unterbringung verfügen sie idealerweise über
neue Entscheidungsspielräume und alternative Verhaltensweisen, um kommende Probleme ohne selbst- und fremdschädigendes Verhalten zu lösen.77
Der aufgebaute Druck in den Institutionen kann jedoch auch dazu führen,
dass die erworbenen Handlungspotenziale nur in der Institution selbst, aber
nicht im anschliessenden Leben in der Freiheit die gewünschte Wirkung entfalten.78
Den jugendlichen Straftätern wird durch diese Arbeitsweise regelmässig ein
wichtiger Teil ihrer Identität weggenommen, weshalb die Mitarbeiter der Einrichtungen in dieser labilen Situation stützend auftreten müssen und eine
73
vgl. RUBERTUS, S. 314.
74
RUBERTUS, S. 313.
75
RUBERTUS, S. 313.
76
W EIDNER, S. 23.
77
RUBERTUS, S. 324.
78
APELT, S. 373.
16
Balance zwischen blindem Vertrauen und immerwährendem Misstrauen finden sollen.79 In der Praxis ist von Wichtigkeit, dass das sozialpädagogische
Personal sich einerseits grundsätzlich mit dem Untergebrachten als Individuum solidarisiert, sich jedoch andererseits vom delinquenten Verhalten entsolidarisiert.80 Dies sollte auch klar machen, dass es in der konfrontativen Pädagogik nicht darum geht, autoritäre Strukturen in einem neuen terminologischen Gewand wiederzubeleben, sondern dass der Beziehungsaufbau nebst
der Konfrontation unabdingbar ist.81
3.2
Jugendheimlandschaft in der Schweiz
Die Unterbringung kann gemäss Art. 15 Abs. 1 JStG namentlich bei Privatpersonen oder in Erziehungs- resp. in Behandlungseinrichtungen durchgeführt werden. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend.82 Weiter möglich
sind etwa auch ein betreutes Wohnen oder reine Wohngemeinschaften.83
Die Jugendheime sind jedoch noch immer von grosser Bedeutung, da dort
die meisten Unterbringungen vollzogen werden.84 Deswegen ist die Jugendheimlandschaft in der Schweiz in diesem Unterkapitel näher zu beleuchten.
Die Deutschschweiz verfügt über ein dichtes Angebot an sozialpädagogischen Einrichtungen, welche u. a. auch Therapien anbieten.85 Diejenigen Jugendheime, welche strafrechtlich verurteilte Jugendliche aufnehmen, neh-
79
vgl. RUBERTUS, S. 315 f.
80
RUBERTUS, S. 312 f.
81
W EIDNER, S. 23.
82
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 5.
83
GÜRBER, Anhang 2, S. 29 f.; HATT, Anhang 3, S. 45.
84
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145.
85
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145.
17
men meist eine grössere Anzahl an Jugendlichen auf, welche zivilrechtlich
eingewiesen wurden.86
In der Schweiz werden die allermeisten Jugendheime offen geführt.
87
Dies
hat zur Folge, dass es vielerorts an geschlossenen Plätzen im Massnahmenvollzug mangelt.88 Weiter bietet keine Institution eine auf längere Dauer angelegte geschlossene Unterbringung an.89 HEBEISEN meint zusätzlich, dass
für bis aufs Äusserste aggressive und gewaltbereite Jugendliche momentan
überhaupt keine wirklich geeignete Einrichtung bestehe.90 Diese Meinung
wird durch die Evaluation des JStG des Jahres 2012 gestützt, wo 88.4% der
befragten Personen der Jugendstrafbehörden angaben, dass sie im Laufe
ihrer beruflichen Tätigkeit Jugendliche getroffen haben, für welche aufgrund
ihrer besonderen Verhaltensauffälligkeit keine geeignete Einrichtung existiert
habe.91
Der Grossteil der Jugendheime wird nicht staatlich geführt, sondern untersteht der Leitung durch gemeinnützige Stiftungen oder Vereine.92 Dies bringt
mit sich, dass das ganze Angebot weder sehr geplant noch koordiniert wirkt
und dass eine wissenschaftliche Evaluation der einzelnen Konzepte der Einrichtungen oft ausgeblieben ist.93 Vor den Reformbemühungen im Massnahmenvollzug ab dem Jahr 2004 war es sogar üblich, dass ganze Jugendheime ihre eingewiesenen Jugendlichen über die Ferien in die Freiheit
schickten, und dies der Sektion Straf- und Massnahmenvollzug des Bundesamtes für Justiz pflichtwidrig nicht gemeldet wurde.94
86
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 286.
87
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 294.
88
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 125.
89
W EIDKUHN, S. 100.
90
HEBEISEN, Hintergründe und Erfahrungen, S. 74.
91
URWYLER/NETT, S. 150.
92
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 145.
93
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 293.
94
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 286 f.
18
Da der Schweiz ein koordinierendes Bundesgesetz über die Jugendhilfe
fehlt, blieb dem Staat zur nötigen Qualitätssicherung nur offen, eine QuasiSteuerung über Subventionsbedingungen einzuführen.95 Die sogenannten
„Justizheime“, welche die Qualitätsstandards und somit Subventionsbedingungen erfüllen, werden seit 2011 im entsprechenden „Verzeichnis der vom
Bundesamt für Justiz anerkannten Erziehungseinrichtungen“96 geführt.97 Anerkennungsvoraussetzungen sind inzwischen etwa die Führung eines 365Tage-Betriebs, die qualifizierte Ausbildung des Personals und dass über ein
Drittel der eingewiesenen Jugendlichen entweder strafrechtlich eingewiesen
werden und/oder eine erhebliche Störung in ihrem Sozialverhalten aufweisen.98 Diese Justizheime weisen im internationalen Vergleich mittlerweile ein
sehr hohes Qualitätsniveau auf und werden durch regelmässige Überprüfung
streng kontrolliert.99
Da das Angebot an Jugendheimen wie aufgezeigt relativ breit gefächert ist,
ist es unabdingbar, dass die Vollzugsbehörden gute Kenntnisse über die verschiedenen Institutionen aufweisen, und dass sie sich auch persönlich ein
Bild von den Einrichtungen machen, indem sie diese auch besuchen und mit
Leitung, Mitarbeiter und Untergebrachten Gespräche führen.100
95
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 293.
96
Verzeichnis der vom Bundesamt für Justiz anerkannten Erziehungseinrichtungen,
abrufbar unter: <http://www.bj.admin.ch/content/dam/data/sicherheit/
straf_und_massnahmen/documentation/heimverzeichnis.pdf>, besucht am
29.12.2012.
97
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 287.
98
Bundesamt für Justiz, Voraussetzung für die Anerkennung der Beitragsberechtigung
als Erziehungseinrichtung im Sinne des LSMG, abrufbar unter:
<http://www.bj.admin.ch/content/dam/data/sicherheit/straf_und_massnahmen/anerke
nnung/anerkennungsvoraussetzung-d.pdf>, besucht am 29.12.2012.
99
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 287.
100
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 15 N 6.
19
3.3
Unterschiede zum Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzuges?
Da sich der Vollzug des Freiheitsentzuges mit der Revision des Jugendstrafrechts von 2003/2007 an den Vollzug der stationären Unterbringung angenähert hat,101 stellt sich die Frage, wo eigentlich noch Unterschiede zu finden
sind. Diese Frage soll in diesem Unterkapitel beleuchtet werden.
Ein frappanter Unterschied ist direkt sichtbar, wenn man den bisherigen Vollzug untersucht: Jugendliche, welche zu einem unbedingten Freiheitsentzug
verurteilt wurden, mussten ihre Strafe bisher i. d. R. in Untersuchungsgefängnissen für Erwachsene absitzen.102 Die Rechtmässigkeit dieser Platzierung
war theoretisch seit 1974 nicht mehr gegeben, jedoch wurde notgedrungen
stets mit Übergangsfristen gearbeitet, da die erforderlichen Einrichtungen nie
errichtet wurden.103 Art. 48 JStG setzt nun erneut eine zehnjährige Frist bis
2017 für die Errichtung der notwendigen Einrichtungen.
Dass eine solch strikte Vollzugsart für Jugendliche überhaupt ermöglicht
wurde, ist m. E. gerade im Hinblick auf entsprechende kriminologische Forschungsergebnisse bezüglich Rückfallgefahr104 bedenklich. Zusammenfassend kann nämlich gesagt werden, dass die Rückfallraten ansteigen, wo die
Härte der Sanktion zunimmt.105 Ebenso wird dies statistisch in der Evaluation
des JStG eindrücklich für verschiedene europäische Länder, die Schweiz
eingeschlossen, dargelegt.106
Gerechterweise muss man für diesen Vergleich jedoch anbringen, dass auch
stationäre Unterbringungen noch heute zu Teilen in Bezirks- oder Regional-
101
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 184.
102
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 289.
103
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 185.
104
vgl. übersichtsmässig KUNZ, Kriminologie, § 26 Rz. 14.
105
KUNZ, Kriminologie, § 26 Rz. 15.
106
URWYLER/NETT, S. 36.
20
gefängnissen vollzogen werden.107 Das Bundesgericht stützte in einem Urteil
vom 12. Mai 2006 eine vorübergehende Unterbringung eines Jugendlichen in
einem Bezirksgefängnis zur Überbrückung einer Notsituation, solange diese
Platzierung nicht monatelang anhalte.108 Das Bundesgericht hielt jedoch fest,
dass in Strafvollzugsanstalten oder Gefängnissen der Massnahmenzweck
der Unterbringung nicht oder nur sehr eingeschränkt zu erreichen sei.109
HATT erwähnt hierzu im Interview, dass das Massnahmenzentrum Uitikon
etwa eine Wartefrist von 6 Monaten bis zu einem Jahr führe, was zur Folge
haben könne, dass man einen Jugendlichen in einem Gefängnis unterbringen müsse.110 Dies geschehe durchaus im Wissen, dass dies der „völlig falsche Ort“ sei, da ein Jugendlicher dort keinerlei Förderung erhalte.111
Ein klarer Unterschied ist de lege lata festzustellen, wenn man die stationäre
Unterbringung mit dem Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzuges
von unter einem Jahr vergleicht: Art. 27 Abs. 1 JStG hält nämlich fest, dass
Freiheitsentzüge unter einem Jahr in Form der Halbgefangenschaft i. S. v.
Art. 77b StGB vollzogen werden können. Art. 77b Satz 2 StGB hält hierzu
fest: „Der Gefangene setzt dabei seine Arbeit oder Ausbildung ausserhalb
der Anstalt fort und verbringt die Ruhe- und Freizeit in der Anstalt“. Die ratio
hinter der Halbgefangenschaft ist nämlich, dass der Betroffene nicht aus der
Schul- oder Arbeitswelt desintegriert wird.112 Die stationäre Unterbringung
hingegen ist nicht in Form der Halbgefangenschaft zu vollziehen. Dies würde
schon dem pädagogischen Sinn und Zweck der Schutzmassnahme zuwider
laufen.113 Im Weiteren wird die stationäre Unterbringung deshalb sinnvoller-
107
GÜRBER, Anhang 2, S. 25; HATT, Anhang 3, S. 55.
108
BGer 6A.20/2006, E. 4.5.
109
BGer 6A.20/2006, E. 4.2.
110
HATT, Anhang 3, S. 55.
111
HATT, Anhang 3, S. 55.
112
vgl. BAECHTOLD, Kap. II/5, Rz. 45.
113
vgl. HOLDEREGGER, Rz. 582 f.
21
weise mit dem Vollzug von Freiheitsentzügen verglichen, bei welchem die
Jugendlichen auch ihre Freizeit in der Einrichtung verbringen müssen.
