104 5. Wodurch werden wir beeinflußt? - Die Bedeutung sozialer Gruppen Die Überschrift oben versucht bereits auszudrücken, daß unser Gefühl der Identität eng mit unseren verschiedenen Gruppenmitgliedschaften verbunden ist. Um sich diese Tatsache auf einfache Art zu veranschaulichen, sei unsere Leitfrage wieder in Erinnerung gebracht: „Wer oder was bin ich?" Die Antworten werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Gruppenbindungen verweisen („ich bin Schülerin des Albertus Magnus, männlich, heiße Meyer, wohne in Köln, bin Mitglied in einem Tennisverein, muß nach dem Abi zur Bundeswehr und will Arzt werden.") Wir leben also nicht als Einzelwesen, sondern in Gruppen, die unsere Lebenswelten konstruieren und strukturieren und die dialektisch verbunden sind mit der ökonomischen, technologischen, politischen, sozialen und kulturellen Formation des historisch gewachsenen Gesellschaftssystems. Nur würde es hier zuweit führen, die spezifischen Einflüsse etwa von Familie, Gleichaltrigengruppe, Schule, Beruf ... als Sozialisationsinstanzen zu bearbeiten. Da das Thema soziale Gruppe schwerpunktmäßig von Sozialpsychologen untersucht wird, wollen wir uns in diesem Kapitel auf Intergruppenprozesse konzentrieren. Denn genau hier liegt eine große Schnittmenge zwischen einem sozialpsychologischen und einem soziolo-gischen Erkenntnisinteresse. Zudem entwickeln die sich auf der gesellschaftlichen Makroebene abzeichnenden Intergruppenkonflikte (Geschlechterkonflikt, OstWest-Gegensatz und seine Auflösungstendenzen, weltweite Flüchtlingsströme, bundesrepublikanische Ost-West-Problematik) zunehmende Bedeutung für die Wahrnehmung von Alltag. Zu Beginn skizzieren wir die Bedeutung sozialer Gruppen (Gruppenbegriffe, strukturen und -prozesse), streifen danach in einer knappen Betrachtung Aspekte und Formen von sozialem Einfluß in Kleingruppen und stellen im dritten Teil des Kapitels in ausgewählten Aspekten dar, auf welche Art Intergruppenverhalten aus sozial-psychologischer Perspektive zu verstehen ist. (In den Themenkomplex soziale Gruppe kann auch mit dem Arbeitsschwerpunkt „Woher weiß ich, daß ich bin?", der auf die besondere Bedeutung des Anderen und damit implizit auf Gruppen verweist, eingestiegen werden.) 5.1 Die Bedeutung sozialer Gruppen 110 Der „soziale Effekt" Häufig wird in einer noch wenig präzisen Definition von Gruppe es als ein Merkmal der Gruppe bezeichnet, daß eine Mehrzahl von Personen in ihrem Verhalten und Erleben aufeinander wirken und von einander abhängig sind, dann aber kann allein schon der Moment des Heraustretens aus der Situation des Alleinseins als gruppenkonstituierender betrachtet werden. Denn empirische Belege und nicht zuletzt die Selbstbeobachtung verweisen darauf, daß allein An- bzw. Abwesenheit von anderen Personen das Individuum in seinem Verhalten beeinflussen (Sozialer Effekt). Aus eigener Erfahrung kennen wir diesen Effekt z. B. aus Situationen hoher Verhaltensunsicherheit, die etwa Verlegenheit, Befangenheit oder Scham in unserem Selbsterleben auszulösen vermögen. Wir kennen andere Situationen, wo allein durch die Anwesenheit anderer Eitelkeit, Ehrgeiz oder Freude ausgelöst werden. Immer geht es um Regungen bei denen sich der Einzelne häufig mehr unbewußt als bewußt zu anderen Personen in Beziehung setzt. Sozialpsychologische Untersuchungen, die dieses Phänomen erforschen und sich vornehmlich auf den Bereich aufgabenbezogener Leistung von Individuen und Gruppen konzentrieren, weisen denn auch sowohl soziale Aktivierung als auch soziale Hemmung als sozialen Effekt bei Anwesenheit anderer Personen nach. (Autorentext) 105 111 Gruppenbegriffe (Autorenschaubild, angefertigt nach: Doer, Hartmut und Schneider, Gerd W., Soziologische Bausteine, Bochum, Brock meyer, 1978, S. 28) 1. Erläutern Sie die Bedeutung der sozialen Gruppe für das Individuum im Vergleich zur Gruppe als sozialer Kategorie (Mat. 110 und 111). Ordnen Sie die folgenden Begriffe gemäß Material 111 zu: Brillenträger, Schüler und Schülerinnen Ihrer Schule, Behinderte, Ihr Sozi- Lk/GK, SPDMitglieder, alle Sozi Grundkurse der BRD, Ihre Familie, Menschen in einer Straßenbahn... 