Modul Wahrnehmung und Kommunikation Vorlesung Ws 06/07 Vorlesung III R. Lohmiller Interaktion und Wahrnehmung In der letzten Vorlesung beschäftigten wir uns mit Wahrnehmung und Wahrnehmungstäuschungen/ Störungen unter Blickwinkeln der allgemeinen Wahrnehmungspsychologie und ästhetischer Komponenten. Anhand der zuletzt gezeigten Beispiele von Farb-Kontrasten möchte ich heute anknüpfend einen Bogen schlagen zur Interaktion zwischen Menschen und den besonderen Bedingungen dieser Interaktionen. Im Speziellen weise ich auf das sogenannte Karrierekonzept hin, das sich anders darstellt, als Sie es vielleicht in ihrem Sprachgebrauch bisher benutzen. Zu den Farbkontrasten: Ich unterscheide hier in sukzessiv, simultan und komplementär - Kontrast und mache dies an folgenden Beispielen deutlich: vgl. Albers, Josef. Interaction of color. Köln 1970/97 Ins Gedächtnis rufe ich hier vor allem noch einmal die Aussagen in der letzten Stunde über die Wiedererkennung von Farben und unser relativ schlechtes Rüstzeug dafür. Die Coca Cola Dose hatte ich genannt, eine weitere gute Brücke zu unserem heutigen Thema bildet das Schokoladenlila der Packung einer ihnen gut bekannten Schokoladenmarke. Ich nenne zur Verdeutlichung die Werbeaussage: „It´s cool man“ und als Werbeträger den Skispringer Martin Schmidt. Diese Farbe hat eine lange Vergangenheit und fand seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr Beachtung, da sie für eine ganz bestimmte Art zu genießen und zu Leben stehen kann. Die Farbe hat sozusagen in der Verknüpfung mit der Schokolade Karriere gemacht. Anhand dieses Beispiels sehen Sie gut die Interaktion der Farben, die sich in ihren Wechselwirkungen beeinflussen und hier als Modell für Interaktionsprozesse stehen können. Interaktion benenne ich hier unter soziologischen Gesichtspunkten. Interaktionsbegriff in Soziologie und Psychologie (vgl. Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f.) Interaktion meint, ein "aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen" oder die "Wechselbeziehung zwischen Handlungspartnern". 2 Die soziale Interaktion bezeichnet das sich wechselseitig bedingende Handeln der Individuen einer Gesellschaft oder Gruppe zum Zwecke der Abstimmung des Verhaltens der Beteiligten bzw. des konkreten Handelns der Kooperationspartner. Damit wird die Interaktion als ein Aspekt der sozialen Wechselwirkung bestimmt. Das soziologische Verständnis von Kommunikation kann nicht auf direkte Interaktion beschränkt werden und diese ist nicht allein aus sich selbst verständlich, da sie von dem Gebrauch der Medien und deren okönomischen und technischen Voraussetzungen geprägt ist und in der Regel innerhalb von Institutionen stattfindet. Nach Parsons muss ein Individuum, das in eine soziale Interaktion eintritt, sich für eines der von ihm beschriebenen Verhaltensmuster entscheiden. In der Systemtheorie nach Niklas Luhmann entsteht ein Interaktionssystem aus dem aufeinander bezogenen Verhalten von Anwesenden (siehe Kommunikation (Systemtheorie)). Voraussetzung dafür ist wechselseitige Beobachtbarkeit. Unter dieser Bedingung kann man nicht verhindern, dass (der oder die) andere(n) das eigene Verhalten als Kommunikation verstehen. Das geschieht genau dann, wenn dem Verhalten einer Person von einem Beobachter eine Information abgewonnen /zugeschrieben wird und es damit als Mitteilungshandeln interpretiert wird. Beispiel: "Warum bekommst Du einen roten Kopf?" Da also Verhalten so gesehen kein Gegenteil hat, kann man sich bei wahrgenommenem Verhalten nicht nicht verhalten. Vgl. Parsons System der vier Funktionen: Adaption (oder auf deutsch Anpassung) Zuständig für die Adaption auf gesellschaftlicher Ebene ist das Wirtschaftssystem Goal-Attainment (Zielerreichung) Zuständig für die Zielerreichung auf gesellschaftlicher Ebene ist das politische System Integration Zuständig für die Integration auf gesellschaftlicher Ebene ist das Normensystem Latent Pattern maintenance (Latente Aufrechterhaltung von Wertmustern) Zuständig für die Aufrechterhaltung von Wertmustern auf gesellschaftlicher Ebene ist das Kultursystem Talcott Parsons (* 13. Dezember 1902 in Colorado Springs, Colorado; † 8. Mai 1979 in München; Werke: "The Structure of Social Action" (1937); "Family, Socialization and Interaction Process" (1955) (Hrsg. gem. m. Robert F. Bales); "Social Systems and the Evolution of Action Theory" (1977); "Action Theory and the Human Condition" (1978) Der symbolische Interaktionismus ist eine soziologische Theorie, die sich mit der Interaktion zwischen Personen beschäftigt. Sie basiert auf dem Grundgedanken, dass die Bedeutung von sozialen Objekten, Situationen und Beziehungen im symbolisch vermittelten Prozess der Interaktion/Kommunikation hervorgebracht wird. In der Systemtheorie von Niklas Luhmann wird unter Interaktion Kommunikation unter Anwesenden verstanden (etwa im Gegensatz zur schriftlichen Kommunikation): 3 Siehe Interaktionssystem. Die Schule des symbolischen Interaktionismus (auch Chicagoer Schule) wurde von Herbert Blumer (1900 - 1987) begründet. Blumer war ein Schüler des Sozialphilosophen und frühen Sozialpsychologen George Herbert Mead (1863 - 1931). Als Blumer den Symbolischen Interaktionismus ausarbeitete, orientierte er sich vor allem an Meads Überlegungen zur stammesgeschichtlichen (phylogenetischen) Bildung des Bewusstseins und persönlichen (ontogenetischen) Entwicklung der Identität unter Verwendung einer gemeinsamen Sprache: "Logisches Universum signifikanter Symbole". Siehe auch: John Cunningham Lilly Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus Blumer stellte 1981 folgende Grundannahmen zum Symbolischen Interaktionismus auf: Herbert Blumer (* 7. März 1900; † 13. April 1987) Herbert. Symbolic Interaction: Perspective and Method (1969) Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen. - Die Bedeutung der Dinge entsteht durch soziale