Künftig sollten die Einrichtungen des Jugendstrafvollzuges den Anforderungen von Art. 27 Abs. 2-5 JStG gerecht werden.114 Abs. 2 verlangt etwa die
individuelle persönliche Betreuung und die Vorbereitung auf die soziale Eingliederung nach der Entlassung. Abs. 3 verlangt die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und die schulische oder berufliche Bildung, welche bevorzugt ausserhalb der Vollzugsanstalt stattfinden soll. Abs. 4 verlangt weiter, dass auch Therapien angeboten werden müssen, wo dies individuell angezeigt ist. Das JStG fordert also klar qualifiziertes sozialpädagogisches Personal und ein therapeutisches Instrumentarium im Strafvollzug.115 Eine klare
und deutliche Abgrenzung zwischen jugendstrafrechtlichem Freiheitsentzug
und stationärer Unterbringung ist somit für den Vollzugsalltag nicht mehr
möglich.116 Pragmatisch betrachtet gibt es in der gesetzeskonformen Praxis
nur noch einen Unterschied zwischen dem Vollzug der Unterbringung und
dem Vollzug des Freiheitsentzuges: Der mit Freiheitsentzug belegte Jugendliche hat einen gerichtlich festgelegten Endtermin, und der mit einer Unterbringung belegte Jugendliche muss im Vornherein zeitlich unbegrenzt bis
maximal zu seinem beendeten 22. Altersjahr in der Einrichtung verbleiben.117
Dieser Unterscheid wurde sogar verstärkt, da seit 2007 die bedingte Entlassung aus dem jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug gemäss Art. 28 Abs. 1
JStG bereits ab der Hälfte der vollzogenen Strafe möglich ist.118
Da der Gesetzgeber also ähnliche bis gleiche Programme fordert wie im
Massnahmenvollzug, verfügt momentan und in naher Zukunft v. a. das Mas-
114
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 290.
115
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 183.
116
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 184.
117
RUBERTUS, S. 309.
118
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 188.
22
snahmenzentrum Uitikon über eine geeignete Infrastruktur für längere jugendstrafrechtliche Freiheitsentzüge.119 Im Massnahmenzentrum Uitikon
werden nebst stationären Unterbringungen und jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzügen auch Massnahmen für junge Erwachsene i. S. v. Art. 61 StGB
vollzogen.120 Die Kombination mit Angeboten für junge Erwachsene ist für die
laufenden Projekte neuer Einrichtungen der Normalfall.121 Momentan
herrscht jedenfalls noch ein akuter Mangel an geeigneten Vollzugsplätzen.122
Unterschiede könnten jedoch weiter etwa im Bereich der Disziplinarmassnahmen gesucht werden. Art. 16 Abs. 2 JStG hält fest, dass ein untergebrachter Jugendlicher aufgrund einer disziplinarischen Massnahme nicht länger als sieben Tage ununterbrochen von den anderen Jugendlichen getrennt
werden darf. Sucht man eine entsprechende Regelung für die den Freiheitsentzug, so wird man im JStG nicht fündig. Die für das Erwachsenenstrafrecht
einschlägige Regel zum Disziplinarrecht in Art. 91 StGB ist im Jugendstrafrecht mit Blick auf Art. 1 JStG auch nicht anwendbar. Dass Disziplinarmassnahmen für Jugendliche im Freiheitsentzug jedoch ebenso notwendig sein
können wie für massnahmenbedürftige Jugendliche, liegt m. E. auf der Hand.
Es stellt sich somit die Frage, ob Disziplinarmassnahmen im jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug schlicht gestützt auf kantonales Straf- und Massnahmenvollzugsrecht angewendet werden. Für das Massnahmenzentrum
Uitikon wurde mir auf schriftliche Anfrage hin genau diese Vorgehensweise
von GREGOR TÖNNISSEN, dem Leiter der geschlossenen Abteilung, bestätigt.123 Die gesetzlichen Grundlagen fänden sich im Straf- und Vollzugsgesetz
und in der Justizvollzugsverordnung des Kantons Zürich. Für die Jugendlichen bedeutet dies im Ergebnis für den Arrest, dass dieser gemäss § 53 der
Hausordnung des Massnahmenzentrums Uitikon für einen Jugendlichen im
119
RUBERTUS, S. 309.
120
RUBERTUS, S. 309.
121
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 291.
122
JOSITSCH/MURER, S. 1101.
123
Mail des Massnahmenzentrums Uitikon, Anhang 4, S. 57.
23
Freiheitsentzug 13 Tage länger dauern kann als für einen Jugendlichen in
der stationären Unterbringung.124
Falls der Freiheitsentzug länger als einen Monat dauern soll, so begleitet
gemäss Art. 27 Abs. 5 JStG eine von der Einrichtung unabhängige Person
den Jugendlichen und hilft ihm, seine Interessen wahrzunehmen. Diese unabhängige Begleitperson wird in der Literatur „Vertrauensperson“125 und in
der Botschaft zum JStG „Ombudsperson“126 genannt. Die Vertrauensperson
soll dem Jugendlichen Kontakt zu jemandem ermöglichen, welcher dessen
Angelegenheiten nicht aus einer speziell fachlichen oder institutionellen Perspektive wahrnimmt.127 Weiter soll sie notfalls den Jugendlichen in seinen
berechtigten Anliegen vertreten.128 Eine Vertrauensperson ist für die stationäre Unterbringung nicht vorgesehen.
124
Hausordnung Massnahmenzentrum Uitikon, S. 13, abrufbar unter:
<http://www.justizvollzug.zh.ch/internet/justiz_inneres/juv/de/ueber_uns/organisation/
mzu/grundlagen/_jcr_content/contentPar/downloadlist_1290498838155/downloadite
ms/hausordnung_mzu.spooler.download.1289044176468.pdf/Hausordnung_MZU.
pdf>, besucht am 29.12.2012.
125
etwa von AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187.
126
Botschaft JStG, S. 2252.
127
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187.
128
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 187.
24
Teil III: Die Beendigung der stationären Unterbringung
4.
Voraussetzungen für die Beendigung
4.1
Beendigung im Fall des Erfolges
Art. 19 Abs. 1 JStG bestimmt einerseits, die Schutzmassnahme sei aufzuheben, „wenn ihr Zweck erreicht ist“ und dass die entsprechende Prüfung jährlich zu erfolgen hat. Diese wird von Amtes wegen durchgeführt.129
Eine Zweckerreichung resp. der Erfolg der Schutzmassnahme ist anzunehmen, wenn der massnahmenbedürftige Zustand des Jugendlichen weitgehend beseitigt wurde und eine Rückfallgefahr mit erhöhter Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen werden kann.130 Für den erziehungsbedürftigen Jugendlichen sollte sich also seine gesellschaftliche Integration dahin gehend entwickelt haben, dass er keiner erzieherischen Betreuung mehr bedarf und für
den behandlungsbedürftigen Jugendlichen sollten aufgrund der eingetretenen Besserung keine therapeutische Massnahmen mehr nötig sein.131
4.2
Beendigung im Fall des Misserfolges
4.2.1
Sinn- und Zwecklosigkeit
Des Weiteren regelt Art. 19 Abs. 1 JStG die Beendigung der Schutzmassnahmen, und somit auch der Unterbringung, wenn „feststeht, dass sie keine
erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen mehr entfaltet“.
Diese Möglichkeit der Beendigung bei Sinn- und Zwecklosigkeit war vor dem
Inkrafttreten des JStG im Jahre 2007 nicht im Gesetz festgehalten. 132 Trotz
129
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153.
130
HOLDEREGGER, Rz. 850.
131
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 2.
132
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153.
25
der Absenz einer solchen Regelung mussten in der Praxis jedoch auch vor
dem Jahre 2007 schon Massnahmen wegen Zwecklosigkeit aufgehoben
werden.133 Der Neuregelung steht das Schrifttum grösstenteils positiv gegenüber.134 Kritischer hingegen äussert sich BURKHARDT, denn er hält die
neue Beendigungs-Regelung gerade wegen ihrer Bedingungslosigkeit als
„weitere neue Hürde“.135
Es stellt sich nun die Frage, wann eine Unterbringung als gescheitert erklärt
werden muss. Dies trifft etwa zu, wenn sich der Jugendliche gegen alle Beeinflussungs- oder Behandlungsversuche in der Unterbringung wehrt, sich
als unzulänglich erweist und auch eine Versetzung in eine andere Institution
oder eine Änderung in eine mildere Schutzmassnahme keinen Sinn ergibt.136
Die Stimmen der Literatur, welche das Thema vertiefen, fordern eine restriktive Anwendung dieser Beendigung wegen Sinn- und Zwecklosigkeit.137 Hier
sei die Beharrlichkeit und Geduld der Vollzugsbehörden gefragt, welche stets
das Ziel der Intervention im Auge behalten müssten, nämlich die Unterbrechung einer kriminellen Karriere.138 Dies würden die Vollzugsbehörden explizit aufgrund von Art. 2 Abs. 1 JStG, dem Schutz- und Erziehungsgedanken
als Leitprinzip schulden.139 Der Beendigungs-Entscheid sei somit nicht leichtfertig zu treffen, nur weil etwa eine Einrichtung die weitere Betreuung eines
Jugendlichen ablehne.140 Gewisse Anbieter stellen nämlich schwierige jugendliche Klienten nur allzu schnell „zur Disposition“, oder Vollzugsbehörden
verzichten gar aus Kostengründen auf eine Weiterführung einer Unterbrin-
133
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 3.
134
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4; HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194;
HOLDEREGGER, Rz. 891; W EIDKUHN, S. 127.
135
BURKHARDT, S. 29.
136
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153.
137
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4;
HOLDEREGGER, Rz. 852.
138
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 4.
139
HOLDEREGGER, Rz. 852.
140
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 153.
26
gung.141 Weiter sei die Unterbringung auch nicht zwingend zu beenden, nur
weil der Jugendliche in der Schutzmassnahme erneut delinquiere, sondern
es seien differenzierend die konkreten Umstände zu berücksichtigen.142 In
der Praxis sei es somit auch so, dass renitentes Verhalten nur selten eine
Beendigung der Unterbringung zur Folge habe.143
Es gibt jedoch zweifellos Jugendliche, bei welchen die Auseinandersetzung
mit ihrem Delikt nie effektiv stattfinden kann, oder solche, die die gewährten
Vollzugsöffnungen stets missbrauchen oder weitere Jugendliche, bei welchen jegliche Motivationsgespräche schlicht nichts mehr nützen.144 Einige
Jugendliche kommen auch nie aus ihrer Opferhaltung heraus oder sie passen sich in der Unterbringung stets nur oberflächlich an, was unter dem
Strich auch zu einer Beendigung aufgrund von Sinn- und Zwecklosigkeit führen kann.145
Das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 12. Mai 2006 zur Frage der Sinnund Zwecklosigkeit eine m. E. grundsätzlich zu begrüssende restriktive Auslegung vorgenommen: Das Bundesgericht fand „keine Anhaltspunkte“ für das
Vorliegen der Sinn- und Zwecklosigkeit bei einem Jugendlichen, bei welchem
sich der Unterbringungsvollzug als äusserst schwierig gestaltet hat und daher verschiedene Platzierungen in Wohngruppen, Kliniken und Heimen und
gar Kriseninterventionen in Bezirksgefängnissen vonnöten waren.146 Ob der
Entscheid noch heute so ausfallen würde, ist m. E. zumindest deswegen in
Frage zu stellen, da im Urteilszeitpunkt im Schweizerischen Jugendstrafrecht
noch das monistische System, und noch nicht das dualistische-vikariierende
System147 verankert war.
141
vgl. HOLDEREGGER, Rz. 852.
142
HOLDEREGGER, Rz. 854.
143
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124.
144
RUBERTUS, S. 322.
145
vgl. RUBERTUS, S. 323.
146
BGer 6A.20/2012, E. 5.6.
147
siehe unten 5.1.1.
27
4.2.2
Erreichen der absoluten Altersgrenze
Gemäss Art. 19 Abs. 2 JStG enden alle Massnahmen mit dem Erreichen des
22. Altersjahres.
Obwohl diese Altersgrenze bereits im alten Jugendstrafrecht bestand, 148 ist
sie doch in dem Sinne neu, als die sogenannte „qualifizierte Heimeinweisung“ mit der Möglichkeit der Fremdplatzierung bis maximal zum vollendeten
25. Altersjahr mit dem Inkrafttreten des JStG 2007 gestrichen wurde.149 Nur
Proteste aus der Praxis konnten den Bundesrat davon abhalten, die absolute
Altersgrenze nicht sogar auf 18 Jahren festzulegen, wie dies bei den zivilrechtlichen Massnahmen der Fall ist.150
Diese heutige absolute Altersgrenze von 22 Jahren für Schutzmassnahmen
wird in der Literatur breit und teils heftig kritisiert.151 Die Evaluation des JStG
im Jahr 2012 hat ergeben, dass in der Praxis 75.8% der befragten Personen
die Neuregelung als negativ oder eher negativ bewerten.152
Wertet man die (wenigen) evidenzbasierten Studien zur Behandlung von jugendlichen Straftätern aus, muss gesagt werden, dass keine „quick fix“Methode Wirkung zeigt, sondern es müssen strukturierte Programme zum
Einsatz kommen, welche über mehrere Jahre dauern können.153 Für die Praxis kann folglich festgehalten werden, dass stationäre Unterbringungen
i. d. R. erst nach mehreren Jahren beendet werden.154 Die für die Evaluation
des JStG befragten Personen der Jugendstrafbehörden gaben daher an,
148
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 14.