112 Gruppenstrukturen Nahezu ständig leben wir als Mensch unter anderen Menschen und damit in Gruppen. Vor diesem Hintergrund ordnen uns Gruppensoziologen Kategorien, sozialen Aggregaten oder sozialen Gruppen zu. Letztere sind von Bedeutung, wenn von Gruppenstrukturen gesprochen werden soll, und damit die relativ stabilen Beziehungsmuster zwischen Gruppenmitgliedern einer sozialen Gruppe ins Zentrum eines soziologischen Blickwinkels geraten. Entsprechend den unterschiedlichen Aspekten, die soziale Beziehungen haben, lassen sich unterschiedliche Dimensionen von Gruppenstrukturen erkennen: – die Kommunikationsstruktur, die Aussagen über die Kommunikationsbeziehungen macht; – die soziometrische Struktur, die Auskunft über die sozialen Beziehungen (Sympathie und Antipathie und tatsächliche Interaktionen) in einer Gruppe gibt; – die Quasirollenstruktur, die Einblick in die Gruppenfigur gibt (Vertrauensperson, Clown, Kopf ...); – die Rangstruktur, die Aussagen über die Machtverteilung (vertikale Struktur) ermöglicht. (Autorentext) 106 113 114 Muster von Kommunikation Soziogramme zweier militärischer Einheiten Die beiden Soziogramme A und B sind von 2 Einheiten der amerikanischen Luftwaffe auf dem pazifischen Kriegsschauplatz erstellt worden. Die Testfrage lautete, mit wem jeder einzelne Mann gemeinsam zu fliegen den Wunsch habe (ausgezogene Linie) und mit wem nicht (gebrocheneLinie). Beide Einheiten bestanden aus einem Kommandeur (CO), einem Adjutanten (XO) und je 17 Mann. o ® © Gruppenmitglieder 0 0 0 Personen außerhalb der Gruppe (aus: Hofstätter, Peter R., Einführung in die Sozialpsychologie, Stuttgart, Kröner, S. 322) 107 1. Suchen Sie Beispiele für Situationen, auf die die jeweiligen Kommunikationsmuster zutreffen könnten (Mat. 113). Überlegen Sie, welche Rückschlüsse das auf die jeweilige Beziehungsstruktur der Gruppe zuläßt. Diskutieren Sie, inwiefern verschiedene Zielsetzungen unterschiedliche Kommunikationsstrukturen erfordern (Arbeit, Familie, Freizeit). 2. Entwickeln Sie Hypothesen über den Führungsstil der militärischen Vorgesetzten von Staffel A und B (Mat. 114). 115 Gruppenprozesse Ganz allgemein gesprochen, wird man behaupten können, daß die Bildung von sozialen Gruppen für ihre Mitglieder unvorhergesehene Folgen hat. Dies spiegelt sich einerseits im sich entfaltenden Gruppenaufbau (Gruppenstrukturen) und andererseits in der damit einhergehenden gruppenspezifischen Dynamik (Gruppenprozesse). Dabei wird die soziale Gruppe zu einer überindividuellen Einheit, von der Soziologen behaupten, ihre Summe (Gruppenhandeln) entspricht nicht mehr der Summe ihrer Teile (individuelles Mitgliederhandeln). Nicht zuletzt sei dies das Ergebnis von Prozessen in sozialen Gruppen, denen sich kein Gruppenmitglied entziehen kann; „1. dem Zwang zur Selbstdarstellung – für jedes einzelne Mitglied; 2. dem Zwang, den anderen – eben in dieser Selbstdarstellung – registrieren zu müssen; 3. dem Zwang zur Bildung eines Binnenselbstverständnisses der gesamten Gruppe; und 4. dem Zwang zur Außendarstellung der Gruppe gegenüber der „Umwelt"." Der Zwang zur Selbstdarstellung trifft jedes Gruppenmitglied (s. Mat. 110), ob es will oder nicht. Jeder von uns tritt mit seiner Person auf (Figur, Größe, Geschlecht, Sprache, Mimik ...), stellt sich selbst dar, „verrät, ohne es zu wollen – noch vor jeder Aktion – eine Menge Daten über sich". Dieser Zwang ist gleichzeitig konstituierend für einen Druck in Richtung Homogenisierung aller Gruppenmitglieder, „denn die Darstellung von allzu unterschiedlichen Elementeigenschaften führt entweder zum Austreten oder Ausscheiden des betreffenden Gruppenmitglieds". Damit ist der Zwang, den anderen registrieren zu müssen, schon angedeutet in der Notwendigkeit im gemeinsamen Agieren zur „Klarheit über das Bild zu kommen, das die anderen von einem haben ..." Die Zwänge sind gegenseitig und intrapsychisch bindend. Immer bedingen sie Prozesse, die zum gemeinsamen Meinungsaustausch und besonders dem gemeinsamen Handeln (Interaktion) eine Annäherung von Wertvorstellungen, Vorstellungen „richtiger" Verhaltensweisen und Ausdrucksweisen notwendig machen. Diese Prozesse werden getragen vom Zwang zur Bildung eines Binnenselbstverständnisses der gesamten Gruppe, indem die Gruppe die Fragen beantwortet, wie sie sich fachlich, intellektuell, politisch und ideologisch sieht, wie sie ihr Ziel erreichen will und welche Wege sie dabei einschlagen will. Das „bringt die gesamten Prozesse der Selbstdarstellung und des gegenseitigen Akzeptierens sowie der Bilanzierung im Sinne einer Homogenisierung (s. oben) ständig wieder ins Spiel", was D. Claessens veranlaßt, von der Gruppe als „vibrating unit" zu sprechen. Die Notwendigkeit der gemeinsamen Zielerreichung verweist jedoch nicht nur auf das Binnenselbstverständnis, sondern ebenso auf den Zwang zur Außendarstellung gegenüber der Umwelt, insofern die Gruppe entweder als Ganzes oder über ihre Individuen identifiziert wird. Die Außendarstellung erzeugt eine neue Dynamik, die für die Gruppenmitglieder an das Binnenverständnis der Gruppe rückgekoppelt ist und Homogenisierungsdruck (was sollen denn die anderen über uns denken) spürbar machen kann. (Autorentext, umformuliert nach: Claessens, Dieter, Gruppen und Gruppenverbände, Darmstadt, Wissenschaft!. Buchgesellschaft, 1977, S. 9 f) 1. Formulieren Sie Beispiele für Gruppensituationen, die deutlich machen können, was Claessens meint, wenn er davon spricht, daß Gruppen „vibrating units" seien (Mat. 115). Welche Fähigkeiten müssen Jugendliche entwickeln, um den Erwartungen und Anforderungen anderer in sozialen Gruppen gerecht zu werden? 108 5.2 Ergebnisse der Kleingruppenforschung Allgemein kann man sicherlich behaupten, daß Forschung zum sozialen Einfluß eigentlich das ist, was im wesentlichen die Sozialpsychologie umfaßt. Eine Einschränkung erhält diese Aussage allerdings durch den Umstand, daß das Konzept des sozialen Einflusses etwas eingeschränkter benutzt wird: Sozialer Einfluß meint darin eine Veränderung in Urteilen, Meinungen und Einstellungen eines Individuums als Ergebnis der Konfrontation mit den Urteilen, Meinungen und Einstellungen anderer Individuen. Auf der Basis dieser Bedeutung soll der folgende Abschnitt eine knappe Darlegung wichtiger 116 Phänomene des sozialen Einflusses in Kleingruppen geben. (Mit dem Begriff Kleingruppen wird in der Forschung in erster Linie auf das Merkmal Mitgliedermenge einer Gruppe abgestellt, weniger auf das Merkmal „sozial".) Aspekte der Themen Unabhängigkeit und Konformität (Mat. 116, 117, 119 und 120) und Gruppenpolarisierung (Mat. 121) stehen dabei als ausgewählte Aspekte im Vordergrund. Parallel dazu soll es Material 118 möglich machen, das Experiment als Forschungsmethode zu reflektieren. Das Asch-Experiment Im allgemeinen ist es sicher normal und vielleicht sogar sinnvoll, daß Menschen durch die Urteile anderer beeinflußt werden und dies um so mehr, wenn sie sich ihres Urteils nicht sicher sein können. In solchen Fällen paßt man sich der einhelligen Meinung einer positiv geschätzten Gruppe gerne an. Unangenehm ist es meist, wenn mehrere positiv bewertete Personen übereinstimmend eine Meinung vertreten, die sich von der eigenen unterscheidet. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um einen überprüfbaren Sachverhalt handelt, somit ein Konflikt entsteht auf der einen Seite zwischen der eigenen begründeten Meinung über eine physische Realität und auf der anderen Seite einer einhellig abweichenden Meinung einer Gruppe (soziale Realität). Kann man noch seinen Sinnen trauen, wo es doch unwahrscheinlich ist, daß sich eine Mehrheit von Personen in gleicher Weise irren. Der oben skizzierte Konflikt bildet den Ausgangspunkt für eine Serie von Experimenten, die Solomon E. Asch in den 50er Jahren und nach ihm noch viele Wissenschaftler zum Problemkreis Konformität durchgeführt haben. Die Versuchspersonen (Vpn) glaubten an einem Experiment über Wahrnehmung teilzunehmen. In 18 Versuchsdurchgängen sollte die Vpn in Gruppen von acht Personen entscheiden, welche von drei Vergleichslinien ebenso