Interaktion. - Die Bedeutungen werden durch einen Prozess; „den interpretativen Prozess“ verändert, in dem selbstreflexive Individuen symbolisch vermittelt interagieren. - Menschen erschaffen die Erfahrungswelt in der sie leben. - Die Bedeutungen dieser Welten sind das Ergebnis von Interaktionen und werden durch die von den Personen jeweils situativ eingebrachten selbstreflexiven Momente mitgestaltet. - Die Interaktion der Personen mit sich selbst ist mit der sozialen Interaktion verwoben und beeinflusst sie ihrerseits. - Formierung und Auflösung, Konflikte und Verschmelzungen gemeinsamer Handlungen konstituieren das soziale Leben der menschlichen Gesellschaft. - Ein komplexer Interpretationsprozess erzeugt und prägt die Bedeutung der Dinge für die Menschen. Die Aktivität der Menschen besteht also laut Blumer darin, „..., dass sie einem stetigen Fluss von Situationen begegnen, in denen sie handeln müssen, und dass ihr Handeln auf der Grundlage dessen aufgebaut ist, was sie wahrnehmen, wie sie das Wahrgenommene einschätzen und interpretieren und welche Art geplanter Handlungslinien sie entwerfen...". Herbert Blumer. Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973, S.96 vgl. Blumer: drei Prämissen des Handelns: 1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf Grund der Bedeutung, die diese Dinge für sie haben. 4 2. Diese Bedeutung entsteht in einem Interaktionsprozess. 3. Die Bedeutung wird von der Person in Auseinandersetzung mit den Dingen selbst interpretiert, daraufhin entsprechend gehandhabt und geändert. Blumer, H. Symbolic Interaction: Perspective and Method (1969) 1. Der Handelnde "zeigt" sich selbst die Gegenstände an, auf die er sein Handeln ausrichtet, er macht sich auf die Dinge selbst aufmerksam, die eine Bedeutung für ihn haben; dieses "Anzeigen" ist ein internalisierter sozialer Prozess, in dem der Handelnde mit sich selbst interagiert (Kommunikationsprozess mit sich selbst) 2. Die Interpretation (der Bedeutung des Dings) durch diesen Kommunikationsprozess ist ein formender, kein automatischer Prozess: Der Handelnde "sucht [...] die Bedeutungen aus, prüft sie, stellt sie zurück, ordnet sie neu und formt sie um". Herbert Blumer. Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973, S.103 Menschliches Zusammenleben Der symbolische Interaktionismus verheißt somit, auch komplexe gesellschaftliche Vorgänge zumindest theoretisch auf seine jeweils kleinste Einheit, das Individuum, herunter brechen zu können. Gemeinsames, kollektives Handeln stellt hierbei immer das Resultat bzw. den Verlauf eines Prozesses gegenseitig interpretierender Interaktionen dar. Menschliches Zusammenleben besteht also aus und in dem gegenseitigen Aufeinander abstimmen der Handlungslinien durch die Beteiligten, wobei der spezifische Charakter der gemeinsamen Handlungen in der Verbindung eben dieser selbst begründet und unabhängig von dem ist, was jeweils verbunden oder verknüpft wird. Das gemeinsame Handeln, welches Blumer auch als das „verbundene Handeln der Gesamtheit" (siehe oben) bezeichnet, ist somit immer die Gesamtheit der Verkettungen / Aufeinanderabstimmungen einzelner Handlungen der Individuen und somit das Ergebnis einer fortwährend ablaufenden, niemals abgeschlossenen Entwicklung. Vgl. ebd. Deutungen Betrachtet man diejenigen Fälle, in denen das gemeinsame Handeln wiederkehrend und stabil ist (also gesellschaftlich gefestigte, sich wiederholende Muster gemeinsamen Handelns), so haben die an der jeweiligen Situation beteiligten Menschen im Voraus ein Verständnis davon, wie sie und andere handeln wollen und wahrscheinlich werden. Dieses Verständnis ergibt sich aus den gemeinsamen, schon 5 bestehenden Deutungen dessen, was von der Handlung eines Teilnehmers einer Situation zu erwarten ist. Aufgrund eben dieses Verständnisses ist jeder Teilnehmer in der Lage, sein eigenes Verhalten auf der Grundlage dieser Deutungen zu steuern. Hierbei besteht die Gefahr, Ursache und Wirkung dahingehend zu vertauschen, dass man zu dem Schluss kommen könnte, es seien die Normen, Regeln, Werte und Sanktionen welche das Handeln der Menschen determinieren. Und zwar indem sie vorschreiben, wie Menschen in den unterschiedlichsten Situationen zu handeln haben. Jedoch werden laut Blumer die Interaktionen der Teilnehmer einer Situation nicht von den Werten und Normen determiniert; sondern die Werte und Normen werden erst durch das kontinuierliche Aushandeln von Bedeutungen in den Interaktionen der Teilnehmer konstituiert. Vgl. ebd. S. 106 Fazit Sowohl wiederkehrende, „eingefahrene" Handlungen als auch neue Formen gemeinsamen Handelns sind also das Ergebnis eines durch Interaktion angetriebenen Interpretationsprozesses. Kultur Definition: William James Durant gibt in seinem Werk (Kulturgeschichte der Menschheit) folgende populäre Definition. Dieser Kulturbegriff spart prähistorische Kultur aus: "Kultur ist soziale Ordnung, welche schöpferische Tätigkeiten begünstigt. Vier Elemente setzen sie zusammen: Wirtschaftliche Vorsorge, politische Organisation, moralische Traditionen und das Streben nach Wissenschaft und Kunst. Sie beginnt, wo Chaos und Unsicherheit enden. Neugier und Erfindungsgeist werden frei, wenn die Angst besiegt ist, und der Mensch schreitet aus natürlichem Antrieb dem Verständnis und der Verschönerung des Lebens entgegen." Durant; William James. Kulturgeschichte der Menschheit, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981. S. 265 Das traditionelle Verständnis von Kultur umschließt den lexikalen Begriff: Kultur (lat. cultura), Pflege (des Körpers aber primär des Geistes), später im Kontext mit dem Landbau, aus colere, bebauen, (be)wohnen, pflegen, ehren, (ursprünglich etwa) emsig beschäftigt sein, ist die Gesamtheit der menschlichen Leistungen. Sprache, Literatur, Religion und Ethik, Medizin, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft und Rechtsprechung. William James Durant (* 5. November 1885 in North Adams, Massachusetts; † 7. November 1981 6 Wenn also nun die sogenannten Aushandlungsprozesse dafür sorgen, dass wir gesellschaftlich verabredet Zusammenleben und gemeinsam unser Verhalten anpassen, dann steht die Frage im Raum, wie kann es dann geschehen, dass es dennoch immer wieder abweichendes Verhalten gibt und wie lässt sich dies begrifflich fassen. Der eingangs erwähnte Karrierebegriff ist dabei entscheidend. Abweichendes Verhalten“: Das Karrierekonzept Es werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Strukturen betrachtet. Die Strukturen haben Merkmale, unter denen abweichendes Verhalten mehr oder weniger wahrscheinlich auftritt. Eine Theorie besagte z.B., dass gesellschaftliche Strukturen, die die Individuen nur schwach einbinden, es eher wahrscheinlich machen, dass abweichendes Verhalten auftritt. Eine starke Kohäsion macht abweichendes Verhalten weniger wahrscheinlich. Das bedeutet nun nicht, dass alle Menschen unter diesen Rahmenbedingungen ein abweichendes Verhalten an den tag legen, sondern nur, dass ein solches Verhalten eben häufiger auftritt. Wenn man abweichendes Verhalten speziell als Delinquenz und Kriminalität fasst, würde diesem Ansatz das Aufgabenfeld der Kriminalprävention in der Sozialen Arbeit entsprechen. Dort geht es z.B. darum, solche Strukturen in einem Stadtviertel zu schaffen, dass Kriminalität seltener auftritt. Betrachtet man soziologisch gesehen das Umfeld der Einzelperson so entspricht dieser Ansatz eher dem Arbeiten mit Einzelnen, die mit ihrer Lebensgeschichte kommen und Kontakt zum Hilfesystem haben. Brauchbar ist er z.B. in dem Arbeitsfeld der Bewährungshilfe. Wie auch schon in den Interaktionstheorien, von denen Sie einige Muster näher studiert haben ist hier ein interaktiver Prozess gemeint, der jedem Aushandeln und auch jeder Entwicklung hin zu etwas, zu Grunde liegt. Die Frage ist: WIE, mit welchem Prozess, ist jemand abweichend geworden? Der Fachbegriff dafür heißt „Karriere“. Das Karrierekonzept ist ein Phasenmodell. In dem Phasenmodell nach Hurelmann beispielsweise gibt es eine Grundannahme: nämlich die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen oder Phasen. Kinder und besonders Jugendliche werden in diesem Prozeß als „produktiv realitätsverarbeitende Subjekte“, als „Konstrukteure ihrer eigenen Lebenswelt“ verstanden (vgl. Hurrelmann, K. (1994): Lebensphase Jugend. (Neuausgabe). Weinheim: Juventa1994, 72). Vgl. dazu: http://www.ew2.uni-mannheim.de/team/upload/@Folienblock12_JE.pdf und: http://www.bsj-marburg.de/PdfDateien/Prof.%20Dr.%20Michael%20Schumann%20Sozialraum%20und%20Biographie.pdf 7 Definition: Karriere: = ein in Phasen gegliederter Lebenslauf. Zwischen den Phasen (Stufen) gibt es Übergänge; auf jeder Stufe werden neue Ausgangsbedingungen wirksam, die neue Verhaltensweisen ermöglichen. Beispiele: - Beruflicher Aufstieg, - sozialer Abstieg, - Krankheits- oder Patienten-Karriere, - Drogenkarriere , Hier geht es um die „Karriere“, wie aus den ersten Anfängen eines abweichenden Verhaltens eine verfestigte Identität als abweichendes Mitglied der Gesellschaft geworden ist bzw. wird. Im Folgenden werden kurze Zitate aus Interviews eingefügt, die im Rahmen von Hausarbeiten im Schwerpunkt Delinquenz (nach meiner Soziologiekollegin C. Helfferich mit großem Dank) mit entlassenen Strafgefangenen geführt wurden. Die Studierenden im 7. Semester hatten die Aufgabe, die „Karriere“ der ehemaligen Häftlinge nachzuzeichnen. Wie beginnt eine solche Karriere abweichenden Verhaltens? Erste Phase: Motivation entsteht Zunächst einmal ist eine erste Phase dadurch gekennzeichnet, dass es eine Motivation gibt, Normen zu überschreiten. Ohne eine Motivation passiert Nichts. Die Gründe dafür, dass eine Person für ein abweichendes Verhalten motiviert ist, können vielfältig sein, insbesondere bei Jugendlichen. Bei Eigentumsdelikten kann der Wunsch, etwas Begehrtes zu besitzen eine Rolle spielen, bei Drogen der Reiz des Verbotenen oder schlicht und einfach Neugier etc. Was auch immer es ist und wie auch immer diese Motivation erklärt wird – viele, aber nicht alle Jugendliche haben eine solche Motivation. „Ich brauchte Geld“ - wer hätte das nicht gern? Aber nicht alle gehen auch den nächsten Schritt und begehen tatsächlich eine strafbare Handlung. „Es hat mich gereizt“ - warum hat er oder sie dem nachgegeben? 8 Zweite Phase: Aus Motivation wird Handlung: Die Schwelle des „ersten Mals“ wird überwunden Wer geht, die Motivation und den Nervenkitzel vorausgesetzt - einen Schritt weiter, wer nicht? Welche Bedingungen sind dafür wichtig? „Ich hatte einen Kollegen und da ging’s eigentlich los bei mir mit den Drogen, Da habe ich LSD genommen, zum probieren. Ich hab da zwar schon mit mir gekämpft, ich kann mich noch entsinnen, mein Freund, mein bester Freund, der hat mich überredet“ (A). C fängt an, in der „Armeezeit“ zu rauchen und zu trinken und wird später Alkoholiker. „Ja, anfangs habe ich noch Nein gesagt, aber dann ging’s doch nicht mehr“. Eine Schwelle muss überwunden werden. Dies gilt dann auch für die Delikte selbst: „Und meine Eltern hatten so einen Automatenbetrieb und da hab ich immer mitgekriegt, wie man die Automaten so manipulieren kann“ Bestimmte Bedingungen sind notwendig, die Schwelle zu überwinden und die Schwellenangst zu nehmen; diese Bedingungen sind entweder Bedingungen der Situation (Setting) oder der Person (Set): z.B. Objektive Gelegenheiten, vielleicht die Vermittlung von Freunden, die Drogen besorgen, das subjektive Gefühl der Unverwundbarkeit - die Kontrollen, die andere von dem Schritt über die Schwelle abhalten, werden außer Kraft gesetzt. Dieses erste Mal ist eine manchmal unmerkliche Zäsur, ein kleiner Einschnitt, aber ein Übergang zu einer neuen Stufe auf der Karriereleiter: Aus der Motivation ist eine Handlung geworden. Die dritte Phase: Die Regeln des Metiers werden gelernt, der Freundeskreis verengt sich auf die deviante Subkultur Auch hier gilt: manche bleiben beim ersten Mal, dies gilt insbesondere für den Konsum weicher illegaler Drogen: Der Großteil der Jugendlichen – etwa 90% probiert und lässt es dabei bewenden. Was ist mit denen, die dabei bleiben? A hat so „Tricks mitgekriegt von den Monteuren... Das hab ich mir abgeguckt und da bin ich losmarschiert mit meinen Kumpels und haben schon Geld rausgeholt.