149
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 17.
150
BURKHARDT, S. 29.
151
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 154; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 19 N 17;
HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 193; HOLDEREGGER Rz. 858; JOSITSCH/MURER,
S. 1097; RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30.
152
URWYLER/NETT, S. 111.
153
MANETSCH MADLEINA, Behandlung jugendlicher Straftäter – Evidenz und Effektivität,
in: KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern 2010, S. 267.
154
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124.
28
dass die absolute Altersgrenze gerade dann problematisch ist, wenn ältere
Jugendliche die stationäre Schutzmassnahme erst kurz vor Erreichen der
Volljährigkeit antreten können.155 Speziell im Vergleich mit einem volljährigen
Mittäter können sich krass ungleiche Sanktionsmöglichkeiten ergeben: Würde etwa ein 18-Jähriger mit seinem 17-jährigen Kollegen einen Mord begehen, muss der 18-Jährige gemäss Art. 112 StGB mit einer Freiheitsstrafe
nicht unter zehn Jahren und einer allfälligen Verwahrung rechnen, wobei der
17-Jährige nebst dem auszusprechenden Freiheitsentzug maximal bis zur
Vollendung seines 22. Altersjahrs stationär untergebracht werden könnte.156
Deshalb machen sich einige Stimmen in der Literatur dafür stark, die absolute Altersgrenze mindestens bei besonderen Fällen von 22 auf 25 Jahre anzuheben.157 Die absolute Altersgrenze von 22 Jahren trage wohl weder der
öffentlichen Sicherheit, noch den Bedürfnissen der betroffenen Jugendlichen
selbst genügend Rechnung.158 Dem ist m. E. grundsätzlich zuzustimmen.
Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das Austrittsalter 22 nämlich eher
früh angesetzt.159 Zusätzlich scheint eine Erhöhung auf 25 Jahre auch kriminologisch sinnvoll, da sich die deutlich „kritischste Phase“ erneuter Verurteilungen zwischen 19 und 25 ansiedelt.160 Die Erhöhung würde letztlich ermöglichen, dass im Speziellen behandlungsbedürftige Jugendliche ihre Behandlung optimal weiterführen und so ihre Rückfallgefahr gesenkt werden kann.161
Die wenigen Gegner einer allfälligen Erhöhung der absoluten Altersgrenze
führen in den Befragungen zur Evaluation des JStG an, dass wer bis 22 die
155
URWYLER/NETT, S. 111.
156
vgl. HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 193.
157
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 154; HOLDEREGGER, Rz. 892; JOSITSCH/MURER, S.
1097 f.
158
HOLDEREGGER, Rz. 892.
159
AEBERHARD, S. 267.
160
vgl. KERNER HANS-JÜRGEN, Von der Wiege bis zur Bahre… (Einmal kriminell, immer
kriminell), in: KUHN ANDRÉ et al. (Hrsg.), Junge Menschen und Kriminalität, Bern
2010, S. 293 f.
161
JOSITSCH/MURER, S. 1098.
29
erhoffte Verhaltensänderung nicht vollziehen könne, diese wohl auch bis 25
nicht vollziehen könne, da mit zunehmendem Alter die notwendige Motivation
sowieso abnähme.162 Obwohl sich GÜRBER im Ergebnis nicht gegen die Erhöhung ausspricht, äussert er gleichwohl m. E. interessante Bedenken im
Interview: Es könne sein, dass wegen der Erhöhung auf 25 dann Berufslehren von gewissen Jugendlichen bewusst hinausgezögert werden könnten.163
Dies könne gerade bei Jugendlichen, die sich bei der Jugendanwaltschaft
sehr gut aufgehoben fühlten, einen gewissen Hospitalismus fördern.164
Als einzige jugendstrafrechtliche Änderung in der angestrebten Änderung
des Sanktionenrechts will der Bundesrat nun die absolute Altersgrenze bei
Schutzmassnahmen Jugendlicher generell von 22 auf 25 anheben.165
Eine m. E. prüfenswerte Idee äussert GÜRBER im Interview: Ambulante
Schutzmassnahmen sollten auch über die absolute Altersgrenze von 22 oder
eben 25 Altersjahren hinauslaufen dürfen.166 Es sei verständlich, dass für die
stationäre Unterbringung eine fixe Altersgrenze installiert werden müsse, jedoch könnte eine ambulante Weiterführung gerade bei Fällen grosser Rückfallgefahr entgegen wirken.167
Welche Instrumente sonst nach dem Erreichen der absoluten Altersgrenze
greifen oder greifen könnten, wird in den Kapiteln 5.1.2 und 5.5.2 diskutiert.
162
URWYLER/NETT, S. 112.
163
GÜRBER, Anhang 2, S. 32.
164
GÜRBER, Anhang 2, S. 32 f.
165
Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Änderungen des Sanktionenrechts), BBl 2012 4721 ff., S. 4754.
166
GÜRBER, Anhang 2, S. 34.
167
GÜRBER, Anhang 2, S. 34.
30
5.
Mögliche Folgen der Beendigung
5.1
Weiterführender Freiheitsentzug
5.1.1
Vollzug des jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzugs
Jugendliche, die massnahmenbedürftig sind und schuldhaft gehandelt haben, sind gemäss Art. 11 Abs. 1 JStG grundsätzlich168 zusätzlich mit einer
Strafe zu belegen. Für das Zusammentreffen von Unterbringung und Freiheitsentzug regelt Art. 32 Abs. 1 JStG den Vorrang des Unterbringungsvollzuges. Art. 32 Abs. 3 JStG hält zusätzlich fest, dass der dualistisch ausgesprochene Freiheitsentzug noch vollzogen werden kann, wenn die Unterbringung als Misserfolg erklärt wird und beendet werden muss. Der Behörde eröffnen sich drei Varianten des Vorgehens: Entweder entscheidet sie, dass
der Freiheitsentzug gänzlich noch zu vollziehen sei, dass allenfalls nur ein
Teil des Freiheitsentzugs noch zu vollziehen sei, oder sie entscheidet gar auf
vollen Verzicht eines Strafvollzugs.169 Im Hinblick auf das freie Ermessen der
Jugendstrafbehörde ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Gründe
zum Abbruch geführt haben, wie sich die Kriminalprognose gestaltet und
welche Vorgehensweise im Einzelfall schliesslich pädagogisch am sinnvollsten erscheint.170
Das System, dass zwar die Unterbringung gegenüber dem Freiheitsentzug
den Vorrang geniesst, bei dem Scheitern der Unterbringung jedoch der Freiheitsentzug u. U. noch zu vollziehen ist, wird als „vikariierend“ bezeichnet.171
Vor 2007 war es hingegen grundsätzlich nur möglich, im monistischen Sinne
entweder eine Strafe oder eine Massnahme auszusprechen.172
Das dualistisch-vikariierende System wird von Kinder- und Jugendpsychiatern als „sehr sinnvoll“ bezeichnet, da gerade durch die äusserlich sichtbare
168
Vorbehalten sind die Strafbefreiungsgründe in Art. 21 JStG.
169
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 32 N 6.
170
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194 f.
171
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 94.
172
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 93.
31
Strafe dem Jugendlichen so Grenzen gesetzt werden können, durch welche
sich „reife innere Strukturen“ bilden könnten.173
In der Jugendstrafrechtspraxis regt sich hingegen Widerstand gegen das dualistisch-vikariierende System: 67.4% der befragten Personen der Jugendstrafbehörden gaben in der Evaluation des JStG an, dass sie die spezialpräventive Wirkung dieser Bestimmung für negativ erachten.174 BURKHARDT kritisiert, dass sich der Druck, sich auf eine stationäre Massnahme einzulassen,
durch
den
Systemwechsel
vom
vikariierende System vermindert habe.
monistischen
auf
das
dualistisch-
175
Art. 32 Abs. 3 JStG hält fest, dass die mit der Unterbringung verbundene
Freiheitsbeschränkung anzurechnen ist. Der Umfang dieser Anrechnung hat
sich daran zu auszurichten, in welchem Ausmass in der Unterbringung eine
Beschränkung der persönlichen Freiheit vorgenommen wurde.176 Um dieser
Regel ein Gesicht zu geben, ist hier die Vorgehensweise des Kantons Bern
aufzuzeigen: Im Kanton Bern werden geschlossene Unterbringungen zu
100% und offene Unterbringungen in Jugendheimen zu 75% an den zu vollziehenden Freiheitsentzug angerechnet.177 Unterbringungen in Wohngemeinschaften oder in Lehrlingsheimen werden zu 50%, und Unterbringungen
in Familien zu 25% angerechnet.178 GÜRBER schlägt für die Anrechnung im
Interview vor, geschlossene Unterbringungen zu 100%, die Unterbringung in
traditionellen Jugendheimen wie Prêles oder Aarburg zu zwei Dritteln, und
die lockerer betreute Unterbringung bzw. das einzelbetreute Wohnen zu einem Drittel anzurechnen.179
173
GUTSCHNER et al., S. 55.
174
URWYLER/NETT, S. 117.
175
BURKHARDT, S. 29.
176
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 32 N 6.
177
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194.
178
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 194.
179
GÜRBER, Anhang 2, S. 29 f.
32
Keine Äusserungen finden sich in Art. 32 Abs. 3 JStG über den Zeitpunkt der
effektiven Anrechnung. In der Botschaft zum JStG finden sich bei Art. 31 des
JStG-Entwurfes ebenso keine Angaben.180 Das Bundesgericht hat in
BGE 137 IV 7 entschieden, dass nur im Falle einer Änderung oder Aufhebung im Sachurteil über die Anrechnung zu befinden sei, ansonsten sei erst
nach der Beendigung der Massnahme zu entschieden.181
Grundsätzlich eröffnet Art. 37 Abs. 2 JStG die Möglichkeit, Jugendstrafen bis
zur Vollendung des 25. Altersjahres zu vollziehen, also über die absolute Altersgrenze der Schutzmassnahmen von 22 Altersjahren gemäss Art. 19
Abs. 2 JStG hinaus. Da die mit der Unterbringung verbundene Freiheitsbeschränkung an den jugendstrafrechtlichen Freiheitsentzug anzurechnen ist,
bleibt jedoch i. d. R. nur noch eine geringfügige oder keine Reststrafe zum
Vollzug mehr übrig.182 Genau rechnende und sich einer wirklichen Veränderung verschliessende Untergebrachte können die Schutzmassnahme daher
auf den Tag genau zum Scheitern bringen, wo die Zeit aus der Unterbringung bereits derart angerechnet wird, so dass kein Strafvollzug mehr möglich
ist.183 In den Interviews wird jedoch von allen Jugendanwälten klargestellt,
dass zwar teilweise grosser Widerstand geleistet wird, dass dieser jedoch
nicht oder nur selten gezielt oder berechnend auf den Abbruch der Schutzmassnahme hin ausgelegt sei.184 Das Problem des gezielten Sabotierens der
Unterbringung kommt gemäss Befragungen der Jugendstrafbehörden bei
geschätzten 15% aller untergebrachten Jugendlichen vor. 185 GÜRBER erklärt
hierzu, dass dies eher am Anfang der Unterbringung vorkomme, was jedoch
im Hinblick auf die Lebenslagen der Jugendlichen auch durchaus verständ-
180
vgl. Botschaft JStG, S. 2255 f.
181
BGE 137 IV 7 E. 1.6.2 S. 13.
182
JOSITSCH/MURER, S. 1098.
183
RUBERTUS, S. 322.
184
BURKHARDT, Anhang 1, S. 10; GÜRBER, Anhang 2, S. 28; HATT, Anhang 3, S. 47.
185
URWYLER/NETT, S. 117 f.