lang war wie eine Referenzlinie. Dabei waren die Längen der Linien in Vorversuchen so ausgewählt worden, daß normalsichtige sie fehlerfrei beurteilen konnten, was auch in Kontrollversuchen bestätigt wurde. Die Versuchspersonen gaben nacheinander, im Halbkreis sitzend, laut ihre Urteile ab. Jedoch waren jeweils sieben Vpn Mitarbeiter von Asch, die so saßen, daß die einzige echte Vp immer als letzte antwortete. Die falschen Vpn gaben in 12 der 18 Durchgänge jeweils falsche Urteile ab, allerdings in völliger Übereinstimmung. Versuchsleiter und Helfer verhielten sich unpersönlich und zeigten keinerlei Überraschung hinsichtlich einzelner Antworten. Wie man sich leicht vorstellen kann, war dieses Experiment für viele Versuchsteilnehmer unangenehm und viele waren froh, nachdem sie zum Experiment befragt worden waren, über dessen tatsächliche Zwecke aufgeklärt zu werden. D. h. selbst in einer so persönlich bedeutungslosen Situation, wie sie hier beim Linienvergleich gegeben war, wurde die Konfrontation mit einer einhellig abweichend urteilenden Gruppe als unangenehm empfunden. Das Ergebnis zeigte den Einfluß einer offensichtlich falschen, aber einstimmigen Majorität auf die Urteile eines einzelnen Versuchsteilnehmers. 117 (Autorentext) Kritischer Vergleich (Strichlänge in Inch) Gruppe 3 Gruppe 1 Gruppe 2 Standardreiz Vergleichsreiz Standardreiz Vergleichsreiz Standardreiz Vergleichsreiz 6.25/8.00/6.75 3 3.75/4.25/3.00 5 5.00/4.00/6.25 8 (aus: Asch, Salomon, Studies of lndependence and Conformity: A Minortiy at one against a unanimous Majority, S. 10) 118 Anforderungen an ein sozialwissenschaftliches Experiment Immer, wenn wir mit den vermeintlichen oder tatsächlichen Ergebnissen von wissenschaftlichen Studien konfrontiert werden, sollten wir danach fragen, wie der oder die Wissenschaftlerinnen zu ihren Erkenntnissen gekommen sind. Es ist die Frage nach der Methode und ihrer Umsetzung. Im Rahmen der Sozialwissenschaften ist der Einsatz von Experimenten eine methodische Variante mit der man festzustellen versucht, durch welchen Faktor (Beeinflussung) die Veränderung einer Meinung, Einstellung oder eines Verhaltens einer Gruppe oder eines Individuums in einer Versuchssituation bedingt ist. In der Fachsprache heißt das dann: Eine abhängige Variable (naive Versuchsperson) wird von einer unabhängigen Variablen (VersuchsaufbauNersuchsleiter) manipuliert. Eine nicht in den Vorgang eingeweihte Versuchsperson wird in eine Experimentsituation gebracht, von der die Wissenschaftlerinnen annehmen, sie sei so konstruiert, daß damit überprüft werden kann, was sie zu überprüfen glauben (interne Validität). Die Reaktion der Versuchsperson auf die Versuchssituation bzw. deren Veränderung verifiziert (bestätigt) oder falsifiziert (widerlegt) dabei eine zuvor aufgestellte Wenn-Dann-Beziehung (These). Es ist leicht einzusehen, daß ein solches Arrangement nicht wenige potentielle Störmomente in sich trägt: die Sicherstellung der Naivität der Versuchspersonen, die Kontrolle möglicher Störfaktoren, d. h. abzusichern, daß keine anderen Faktoren, als die vom Experimentaufbau intendierten das Verhalten der abhängigen Variablen beeinflussen, die interne Validität, die statistische Datenauswertung und schließlich die Zweifel an der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Alltagswelt (Generalisierbarkeit/externe Validität) im Zusammenhang mit der offensichtlichen Künstlichkeit der Experimentsituation. Natürlich trifft letzteres insbesondere auf Laborexperimente zu. Dafür ist die Kontrolle von Störvariablen in Feldexperimenten, die in einer den Versuchspersonen vertrauten (natürlichen) Umgebung („Feld") durchgeführt werden, weitaus schwieriger. Jede Kontrolle von Variablen und ihrer Meßbarkeit bringt unweigerlich ein Moment der Künstlichkeit mit sich. Andererseits ist diese Künstlichkeit eine wesentliche Tugend des Experimentes, da sie die Untersuchung von Prozessen erlaubt, die sonst nicht ohne Einwirkung von anderen Faktoren vorkommen. (Autorentext) 1. Vielleicht können Sie das Asch-Experiment wiederholen (Mat. 116 