“ Er perfektioniert das Geschäft, dehnt es aus, lernt neue Techniken. Parallel geht die Drogenkarriere weiter: Heroin. Bei B fing es mit Ladendiebstählen an und auch er „lernte“ die Regeln, was und wie man am Geschicktesten klauen kann - wie ein „langsamer Prozess des Hineingleitens“ (Hess), wie eine Kette kleiner Entscheidungen, von denen jede neue, günstigere Voraussetzungen für die nächste, weitreichendere geschaffen hat. Im Rückblick rekonstruiert, erscheint der Weg oder Lebenslauf wie ein Schicksal ohne Alternativen, aber wenn man es genauer betrachtet, sieht man, dass immer wieder kleine Entscheidungen getroffen wurden, etwas zu tun oder es zu lassen und etwas anderes zu tun. Diese neue Stufe der Karriere ist für die, die dabeibleiben, nach dem Überwinden der ersten Schwelle vor 9 allem ein Lernen, wie die „Regeln des Metiers“, der technische Seite der Kriminalität in Analogie zu einem zu erlernenden Handwerk, aussehen und funktionieren: Wie schützt man sich, was ist riskant, wo wird man geklaute Ware los etc.? Alles dieses Insider-Wissen muss erst erworben werden. Dazu gehört auch, dass sich bei den Interviewten der Freundeskreis veränderte und mehr und mehr auf die Drogenszene verengte. Eine deviante Subkultur erhält ihre (kollektive) Identität immer im Wechselverhältnis von interner Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und der dort vorgenommen Stigmatisierung der devianten Subkultur (vgl. Becker, H. S., Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, London 1963 (dt. Übersetzung 1973)S. 204). Auch in der von Norbert Elias und John Scotson untersuchten Etablierten/Außenseiter-Figuration im englischen Industrievorort Winston Parva bedingen sich Stigmatisierung und Gegenstigmatisierung gegenseitig (vgl. ebd. S. 216). Etablierte und Außenseiter sind in ihren kollektiven Identitäten in einer »Doppelbinderfalle« aneinander gekettet wie Herr Jan Fuhse: Systeme, Netzwerke, Identitäten. Die Konstitution sozialer Grenzziehungen 12 und Knecht in Hegels Phänomenologie des Geistes (Elias 1976: 28; 1980: 78ff; Hegel 1807: 132ff). Die vierte Phase: Die externe Definition „Du bist kriminell“ setzt ein Den Übergang zu einer weiteren Stufe der Karriere markiert das Auftreten der Strafverfolgungsorgane. In den Interviews wurde auch gefragt: „Gab es einen Punkt, wo Du gedacht hast, du hast eine Schwelle überschritten, hast etwas gemacht, was du nicht machen solltest?“ Drei der vier Befragten bringen diesen Punkt mit der Strafverfolgung in Verbindung: „Also so einen Punkt gab es schon, aber ich habe nie damit gerechnet, dass man deswegen gleich so hart verurteilt wird.“ Oder „Klar, das mit dem Automatenknacken, da war ich schon geschockt - oder das war schon neu für mich, das mit der Polizei was zu tun haben. Das mit dem Automatenknacken war mir nicht bewusst, dass das kriminell ist, so richtig bewusst wurde mir das erst im Knast.“ Der Schock kann durchaus heilsam sein. Junge Menschen, die in geringem Maß Drogen konsumieren, hören mit dem Konsum durchaus auf, wenn sei mit den gravierenden Konsequenzen konfrontiert werden. Aber bei denjenigen, bei denen das Verhalten schon verfestigt ist, führen Polizeikontakte unangenehmer Art eher dazu, dass sie mehr und nicht weniger konsumieren. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die externe Definition „Das ist kriminell“ einsetzt, wird das eigene abweichende Verhalten - vor allem im Kontext der Clique – eigentlich nicht für sehr problematisch gehalten. Schon vorher gibt es in der Geschichte aber „Verurteilungen“ durch Freunde, Schwierigkeiten mit den Eltern, aber deren Meinung 10 ist nicht unbedingt gefragt. Die neue Qualität dieser Stufe heißt: Ein klares Bewusstsein davon: Die anderen – und vielleicht andere, die mir wichtig sind, die ich vielleicht erst noch kennen lerne - sehen in mir einen Kriminellen“. Und die Erfahrung, dass dies ein Stigma ist, ein Kainsmal, das auf der Stirn klebt. Die Menschen, die der Person begegnen, entwickeln typische Erwartungen an mich: Wenn sie wissen, dass ich im Gefängnis war, erwarten sie von mir Negatives, sie geben mir keine Chance, und ich gerate immer gleich als Erster in Verdacht, wenn irgendetwas passiert. Nach dem Knast wirkt der Schock noch nach, “aber irgendwann wird man so abgehärtet, isch’s einem wirklich scheißegal. Du hast dann auch irgendwann, wenn du groß keine Beziehungen mehr hast, also draußen jetzt, weißt, weil viele nix mehr mit dir zu tun haben wollen, des is ja so, weil wenn du ein Kainsmal hast.“ Im Kontakt mit „Normalos“ soll die Vergangenheit möglichst geheimgehalten werden - wohl wissend um die Reaktionen, wenn sie bekannt werden. Das größte Problem ist, dass alle, die von der Vergangenheit erfahren, den Ex-Knacki als Abweichenden und nicht als potentiell normalen Menschen behandeln. Das Wissen „Der saß im Knast“ erzeugt in den Interaktionssituationen typisierte Erwartungen, d.h. ein Ex-Knacki ist damit konfrontiert, dass er auf die Rolle des Abgewichenen festgelegt wird. Was macht er damit? Wie geht es weiter mit der Karriere? Fünfte Phase: Die Definition „Ich bin kriminell“ wird übernommen und eine Selbstdefinition und Identität als Krimineller ausgebildet Hier gibt es eine Möglichkeit, dass die Karriere abbricht: Die Verhaftung und die Verurteilung ist ein Schock. Die Rolle „Knacki“, die Erwartung von Abweichung – „einmal geklaut, immer geklaut“- wird zurückgewiesen. Das muss dann zwar auch erst wieder durchgesetzt werden („Ich bin nicht so, wie ihr denkt“), aber das kann gerade ein Motiv für einen Neuanfang sein. Was ist mit denen, die dabei bleiben? Welche Aspekte spielen dabei eine Rolle? „Hast Du bei den Straftaten mal das Gefühl gehabt, das ist nicht okay, was Du machst?