Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last J.-P. Braun Zusammenfassung Über Behandlungsprotokolle in der Intensivmedizin ist in den vergangenen Jahren vieles publiziert worden. Die Frage bleibt, ob es nur einen theoretischen Nutzen gibt oder ob sich der Alltag aus der Sicht von Personal und Patienten tatsächlich positiv verändert. Dieser Übersichtsartikel soll helfen, Behandlungsprotokolle in der Intensivmedizin und deren Nutzen richtig einzuschätzen. Abstract Several studies have been published about the use of treatment protocols in intensive care medicine. It is still unclear if using protocols leads to daily benefit for the staff and the patients or the use is only of theoretical value. This review may help estimating the use of treatment protocols in intensive care medicine. Einleitung Nur im Deutschen existiert der Begriff „Ärztliche Kunst“, d.h. Ärzte werden den Künstlern zugerechnet. Im Englischen dagegen spricht man von „medical science“, diese Semantik rückt Ärzte eher in den Bereich der Wissenschaften. Kunst ist etwas über alle Kritik Erhabenes, Wissenschaft dagegen beruht auf Fakten und ist nachvollziehbar und transparent. Möglicherweise tragen diese semantischen Unterschiede dazu bei, dass die Deutsche Medizin sich vergleichsweise lange den modernen Methoden des Wissensmanagements verschlossen hat. In hierarchischen Systemen, wie Krankenhäusern, stellt sich die Frage: wie kommen Neuerungen bzw. neues Wissen in Umlauf? Wie kann man fortwährend sicherstellen, dass aktuelles, erwiesenermaßen wirksames Wissen wirklich den Patienten erreicht. Levy et al [1] stellen fest, dass durchschnittlich 17 Jahre vergehen von der Entdeckung neuer Therapien bis zum routinemäßigen Gebrauch am Krankenbett. Definierte „Clinical Pathways“, Behandlungsprotokolle, Checklisten und SOPs (Standard Operating Procedures) haben sich als Werkzeuge des Innovationsmanagements bewährt, blicken aber auf eine junge Geschichte. Man muss hervorheben, dass die Deutsche Anästhesiologie sich solchen pragmatischen Methoden rasch zugewandt hat. Anästhesisten praktizieren mit der Etablierung von SOP-Tauschbörsen, intensivmedizinischen Netzwerken, Peer Reviews und intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren eine aktive Auseinandersetzung mit der Evi- denzbasierten Medizin. Zu diesen Instrumenten gehören auch Behandlungsprotokolle. Vieles spricht für die Verwendung von leitlinienbasierten Behandlungsprotokollen (Beispiele Ernährung [2], Beatmung [3], Sepsis [4], Analgosedierung und Delirbehandlung [5], Beatmungsweaning [6]). Allen Beispielen ist gemein, dass das Outcome der Patienten optimiert werden konnte, wenn evidenzbasierte Protokolle der Behandlung zugrunde lagen. Was also spricht dagegen? Warum können Protokolle als Last empfunden werden? Der klinische Alltag hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Die Einführung der DRGs in Deutschland hat dazu beigetragen, dass Behandlungspfade für bestimmte Diagnosen und Behandlungen standardisiert und geplant werden mussten. Die Prozessdichte am Krankenbett hat immens zugenommen, d.h. in kürzerer Zeit werden mehr Patienten versorgt und die Frequenz an Operationen und Interventionen ist parallel deutlich gestiegen, viele Prozeduren sind komplexer geworden, die Indikationen sind ausgeweitet worden, nicht zuletzt auf die Gruppe der älteren oder morbideren Patienten [7]. In Folge des aktuellen Arbeitszeitrechtes ist die Zahl der Ärzte im Krankenhaus angestiegen, verbunden mit einer deutlichen Zunahme an ärztlichen Übergaben und interprofessionellen Schnittstellen. Die für Dokumentation aufgewendete Zeit hat zugenommen und dies wird von Ärzten und Pflegenden, als eine Belastung empfunden, die von der Patientenversorgung ablenkt. Die pure Addition von Dokumentationen oder Vorgaben kann daher nicht zu einer Arbeitserleichterung führen. Was tun, wenn Checklisten und Protokolle doch nachweislich gute Effekte auf das Outcome von Patienten