und 117). Überprüfen Sie zuvor das Experiment im Detail im Hinblick auf die Anforderung an ein Experiment (Mat. 118) und sichern Sie dementsprechend den methodischen Aufbau des Experimentes 110 119 Warum verhalten sich Menschen konform? Wenn Menschen in Anwesenheit anderer eine Beurteilung eines Aspekts der Wirklichkeit abgeben sollen, haben sie zwei Interessen: Sie möchten eine richtige Beurteilung geben, und sie möchten auf die anderen einen guten Eindruck machen. Zur Bestimmung, ob die Beurteilung richtig ist, stehen zwei Informationsquellen zur Verfügung: das, was ihre Sinne und die physikalische Realität ihnen mitteilen. und das, was andere sagen. Über das ganze Leben lernen Individuen den Wert dieser beiden Informationsquellen schätzen. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben sie den adaptiven Wert erfahren, den es hat. wenn sie ihre Urteile und ihr Verhalten auf ihrer Sicht der Wirklichkeit aufbauen. Andererseits beruht ein großer Teil dessen, was sie gelernt haben, auf Informationen anderer, und der Bezug auf die Urteile anderer hat sich ebenso als adaptiv erwiesen. Darüber hinaus stimmten in den meisten Fällen ihre eigenen Urteile mit denen anderer überein und ergaben so eine stabile Sicht der Umwelt. Die Konformitätssituation jedoch bringt diese beiden Informationsquellen in einen Gegensatz und konfrontiert das Individuum mit dem Konflikt, zwischen zwei – im Prinzip – verläßlichen Informationsquellen eine Entscheidung zu treffen. Wenn sich das Individuum in dieser Hinsicht konform verhält, so unterliegt es dem sogenannten Informationseinfluß, das heißt, es akzeptiert das Urteil anderer, weil es ihnen mehr vertraut als sich selbst. Es gibt allerdings noch einen anderen Grund, aus dem sich eine Person dem Gruppendruck beugen könnte. Weil wir alle in gewisser Weise hinsichtlich der Befriedigung unserer Bedürfnisse von anderen abhängig sind, ist es wichtig, daß wir versuchen, die Sympathien der anderen zu maximieren. In dem Ausmaß, in dem mangelnde Übereinstimmung mit anderen zu antizipierter Antipathie oder sogar offener Ablehnung führen kann, Übereinstimmung jedoch zu positiver Bewertung und Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft in einer Gruppe führt, verhalten sich Menschen aus normativen Gründen zu den Urteilen anderer konform. Daher beruht Konformität aufgrund des Bedürfnisses nach Sympathie und Anerkennung und der Vermeidung von Ablehnung auf normativem Einfluß. Normativer und Informationseinfluß sind damit die allgemeineren Mechanismen, über die Gruppen Einfluß auf ihre Mitglieder ausüben. Natürlich variiert das relative Gewicht der beiden Mechanismen von Situation zu Situation. In einigen Fällen verhalten sich Menschen aufgrund der Information anderer stärker konform, in anderen hauptsächlich aus normativen Gründen. Darüber hinaus – und dies ist eine ebenso wichtige Unterscheidung – ist zu erwarten, daß Prozesse des normativen und des Informationseinflusses ihre Effekte auf verschiedenen Ebenen bewirken. Wenn eine Person sich im wesentlichen deshalb konform verhält, weil ihr daran liegt, was andere von ihr denken, verändert sie ihr manifestes Verhalten und behält ihre ursprüngliche Überzeugung bei, vertraut sie jedoch der Information anderer, ändert sie zusätzlich auch ihre private Meinung. Daher sollte eine Unterscheidung getroffen werden zwischen öffentlicher Konformität oder „compliance" und privater Konformität oder Konversion. (aus: Avermeat, E. von, Sozialer Einfluß in Kleingruppen, in: Stroebe, Wolfgang u. a. (Hrg.) Sozialpsychologie, Berlin, Springer, 1990, S. 373 f.) 120 Zum Einfluß von Majoritäten Bei vielen Versuchen stellt sich die Frage, mit wie vielen falschen Versuchspersonen man eine Versuchsperson konfrontieren muß, um sozialen Einfluß feststellen zu können. Hierzu geben Versuche eine Antwort, in denen der Einfluß von Majoritäten auf Minderheiten untersucht wird. Es zeigen sich schon ab einer Majoritätsgröße von drei Personen deutliche Beeinflussungseffekte auf dieser Majorität allein gegenüberstehende (isolierte) Individuen. Eine