“ „Irgendwann nimmer, irgendwann verliert man irgendwie - das ist auch irgendwo mit Clique hat das was zu tun, und irgendwann verlierst du da den Respekt davor.“ Die, die dabeibleiben und die dauerhaft damit konfrontiert sind, dass sie als typische Kriminelle in Interaktionen behandelt werden, übernehmen auf Dauer eine entsprechende Identität. Dann sind sie nicht mehr Menschen mit einer Geschichte, die verurteilt wurden, oder Menschen, denen das Kriminelle ihres Tuns erst spät zu Bewusstsein kam, sondern sie “SIND kriminell“, sie haben die Identität „Kriminelle“. Man sollte das nicht unterschätzen: Es ist besser. ein Krimineller zu sein, als gar nichts zu sein. 11 Wir können sagen, dass günstige Gelegenheiten vor allem am Anfang der Karriere eine Rolle spielen. In den späteren Abschnitten der Karriere sind es Zuschreibungsprozesse und die Übernahme von Zuschreibungen, die eine Rolle spielen. Die Erklärung von abweichenden Verhalten aus den abweichenden Regeln in einer besonderen Subkultur heraus ist vor allem für die dritte Phase wichtig. In manchen Geschichten spielt die eine Phase eine besondere Rolle, dafür wird eine andere übersprungen, nicht alle Geschichten gelangen bis an den Endpunkt. Immer gilt: Je weiter der Prozess vorangeschritten ist, desto schwieriger ist es, „abzubiegen“ und „auszusteigen“. Auch wenn dieses Modell als im Einzelfall nur bedingt zutrifft, so hilft es doch zu verstehen, wie ein Mensch zu dem Punkt kam, an dem er nun heute ist. Der Ansatz unterscheidet sich von einem einfachen Ursachendenken: Einfaches Ursachendenken Prozessdenken Es gibt eine Ursache. Es gibt eine Dynamik, bei der die Die Ursache kann weit zurückliegen, etwa vorhergehende Phase die Ausgangsbedingung für die nächste „eine schlimme Kindheit“. Phase stellt. Man kann höchstens von vielen, vielen kleine Ursachen sprechen. Ursache und Folge haben einen Es gibt eine „Logik“, mit der man auf die statistischen Zusammenhang. nächste Stufe gelangt: So führt der Versuch, die Erfahrungen auf einer Stufe zu bewältigen, zu der nächsten Stufe. Die Ursache-Wirkungs-Beziehung hat etwas Mechanisches, fast Zwangsläufiges. Auf jeder Stufe gilt es, eine Entscheidung zu treffen. So dient das abweichende Verhalten hier dazu, das Denken in Prozessen beispielhaft vorzuführen. Ein ähnliches Denken in einem Prozess begegnet Ihnen in Theorien zur Kultur, die ja auch als Prozess zu denken ist, in der Sozialisation, in der Kommunikation, wie Sie ja bereits gehört hatten. 12 II Thema: „Identität“ In der vierten Stufe des Karrierekonzeptes wird von anderen eine Definition vorgenommen: Die Person, um die es geht, wird von anderen als kriminell definiert oder „etikettiert“. In der fünften Stufe übernimmt sie diese Definition als Selbstdefinition. Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern als ein Prozess, in dem sich Erwartungen und Definitionen, die andere an uns herantragen, sich verschränken mit dem, wie wir uns selbst definieren. Das ist ein Wechselspiel – im Fachbegriff: Eine Interaktion. In Erinnerung rufe ich hier noch einmal die Definition von Interaktion Wechselbeziehung, (mind.) zwei Personen beziehen sich in ihrem Verhalten aufeinander. A reagiert mit dem, was er/sie sagt oder tut, auf B und B reagiert ebenso auf A. vgl. Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f Interaktion muss nicht unbedingt immer die persönliche Begegnung sein. Die persönliche Begegnung von (mindestens) zwei Menschen gilt aber als Paradebeispiel einer Interaktionssituation. Interaktionssituation bezeichnen wir die Situation, wenn wechselseitige Erwartungen an einander gerichtet werden. Die Interaktion kann als ein Wechselspiel der Stufen vier und fünf gezeichnet werden: In der Interaktion werden Erwartungen des/der Anderen gefestigt in dem sie angenommen werden und man reagiert dann so wie erwartet, oder man lehnt die Erwartungen ab und ich ändere mein Verhalten, um andere Erwartungen zu wecken, jedenfalls nicht diese zu bedienen. Erwartungen der anderen Werden übernommen oder abgelehnt Gefestigte/veränderte Erwartung Zu denen ich mich verhalte 13 An diesem Beispiel sieht man anschaulich, was Interaktion bedeutet. Das Beispiel zur beruflichen Sozialisation zeigte ebenfalls einen „Karriere-Prozess“. Die Interaktionen waren dabei: Die Praktikantin erfährt Erwartungen des Teams und der Anleiterin, dann der Klientin. Alle haben hohe Erwartungen an die Praktikantin, was ihre berufliche Kompetenz angeht. Sie übernimmt diese Erwartungen. Sie wird als zugehörig zum Komplex der Profession Sozialer Arbeit definiert und schließlich definiert sie sich selbst als zugehörig. Auf der fünften Stufe wird das Produkt benannt, das irgendwann im Laufe der Zeit aus der Interaktion erwächst: die „Identität als kriminell“ oder die „berufliche Identität“. Identität im sozialen Sinn ist eine Selbstdefinition als Ergebnis eines Interaktionsprozesses, in dem Erwartungen und Fremddefinitionen erfahren werden. Unter Identität (v. lat.: identitas = Wesenseinheit) eines Menschen (oder einer Sache) wird häufig die Summe der Merkmale verstanden, anhand derer wir uns (sie sich) von anderen unterscheiden. Diese Identität erlaubt eine eindeutige Identifizierung im physiologischen Sinne. Vgl: http://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t Die Identität eines Menschen besteht darin, dass - dieser Mensch von anderen Menschen unterscheidbar ist, und - dieser Mensch als derselbe/dieselbe identifizierbar bleibt, auch wenn er/sie sich verändert. Identität entsteht immer innerhalb eines Verhältnisses zwischen dem, was etwas ist und dem, was es nicht ist. Insbesondere wäre kein Mensch in der Lage, ohne andere Menschen eine Identität als Mensch zu entwickeln. Denn wir sind auf die Menschen, die wir nicht sind, angewiesen, um uns von ihnen unterscheiden und zugleich Mensch sein zu können. Insofern ist unsere persönliche Identität in ihrem Wesen sozial. Da Identität auf Unterscheidung beruht und "Unterscheidung" ein Verfahren ist, das ein Ganzes untergliedert ("scheidet"), kann etwas nur als Teil eines Ganzen "Identität" erlangen. Daher wird verständlich, weshalb Menschen ihre "Identität" als bestimmte Menschen in einem Wechselspiel von "Dazugehören" und "Abgrenzen" entwickeln. 