zeigen? Sind Studienergebnisse auf den klinischen Alltag übertragbar? Die Herausforderung Protokolle sollen den klinischen Alltag strukturieren und vereinfachen helfen. Die Erarbeitung von (Behandlungs-)Protokollen und Checklisten ist zeit- und ressourcenaufwendig. Hierfür müssen Projekte geplant werden. Es ist sinnvoll, die häufigen Prozesse bzw. Patientengruppen des klinischen Alltags zu analysieren und in Projekten aufzuarbeiten. Dieses Vorgehen ist effizient: das Häufige bzw. Alltägliche zu strukturieren führt in der Folge zu einer nachhaltigen Arbeitserleichterung für alle Beteiligten. Solange sich Checklisten ausschließlich auf die Abfrage von Routinen beschränken, stellen sie im klinischen Alltag keine unmittelbare Erleichterung dar. Vielmehr sollten Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last · J.-P. Braun 101 Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig sie den Prozessbeteilitgen Entscheidungshilfen gewähren, indem notwendige Entscheidungen im Kontext der möglichen Optionen bestmöglich getroffen werden. Entscheidung erhalten auf diese Weise eine transparente Grundlage, z.B. • die Einstellung einer Lungenprotektiven Beatmung auf der Grundlage von Patientenspezifischen Daten wie Größe, Gewicht und Oxygenierungsindex oder • das Erkennen von „stummen“ Delirs bei Intensivmedizinischen Patienten auf der Grundlage von routinemäßig durchgeführtem Screening mittels Scores. Unerwartete Akutsituationen lassen sich zum großen Teil dadurch verhindern, dass im Alltag wesentliche Behandlungsschritte nicht vergessen werden. Dies vor allem unter dem Aspekt, dass z.B. unerfahrene Teammitglieder sich an Ihnen orientieren können und • schneller in die Lage verstetzt werden, Entscheidungen auf rationaler Basis zu treffen und • schneller zu erkennen, wann Hilfe notwendig ist. In der Summe der Protokolle könnten die Erfahrenen im Team ein Zuviel an Dokumentationsaufwand als Zumutung empfinden, was zu einer reduzierten Akzeptanz von Protokollen führen kann. Jede Einrichtung sollte daher individuell die für sie wichtigsten Routinen erfassen und die Notwendigkeit von Checklisten und Protokollen kritisch prüfen. Organsystem/Therapie Beispiel Prozentsatz eingeführt Herz/Kreislauf Behandlung des akuten Koronarsyndroms 58,3%, therapeutische Hypothermie 53,8%, postoperative Versorgung von Koronarbypass­ patienten 44,4% Umgang mit aktiviertem Protein C 74,2%, Sepsis-Bundles 68,8%, ambulant erworbene Pneumonie 58% Management ventilator­ assoziierter Pneumonien 47,7% Katheterassoziierte Blutstrominfektionen 34,5%) Heparinprotokoll 83,8%, Thromboseprophylaxe 69,4%, Umgang mit niedermolekularem Heparin 44,4% Sedierungsprotokoll 69,1%, Schlaganfallprotokoll 52,6%, Infektionskrankheiten/ Sepsis Blutsystem Zentrales Nervensystem Nutzung von Protokollen in der Intensivmedizin LeBlanc et al. [8] haben 2012 eine Befragung über die Nutzung von Behandlungsprotokollen auf amerikanischen Intensivstationen unterschiedlicher Fachdisziplinen publiziert. 551 Einrichtungen in 329 Krankenhäusern konnten ausgewertet werden. Die drei am häufigsten verwendeten Protokolle bezogen auf ein Organsystem sind in folgender Tabelle zusammengefasst (in Prozent der evaluierten Einrichtungen): Als häufigste Gründe für Probleme bei der Erstellung von Protokollen wurden genannt: limitierte Personalressource, mangelnde ärztliche Unterstützung, Probleme beim Schulen. Die größten Barrieren bei der Implementierung von erstellten Protokollen waren: Ablehnung durch die Ärzte, mangelndes (Problem-)Bewusstsein, mangelnde Ressourcen. Als häufigster Grund für die Überarbeitung von Protokollen wurde die Akquise von neuem Wissen und neue Informationen angegeben. Als häufigster routinemäßiger Überarbeitungszeitraum wurde 12 Monate genannt. Der Nutzen der Protokolle wurde in den Berufsgruppen Pflegekräfte, Pharmazeuten und Ärzte sehr unterschiedlich bewertet. Der Nutzen von Protokollen in Hinblick auf das Patienten-Outcome wurde