weitere Erhöhung der Mitglieder der Majorität führt nur noch zu relativ kleineren Konformitätsgraden. Erhalten die Probanten (Versuchspersonen) jedoch soziale Unterstützung für ihre private Meinung (in Form eines „falschen" Helfers) sinkt das Ausmaß der Konformität deutlich und dies gilt um so mehr, wenn die Versuchsperson glaubt, sich auf den Partner verlassen zu können. (Autorentext) 111 121 Gruppenpolarisierung Wie vermutlich auch der Leser, so dachten auch Sozialpsychologen eine gewisse Zeit, Gruppen seien weniger extrem, gemäßigter und vorsichtiger als Individuen. Im Jahre 1961 jedoch führte Stoner... ein Experiment durch – dem inzwischen über 300 weitere folgten –, das das genaue Gegenteil bewies. Er gab seinen Versuchsteilnehmer in Gruppen von vier oder fünf einen Fragebogen zur Entscheidung eines Dilemmas. Dieser Fragebogen... mißt die Tendenz einer Person, ein Risiko einzugehen. Er besieht aus zwölf Items, von denen jedes das Dilemma beschreibt, vor dem sich ein Protagonist befindet, der zu wählen hat zwischen einer Alternative mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit, aber geringem Wert, und einer zweiten Alternative mit einem attraktiveren Handlungsverlauf, aber geringerer Erfolgswahrscheinlichkeit. Die Versuchsteilnehmer agieren als imaginäre Ratgeber des Protagonisten und sollen angeben, wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit der riskanteren Alternative mindestens sein muß, bevor sie diese empfehlen würden. In Stoners Experiment füllten die Versuchsteilnehmer zunächst privat den Fragebogen aus („Präkonsens"), diskutierten dann jedes Item miteinander und versuchten Konsens herzustellen („Konsens"), und gaben schließlich nochmals eine individuelle Beurteilung ab („Postkonsens"). Stoner beobachtete, daß der erreichte Konsens und der Durchschnitt der individuellen Postkonsensurteile eine riskantere Entscheidung begünstigte, als man dies auf der Grundlage des Durchschnitts der vor der Diskussion getroffenen Einzelurteile erwartet hätte. Stoners Beobachtung dieses Risikoschubs veranlaßte Sozialpsychologen unmittelbar dazu zu versuchen, dieses Phänomen zu replizieren und zu erklären. Recht bald wurde klar, daß der Schub nicht immer in Richtung Risiko erfolgte, denn in einer Reihe von Fällen bewegte er sich in die entgegengesetzte, „vorsichtige" Richtung. Darüber hinaus zeigten Moscovici & Zavalloni sehr eindrucksvoll, daß der Entscheidungsschub nach einer Gruppendiskussion auch bei einer völlig anderen Beurteilungsdimension zustandekam. Sie verwendeten Stoners ursprüngliches Verfahren und ließen französische Schüler zunächst privat ihre Einstellungen zu Präsident De Gaulle (oder zu Nordamerikanern) aufschreiben, indem diese das Ausmaß ihrer Übereinstimmung mit Aussagen angaben wie zum Beispiel: „De Gaulle ist zu alt für seine schwierige politische Aufgabe" (oder: „Die amerikanische Wirtschaftshilfe wird immer dazu benutzt, politischen Druck auszuüben"). Als nächstes sollten sie in der Gruppe zu jedem Item Konsens herstellen, und als letztes gaben sie wiederum ein privates Einstellungsurteil ab. Unter Verwendung dieser völlig anderen Dimension beobachteten die Autoren einen Schub, der dem von Stoner beobachteten vergleichbar war: Als Ergebnis der Gruppendiskussion wurden die Versuchsteilnehmer in ihren Einstellungen extremer. Wie aus (dem Versuch, d. Verf.) hervorgeht, wurde die Einstellung zu De Gaulle, die vor der Diskussion nur leicht positiv gewesen war, nach der Diskussion stärker positiv; diese Veränderung blieb auch in den privaten Urteilen nach der Diskussion bestehen. Die Einstellungen zu Amerikanern zeigen ein ähnliches Polarisationsmuster, allerdings in negativer Richtung: die ursprünglich nur leicht negative Einstellung wurde nach der Diskussion noch negativer. ... Auf jeder Beurteilungsdimension neigen Gruppen zu einer Verschiebung in Richtung des Pols, den sie bereits zu Beginn favorisieren. Der Begriff Gruppenpolarisierung bezieht sich also auf eine Verstärkung einer anfangs dominanten Position aufgrund von Gruppendiskussionen. (aus: Avermaet, E. von, Sozialer Einfluß in Kleingruppen, a. a. 0., S. 388 f.) 1. Interpretieren Sie auf dem Hintergrund der Aussagen E. v. Avermaets (Mat. 119) die Ergebnisse des Asch-Experimentes. Sind der Wunsch nach Individualität und die Zwänge einer Gruppe in Einklang zu bringen (Mat. 120)? 