14 Leibniz sagt: „Zwei Dinge sind identisch, wenn alle ihre Eigenschaften identisch sind.“ Leibnitz, G. W in: DUTENS, LOUIS (1730-1812) Dutens, II. S.277, 755 zum problem der personalen Identität: http://www.jp.philo.at/texte/CuypersS1.pdf Gottfried Wilhelm Leibniz (* 1. Juli 1646 in Leipzig; † 14. November 1716 in Hannover) Insbesondere in der kriminologischen Diskussion wurde in den 70er Jahre eine Theorie entwickelt, die die Prozesse der Fremdetikettierung oder Fremddefinition in den Mittelpunkt gestellt haben („Labeling“-Theorie; vgl. Becker 1963). Sie beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit Menschen sich (in einem späteren Stadium ihrer Karriere; in der Übersicht gehören die Labeling-Theorien zu der vierten Stufe) abweichend verhalten, weil sie als abweichend etikettiert wurden und weil nichts anderes als abweichendes Verhalten von ihnen erwartet wird. Damit haben wir einen ersten Zugang zu den beiden Begriffen der Interaktion und Identität (im soziologischen Sinn) gefunden. (1) Die Vermittlung von Erwartungen geschieht also immer in einer Interaktionssituation, in der sie geäußert oder realisiert werden. Das, so denkt man zuerst, ist ja eigentlich ganz einfach, da wir ja immer und jederzeit, wenn wir mit Menschen zusammen sind oder mit ihnen Kontakt haben, interagieren. Doch damit Interaktion und Kommunikation gelingen, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Üblicherweise sind sie erfüllt, aber wenn sie fehlen, merkt man erst ihre Bedeutung. (2) Beide bringen Erwartungen in eine Interaktionssituation ein. Ich erwarte, dass Dinge so eintreten, wie es meinem Vorwissen entspricht, wie es meinen Erfahrungen entspricht oder wie ich es für normal und typisch halte. Was erwarte ich von meinem Gegenüber, wenn wir essen gehen? Dass sie mit Messer und Gabel isst. Ich weiß nämlich, dass man das so macht. Außerdem sagt mir meine Erfahrung mit dieser Person, die ich schon etwas länger kenne, dass sie sich immer ganz manierlich benimmt und ich erwarte natürlich, dass die Prozesse weiter so ablaufen wie ich sie kenne und es nicht einen plötzlichen Bruch gibt. Außerdem ist es eben ganz normal, mit Messer und Gabel zu essen. Was es heißt, das Typische zu erwarten wird noch in einem anderen Beispiel deutlicher: Ich bin mit einer Person verabredet, die ich nicht kenne. Ich habe als Vorinformation die klassischen Bildzeitungsangaben: Anna B., 42, wohnsitzlos, also Geschlecht (erkennbar am Namen), Alter und Beruf/ 15 Alltagssituation. Ich habe daraufhin bestimmte Vorerwartungen und halte nach einer Person Ausschau, die diesen Erwartungen entspricht, Wenn ich sie dann getroffen habe, kann ich vielleicht sagen: Also Sie hätte ich mir ganz anders vorgestellt. Vorurteil ist ein zu starkes Wort dafür, eher trifft die Bezeichnung „Vorerwartung“. Ohne diese Vorerwartungen können wir nicht leben. Sie gehören zu jedem abstrakten Denken dazu. Abstrakt denken heißt: Sich eine Vorstellung von einem Ding zu machen, die sich von einer konkreten Erscheinungsform löst. Ein Spiel verdeutlicht das: Wenn Sie an die Frage denken: “Nennen Sie bitte ein Werkzeug, Nenne Sie eine Farbe, eine Blume, einen Baum, Typisierungen begleiten unser Denken auf allen Wegen. Fazit ist, dass ich bestimmte Erwartungen in eine Interaktionssituation einbringe und mein Gegenüber ebenso. Das allein ist aber wenig spannend, es benennt erst die Ausgangssituation und sagt noch nicht wie es nun zur Identität kommt. (3) Ich erfahre in der Interaktionssituation die Reaktion der anderen auf meine Handlungen, ihre Haltung mir gegenüber und ihre Erwartungen, die sie einbringen. Ich (I) erfahre mich (Me) damit selbst, ich nehme wahr, wie sie mich wahrnehmen. Beispiel: Ein Schüler meldet sich immer wieder im Unterricht. In der Pause sagt ein Mitschüler abfällig zu ihm: „Du Streber“, oder zu anderen: „Der ist ein Streber“. Die Reaktionen der Mitschüler machen deutlich, dass er für sie ein Streber ist, sie definieren ihn als Streber. Die Mitschüler haben die „Typisierung“, dass ein typischer Streber einer ist, der sich immer meldet. Er gilt nun fortan als Streber und die Mitschüler erwarten auch weiter ein Verhalten, dass sie aus ihrer Sicht negativ bewerten. Der Schüler hat nun die Rolle eines Strebers. Eine typische Situation ist Seminarbeteiligung von Studierenden, da sind die Schnellen Sprinter, die sofort den Finger heben, auf alles eine passende Antwort zu haben scheinen und diejenigen, ich bezeichne sie als Marathonläufer, die lange brauchen, bis sie den Finger heben um dann kurz etwas mitzuteilen, die einen könnten als Streber, die anderen als Langweiler wahrgenommen werden, obwohl sie selbst nur eine rege innere Beteiligung haben, oder sich ihre Worte eben gut überlegen, bevor sie sprechen. Schweigende sind auch der besonderen Beobachtung ausgesetzt, weil sie ja kaum verwertbares Material zur Interaktion preisgeben und so sehr zum 16 auslegenden bewertenden Beobachten reizen. Schau mal was sie jetzt wieder macht, war die nicht grade bei dem oder der DozentIn im Zimmer? Die Worte „I“ und „Me“ sind hier von Bedeutung. Diese Differenzierung, dass ein Mensch aus einem „I“ und einem „Me“ besteht, stammt von Georg Herbert Mead, einem der wichtigsten Vertreter des symbolischen Interaktionismus. George Herbert Mead (* 27. Februar 1863 in South Hadley, Massachusetts, USA † 26. April 1931 in Chicago, USA) Mead, Herbert. * Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1968 * Sozialpsychologie. Luchterhand-Verlag, Neuwied 1969 * Gesammelte Aufsätze. 