z.B. von Pflegkräften signifikant höher bewertet als von Ärzten. Es scheint sich in dieser Untersuchung zu zeigen, dass es eher Ärzte als Pflegekräfte sind, die Probleme im Umgang mit klinischen Protokollen auf Intensivstationen haben. Der Frage, ob protokollbasierte Regime auf Intensivstationen zum Nachlassen des aktiven Mitdenkens führen und damit zur „Verdummung“ von Ärzten beitragen, hat sich eine 102 Tabelle 1 Nutzung von Behandlungsprotokollen auf amerikanischen Intensiv­ stationen. In den verschiedenen Themenbereichen sind jeweils die 3 am häufigst genutzten Protokolle in Prozent dargestellt. Stoffwechsel Lunge/Atemweg Gastrointestinaltrakt Medikamentenprotokoll allgemein Alkoholentzugbehandlung 47,7% Insulinprotokoll (intravenös) 88,3%, Kaliumprotokoll 62,5%, Insulinprotokoll (subkutan) 57,7% ARDS Protokoll 47,1%, Umgang mit Bronchoinodilatatoren 27,9%, Behandlung des Status asthmaticus 11,1% Ulkusprophylaxe 71,5%, Ernährungsprotokoll (enteral) 52,9%, Ernährungsprotokoll (parenteral) 49,2% Schmerzprotokoll 47,7%, Relaxierung 43,8%, Prophylaxe der Kontrastmittelnephropathie 41,4% weitere amerikanische Studie gewidmet. Dirinder und Yende [9] konnten zeigen, dass es bei Assistenzärzten (n = 553) keinen Unterschied gab bei den Antworten auf Prüfungsfragen zur Beatmungstherapie zwischen den Kollegen, die auf Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last · J.-P. Braun Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig Intensivstationen mit hohem Standardisierungsgrad in der Beatmungstherapie (= 2 oder mehr Protokolle zur Beatmung über die vergangenen drei Jahre) ausgebildet wurden und denen, die auf Intensivstationen mit niedrigem Standardisierungsgrad in der Beatmungstherapie (kein oder maximal ein Protokoll). weist darauf hin, dass Analgesie und Sedierung ebenfalls die Beatmung des Patienten beeinflussen. Behandlungsprotokolle: Evidenz und lokaler Bezug In ihrem Review-Artikel stellen Lütz et al. [12] fest, dass Sedierung, Beatmung und Delir eng miteinander verwoben sind und dass Beatmungsweaning und neuromuskuläre Schwäche bei Intensivpatienten in diesem Kontext ebenfalls Erwähnung finden müssen. Die Autoren treffen die Schlüsselaussage, dass Protokolle zum Beatmungsweaning und zur Sedierung das Überleben von Intensivpatienten verbessern und die kognitive Funktion der Patienten optimieren. Die Beatmungsdauer und die Verweildauer auf Intensivstationen werden dadurch ebenfalls gesenkt. Wenn man in eine der häufig genutzten Suchmaschinen in Internet die Begriffe „Protokoll“ oder „Checkliste“ und „Intensivstation“ eingibt, findet man eine große Zahl von Einträgen. Viele Intensivstationen haben ihre hausspezifischen Protokolle im Internet publiziert. Man kann dem entnehmen, dass Protokolle Ihren Einzug in den klinischen Alltag gefunden haben. Die hierbei erarbeiteten lokalen Standards (Standard Operating Procedures = SOP) beinhalten dabei zwei wesentliche Komponenten: 1. evidenzbasierte (Leitlinien-konforme) Inhalte und 2. lokale Besonderheiten. Die lokalen Gegebenheiten sind nicht auf andere Einrichtungen unkritisch übertragbar. Es handelt sich um spezifische Faktoren wie Personalstruktur, bauliche Gegebenheiten oder die Präsenz von unterschiedlichen Fachdisziplinen. Zur Veranschaulichung folgende Beispiele: • wenn ein evidenzbasiertes Ernährungs- bzw. Blutzuckerprotokoll erstellt wird, muss bedacht werden, wie die Verfügbarkeit von Blutzuckerkontrollen organisiert ist. • bei Protokollen zur Delirbehandlung spielen Faktoren der baulichen Umgebung ebenso eine Rolle wie die Umsetzbarkeit des konsequenten Delirmonitorings. • Protokolle zu Beatmungsweaning müssen im Kontext gesehen werden zum Personal (qualitativ, quantitativ), dem Sedierungsprotokoll und den verfügbaren Geräten. Das bedeutet, dass medizinische Evidenz mit Struktur- und Prozessqualität des Krankenhauses in Kontext gesetzt werden muss. Protokolle lassen sich daher häufig nicht eins zu eins von einem