33
lich sei.186 Schlussendlich ist der klar begrenzte Freiheitsentzug für Jugendliche aber tatsächlich regelmässig bequemer als die zeitlich unbegrenzte Unterbringung, bei welcher zusätzlich eine ständige Auseinandersetzung im
Vollzug Tatsache ist.187 Es kann somit davon ausgegangen werden, dass der
drohende Freiheitsentzug seine erzieherische Wirkung verliert, wenn der Jugendliche damit rechnen kann, dass der Vollzug nach einer gewissen Aufenthaltsdauer in der Unterbringung ohnehin hinfällig wird, ganz egal ob die
Unterbringung von Erfolg oder Misserfolg gekrönt wird.188
Auf der anderen Seite werden auch die Jugendstrafbehörden gerade im Hinblick auf den momentanen Zeitgeist wie auch auf Spardruck und Arbeitsbelastung versucht sein, bei Jugendlichen mit erheblichen Schwierigkeiten auf
den weniger arbeitsintensiven Freiheitsentzug umzustellen.189 Bei Schwerstdelikten und insbesondere auch, falls eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegt, werden die Gerichte aber weiterhin nebst dem Freiheitsentzug eine geschlossene Unterbringung anordnen, welche bei renitentem Verhalten nur in Ausnahmefällen als gescheitert erklärt wird. 190
De lege ferenda könnte man sich m. E. überlegen, ob bei jeder noch so hartnäckigen Sabotage der Schutzmassnahme eine volle Anrechnung tatsächlich
zwingend sein soll. BURKHARDT bringt hier im Interview an, dass auch eine
teilweise Anrechnung wenig bringen würde, denn gerade falls bereits Untersuchungshaft oder eine vorsorgliche Unterbringung zu einer definitiven Unterbringung dazu komme, sei der Freiheitsentzug sowieso regelmässig bereits verpufft.191 GÜRBER stellt im Interview ebenso fest, dass praktisch nie
eine Möglichkeit zum Strafvollzug verbleibe.192 Bleibe ein Freiheitsentzug
186
GÜRBER, Anhang 2, S. 28.
187
GÜRBER, S. 39.
188
JOSITSCH/MURER, S. 1098.
189
GÜRBER, S. 39.
190
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 124.
191
BURKHARDT, Anhang 1, S. 12.
192
GÜRBER, Anhang 2, S. 30.
34
übrig, dann sei die Unterbringung wohl sowieso zu früh abgebrochen worden.193 Das Problem des meist hinfällig gewordenen Freiheitsentzugs verschärfe sich laut BURKHARDT gerade bei jugendlichen Sexualstraftätern, welche nicht in den Anwendungsbereich des längeren, bis zu vierjährigen Freiheitsentzugs von Art. 25 Abs. 2 JStG fallen, womit das Druckmittel in der Unterbringung versage.194 Letztlich führt HATT im Interview an, dass bei Jugendlichen, welche in der Unterbringung auf „Kurve“ gingen, um sich so der
Schutzmassnahme zu entziehen, mindestens die Kurventage nicht anzurechnen seien.195
5.1.2
Exkurs: Fürsorgerische Freiheitsentziehung als Rettungsanker?
Es stellt sich insbesondere aus aktuellem Anlass die Frage, ob für rückfallgefährdete junge Erwachsene, welche die absolute Altersgrenze erreicht haben, weitere Möglichkeiten ausserhalb des (Jugend-)Strafrechts bestehen,
mittels derer man der Rückfallgefahr begegnen könnte.196
Art. 19 Abs. 3 JStG ermöglicht eine Beantragung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen, falls der Wegfall einer Schutzmassnahme für den Betroffenen selbst oder für die Sicherheit Dritter mit schwer wiegenden Nachteilen verbunden ist und diesen Nachteilen nicht auf andere Weise begegnet
werden kann. Die Evaluation des JStG hat ergeben, dass 34.9% der befragten Personen der Jugendstrafbehörden bereits gestützt auf Art. 19 Abs. 3
JStG die Anordnung geeigneter vormundschaftlicher Massnahmen beantragt
haben.197 Über die Hälfte dieser zivilrechtlichen Massnahmen betrugen zwar
193
GÜRBER, Anhang 2, S. 30.
194
BURKHARDT, Anhang 1, S. 13.
195
HATT, Anhang 3, S. 48.
196
Die Frage stellte sich prominent beim Fall des Aarauer Prostituiertenmörders, welcher durch das Bundesgericht entschieden wurde in BGer 5A_607/2012 vom 5. September 2012 (zur Publikation vorgesehen).
197
URWYLER/NETT, S. 113.
35
sogenannte Beistandschaften, aber 9.4% der Massnahmen eine fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE).198
Gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB darf „eine mündige oder entmündigte Person
[…]
wegen
Geisteskrankheit,
Geistesschwäche,
Trunksucht, anderen
Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann.“ Weiter soll laut Abs. 2
ebenso berücksichtigt werden, welche Belastung die Person für ihre Umgebung bedeutet. Die betroffene Person muss schliesslich gemäss Abs. 3 entlassen werden, sobald es ihr Zustand erlaubt.
Von der Bundesversammlung wurde am 19. Dezember 2008 die Neuregelung des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts angenommen.199 Der Bundesrat hat das Inkrafttreten des neuen Rechts auf den 1. Januar 2013 festgelegt.200 Art. 426 Abs. 1 E-ZGB wird sodann regeln, dass eine „Person, die an
einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer
verwahrlost ist, […] in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden“
darf, „wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen
kann.“201
Am 5. September 2012 hat die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts den Entscheid gefällt, dass eine FFE gemäss Art. 397a Abs. 1 ZGB im
Anschluss an das beendete 22. Altersjahr in der jugendstrafrechtlichen stationären Unterbringung angeordnet werden kann, wenn der Untergebrachte
ein erhebliches Fremdgefährdungspotenzial aufgrund seiner Geisteskrank-
198
URWYLER/NETT, S. 113.
199
Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), Änderung vom 19. Dezember 2008, BBl 2009 141 ff., S. 141.
200
E-ZGB, S. 744.
201
E-ZGB, S. 767
36
heit aufweist.202 Der Entscheid entfaltet jedoch nicht nur Geltung für jugendstrafrechtlich Untergebrachte.203
Auf die Erwägungen ist im Folgenden einzugehen: Das Bundesgericht hält
einerseits fest, dass das Gesetz keine FFE alleine wegen Fremdgefährdung
vorsieht.204 Dies verleitet das Bundesgericht schliesslich zu folgender Erwägung:
„Tatsächlich ergibt sich aus dem Fremdgefährdungspotenzial
eines Geisteskranken fast zwangsläufig ein Beistands- und
Fürsorgebedürfnis: Wer die Sicherheit anderer bedroht, ist persönlich schutzbedürftig […].“205
Der Anwendungsbereich der FFE wurde damit erstmalig in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf Fälle reiner Fremdgefährdung und somit auf
polizeiliche Interessen ausgedehnt.206 Noch am 12. Mai 2009 hatte die strafrechtliche Abteilung hingegen festgehalten, dass vom Gesetzgeber nicht bezweckt wurde, die Bevölkerung per FFE vor gefährlichen Geisteskranken zu
schützen, und dass die FFE darüber hinaus auch nicht dafür geeignet sei. 207
HOLDEREGGER führt aus, dass die Behörden bei ernstlichem Risiko der öffentlichen Sicherheit durch eine Person, welche die absolute Altersgrenze des
JStG erreicht habe, das Rechtsinstitut der FFE durchaus einsetzen könnten.208 Kritisch wird ergänzend aufgezeigt, dass dabei jedoch „eine gewisse
Zweckentfremdung dieses Rechtsinstituts nicht zu übersehen“ sei, dies aber
in solchen seltenen Fällen nach einer Güterabwägung wohl in Kauf zu neh-
202
BGer 5A_607/2012, E. 5.2.
203
BGer 5A_607/2012, E. 5.2.
204
BGer 5A_607/2012, E. 3.
205
BGer 5A_607/2012, E. 5.2.
206
MEYER LÖHRER, S. 20.
207
BGer 6B_786/2008, E. 2.2.
208
HOLDEREGGER, Rz. 859.
37
men sei.209 Die FFE wurde mit dem Entscheid vom 5. September 2012 also
klar zweckentfremdet.210 Es wird daher m. E. deutlich, dass die Formel des
Bundesgerichts, Fremdgefährdung sei Selbstgefährdung,211 einer rein pragmatischen und rechtsstaatlich fragwürdigen Logik entspringt.
Weiter führt das Bundesgericht aus, es gehöre zum Schutzauftrag, eine
kranke bzw. verwirrte Person davon abzuhalten, eine schwere Straftat zu
begehen.212 Diese Aussage bezeichnet der renommierte Solothurner
Rechtsanwalt KONRAD JEKER als „Killerargument“.213 Man könnte hier m. E.
die dogmatisch womöglich nicht ganz saubere Frage aufwerfen, wie das
Bundesgericht eine solche Art von wohlverstandener Fürsorge gegenüber
einer Person für erforderlich halten kann, welcher es auf der anderen Seite
volle Schuldfähigkeit zugestanden hat.
Die eben diskutierten Erwägungen des Bundesgerichtes wirken aus strafrechtlicher Sicht m. E. befremdend. Es kann hier unter dem Strich von einer
Ausschaltung des (Jugend-)Strafrechts durch das Zivilrecht gesprochen werden. Es wurde nach einer Lösung gesucht, den tatsächlich bedauerlichen
Umstand abzufedern, dass gemäss Art. 19 Abs. 2 JStG alle Schutzmassnahmen des Jugendstrafrechts zwingend mit dem vollendeten 22. Altersjahr
zu enden haben. Treffend formuliert m. E. JEKER hierzu sarkastisch die Frage, ob es nicht wunderbar sei, wie sich die verschiedenen Rechtsgebiete
gegenseitig ergänzen, um das gewünschte Ergebnis juristisch begründen zu
können.214
209
HOLDEREGGER, Fn. 1540.
210
MEYER LÖHRER, S. 21.
211
BGer 5A_607/2012, E. 5.2.
212
BGer 5A_607/2012, E. 5.2 mit Verweis auf die Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), BBl 2006 7001 ff., S. 7062 f.
213
JEKER, Blog-Eintrag vom 24.09.2012.
214
JEKER, Blog-Eintrag vom 24.09.2012.
38
Ebenso kaum problematisch scheint es dem Bundesgericht, die betroffene
Person zu ihrer Fürsorge in einer Justizvollzugsanstalt zu belassen, sofern
diese Einrichtung in der Lage sei, die wesentlichen Bedürfnisse der eingewiesenen Person im Hinblick auf ihre Betreuung zu befriedigen.215 Es solle
jedoch in absehbarer Zeit eine für die Behandlung besser geeignete Einrichtung gefunden werden.216 Im Ergebnis scheint die neue FFE gerade auch im
Hinblick auf den Vollzug einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB
oder gar einer Verwahrung nach Art. 64 StGB gleichzukommen.217
BURKHARDT führt im Interview aus, er sei sehr froh um diesen Entscheid, weil
er grosse Angst gehabt habe, selbst 22-Jährige entlassen zu müssen, welche er als durchaus gefährlich einstufe, da diese sogar gegenüber Kindern
übergriffig seien.218 Angesprochen auf die dogmatischen Ungereimtheiten
des Entscheides, bringt BURKHARDT jedoch an, der Entscheid sei „ergebnisorientiert und nicht juristisch fundiert“.219 Weiter hegt BURKHARDT grosse
Zweifel, ob der Entscheid vor dem EGMR standhalten wird. 220 Es fragt sich
nämlich tatsächlich, ob das Bundesgericht hier nicht das Verbot der doppelten Bestrafung (ne bis in idem) gemäss Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls221 zur
EMRK verletzt hat.222 Wie eben aufgezeigt, verfolgt diese neue Variante der
FFE nämlich rein polizeiliche Interessen, was diese FFE aufgrund des klassischen Strafzwecks als Strafe im Sinne der EMRK qualifizieren lässt.223
215
BGer 5A_607/2012, E. 8.1.
216
BGer 5A_607/2012, E. 8.3.
217
MEYER LÖHRER, S. 22.
218
BURKHARDT, Anhang 1, S. 14.
219
BURKHARDT, Anhang 1, S. 16.
220
BURKHARDT, Anhang 1, S. 17.
221
SR 0.101.07.
222
MEYER LÖHRER, S. 22.
223
MEYER LÖHRER, S. 22.
39
Das Bundesgericht erlaubt die Anwendung der neu erarbeiteten Grundsätze
grundsätzlich ebenso unter dem kommenden neuen Erwachsenenschutzrecht. 224
Welches jugendstrafrechtliche Institut diesem rechtlichen Spagat de lege
ferenda allenfalls Abhilfe verschaffen könnte, wird in Kapitel 5.5.2 besprochen.