2 Bände. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1980 – 1983 vgl. Harald Wenzel: George Herbert Mead zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg 1990. Es ist ein Teil meiner Erfahrung von mir selbst, dass ich sehe, wie diese anderen mich sehen. Sie zeigen mir das in der Interaktion. Eine solche Konstruktion kann man bilden, weil Menschen sich selbst sehen, sich zu sich selbst verhalten können. Der grundsätzliche Gedanke ist, dass sich der Schüler selbst erfährt, indem er erfährt, wie andere ihn sehen. „Indem ich die Reaktion anderer auf mein Handeln, also deren Haltung mir gegenüber erfahre, sie verinnerliche oder ‚internalisiere’, vollzieht sich zugleich (…) eine Selbst-Erfahrung oder Selbst-Konstitution. So wird – als ein Beispiel – dem Schüler in der reaktion seiner Mitschüler plötzlich klar, dass er als ‚Streber’ wahrgenommen wird: Indem er sich mit den Augen der anderen wahrnimmt, erfährt er sich als ein „mich“, ein „me“ im Sinn von Mead.“ (Bohnsack 1993, S. 41) vgl. dazu: Bohnsack, Ralf (1989). Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen. Opladen: Leske + Budrich. Vgl. dazu Bohnsack nimmt hier auf das Interaktionsmodell von George Herbert Mead Bezug: „Wenn (im Sinne von Mead) eine Geste oder Äußerung ihre Signifikanz oder Bedeutung im Kontext der Reaktionen der anderen Beteiligten erhält, so konstituiert sich also in der Relation von (empirisch beobachtbarer) Äußerung und (empirisch beobachtbarer) Reaktion eine (implizite) Regelmäßigkeit, die es dann zu erschließen bzw. zu explizieren gilt“. Bohnsack, Ralf (2001): Dokumentarische Methode: Theorie und Praxis wissenssoziologischer Interpretation. In: Hug, Th. (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Bd. 3. Baltmannsweiler: Schneider, S. 326-345. Das „Me“ steht für „Mich“ und meint zunächst das Bild, da andere von mir haben und mir vermitteln. Der Schüler hört, dass andere ihn Streber nennen und denken: Der ist ein Streber. Das „I“ das ist das handelnde und wahrnehmende Ich. Das I geht eben nicht in dem Me auf. Das I kann sich nach dem Me richten, es kann das Bild 17 übernehmen, was in dem Beispiel hieße: „Na gut, ich bin offenbar ein Streber“. Das I kann das Bild aber auch zurückweisen: „Ich habe das doch ganz anders gemeint und es geht mir überhaupt nicht darum, in der Schule gut zu sein, es hat mich bloß das Thema interessiert“ etc. Die Frage ist, wie zentral oder prägend diese Art der Selbsterfahrung ist: sich selbst in den Augen anderer zu erfahren. Für Kinder ist diese Art der Selbsterfahrung bedeutsamer als für Erwachsene. Und bei Erwachsenen hängt es sehr davon ab, wie wichtig die Person ist, in deren Augen man sich spiegelt. (4) Identität wird „ausgehandelt“, indem es dem I gelingt, eine bestimmte Selbstpräsentation durchzusetzen und die Aspekte des Me, die in unterschiedlichen Interaktionssituationen erfahren werden, zu integrieren. Studierende müssen aufgrund der immer wieder neuen Aushandlung eben nicht warten, bis eine gefestigte Meinung irgendwann einmal erneuert wird. Die Aushandlung bedeutet, man kann sich neu einbringen und die Präsentation des sogenannten „Selbst“ mit bestimmen, in dem man die „me“Komponente mit in seine Handlungen einbezieht. Diese eigene Präsentation des Selbst kann zu neuen Aushandlungsprozessen und zu neuen Präsentation des Selbst führen. Studierende die sich schnell melden und viel dsagen beispielsweise können diese Präsentation einbringen als „engagiert, aber lässig“. Die Frage ist, ob er diese Präsentation durchsetzen kann gegen die vorhandenen Definitionen und Erwartungen von Streber. In der Interaktionssituation ist es so, dass ich auch auf eine bestimmte Art und Weise anerkannt werden möchte, ich möchte, dass die anderen mich in einer bestimmten Weise erfahren. Wenn mir dies gelingt und ich dies aus den Reaktionen der anderen spüre, dann stärkt sich sein Selbstbild, meine Identität. Wenn mir diese Anerkennung aber dauerhaft versagt bleibt, muss ich mich entweder gegen diese Erfahrungen von Reaktionen, die nicht so sind, wie ich sie mir wünsche, die also meine Präsentation nicht anerkennen, immun machen, mir andere suchen, die diese Selbstpräsentation anerkennen, oder ich muss mein Selbstbild irgendwann ändern: Vielleicht bin ich doch ein Streber? Langweiler, etc. Viele Selbstzweifel insbesondere bei Jugendlichen lassen sich in diesem Zusammenspiel der Fragen von: Wer möchte ich sein – als was möchte ich 18 dass die anderen mich sehen? erklären. gerade in diesem Alter geht es gerade um die Frage „wer bin ich?“ und darum auszuprobieren, wie andere auf Inszenierungen von Selbst reagieren. Aber es gilt auch für höheres Alter. Einer der schwierigsten Punkte ist es, zu erfahren, dass die anderen die gewünschte Identität als eine oder einer, die sich selbst achten kann, versagen und die Selbsterfahrung vermitteln, dass man in den Augen der anderen eben ein Versager ist. Ein Beispiel für eine Figur, die beharrlich an ihrer Selbstpräsentation festhält, ist Don Quixotte. Er ist der Ritter. Er schirmt sich dagegen ab wahrzunehmen, dass die anderen ihn nicht als Ritter, sondern als Spinner sehen. Wir würden dieses Beispiel aber nicht als alltagstypisch einschätzen. (5) Als „Aushandlung“ wird dies auch deshalb bezeichnet, weil zwei daran beteiligt sind, die beide eine Selbstpräsentation einbringen, die sie bestätigt bekommen möchten. Beide haben zugleich den Part, die Präsentation des Anderen anerkennen oder zurückweisen zu können. Es wird aus diesem Grund auch der Begriff verwendet, dass Identität ausgehandelt wird. Es ist