2. Erläutern Sie, was im Ergebnis die Aussagen aus Material 121 für die Beziehung Individuum und (soziale) Gruppe bedeuten. 3. Welche Kompetenzen müßten Menschen erwerben, um den in Gruppen stattfindenden Prozessen nicht hilflos ausgesetzt zu sein? Welche Vor- und Nachteile bietet die Kleingruppenforschung für die Erfassung von Prozessen in sozialen Gruppen (Mat. 116 — 121)? 112 5.3 Intergruppenverhalten — Intergruppenkonflikte Intergruppenverhalten beinhaltet zunächst nicht mehr, als das Verhalten der Mitglieder einer Gruppe gegenüber den Mitgliedern einer anderen Gruppe. Häufig erleben wir es in Konfliktsituationen als Zusammenstoß unterschiedlichster Art zwischen Gruppen. (Die Beobachtungsperspektive wird in diesem Kapitel immer wieder ausge- cher Phänomene angeboten werden. Desweiteren sei aber noch auf ökonomische, gesellschaftskritische, politische, historische und linguistische Modelle zu Intergruppenkonflikten hingewiesen, was auf die Notwendigkeit eines multifaktoriellen Zugangs in der Analyse solcher Kon flikte verweisen soll. dehnt auf die Gruppe als soziale Kategorie.). Nicht immer manifestieren sich die Konflikte offen, meistens verraten sie sich über Vorurteile in Form von Rassismus, Ethnozentrismus Sexismus usw., sogenannten Intergruppeneinstellungen oder auf der Verhaltensebene in bewußten oder unbewußten Diskriminierungen. Die zu beantwortende Frage lautet dann: Was ist ursächlich echte für diese Vorurteile bzw. Diskriminierungen? Folgenden sollen dazu eine Auswahl sozialpsychologischer Theorien vorgestellt werden, die im Kontext des Gruppenthemas zur Erklärung sol- Am Anfang steht ein heftig diskutiertes Modell (Mat. 122), in dem Intergruppenkonflikte und Vorurteile im Kontext eines bestimmten Charaktertypus analysiert werden. Mehr Akzeptanz kann der Ansatz aus (Mat. 125) für -, sich verbuchen insofern er in den verschiedensten Facetten aufgegriffen wird, und das Intergruppenverhalten als Reaktion auf Im oder immaginäre Gruppeninteressen betrachtet. Es wird mit dem Material 126 vertiefend auf seinen sozialpsychologischen Hintergrund ausgeleuchtet und mit Material 127 und 128 in gesellschaftlichen Facetten beschrieben. 122 Über das Vorurteil Daß Abbreviaturen eigener Erlebnisse und dessen, was vom Hörensagen stammt, im Vollzug des Lebens eine Rolle spielen, ist offenbar. Was einmal gelernt und aufgenommen ist, wird in allgemeinen Vorstellungen aufgestapelt. Bewußt und halbbewußt, automatisch und absichtlich wird jeder neue Gegenstand mittels des so erworbenen Arsenals begrifflich eingeschätzt. Die Verhaltensweisen der Individuen in den Situationen des Alltags haben auf Grund von bruchstückhaftem Wissen sich eingeschliffen, sind Reaktionen aus Vorurteilen. Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen. Nur muß er imstande sein, die Generalisierung einzuschränken, wenn er nicht unter die Räder kommen will. Jenseits des Kanals fahren Autos auf der linken Straßenseite, und hierzulande wechseln die Kunden in immer rascherem Tempo ihren Geschmack. Man kann sie nicht stets nach demselben Schema zufriedenstellen. Solche Vorurteile näher zu bestimmen, zwingt das eigene Interesse ... Der Trieb zur Selbsterhaltung ist nur eine der Ursachen von Vorurteilen. Eigenliebe, Bedürfnis nach Prestige sind in der Gesellschaft mit ihm aufs engste verknüpft. Jeder muß nicht bloß so handeln, sondern so auftreten und sprechen, daß die Menschen ihm glauben und ihren Vor-teil in ihm sehen. Er bedarf der positiven Vorurteile über sich selbst. Sie zu korrigieren, fällt schwerer, als wenn es nicht um Stolz und Selbstbewußtsein, sondern unmittelbar um Selbsterhaltung geht. Es gibt dunklere Triebe, die noch auf andere Weise mit Vorurteilen in Verbindung stehen. Machtgier, Neid, Grausamkeit haben seit Anfang die