5.2
Wiedereingliederung in Freiheit
Zum Einstieg in dieses Unterkapitel ist auf die Begrifflichkeiten zu sprechen
zu kommen. Der diesbezüglich bekannte Begriff der „Resozialisierung“ ist
weniger ein Fachbegriff mit klarer Definition, als ein Synonym für ein ganzes
Programm, welches die Rückführung in die Gesellschaft meinen könnte. 225
Unscharf ist der Begriff m. E. insbesondere, weil er die Einwirkung auf den
Verurteilten im Sanktionenvollzug mit den Bemühungen nach Beendigung
des Vollzugs vermischt. Es ist weiter klar, dass sich auch Menschen im
Sanktionenvollzug befinden, die durchaus als „sozialisiert“ zu beurteilen
sind.226 Heute herrscht letztlich die Erkenntnis vor, dass die Sozialisation an
sich sowieso ein lebenslanger Prozess bedeutet.227
Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der (progressiven bzw. stufenweisen) Wiedereingliederung verwendet, wo die Bemühungen nach der Beendigung der Unterbringung diskutiert werden.
224
BGer 5A_607/2012, E. 5.2.
225
CORNEL, Kap. 1 Rz. 1.
226
BAECHTOLD, Kap. 3/Diverses 32.6.
227
CORNEL, Kap. 1 Rz. 1.
40
5.2.1
Progressive Wiedereingliederung als Konzept
Bis weit ins Mittelalter war eine zweckgerichtete Freiheitsstrafe, welche etwa
auf Besserung oder Erziehung abzielte, entweder weitgehend nicht vorhanden oder diese Zwecke spielten eine schlicht untergeordnete Rolle.228 Seit
dem Ende des 16. Jahrhunderts wird die „Besserung“ des Gefangenen als
ein Ziel des Strafvollzuges gesehen.229 Ebenso wurden in jener Zeit erste
Bemühungen mit dem Ziel der (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft
sichtbar.230 Deutlich progressiv wird der Strafvollzug mit dem englischen und
dem weitergeführten irischen Vollzugssystem.231 Ende 18. Jahrhundert führte
England die sogenannte Transportationsstrafe ein, wobei ein Verurteilter des
Landes verwiesen wurde und die Strafe in einem damaligen Kolonialland zu
vollziehen hatte.232 Nachdem der Verurteilte in einer ersten Stufe harte öffentliche Kolonisationsarbeiten verrichten musste, wurde ihm in einer zweiten
Stufe ermöglicht, gemeinschaftliche Zwangsarbeiten unter mehr Freiheit zu
verrichten.233 Bei weiterer Bewährung durfte der Verurteilte später zu nicht
straffälligen englischen Aussiedler gelangen und diese bei der Ansiedlung
unterstützen.234 Als letzte Progressionsstufe war es idealerweise möglich ein
sogenanntes „ticket of leave“ zu erhalten, also vorzeitig entlassen zu werden.235
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm Irland die progressive Wiedereingliederung von England und führte sie weiter.236 Zwischen der Stufe der Gemeinschaftshaft und der bedingten Entlassung führte Irland eine weniger rigide geführte, offene Zwischenanstalt ein, durch welche der Übergang in die
228
KRÜGER, S. 32.
229
AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18.
230
KRÜGER, S. 34.
231
BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 8.
232
KRÜGER, S. 41.
233
KRÜGER, S. 41.
234
KRÜGER, S. 41.
235
BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 8.
236
KRÜGER, S. 45.
41
Freiheit erleichtert werden sollte.237 Mit den neuen Freiheiten konnten mehr
Verantwortung und Pflichtbewusstsein verknüpft werden, was ermöglichte,
dass sich die Inhaftierten an die Lebensverhältnisse ausserhalb der Anstalt
gewöhnen konnten.238
In der Schweiz stiess das Progressionssystem nach irischem Vorbild rasch
auf Anerkennung in der Fachwelt und setzte sich schliesslich ohne Kontroverse durch.239 Mit dem progressiven Vollzug machte die Schweiz gute Erfahrungen und so wurde er auch im neuen Eidgenössischen StGB normiert.240
Das Konzept der Wiedereingliederung Straffälliger wurde in der Schweiz
zwar nicht aufgegeben, im politischen Alltagsdiskurs ist jedoch eine zunehmende Bedeutungslosigkeit für dieses Anliegen festzustellen.241 Gerade die
Erreichbarkeit des Ziels und damit seine kriminalpolitische Berechtigung
werden immer öfter in Frage gestellt.242 Dieser schwindende Kredit für das
Sozialisierungskonzept ist u. a. auf die Tendenz zurückzuführen, dass eine
Verlagerung von der Täter- auf die Opferperspektive und eine Tendenz zu
einem symbolischen Strafrecht vorherrscht.243
237
KRÜGER, S. 45 f.
238
KRÜGER, S. 46.
239
BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 9.
240
BRÄGGER, Freiheitsentzug und Sanktionensystem, S. 10.
241
KUNZ, Kriminologie, § 30 Rz. 2.
242
AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18.
243
AEBERSOLD, Resozialisierung, S. 18.
42
5.2.2
Massnahmenänderung als Instrument der progressiven Wiedereingliederung
Nun ist zu untersuchen, inwieweit das JStG im Rahmen der Beendigung von
stationären Unterbringungen eine progressive Wiedereingliederung ermöglicht.
Da die Schutzmassnahmen zeitlich unbegrenzt angeordnet werden und die
Jugendlichen während der Zeit der Massnahme Veränderungen offenbaren
können, muss die Verhältnismässigkeit und Zweckmässigkeit periodisch
überprüft werden.244 Art. 18 Abs. 1 JStG sieht sodann vor, dass eine Massnahme durch eine andere ersetzt werden kann, wenn sich die „Verhältnisse
geändert“ haben. Eine solche Verhältnisänderung ist als vorliegend zu betrachten, wenn im Vollzug klar wurde, dass sich eine andere Massnahme als
erforderlich erweist oder sich jedenfalls als zweckmässiger zeigt.245 Für die
stationäre Unterbringung liegt dies regelmässig vor, wenn die in der Einrichtung (oder Abteilung) vorhandene Unterstützung, Betreuung und Begleitung
das aus erzieherischer und/oder therapeutischer Sicht noch notwendige
Mass überschreitet.246
Die Massnahmenänderung ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht
ganz unbedenklich.247 Sie ist nämlich eine Abweichung vom Grundsatz der
res iudicata.248 Weiter ist sie problematisch, da ab der Anordnung der
Schutzmassnahme keine Mindestdauer bis zur allfälligen Änderung festgehalten wurde.249
244
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 3.
245
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 4.
246
vgl. HOLDEREGGER, Rz. 790.
247
RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30.
248
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 2.
249
RIESEN-KUPPER, JStG, S. 30.
43
Vor dem Inkrafttreten des JStG im Jahre 2007 existierte für die Schutzmassnahmen noch die bedingte Entlassung.250 Es herrscht eine bemerkenswert
geschlossene Übereinstimmung in der Literatur darüber, dass die Streichung
der bedingten Entlassung bei den Schutzmassnahmen gerade für die stationäre Unterbringung zu bedauern ist.251
Die bedingte Entlassung hatte zur Folge, dass Jugendliche, welche sich nicht
bewährt haben, relativ einfach erneut stationär in den Massnahmenvollzug
versetzt werden konnten.252 Nun ist dafür ein aufwändigeres Massnahmenänderungsverfahren vonnöten.253 Gemäss Art. 18 Abs. 1 Satz 2 ist nämlich stets die urteilende Behörde zuständig, sofern die neu anzuordnende
Massnahme härter ist. Obwohl vor 2007 die Möglichkeit der Massnahmenänderung bereits existierte, gab es aufgrund der Möglichkeit zur bedingten Entlassung kaum ein Bedürfnis, von der Massnahmenänderung Gebrauch zu machen.254 Eher von Bedeutung war vor der Revision der umgekehrte Schritt, nämlich die Änderung einer milderen Massnahme in eine Unterbringung.255
Als mildere Massnahme im Sinne einer stufenweisen, also progressiven
Wiedereingliederung kommt im aktuellen Recht vorwiegend die persönliche
Betreuung gemäss Art. 13 JStG in Frage.256 Für die persönliche Betreuung
bestimmt jedoch Art. 13 Abs. 4 JStG, dass diese mildere Schutzmassnahme
nach Erreichen des Mündigkeitsalters nur noch angeordnet werden kann,
falls der Betroffene sein Einverständnis gegeben hat. Das gleiche Problem
stellt sich bei der mildesten Schutzmassnahme der Aufsicht gemäss Art. 12
250
vgl. AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S.152.
251
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136; BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, N 38 vor Art. 1;
HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194; HOLDEREGGER, Rz. 893; RIESEN-KUPPER,
Praxis, S. 120.
252
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121.
253
HEBEISEN, Übersicht Neuerungen, S. 194.
254
vgl. REHBERG, S. 211.
255
vgl. REHBERG, S. 210.
256
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 11.
44
JStG.257 Es ist also möglich, dass ein Jugendlicher durch die Verweigerung
seiner Zustimmung aus der betreuungsintensiven Unterbringung entlassen
wird ohne jegliche Möglichkeit auf Nachbetreuung.258 Dies bedeutet bildhafter gesprochen, dass der Jugendliche fähig sein muss, einen Schritt von
„hundert auf null“ zu meistern.259 Hier wird m. E. von den Jugendlichen unbegreiflich viel verlangt. Ist die progressive Vollzugsplanung im Erwachsenenstrafrecht doch ein Instrument von zentraler Bedeutung zur Verhinderung von
kriminellen Rückfällen,260 welches sich auch historisch deutlich bewährt
hat,261 so ist diese Vorgehensweise im Jugendstrafrecht nun schwer behindert worden.262 Die Abschaffung der bedingten Entlassung verhindert also,
dass eine Stabilisierung der Jugendlichen nach Beendigung der Unterbringung sinnvoll angegangen werden kann.263 Letztlich kann der krasse Wegfall
der Nachbetreuung insbesondere für die Berufsbildung ein Problem darstellen: Jugendliche befinden sich im letzten Lehrjahr oft ausserhalb des geschützten Rahmens der Einrichtung, wo bei fehlender Zustimmung zur persönlichen Betreuung der Lehrabschluss regelmässig gefährdet wird.264 Das
Ersatzinstitut zur bedingten Entlassung zeigt sich also unter dem Strich als
nicht praktikabel.265
Es ist m. E. weiter in Frage zu stellen, ob die Schweiz mit dieser Gesetzgebung ihre internationalen Verpflichtungen einhalten kann. Ein spezielles Augenmerk ist im Folgenden auf die „Europäischen Grundsätze für die von
Sanktionen und Massnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen“, die Rec (2008) 11 des Ministerkomitees des Europarates vom
257
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136.
258
BSK-GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, Art. 18 N 12.
259
BURKHARDT, S. 31.
260
ANGST/GÜNTER/NOLL, S. 50.
261
siehe oben 5.2.1.
262
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 136.
263
BURKHARDT, S. 29.
264
GÜRBER, S. 40.
265
HOLDEREGGER, Rz. 893.
45
5. November 2008266 zu richten. Der Grundsatz Nr. 2 der Rec (2008) 11 hält
u. a. fest, dass alle Sanktionen oder Massnahmen auf den Prinzipien der
Wiedereingliederung, der Erziehung und der Rückfallverhütung beruhen
müssen. Die Empfehlungen fordern also einen eindeutig resozialisierungsorientierten Vollzug, welcher differenziert die Erziehung fördern soll.267 Konkreter werden folgende Grundsätze: Grundsatz 100.1. hält fest, dass allen
Jugendlichen, denen die Freiheit entzogen ist, im Hinblick auf den Wiedereintritt in die Gemeinschaft Unterstützung gewährt werden muss. Weitergehend
führt Grundsatz 101.1. sogar auf, dass Massnahmen zu treffen sind, um den
Jugendlichen eine schrittweise Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen.