Krankenhaus auf das nächste übertragen. Protokolle und deren Nutzen soll im Folgenden Kapitel veranschaulicht werden. Behandlungsqualität und Protokollbasiertes Arbeiten Prozesse auf Intensivstationen sind komplex und miteinander verwoben. Die Einführung eines Protokolls führt daher ebenfalls zu komplexen Veränderungen. Die folgenden Beispiele sollen veranschaulichen, dass in Folge von Protokollbasiertem Arbeiten auf einer Intensivstation sich die Abläufe auf komplexe Art verändern und damit weitere Faktoren als diejenigen, die primär im Fokus des jeweiligen Protokolls standen, beeinflusst werden: Porhomayon et al. [10] können für ihre operative Intensivstation nach Einführung von Protokollen zur Analgesie und Sedierung feststellen, dass der Verbrauch von Fentanyl und Midazolam signifikant gesunken ist und dass die Sedierungs- und Analgesieziele bei 86,8% respektive 74,4% erreicht wurden. Die Beatmungsdauer wurde nach Protokolleinführung ebenfalls signifikant von 5,9 auf 3,8 Tage gesenkt. Diese Untersuchung Hager et al. [11] zeigen in einer prospektiven Studie, dass die Inzidenz des Delirs bei Patienten, die wegen eines akuten respiratorischen Versagens beatmet werden, durch ein Sedierungsprotokoll signifikant gesenkt wird. Zomorodi et al. [13] beschreiben für operative und Traumapatienten den Einsatz von Mobilisationsprotokollen. Für die Machbarkeit und den Erfolg solcher Protokolle wird die Bedeutung der Multidisziplinarität hervorgehoben. Dieser Aspekt spielt bei Protokollen jeglicher Art auf Intensivstationen eine zentrale Rolle. Die Protokolle sollen helfen alle Prozessbeteiligten, Ärzte, Pflege und Therapeuten gemeinsam in die Prozesse einzubinden. Werden in einem Mobilisationsprotokoll Ziele definiert bzw. Entscheidungsgrenzen festgelegt, können Patienten von Pflegenden und Therapeuten frühzeitig mobilisiert werden im Rahmen der durch das Protokoll definierten „procura“. Die Machbarkeit von Mobilisation wird konkret an den medizinischen Zustand des Patienten gekoppelt: wie tief ist der Patient sediert, liegt ein Delir vor, sind die Kriterien zur Spontanatmung gegeben? Grenzen werden sichtbar und die Vigilanz der Beteiligten wird geschärft für die Probleme der Patienten. Unter diesem Aspekt sollte die Studie von Danckers et al. [14] verstanden werden. Die Autoren vergleichen das Weaning von Beatmungspatienten nach einem durch Pflegekräfte durchgeführten Protokoll mit dem Weaning, wie es durch Ärzte (ohne Protokoll) zuvor praktiziert wurde. Die Untersuchung zeigt, dass es bei 102 vs. 100 Patienten keinen Überlebensvorteil einer der Gruppen gab. Die durch die Pflege protokollbasiert geweanten Patienten zeigten jedoch kürzere Beatmungs- und ICU-Verweildauern. Die Reintubationsrate war gleich. Unter vorsichtiger Interpretation dieser Daten, kann man festhalten, dass protokollbasiertes Weaning auch von ausgebildeten Pflegekräften durchgeführt werden kann, ohne dass es zu einem Qualitätsverlust bei der Patientenbehandlung kommt, wahrscheinlich werden die Patienten sogar kürzer beatmet. Die Diskussion, wer besser Weaning durchführen kann, Ärzte oder Pflegende, ist hierbei irrelevant. Fest zu halten bleibt, dass Protokolle Assistenzberufe in die Lage versetzen können, definierte medizinische Tätigkeiten unter Beachtung der Patientensicherheit selbstständig durchzuführen. Protokolle schaffen Sicherheit für die handelnden Personen, zudem reduziert sich durch solche Protokolle die o.g. zusätzliche Belastung im ärztlichen Bereich. Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last · J.