ein Handel: Als was zeige ich mich? Was erfahre ich, wie die anderen mich sehen? Wie kann ich sei dazu bringen, dass sie mich als das anerkennen, als was ich anerkannt werden möchte? Können wir uns einigen in dem Sinn, dass ich deine Präsentation anerkenne und du meine? Das beinhaltet auch eine Offenheit: Mein Gegenüber B geht vielleicht mit einer Vorerwartung in die Situation hinein, aber ich habe die Chance, diese Vorerwartung zu verändern. (6) Die Chancen zur Durchsetzung der eigenen Präsentation hängen ab von der (sozialen) Macht in der Interaktionssituation. An dieser Stelle stellt sich wieder die Frage der Definitionsmacht. Eine klassische Situation bei männlichen Jugendlichen ist die Frage, ob sie ihre Präsentation als Mann durchsetzen können oder ob ihnen Männlichkeit abgesprochen wird. Ob eine Person in einer Situation ihre Definition und ihre Erwartungen durchsetzen kann, ist eine Frage der Macht. Wenn der Junge in einer Interaktionssituation Macht hat, kann er von den anderen die Anerkennung seiner Präsentation verlangen. Wenn der andere die Macht hat, kann er die Anerkennung gnadenlos verweigern. Immer wieder kommen wir bei der Identitätsbildung auf die Frage der Macht in der Interaktion zurück, also einem sozialen Aspekt, der Interaktion strukturiert. 19 Das Beispiel habe ich nicht zufällig gewählt. Das, was hier diskutiert wird, sollte auch der Rahmen sein, in dem die Bedeutung von Mann, Frau, Mädchen, Junge zu sehen und zu analysieren ist. Üblicherweise wird – insbesondere in der psychologischen Tradition – von Geschlechtsrollen und Geschlechtsrollenerwartungen gesprochen, aber das lässt den Aspekt der Identität, die sich in der Interaktion bildet, außen vor. Nehmen wir als Beispiel: Verhalten von jugendliche Mädchen und Jungen bedeutet häufig die Präsentation von bestimmten Weiblichkeiten oder Männlichkeiten, von der sie möchten, dass das Gegenüber sie anerkennt. Ausprobieren, daraus lernen, als zugehörig z.B. zum Kreis erwachsener Männer behandelt werden, sich selbst zugehörig fühlen – hier finden wir wieder die Elemente des „Karriereprozesses“, nur steht am Ende nicht abweichende oder professionelle Identität, sondern Identität als Frau oder Mann. Das Konzept beinhaltet, dass Frauen sich auch als „männlich“ präsentieren können und in der Interaktion „männliche“ Züge anerkannt bekommen möchten; umgekehrt können Männer versuchen, in der Interaktion eine „weibliche“ Facette ihrer Identität durchzusetzen. Wenn Sie diese Überlegungen nachvollziehen wollen, können Se einfach Gespräche von jugendlichen Mädchen und Jungen darauf hin abklopfen, wo und wie sie in der Interaktion etwas präsentieren, etwas anerkannt bekommen möchten, wo sie umgekehrt beim gegenüber etwas anerkennen oder zurückweisen und schließlich wie sie mit den Reaktionen umgehen und sie in ihre Identität, die sich heraus bildet, einbauen. Kehren wir noch einmal zurück zu unserem Ausgangspunkt, der Wahrnehmung. In unserem kleinen Beispiel stehen sich zwei als Persönlichkeiten und auch als kleine Identitäten auszumachende Farbfelder gegenüber. Die gegenseitige Beeinflussung und die Präsentation ihrer Eigenschaften, als Beispiel sei hier das Milka Lila (Violett) genannt lassen es aber noch nicht zu, dass Sie den unterschiedlich wirkenden Farben eine unterschiedliche Identität zubilligen. Ihre Vorprägung, ihr Wissen über den Kontext und die - mit aller Vorsicht gesprochen - Macht der Präsentation (z.B. Werbung, oder tägliches Einkaufserlebnis) lässt eine Neuorientierung momentan nicht zu. Sie werden sich in den nun folgenden Seminarveranstaltungen mit je eigenen Teilaspekten der in den letzten drei Vorlesungen erörterten Teilaspekten eingehender beschäftigen. Jugendkultur als Kommunikationskultur, Kultur als sich ständig weiterentwickelnder 20 Prozess in der Betrachtung und in den Kulturerkundungen. Sie sehen die rezeptive Wahrnehmung von und durch Medien in der Medienpädagogik, und die Auseinandersetzung der Gestaltung und partizipierenden Betrachtung neuer Medien (kein Vorwissen nötig) und den aus Interaktionen gewonnenen kulturellen Gegebenheiten in Ritualen und Mythen der Kulturgeschichte. Und mit Maybritt Illner wünsche ich Ihnen dabei viel Spaß beim Vermehren der gewonnene Einsichten. Verteilen der Milka Schokolade Literatur zu abweichendem Verhalten: Grohall, K.-H. (2000): Soziologie des abweichenden Verhaltens und der sozialen Kontrolle. In: Biermann, B. et al. (Hg.): Soziologie, gesellschaftliche Probleme und sozialberufliches Handeln. Neuwied/Kriftel: Luchterhand, 151-200; Giddens, A. (1995): Soziologie, Graz: Nauser & Nauser, Kap. 5: Konformität und Devianz Zu den einzelnen soziologischen Theorien: G. Albrecht (1993): Jugend, Recht und Kriminalität. In: H.H. Krüger (Hg.): Handbuch der Jugendforschung. Opladen: Leske+Budrich, 495-525, insbes. 503-520; Klassiker: E. Durkheim (1974): Kriminalität als normales Phänomen. In: F. Sack, R. König (Hg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt/M., 3-8; H. Hess (1978): Das Karriere-Modell und die Karriere von Modellen. In: H. Hess, H.U. Störzer, F. Streng (Hg.): Sexualität und soziale Kontrolle. Beiträge zur Sexualkriminologie. Heidelberg: Kriminalistik Verlag, 1-30. Literatur zu Identität/symbolischem Interaktionismus Bohnsack, R. (1993): Interaktion und Kommunikation. In: Korte, H., Schäfers, B. (Hrsg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen: Leske+Budrich, 35-59. Weitere Aspekte in Giddens, A. (1995): Soziologie in dem lesenswerten Kapitel „Soziale Interaktion und Alltagsleben“ (in der Bibliothek vorhanden); A. Treibel (1993): Einführung in soziologische Theorie der Gegenwart. Opladen: Leske+Budrich; hier Kap. VI: Das interpretative Programm – Symbolischer Interaktionismus und Phänomenologie, Herbert Blumer, Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. 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