Gemäss Grundsatz 102.1. sind solche Unterstützungsmöglichkeiten u. a. die
Unterstützung bei der Rückkehr in die Familie des Jugendlichen oder die Suche nach einer anderen Unterkunft und die Fortführung der schulischen und
beruflichen Ausbildung. Im Hinblick auf die gänzlich fehlende Unterstützungsmöglichkeit bei Jugendlichen, welche aus der Unterbringung entlassen
werden, und keiner persönlichen Betreuung zustimmen, ist hier m. E. ein
Verstoss der Rec (2008) 11 zu bemängeln. Die Rechtslage und die Rechtswirklichkeit in der Schweiz können den europäischen Standards daher nicht
ausnahmslos gerecht werden, auch wenn die Grundausrichtung des Schweizerischen Jugendstrafrechts durch die Empfehlung bestätigt wird.268
Letztlich ist anzubringen, dass neben der UN-KRK im Jugendstrafrecht auf
internationaler Ebene nur soft law existiert.269 Daher entfalten die angesprochenen Empfehlungen des Europarates für die Schweiz keine verbindlichen
Rechtswirkungen und so kann deren Missachtung nicht als Verstoss gegen
verfassungsmässige Rechte gewertet werden.270 Werden jedoch kriminalpolitische Ziele in Empfehlungen festgelegt, so wäre eigentlich die Legislative
266
abrufbar unter: <http://www.ejpd.admin.ch/content/dam/data/sicherheit
/straf_und_massnahmen/documentation/empfehlung-europarat-jugendstraftaeterd.pdf>, besucht am 29.12.2012.
267
BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 58.
268
vgl. BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 58.
269
W EIDKUHN, S. 63 f.
270
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 278.
46
gehalten, diese Ziele auch zu verwirklichen.271 Verstösse gegen die Empfehlungen sind m. E. speziell im Hinblick darauf, dass die Schweiz resp. das
EJPD als Mitherausgeber auftritt, immerhin als unerfreulich zu bezeichnen.
Da sich die Schweiz häufig bereits im Einklang mit den internationalen Standards sieht, offenbart sie bei den Defiziten eine gewisse Nachlässigkeit.272
Das Bundesgericht hält jedoch fest, dass es die Empfehlungen bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen von Bundesverfassung und
Menschenrechtskonvention gleichwohl mitberücksichtige.273
All diese negativen Folgen der Abschaffung der bedingten Entlassung für die
jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahmen erhöhen m. E. den Erklärungsbedarf seitens der Gesetzgebung. Aus der Botschaft zum JStG schreibt der
Bundesrat, dass er inhaltlich die Schutzmassnahmen den zivilrechtlichen
Massnahmen angleichen wolle und diese daher klar von den Strafen abgrenzen wolle, bei welchen regelmässig eine bedingte Entlassung möglich sei. 274
Hier ist m. E. in Frage zu stellen, ob der Bundesrat die Neuregelung auch
konsequent zu Ende gedacht hat. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die
eben aufgeführten Probleme tatsächlich in Kauf genommen wurden.
Es wird hier m. E. nämlich mindestens theoretisch ein Zustand für die betroffenen Jugendlichen geschaffen, welcher die Erhöhung der Rückfallgefahr
in gewissen Fällen geradezu fördern könnte. Manche Jugendliche sind wohl
insbesondere wegen allfällig fehlender Lehrabschlüsse gehalten, wieder in
ihr Familienhaus und in ihre angestammte Peer-Group zurückzukehren. Dieses angestammte Umfeld ist jedoch in nicht wenigen Fällen gerade als Ursprung der Erziehungsbedürftigkeit zu bezeichnen. Ohne Nachbetreuung
irgendwelcher Art liegt der Gedanken nahe, dass diese drastische Änderung
im Leben für einige Jugendliche nur schlecht zu bewältigen ist. Im Erwachsenenstrafrecht scheint es nämlich klar auf der Hand zu liegen, dass es aus
271
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 278.
272
vgl. W EIDKUHN, S. 258.
273
BGE 125 I 127 E. 7c S. 145; vgl. weiter BGer 1B_245/2012, E. 1.2.2.
274
Botschaft JStG, S. 2238.
47
legalprognostischer Sicht kontraproduktiv ist, einen Gefangenen bis zum letzten Vollzugstag etwa in einem geschlossenen Regime zu führen, um ihn
dann am darauf folgenden Tag übergangslos in die Freiheit zu versetzen.275
Warum diese Erkenntnis nicht umfassend in die Erarbeitung des JStG eingeflossen ist, ist m. E. unverständlich. Mit HOLDEREGGER ist daher festzuhalten,
dass die Abschaffung der bedingten Entlassung für die Schutzmassnahmen
einer „gesetzgeberischen Fehlleistung“276 gleichkommt.
Alle Interviewpartner weisen jedoch darauf hin, dass sich die theoretischen
Probleme mit der progressiven Wiedereingliederung in der Praxis zu einem
grossen Teil entschärften, weil für die Endphase der Unterbringung bereits
sehr offene Platzierungsmöglichkeiten existierten und somit eine nicht zu
unterschätzende Progression innerhalb der stationären Unterbringung selbst
möglich sei.277
Kein Einverständnis ist hingegen nötig für eine ambulante Behandlung gemäss Art. 14 JStG. Diese Schutzmassnahme ist laut Art. 14 Abs. 1 JStG anwendbar auf Jugendliche mit psychischen Störungen, Abhängigkeiten oder
Beeinträchtigungen in der Persönlichkeitsentwicklung. Die ambulante Behandlung ist also eher auf pathologische und nicht auf rein erzieherische Defizite ausgerichtet.278 In der Praxis ist es teilweise jedoch der Fall, dass trotz
dieser Ausrichtung von Art. 14 JStG Verhaltenstherapien ohne das Vorliegen
einer ICD-Diagnose angeordnet werden.279 Diese Vorgehensweise ist jedoch
nur in denjenigen Fällen der Jugendstrafbehörde ins pflichtgemässe Ermessen zu stellen, in welchen kein zwingendes Begutachtungserfordernis gemäss Art. 9 Abs. 3 JStG besteht.280 Hierzu eröffnen sich m. E. sinnvolle An-
275
ANGST/GÜNTER/NOLL, S. 47.
276
HOLDEREGGER, Rz. 893.
277
BURKHARDT, Anhang 1, S. 6; GÜRBER, Anhang 2, S. 27; HATT, ANHANG 3, S. 45.
278
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 140.
279
BURKHARDT, Anhang 1, S. 9.
280
HOLDEREGGER, Rz. 483.
48
ordnungsmöglichkeiten, welche gerade bei Jugendlichen mit einer Gewaltproblematik genutzt werden können, um dem Problem des Zustimmungserfordernisses zu den sonstigen milderen Massnahmen zu begegnen. GÜRBER
meint im Interview jedoch zu Verhaltenstherapien, dass diese eher zu Beginn
und während der Unterbringung als zu deren Beendigung Sinn machten.281
5.3
Umgehungsmöglichkeiten in der Praxis
In der Praxis offenbart sich ein spannendes Bild: In den Interviews zeigt sich
nämlich, dass die Regelungen zu den Folgen der UnterbringungsBeendigung, insbesondere diejenigen zur progressiven Wiedereingliederung,
von den Experten vorwiegend kritisiert werden.282 Andererseits täten sich
aber sehr wohl Möglichkeiten zur Umgehung der kritisierten Bestimmungen
auf.283
Eine zentrale Umgehungsmöglichkeit eröffnet sich mit der Möglichkeit, dass
die Vollzugsbehörde ein Einverständnis zur Persönlichen Betreuung oder zur
Aufsicht schlicht als Beendigungs-Voraussetzung der stationären Unterbringung sieht.284 Im Ergebnis kann dies bedeuten, dass die Vollzugsbehörden
den Jugendlichen bei fehlender Bereitschaft zu milderen Schutzmassnahmen
einfach länger in der stationären Unterbringung behalten.285 Alle Interviewpartner sehen dies grundsätzlich als gangbaren Weg.286 Jedoch mache
gemäss BURKHARDT und HATT gerade eine persönliche Betreuung dann unter
keinen Umständen Sinn, wenn der Jugendliche überhaupt keine Bereitschaft
281
GÜRBER, Anhang 2, S. 28.
282
BURKHARDT, Anhang 1, S. 8; GÜRBER, Anhang 2, S. 27.
283
BURKHARDT, Anhang 1, S. 8 f.; GÜRBER, Anhang 2, S. 25.
284
vgl. URWYLER/NETT, S. 114.
285
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121.
286
BURKHARDT, Anhang 1, S. 7; GÜRBER, Anhang 2, S. 25; HATT, Anhang 3, S. 45 f.
49
zeige, mit den Verantwortlichen im Vollzug zusammenzuarbeiten.287 GÜRBER
bringt jedoch im Interview an, dass dies eigentlich stets einverständlich ablaufe und dass der Jugendliche sein Einverständnis zur persönlichen Betreuung gerne unterschreibe, wenn er dafür aus der Unterbringung entlassen
werde.288 HATT führt hier letztlich an, dass man sich aus Sicht der Vollzugsbehörde einfach bewusst sein müsse, dass der Jugendliche in diesem Szenario sein Einverständnis zu milderen Massnahmen auch wieder zurückziehen könne.289
Diese Umgehungsmöglichkeit ist m. E. grundsätzlich zu begrüssen. Davon
absehen müssen die Vollzugsbehörden jedoch dann, wenn das Vorgehen,
wie es in den Interviews richtig erkannt wird, zu sehr „Nötigungscharakter“290
annimmt oder gar in Richtung „Erpressung“291 geht. Zu suggerieren, der Jugendliche solle jetzt unterschreiben, sonst komme er nie aus der Unterbringung raus, ist wegen der Möglichkeit zum Widerruf des Einverständnisses
nicht nur unsinnig, sondern auch mit den Grundsätzen des Jugendstrafrechts
nicht zu vereinbaren.
Weiter möglich ist es, für Jugendliche eine faktische Bewährungszeit zu
schaffen, wobei rechtlich eine Beurlaubung aus dem Massnahmenvollzug
angeordnet wird.292 Dies ermöglicht explizit Art. 1 Abs. 2 lit. g JStG, der u. a.
die Anwendung der Urlaubsregelung für Erwachsene in Art. 84 Abs. 6 StGB
auch für das Jugendstrafrecht erlaubt. Alle Interviewpartner erachten dies als
gangbaren Weg.293 Art. 1 Abs. 2 lit. i JStG erlaubt zusätzlich die Anwendung
der Regelung zur Unterbrechung des Sanktionenvollzugs gemäss Art. 92
StGB aus wichtigen Gründen. Im Kanton Basel-Stadt wurde diese Möglich-
287
BURKHARDT, Anhang 1, S. 7; HATT, Anhang 3, S. 44.
288
GÜRBER, Anhang 2, S. 25.
289
HATT, Anhang 3, S. 46.
290
GÜRBER, Anhang 2, S. 25.
291
HATT, Anhang 3, S. 45.
292
RIESEN-KUPPER, Praxis, S. 121.
293
BURKHARDT, Anhang 1, S. 8; GÜRBER, Anhang 2, S. 26; HATT, ANHANG 3, S. 46.
50
keit der Vollzugssistierung im Jugendstrafrecht sogar zusätzlich gesetzlich
verankert: So regelt § 5 Abs. 4 des Gesetzes über den Vollzug von jugendstrafrechtlichen Sanktionen (JStVG) des Kantons Basel-Stadt294, dass aus
wichtigen Gründen der Vollzug von Strafen oder Schutzmassnahmen vorübergehend sistiert oder aufgeschoben werden kann. GÜRBER sieht den
Vollzugsunterbruch als Möglichkeit, die Verantwortung in die Hände des Jugendlichen zurückzugeben, wobei danach auch beurteilt werden könne, welche ambulante Massnahme die Unterbringung womöglich ablösen könnte.295
HATT schlägt vor, diese Vollzugssistierung oder Beurlaubung nicht länger als
drei Monate laufen lassen.296
Diese Sistierung oder Beurlaubung aus dem Unterbringungsvollzug scheint
m. E. im Hinblick auf die Bewährungsmöglichkeit für Jugendliche logisch und
äusserst sinnvoll. Hiermit kann auf überzeugende Weise und ohne Konflikte
mit den gesetzlichen Grundlagen eine Art bedingte Entlassung aus der Unterbringung geschaffen werden.