-P. Braun 103 Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig Protokolle können gerade in Akutsituationen das Handeln vereinfachen. Khan et al. [15] beobachten, dass ein Protokoll zur Massivtransfusion bei Traumapatienten die Zahl der verworfenen Blutprodukte signifikant senkt und die Krankenhausverweildauer der Patienten signifikant reduziert. Für den OP Bereich können Scheeren et al. [16] in Ihrer Multicenterstudie zeigen, dass die intraoperative Flüssigkeitstherapie nach einem Schlagvolumenorientierten Protokoll mit einer reduzierten Inzidenz von postoperativen Wundinfektionen verbunden ist. VAP Bundles haben. Vereinfachend kann man sagen, dass solche Maßnahmen geeignet sind die Inzidenz von VAP zu reduzieren, die a) zur Verkürzung der Beatmungsdauer oder b) zur Vermeidung von (Mikro-)Aspirationen beitragen. Die Beatmungsdauer kann effektiv durch Weaningprotokolle reduziert werden, Aspirationen können z.B. durch Lagerungsprotokolle, Absaugprotokolle, Mundpflegemaßnahmen, Schleimhautdesinfektion oder -dekontamination oder Cuff-Druck-Protokolle reduziert werden. Protokolle tragen dazu bei, dass die physiologischen Parameter jedes individuellen Patienten in den Fokus rücken und damit nicht, wie häufig in der Vergangenheit praktiziert, starre Schemata bestimmend sind. Das kann z.B. das kardiale Schlagvolumen des Patienten sein oder etwa der Procalcitonin(PCT)-Wert bei septischen Patienten. Hohn et al. [17] können beispielsweise zeigen, dass die PCT-orientierte Antibiotikatherapie die Behandlungsdauer mit Antiinfektiva verkürzt ohne negative Auswirkung auf den Infektionsverlauf. Bei komplexen Protokollen zur Behandlung von Patienten nach Schädelhirntrauma sind es simultan mehrere physiologische Parameter, die zur Steuerung der Behandlung herangezogen werden (intrakranieller Druck, Blutdruck, Blutzucker, Körpertemperatur, Serum-Natriumwert, Hämoglobinwert, SerumAlbuminwert). Schirmer-Mikalsen et al. [18] untersuchen, welche Auswirkungen die Abweichungen von den im Protokoll enthaltenen Zielparametern auf die Prognose hatten. Sie stellen fest, dass sich die Häufigkeit von Abweichungen zwischen den einzelnen Parametern des Protokolls sehr unterschied. Anämie, Episoden mit erhöhtem Hirndruck und Fieber stellten die drei häufigsten Protokollabweichungen dar. Die Autoren untersuchen ferner den prädiktiven Einfluss der unterschiedlichen Parameter auf das Outcome der Patienten. Pneumonie war die häufigste extrakranielle Komplikation. Prädiktoren für schlechtes Outcome waren hohes Patientenalter, niedriger Glascow Coma Scale, Pupillendifferenz, hoher Injury Severity Score, erhöhter Hirndruck, Hyperglykämie und Pneumonie. Solche Untersuchungen können dazu beitragen, die Zielparameter für Behandlungsprotokolle zu priorisieren. Protokolle tragen einzeln für sich genommen oder in Kombination zur gesteigerten Patientensicherheit bei. Die Patientensicherheit wird aber nicht nur durch die hier schon genannten medizinischen Maßnahmen optimiert sondern auch durch organisatorische Maßnahmen auf Intensivstationen, die mittels Protokollen den Alltag strukturierter gestalten. Die unkoordinierte Patientenüberleitung von der Intensivstation auf die Normalpflegestation im Krankenhaus ist für Patienten mit einem relativ hohen Risiko verbunden entweder auf die Intensivstation zurück verlegt zu werden (1 von 12 [21]) oder auf der Normalstation ungeplant zu versterben. Überleitungsprotokolle, die den Verlegungsvorgang inklusive der patientengebundenen Verlegungskriterien und die Übergabealgorithmen festlegen, sind gegenwärtig Gegenstand von Untersuchungen in den Niederlanden und Kanada [21,22]. Die 48-StundenRückübernahme-Quote ist eine Qualitätskennzahl im deutschen Kerndatensatz Intensivmedizin [23], die dazu beiträgt, das Problem der Verlegung von Intensiv- auf Normalstation transparent zu machen. Infektionen sind ein zentrales Problem in der modernen Intensivmedizin und von entscheidender Bedeutung für die Sterblichkeit. Protokolle zur Infektionsvermeidung gewinnen daher zunehmend an Bedeutung. Pronovost et al. [19] untersuchen die Auswirkungen der Implementierung von (Hygiene-) Protokollen zur Vermeidung von katheterassoziierten Blutstrominfektionen. Auf 108 Intensivstationen in Michigan wurde nach Protokolleinführung die Rate der Blutstrominfektionen um 66% gesenkt. Hygienestrategien bzw. Maßnahmenbündel (Bundle) spielen ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Vermeidung von Ventilatorassoziierten Pneumonien (VAP) [20]. Die Begriffe „VAP“ als auch die entsprechenden „VAPBundle“ werden in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Es gibt aber keinen Zweifel, dass viele Maßnahmen publiziert wurden, die zur Reduktion von Pneumonien bei beatmeten Patienten beitragen und daher ihren Platz als Bestandteil von 104 Das möglicherweise wichtigste Protokoll mit der Intention die Abläufe auf der Intensivstation evidenzbasiert zu verändern ist die interprofessionelle, multidisziplinäre Visite mit Festlegung von Tageszielen. Pronovost et al. [24] haben mit dieser vergleichsweise einfachen Maßnahme die Kommunikation zwischen den verschiedenen Berufsgruppen einer Intensivstation signifikant verbessert. In einer Untersuchung von Weiss et al. führte die Verwendung derartiger Checklisten zur Erreichung von Tageszielen und zu einem Überlebensvorteil der Patienten [25]. Das Checklisten-ähnliche Überprüfen von Tageszielen ist jedoch in der Umsetzung nicht trivial: Die beteiligten Berufsgruppen müssen zur Umsetzung ihre jeweiligen Tagesroutinen verändern und aufeinander abstimmen, was mit kollateralen Veränderungen von abhängigen Abläufen verbunden ist und sorgfältig geplant werden muss. Protokolle können außer auf die Qualität der allgemeinen intensivmedizinischen Versorgung auch auf die Behandlung von speziellen Patientengruppen abzielen. Frederickson et al. [26] widmen sich in ihrer Untersuchung speziell dem alten Patienten nach Trauma auf der Intensivstation. Die physiologischen Veränderungen der Körperfunktionen im Alter lassen es als sinnvoll erscheinen, Behandlungsprotokolle speziell auf diese Zielgruppe anzupassen. Die Autoren beschreiben spezielle Protokolle: • VAP-Protokoll (Oberkörperhochlagerung, 4-stündige Mund-­ pflege, geschlossene Absaugsysteme, subglottische Absaugung, Vibrationsmassage), Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last · J.-P. Braun Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig • Rippenfrakturen-Protokoll (ein Trauma-Team wird involviert bei 3 und mehr Rippenfrakturen) • Transfusionsprotokoll (das Protokoll definiert das Management bei der Transfusion von Erythrozytenkonzentraten, Thrombozytenkonzentraten und anderen Blutprodukten) • Antikoagulationsprotokoll (die Behandlung mit Antikoagulatien wird geplant auf der Datenbasis von der Hausmedikation mit Antikoagulantien, der Befunde der Traumauntersuchung/Screening, der Hämodynamischen Stabilität) Die Anwendung dieser speziell auf ältere Patienten zugeschnittenen Protokolle reduzierte die Verweildauer auf der Intensivstation signifikant. Die Autoren heben hervor, dass die Protokolle sehr schnell vom Personal übernommen wurden; sie machten aber zugleich auf ein methodische Problem aufmerksam, den sog. „Hawthrone Effekt“: Gruppen verändern ihr Verhalten, wenn die Gruppe weiß, dass sie unter Beobachtung steht. Dieses Problem ist generell zu beachten, wenn man die Implementierung von Veränderungen in den Routinebetrieb einer Klinik untersucht (Bias durch Studienbedingungen). Die medizinische Wissenschaft widmet sich in den letzten Jahren vermehrt dem Problem der Implementierung von Protokollen. Intensivstationen bieten hierfür eine gute wissenschaftliche Basis [27]. Protokolle können auch die Beachtung und Umsetzung des Patientenwillens zum Gegenstand haben. Der Frage, wie Protokolle zur Umsetzung des Patientenwillens bei der Therapiezieländerung auf Intensivstationen im Alltag etabliert sind, haben sich Graw et al. [28] gewidmet. Sie untersuchen über mehrere Jahre das Vorhandensein von Patientenverfügungen und den Prozess der Therapiezieländerung auf einer Intensivstation der Charité. Sie stellten fest, dass ca. 70% der auf der Intensivstation verstorbenen Patienten nach einem Standard zur Evaluation des Patientenwillens im Sinne einer EOLD(= End-Of-Life-Decision) verstorben waren, d.h. diese Patienten waren verstorben nachdem der individuelle Patientenwille (mutmaßlich oder schriftlich fixiert) evaluiert worden war in einem Protokollbasierten Vorgehen, welches die Personen, die an dem Prozess beteiligt sind, regelt. Die Autoren zeigen, dass ein Standard zur Entscheidungsfindung es ermöglicht, den individuellen Bedürfnissen des Patienten und der Angehörigen einen Raum zu gewähren. Das protokollbasierte Vorgehen wurde in Graws retrospektiver Untersuchung unabhängig von Tageszeit und Wochentag eingehalten. Qualitätsinidkatoren und Protokolle auf der Intensivstation Der PDCA (Plan-Do-Check-Act) -Zyklus ist als Instrument des Qualitätsmanagements zur Prozessoptimierung bekannt. Werden Protokolle zur Verbesserungen von Prozessen auf der Intensivstation etabliert, stellt sich die Frage des „Check“: hat sich tatsächlich etwas verändert? Um die Qualität der intensivmedizinischen Versorgung überprüfen zu können, wurden für alltägliche Therapieverfahren, Prozesse und Strukturen in Deutschland die Intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren (QIs) definiert [20]. Sie ermöglichen sowohl eine Selbstkontrolle der bettseitigen Prozesse als auch eine Fremdkontrolle durch sog. „Peers“ [29]. Im Vergleich zu intensivmedizinischen Qualitätsindikatoren in anderen Ländern sind die deutschen QIs sehr an der Prozessqualität orientiert [30]. 8 von 10 Qualitätsindikatoren reflektieren einen intensivmedizinischen Prozess. Intensivmediziner erhalten auf diese Weise die Möglichkeit ihre Kernprozesse selbst zu überwachen. Die Verwendung von elektronischen Patientendatenmanagementsystemen (PDMS) kann hierbei sehr hilfreich sein, um eine Rückmeldung über Zielerreichungsgrad zu erhalten [31]. Die deutschen Qualitätsindikatoren können explizit dafür herangezogen werden sich selbst (auch ohne PDMS) zu überprüfen: • QI I: Tägliche multiprofessionelle klinische Visite mit Dokumentation von Tageszielen hilft dabei sich selbst zu überprüfen, ob ein mit der Pflege gemeinsam festgelegtes Protokoll zur Visite und der Umsetzung ihrer Festlegungen täglich umsetzt wird. • QI II: Monitoring von Sedierung, Analgesie und Delir überprüft die Definition und Umsetzung entsprechender Protokolle, die von Pflegekräften und Ärzten nur gemeinsam umgesetzt werden können. • QI III: Die Lungen-Protektive Beatmung hinterfragt die Umsetzung von Beatmungsprotokollen bei Patienten, die kontrolliert beatmet werden. Wiederum hängt der Erfolg von der erfolgreichen Interaktion von Pflegekräften und Ärzten ab. • QI IV: Weaning und andere Maßnahmen zur Vermeidung von VAP ist ein sehr komplexer Indikator, der mehrere unterschiedliche Protokolle hinterfragt, die jedoch das gemeinsame Ziel verfolgen, die VAP-Rate zu senken. Ärzte und Pflegende sind gefordert, sich um das Beatmungsweaning und um Protokolle zur Vermeidung von (Mikro) Aspirationen zu bemühen. Mundpflege, Lagerung und Sekretmanagement stehen hier gleichermaßen im Fokus. • QI V: Frühzeitige und adäquate Antibiotikatherapie eröffnet die Möglichkeit, die Umsetzung der Sepsis-Bundle zu überprüfen. Die Herausforderung SIRS und Infektion zu erkennen und rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen richtet sich an Ärzte und Pflegpersonal (Erkennen von SIRS Kriterien), die schnelle adäquate Therapie richtet sich ein Protokollbasiertes Vorgehen der Ärzte bei der Wahl des (kalkuliert) richtigen Antiinfektivums. Ein solches Protokoll sollte lokale Resistenzen berücksichtigen, aber auch die patientengerechte Applikation und Dosis. • QI VI: Therapeutische Hypothermie nach Herzstillstand richtet sich an therapeutische Protokolle bei reanimierten Patienten. Welches Verfahren zuverlässig oder im jeweiligen Krankenhaus umsetzbar ist, wird Gegenstand eines solchen Protokolls sein. Kühlung und kontrolliertes Erwärmen fordern Ärzte und Pflegekräfte. Dieser Indikator wird in den kommenden Jahren aufgrund der aktuellen Literatur in die Diskussion kommen. Protokolle in der Intensivmedizin – Sinnvolle Hilfe oder zusätzliche Last · J.