BURKHARDT erklärt, dass letztlich auch noch die Möglichkeit bestehe, eine
bedingte Strafe i. S. v. Art. 35 JStG plus eine sogenannte Begleitung gemäss
Art. 29 Abs. 3 JStG anzuordnen, falls neue Straftaten während der Zeit des
Unterbringungsvollzugs begangen würden.297 Hier könnten die Jugendlichen
gestützt auf Art. 29 Abs. 2 JStG durch Weisungen motiviert werden mit der
Begleitperson zusammenzuarbeiten, da sonst allenfalls die Strafe vollzogen
werde.298
294
abrufbar unter: <http://www.stawa.bs.ch/jstvg.pdf>, besucht am 29.12.2012.
295
GÜRBER, Anhang 2, S. 26.
296
HATT, Anhang 3, S. 46.
297
BURKHARDT, Anhang 1, S. 9.
298
BURKHARDT, Anhang 1, S. 9 f.
51
5.4
Gezielte unmittelbare Entlassung in die Freiheit
Art. 19 Abs. 1 JStG ermöglicht letztlich auch schlicht eine unmittelbare Entlassung aus der Unterbringung, ohne im Rahmen einer progressiven Abfederung mildere Schutzmassnahmen anzuordnen. Es stellt sich nun sowohl für
den Erfolgsfall wie für den Misserfolgsfall die Frage, ob eine solche gezielte
unmittelbare Entlassung in die Freiheit praktiziert wird.
Im Interview hält BURKHARDT fest, dass in Erfolgsfällen dieser Erfolg dann
auch stabilisiert werden soll, und daher weitere Begleitung stets sinnvoll
sei.299 GÜRBER hingegen wendet diese unmittelbare Entlassung durchaus an,
denn das Endstadium der Unterbringung könne gerade durch ein betreutes
Wohnen sehr offen ausgestaltet werden.300
Im Misserfolgsfall könne es gemäss BURKHARDT vorkommen, dass man direkt entlässt, denn mit „kontra-indizierten“ Massnahmen könnten durchaus
Erfolge erzielt werden.301 HATT verfährt hier ähnlich, insbesondere wenn sich
ein Jugendlicher stets der Betreuung entziehe und auch nach verschiedenen
Wechseln der Unterbringungsform keine Erfolge erzielt würden.302 Das Fallenlassen geschehe in der Hoffnung, dass der Jugendliche dann endlich „erwache“.303 GÜRBER hat eine solche direkte Entlassung im Misserfolgsfall ohne Vorliegen neuer Delikte noch nie vorgenommen, sondern höchstens angedroht, um den Jugendlichen zu mehr Eigeninitiative zu motivieren.304
299
BURKHARDT, Anhang 1, S. 4.
300
GÜRBER, Anhang 2, S. 23.
301
BURKHARDT, Anhang 1, S. 4.
302
HATT, Anhang 3, S. 43 f.
303
HATT, Anhang 3, S. 43.
304
GÜRBER, Anhang 2, S. 24.
52
5.5
Sicherungsmassnahme bzw. Verwahrung im Jugendstrafrecht?
5.5.1
De lege lata und Praxis
Da zumindest im politischen Diskurs und zunehmend auch in der Literatur
immer wieder eine Sicherungsmassnahme bzw. eine Verwahrung als gesetzliche Möglichkeit für das Jugendstrafrecht zur Diskussion gelangt,305 ist vorerst zu beantworten, inwieweit das geltende Recht bereits allfällige Verwahrungen zulässt.
Das JStG sieht einerseits keine Sanktion vor, welche sich direkt am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung orientiert.306 Andererseits berücksichtigt die
geschlossene Unterbringung aber auch negativ-spezialpräventive Zielsetzungen.307 Es ist jedoch festzuhalten, dass eine reine Sicherungsmassnahme, welche sich hauptsächlich an der öffentlichen Sicherheit orientieren würde, nicht mit dem übergeordneten Leitprinzip des Schutzes und der Erziehung von Art. 2 Abs. 1 JStG zu vereinbaren wäre.308 Wo Schutz und Erziehung angestrebt wird, darf m. E. für die Unschädlichmachung bzw. die unpersönliche Risikominimierung309 Jugendlicher de lege lata kein Platz bleiben. Da jedoch bedauerlicherweise den Grundsatz-Schlagworten von Art. 2
JStG keine Konkretisierung dieser Pädagogik-Ziele folgt,310 bleibt es weitgehend offen, was der Gesetzgeber alles unter Schutz und Erziehung zu stellen
gedachte.
Wie bei der progressiven Wiedereingliederung aufgezeigt,311 hält der Grundsatz Nr. 2 der Rec (2008) 11 fest, dass alle Sanktionen oder Massnahmen auf
305
siehe unten 5.5.2.
306
JOSITSCH/LOHRI, S. 796.
307
HOLDEREGGER, Rz. 859.
308
HOLDEREGGER, Rz. 859.
309
vgl. zum Sprachgebrauch W ALTER/NEUBACHER, Rz. 493.
310
GÜRBER, S. 39.
311
siehe oben 5.2.2.
53
den Prinzipien der Wiedereingliederung, der Erziehung und der Rückfallverhütung beruhen müssen. Es wird also sowohl rein generalpräventiven als
auch rein sichernden Strafzwecken eine eindeutige Absage erteilt.312
Es stellt sich jedoch die Frage, wie die Praxis mit dieser Problematik verfährt.
Diese Fragestellung ist an einem Beispiel zu diskutieren, von welchem HUGO
STULZ, Leiter Ausbildung des Jugendheims Prêles, auf einer Führung durch
das Heim berichtet hat. Ein Jugendlicher, welcher in der geschlossenen Unterbringung sei, ergreife bei jeder Vollzugslockerung regelmässig die Flucht,
stehle ein Auto und gefährde so auf halsbrecherische Weise sein und das
Leben der anderen Strassenbenützer. Im eigentlichen Vollzugsalltag ergäben
sich hingegen keine Probleme. Trotzdem sei der Jugendliche im Hinblick auf
seine „bevorzugten“ Delikte zurzeit nicht empfänglich für jegliche pädagogische Einwirkung. Zu diesem Beispiel kann man sich mindestens die Frage
stellen, ob hier nicht der sichernde Aspekt den pädagogischen Unterbringungszweck deutlich überlagert. Nicht von der Hand zu weisen ist hingegen,
dass mit der geschlossenen Unterbringung dem Schutz des betroffenen Jugendlichen genüge getan wird. Schliesslich ist eine halsbrecherische Fahrt
mit einem Auto ebenso eine schwere Gefährdung seines eigenen Lebens
und seiner eigenen Gesundheit.
Zur Frage, ob de lege lata bereits Verwahrungszwecke verfolgt werden können, äussert GÜRBER im Interview, dass mit der zunehmenden Anzahl geschlossener Unterbringungsplätze einfach auch die Tendenz steige, Jugendliche „bequem“ zu versorgen, anstatt mit ihnen mühsame alternative Lösungen auszuarbeiten.313 Zunehmend werde so auch der gesellschaftliche Druck
steigen, schwierige Jugendliche eben einfach zu „verstauen“.314 Dies sei
312
BAECHTOLD/DÜNKEL/VAN ZYL SMIT, S. 51 mit weiteren Hinweisen.
313
GÜRBER, Anhang 2, S. 39.
314
GÜRBER, Anhang 2, S. 39.
54
zwar keine Verwahrung, aber es werde so einzig das kurzfristige Sicherheitsdenken bedient.315
5.5.2
De lege ferenda
Es wird von JOSITSCH/LOHRI in Zweifel gestellt, ob spezialpräventive Zielsetzungen bei jedem jugendlichen Täter uneingeschränkt den Vorrang vor dem
Schutz und der Sicherheit der Gesellschaft geniessen sollen.316 JOSITSCH/LOHRI
halten fest, dass eine Sicherungsmassnahme für Jugendliche
keineswegs wie im Erwachsenenstrafrecht zeitlich unbegrenzt auszusprechen sein sollte, da dies der grundsätzlichen Erziehungsfähigkeit von Jugendlichen nicht gerecht würde.317 Die Sicherungsmassnahme soll maximal
bis zur Vollendung des 25. Altersjahres dauern und v. a. auf Jugendliche zugeschnitten sein, welche entweder die Schutzmassnahme sabotieren oder
das 22. Altersjahr in der Unterbringung vollendet haben und noch stets eine
grosse Rückfallgefahr bzgl. schweren Verbrechen oder Vergehen aufweisen.
Weiter halten JOSITSCH/LOHRI fest, dass der Vollzug der Sicherungsmassnahme trotz allem auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ausgerichtet soll und
dass eine Änderung in eine spezialpräventiv ausgerichtete Schutzmassnahme jederzeit möglich sein soll.318
BURKHARDT fordert ebenso eine Enttabuisierung der Verwahrung im Jugendstrafrecht, denn eine solche sei in Einzelfällen durchaus nötig.319 Er führt einleitend an, dass das JStG gar nicht ausschliesslich auf Schutz und Erziehung
i. S. v. Art. 2 ausgerichtet ist, da auch politische Ideen aus dem Allgemeinen
315
GÜRBER, Anhang 2, S. 39 f.
316
JOSITSCH/LOHRI, S. 791.
317
JOSITSCH/LOHRI, S. 796.
318
JOSITSCH/LOHRI, S. 796.
319
BURKHARDT, S. 28.
55
Teil des StGB in die Revision eingeflossen seien.320 Weiter bemerkt BURKHARDT,
dass eine Verwahrung die Grundpfeiler des schweizerischen Jugend-
strafrechts schützen würde, weil dann nach medial spektakulären Fällen
nicht das an sich bewährte Recht politisch erodiert werden müsste, um auch
äusserst schwierigen Jugendlichen zu begegnen.321 Es müssten schwerste
Delikte drohen, insoweit könnten die Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1
StGB auch für das Jugendstrafrecht Anwendung finden.322 Im Interview hält
BURKHARDT bezüglich des möglichen Adressatenkreises fest, dass eine Verwahrung für junge Menschen ohne psychische Störungen nicht mehr nötig
sein würde, falls die absolute Altersgrenze für Schutzmassnahmen auf 25
angehoben wird.323 Laut BURKHARDT wäre es weiter fatal, wenn bereits zum
Urteilszeitpunkt eine definitive Verwahrung ausgesprochen werden könnte,
denn vielmehr sei die Entwicklung in der Schutzmassnahme zu berücksichtigen, oder es sei gar erst vor der möglichen Entlassung zu entscheiden.324
Vielmehr brauche es zum Urteilszeitpunkt einen Vorbehalt zur Verwahrungsanordnung, was wohl auch die Therapiewilligkeit von Jugendlichen erhöhen
würde, welche sonst die Schutzmassnahme sabotieren könnten.325 Im Verwahrungsvollzug solle eine delikts- oder persönlichkeitsspezifische Therapie
möglich sein und alle anderen Massnahmen, die darauf abzielen, die Verwahrung zu beenden.326 Die Erforderlichkeit der Verwahrung solle weiter alljährlich überprüft werden und solle bis über das 30. Altersjahr hinaus dauern
können, wobei über 30-Jährige aber nicht mehr in Einrichtungen für junge
Erwachsene, sondern in Erwachsenenanstalten oder in geschlossenen forensischen Kliniken geführt werden sollten.327
320
BURKHARDT, S. 28.
321
BURKHARDT, S. 31.
322
BURKHARDT, S. 31.
323
BURKHARDT, Anhang 1, S. 18.
324
BURKHARDT, S. 32.
325
BURKHARDT, S. 32.
326
BURKHARDT, S. 32.
327
BURKHARDT, S. 32.
56
CHRISTOPH BURKHARD, ehemaliger leitender Jugendanwalt des Kantons Bern,
bezeichnet die Forderung nach einer Verwahrung für das Jugendstrafrecht
hingegen scharf als „Ungeheuerlichkeit“, von welcher man sich erst erholen
müsse.328 Da Jugendliche häufig nach der Vollendung ihres 18. Altersjahres
erneut delinquierten, stünde so regelmässig der gesamte Sanktionenkatalog
des Erwachsenenstrafrechts offen, inklusive der Verwahrung.329 Weiter hält
BURKHARD fest, dass Jugendliche ja bis zur Vollendung des 22. (und wohl
bald schon des 25.) Altersjahres im stationären Massnahmenvollzug zurückgehalten werden können, und dass dies daher reichen sollte, die Sozialverträglichkeit zu steigern und die Rückfallgefahr auf ein erträgliches Mass zu
senken.330 Abschliessend seien die Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowieso oft zweifelhaft oder gar nicht erst zu erstellen, da psychische Störungen im Jugendalter oft stark vom Entwicklungsaspekt überlagert
seien.331 Dies verunmögliche bereits eine gewissenhafte Anwendung einer
Verwahrungsbestimmung im Jugendstrafrecht, was eine solche Massnahme
daher a priori unverhältnismässig mache.332
GÜRBER warnt im Interview ebenso vor der Installierung eines solchen
Rechtsinstituts, weil es klar sei, dass dann unausweichlich auch junge Leute
verwahrt würden, die dies gar nicht nötig hätten.333 Gerade junge Jugendanwälte, die noch viel zu verlieren hätten, seien in der von Angst durchzogenen
heutigen Zeit praktisch dazu gezwungen, sich für denjenigen Weg zu entscheiden, welcher für den Betroffenen am meisten Geschlossenheit vorsähe.334 Dasselbe zeige sich bei den Gutachtern.335 Momentan sei v. a. bei
328
BURKHARD, S. 33.
329
BURKHARD, S. 34.
330
BURKHARD, S. 34.
331
BURKHARD, S. 35.
332
BURKHARD, S. 35.
333
GÜRBER, Anhang 2, S. 35.
334
GÜRBER, Anhang 2, S. 38.
335
GÜRBER, Anhang 2, S. 38.
57
schweren Fällen nicht auf das Augenmass der rechtsanwendenden Behörden zu vertrauen.336 Letztlich würde die Sicherheit durch eine Sicherungsmassnahme auch „nicht wahnsinnig“ erhöht.337
Da die Annahme von Rückfallgefahr bzw. Gefährlichkeit eines Straftäters
einerseits eine sozial konstruierte Wertung ist, und die entsprechenden Toleranzgrenzen von einer politischen Wertung abhängen,338 wird es m. E. vorwiegend eine gesellschaftspolitische Frage sein, ob wir bereit sind, dieses
Rückfallrisiko als Gesamtgesellschaft zu tragen.
Heute herrscht v. a. im Erwachsenenstrafrecht bereits eine Tendenz zur
Übersicherung, angefeuert durch ein Klima der Verunsicherung und Angst. 339
Die Forderung, sogenannt gefährliche Straftäter nie mehr entlassen zu wollen, ist salonfähig geworden.340 Auch in der Diskussion der Jugendgewalt
herrscht eine Grundstimmung vor, die von diffuser Verunsicherung und dem
Bedürfnis nach einer illusionären und haltgebenden Sicherheit geprägt ist. 341
Hier ist m. E. aufzupassen, dass im Jugendstrafrecht das Grundprinzip einer
pädagogischen Ausrichtung nicht im Sog des Sicherheitsgedankens geopfert
wird. Eine Tendenz, den Anspruch des täterorientierten Strafens zugunsten
vermeintlicher öffentlicher Sicherheitsbedürfnisse zu unterlaufen, war nämlich zu Teilen bereits mit der Errichtung des JStG zu erkennen.342
Nach diesem Stand der Dinge wäre m. E. eine Sicherungsmassnahme daher
nicht nur für Jugendliche, sondern auch für junge Erwachsene abzulehnen,
welche die absolute Altersgrenze der Schutzmassnahmen erreicht haben.
336
GÜRBER, Anhang 2, S. 39.
337
GÜRBER, Anhang 2, S. 36.
338
W ALTER/NEUBACHER, Rz. 464.
339
BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 22.
340
BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 22.
341
KUNZ, Jugendgewalt, S. 18.
342
MAUD PILLER/SCHNURR, S. 109.
58
Einzuwerfen ist jedoch, dass die Sicherungsdiskussion im Jugendstrafrecht
durch
den
Entscheid
des
Bundesgerichts
vom
5. September
2012
(5A_607/2012) zu grossen Teilen bereits überholt scheint. Das Bundesgericht hat in der Zwischenzeit wie bereits aufgezeigt343 eine Quasi-Verwahrung
für psychisch gestörte und rückfallgefährdete Personen per FFE ermöglicht.
Eine zusätzliche jugendstrafrechtliche Massnahme für psychisch Gestörte
nun doch zu prüfen, ist im Lichte dieser neusten Rechtsprechung jedenfalls
junge Erwachsene an der Schwelle zur absoluten Altersgrenze wohl unumgänglich geworden. Die Rechtssicherheit könnte durch eine neue jugendstrafrechtliche Massnahme im Vergleich zu einer FFE für die Betroffenen
erhöht werden. Es sollte auch dogmatisch einleuchtend sein, dass es sich
bei solchen Fällen nicht um Selbstgefährdungen, sondern um klare und ausschliessliche Fremdgefährdungen handelt. Hier muss daher schon nur aus
dogmatischer Sicht (jugend-) strafrechtliches Massnahmenrecht zum Zuge
kommen.
Mit BURKHARDT und HATT ist m. E. klar festzuhalten, dass eine solche neue
Massnahme tatsächlich erst mit dem Erreichen der absoluten Altersgrenze
angeordnet werden dürfte,344 weil die Diagnose einer psychischen Störung
vorher tatsächlich nur eingeschränkt zu fällen ist, da sie vom Entwicklungsaspekt überlagert ist.345 So wären denn auch nicht Jugendliche i. S. v. Art. 1
Abs. 1 lit. a JStG betroffen, sondern eben junge Erwachsene. Nur so kann
wohl auch garantiert werden, dass eine solche Massnahme überhaupt mit
dem rechtlich verbindlichen346 Art. 37 lit. b UN-KRK vereinbar ist, welcher
u. a. für Freiheitsentziehungen vorschreibt, dass diese bei Kindern nur für die
kürzest angemessene Zeit angewendet werden dürfen.
Es muss jedoch kritisch angeführt werden, dass momentan trotz erheblicher
Anstrengungen auch für Erwachsene kein wirklich befriedigendes Prognose-
343
siehe oben 5.1.2.
344
BURKHARDT, S. 32; HATT, Anhang 3, S. 52.
345
AEBERSOLD, Jugendstrafrecht, S. 52; BURKHARD S. 35.
346
siehe oben 5.2.2.
59
verfahren existiert.347 Statistische Prognosen ihrerseits sind ebenso kaum in
der Lage, die Zukunft vorweg zu nehmen, auch wenn sie den gefühlsmässigen Einschätzungen überlegen scheinen.348 Die Risiken werden denn auch
tendenziell zu hoch eingeschätzt.349 Dass sich die Anwendung einer solchen
neuen Massnahme daher auf prognostisch extreme Fälle beschränken muss,
sollte im Sinne einer restriktiven Anwendung m. E. auf der Hand liegen. Der
Anlasstatenkatalog müsste daher auch auf die Katalogtaten von Art. 64
Abs. 1 StGB beschränkt sein oder sogar enger gefasst sein. Eine deutliche
Absage ist einer jugendstrafrechtlichen Sicherung von Personen zu erteilen,
welche keine psychischen Störungen aufweisen. Eine fixe Altersgrenze sollte
m. E. keine festgelegt werden. Solche Altersgrenzen stehen nämlich im Widerspruch zu aktuellen Annahmen und Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie.350 Hinsichtlich der Selbst- und Impulskontrolle können entwicklungsbedingte Veränderungen bis zum 30. Altersjahr festgestellt werden. 351
Unverzichtbar wäre m. E. einerseits eine jährliche Prüfung der Vollzugsbehörden, ob die Sicherungsmassnahme aufgehoben werden kann. Andererseits sollte die Massnahme wie in Art. 59 Abs. 4 StGB höchstens für fünf
Jahre ausgesprochen werden können, bevor das Gericht eine erneute zwingende Überprüfung vornehmen muss.
Es sind letztlich Vollzugsregelungen nötig, die auf junge Erwachsene mit
psychischen Störungen zugeschnitten sind und bei einer allfälligen Wiedereingliederung in die Freiheit stützender wirken, als dies die Entlassung aus
der FFE ermöglicht. Eine Umkehr der Rechtsprechung ist in der zuvor aufgezeigten momentanen kriminalpolitischen Stimmung nämlich nicht zu erwar-
347
W ALTER/NEUBACHER, Rz. 499.
348
W ALTER/NEUBACHER, Rz. 506.
349
W ALTER/NEUBACHER, Rz. 506 mit weiteren Hinweisen.
350
AEBERHARD, S. 277.
351
AEBERHARD, S. 278 mit weiteren Hinweisen.
60
ten. Auf den Vorschlag angesprochen, warnt BURKHARDT jedoch vor einer
Überregulierung.352
Das rechtsstaatlich ungute Gefühl beim Gedanken, dass eine Person von
ihrer Jugend bis ans Lebensende geschlossen geführt werden könnte, lässt
sich hingegen keineswegs abschütteln.
6.
Übersicht der Lösungsvorschläge

Eine deliktsbezogene Bagatellgrenze soll ermöglichen, die jugendstrafrechtliche Unterbringung dogmatisch besser von zivilrechtlichen Massnahmen abzugrenzen.

Die absolute Altersgrenze für die Schutzmassnahmen soll für besondere Fälle auf 25 Jahre erhöht werden.

Die bedingte Entlassung aus der Unterbringung soll wieder eingeführt werden.

Bei Jugendlichen, welche die Unterbringung gezielt sabotieren,
soll eine Anrechnung der Freiheitsbeschränkung an den zu vollziehenden Freiheitsentzug ins pflichtgemässe Ermessen der Vollzugsbehörde gestellt werden.

Eine neue jugendstrafrechtliche Massnahme für psychisch gestörte und besonders rückfallgefährdete Jugendliche soll den aus
strafrechtlicher Sicht unhaltbaren Zustand des FFE-Entscheids
des Bundesgerichts ablösen.
352
BURKHARDT, Anhang 1, S. 20.
61
7.
Fazit
Die stationäre Unterbringung Jugendlicher ist ein Rechtsinstitut, ohne welches die Jugendstrafrechtspflege in ihrer heutigen Form nicht denkbar wäre.
Dennoch hat die Praxis aufmerksam dafür zu sorgen, dass die Unterbringung
ihre Funktion als ultima ratio nicht verliert. Ebenso wichtig scheint mir, dass
im Vollzug stets die konfrontative Arbeit mit den Untergebrachten gesucht
werden muss, und dass mit allen Mitteln verhindert werden soll, dass im
Vollzug eine Verwahrmentalität Platz greifen kann. Die Jugendlichen sind im
Vollzug nicht sich selbst zu überlassen, sondern es ist ein intensives Fördern
und Fordern zu unterstützen.
Es bleibt weiterhin unverständlich, dass der Gesetzgeber eine solch ungenügende Regelung für die Wiedereingliederung in die Freiheit nach der Unterbringung vorgesehen hat. Der Praxis ist es zwar möglich, den Zustand abzufedern, jedoch sollte eine ungenügende Betreuung in der Wiedereingliederungsphase vom JStG gar nicht erst ermöglicht werden. Der Revisionsbedarf
liegt hier auf der Hand.
In der Frage um eine Sicherungsmassnahme zeigt sich ein schier unlösbares
Dilemma. Einerseits ist verständlich, dass Teile der Jugendstrafrechtspflege
ein Instrument zur Verfügung haben möchten, welches erlauben würde, psychisch gestörte und schwer rückfallgefährdete junge Erwachsene nicht Knall
auf Fall (sei es mit 22 oder mit 25) entlassen zu müssen. Andererseits zeigt
sich, dass Sicherungen dann womöglich überschiessend angewendet würden, was keinesfalls anzustreben ist. Der Entscheid des Bundesgerichts vom
5. September 2012 (5A_607/2012) hat jedoch einen dogmatisch unhaltbaren
Zustand geschaffen. Es sollte daher vom Gesetzgeber eine zusätzliche jugendstrafrechtliche Massnahme ausgearbeitet werden. Art. 2 JStG muss daher allenfalls angepasst werden.
62
Im Allgemeinen ist dringend eine konsequentere professionelle Medienarbeit
der Jugendstrafbehörden und der Führungskräfte der Jugendheime und
Massnahmenzentren nötig, um die fehlende Kenntnis und die Vorurteile in
der Bevölkerung abzubauen.353 Mit GÜRBER ist als Schlusswort anzubringen,
dass eine verstärkte Prävention und Früherkennung und letztlich auch das
nicht derart repressive Jugendstrafrecht langfristig am meisten zur Sicherheit
beitragen.354
353
vgl. BRÄGGER, Kritische Gedanken, S. 26.
354
GÜRBER, Anhang 2, S. 36.
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