-P. Braun 105 Refresher Course Nr. 40 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2014 · Leipzig • QI VII: Frühe Enterale Ernährung ermöglicht die Kontrolle der Umsetzung von Ernährungsprotokollen. Solche Protokolle erfordern nicht nur Abstimmung mit Fachdisziplinen, die eventuelle Kontraindikationen gegen eine adäquate enterale Ernährung aussprechen könnten, sondern auch mit den Pflegekräften, die die adäquate enterale Ernährung im Spannungsfeld von gastralen Residualvolumina oder Blutzuckermanagement umsetzen sollen. • QI VIII: Dokumentation von strukturierten Angehörigengesprächen ist ein Indikator, der die behandelnden Ärzte dabei unterstützt, den (mutmaßlichen) Patientenwillen regelmäßig zu hinterfragen und die Angehörigen als Partner eines Behandlungskonzeptes zu gewinnen und einzubinden. Protokolle zur Kommunikation und Entscheidungsfindung sind sehr hilfreich um Missverständnisse zu beseitigen und die Ziele intensivmedizinischer Behandlung realistisch zu gestalten. Diese acht Prozessindikatoren ermuntern den Intensivmediziner dabei, sich Protokolle im Alltag zu erschließen um die Abläufe auf der Intensivstation zielgerichtet, evidenzbasiert und für alle Beteiligten verständlich zu gestalten. Eingedenk der notwendigen Ressourcen zur Entwicklung und Implementierung von sinnvollen Protokollen in der Intensivmedizin müssen Projekte aufgelegt werden, um Protokolle im intensivmedizinischen Alltag nutzbringend anwenden zu können. Protokolle können helfen, unerwartete Komplikationen zu vermeiden und können dazu beitragen, das Verständnis von Ärzten, Pflegenden, Therapeuten, Patienten und Angehörigen für einander zu erhöhen. Protokolle helfen jedem Beteiligten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und allen gemeinsam, ihren Beitrag zum Ganzen aktiv wahrzunehmen. Es ist nicht sinnvoll für jede Eventualität ein Protokoll zu entwickeln, sondern die relevanten bzw. häufigen Prozesse durch Protokolle zu vereinfachen. Die eigentliche Kunst mag darin liegen, ein gesundes Maß an Protokollen zu erstellen. Schlussfolgerung Behandlungsprotokolle sind ein effektives Hilfsmittel um die Schlüsselprozesse des intensivmedizinischen Alltages einfacher zu gestalten. Sie helfen, aktuelle, evidenzbasierte Erkenntnisse leichter in die intensivmedizinische Routine zu übernehmen. Sinnvolle (Behandlungs-)Protokolle sind keine starren Vorgaben sondern orientieren sich an physiologischen Parametern der Patienten und geben patientenadaptierte Zielparameter für medizinische und pflegerische Maßnahmen vor. Der individuelle Patient steht im Fokus. Protokolle definieren die Rollen von Pflegekräften und Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen im gemeinsamen Behandlungsprozess. Qualitätsindikatoren helfen dabei, die Effekte des protokollbasierten Handelns transparent zu machen und den Zielerreichungsgrad zu messen. Protokolle verbessern die Kommunikation der Beteiligten und erhöhen die Patientensicherheit. 106 Literatur 1.Levy MM, Pronovost PJ, Dellinger RP, Townsend S, Resar RK, Clemmer TP et al. Sepsis change bundles: Converting guidelines into meaningful change in behavior and clinical outcome. Crit Care Med 2004;32:S595-7 2. Kreymann KG, Berger MM, Deutz NE, Hiesmayr M, Jolliet P, Kazandjiev G et al. DGEM (German Society for Nutritional Medicine), Ebner C, Hartl W, Heymann C, Spies C; ESPEN (European Society for Parenteral and Enteral Nutrition). ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition: Intensive care. Clin Nutr 2006;25:210-23 3. American Thoracic Society; Infectious Diseases Society of America. Guidelines for the management of adults with hospitalacquired, ventilator-associated, and healthcare-associated pneumonia. Am J Respir Crit Care Med 2005;171:388-416 4. Reinhart K, Brunkhorst FM, Bone HG, Bardutzky J, Dempfle CE, Forst H, et al. 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