Geschichte der Länder und Kontinente beherrscht ... Im Dienst zerstörerischer Triebe gewinnt das Vorurteil die Funktion, die hier zur Rede steht. Aus der Verkürzung des Gedankens, die ein Mittel bei der Erhaltung des Lebens ist, wird es zum Schlüssel, eingepreßte Bosheit loszulassen. War jene neutrale Abbreviatur zuweilen schwer abzuändern, weil die mit ihm verbundene Verhaltensweise sich eingeschliffen hatte und lieb geworden war, so ist das Vorurteil des Hasses unverrückbar, weil es dem Subjekt gestattet, schlecht zu sein und sich dabei für gut zu halten. Je mehr die Bekenner die Falschheit ihres Glaubens ahnen, desto begeisterter halten sie an ihm fest. Das starre Vorurteil schlägt in Fanatismus um. Zum Geschäft des Demagogen gehört es, edle Lösungen zu finden, die zugleich der Feindschaft ein Objekt versprechen. Von den kleinen Gerüchtemachern, die im Namen des Anstands und der Solidarität das Komplott gegen Neger und Fremde anzetteln, bis hinauf zu den plan- 113 voll ungebärdigen Führern, die das Volk durch Haß zur explosiven Gemeinschaft zusammenschweißen, zieht sich die Reihe der Agenten des Unheils, die den Anfälligen den erwünschten Vorwand liefern. Nicht bloß Amateure und Experten der Verführung, die bewußt auf die verborgenen zerstörerischen Kräfte in den Menschen wirken, sondern die Umstände des gesellschaftlichen Lebens treiben von selbst zum starren Vorurteil. Die sozialen und psychologischen Mechanismen, die dabei im Spiele sind, sind längst erforscht. Wenn das Kind aus der Stube der Eltern in die Schule kommt und unter Fremden sich bewähren soll, muß es seine eigene Schwäche, sein Heimweh bekämpfen. Um das zu leisten, wird ihm Schwäche zum Feind, es entdeckt und schlägt sie überall und lieber bei den anderen als in sich. Die ganze Klasse ist dem Schwächling und dem Mamakindlein auf der Spur. Wer sich am meisten dabei hervortut, das je gefundene Opfer zu verhöhnen, und sich besonders als den Starken aufzuspielen weiß, den plagt die Schwäche, die er beim anderen findet, damit er sie in sich vergessen kann. Soldaten, die im Kriege leicht in anderen den Feigling sehen und den zu Haus Gebliebenen als Drückeberger denunzieren, pflegen ein hohes Maß uneingestandener Angst zu haben. Wer möchte sich vor Schmerz, Verstümmelung und Tod nicht drücken! Wissenschaftlich heißt das heute Projektion. Die Dichter und Schriftsteller haben es immer gewußt. Wer überall Unrat wittert, hat eine besondere Neigung dazu. Der Anstoß, den er nimmt, ist Index seiner eigenen Verfassung ... Daß eine gesellschaftliche Gruppe, die sich nicht wehren kann, durch Gerüchte, Losungen, schließlich durch Kommando der schlechten Regungen bezichtigt wird, die man selber an ihr auslassen will, ist vie-len recht, vor allem, wenn zur seelischen Verbitterung ein wirtschaftlicher Rückgang kommt. Natur er-zeugt den Kollektivhaß nicht ... Das negative Vorurteil ist mit dem positiven eins. Sie sind zwei Seiten einer Sache. Daß der Neger wesensmäßig schlechter ist, bedeutet, daß der Weiße wesensmäßig besser ist, er braucht nichts dafür zu tun. Wenn es genügt, die Hautfarbe zu kennen, um über jenen den Stab zu brechen, gleichviel, was er als einzelner auch denkt und tut, dann sind dem eingesessenen Weißen seine eigenen moralischen Qualitäten garantiert. Sein Ich wird dadurch aufgebläht, daß er der richtigen Rasse angehört. An die Stelle eigener Verdienste tritt die Mitgliedschaft in einem Kollektiv. Auch dem vernünftigen Bewußtsein gilt die Zugehörigkeit zu einem Volk, zu einer Partei oder Institution, gleichviel, ob der Zugehörige sich einfügt oder widerstrebt, nicht als bedeutungslos ... Gegen die starren Vorurteile zu argumentieren, ist eitel. Sie degradieren den einzelnen dazu, in dem Allgemeinbegriff, unter den sie ihn befassen, als autonomes Wesen unterzugehen, und die Sätze, die den Allgemeinbegriff bestimmen, stehen fest: „Das ist ein Jude", „Das ist ein Zigeuner", „Die Art kennen wir", „Jeder Deutsche ist ein Nazi", „Dem Amerikaner fehlt die tiefere Kultur". Das Tor ist geschlos-sen gegen alles, was der andere auszudrücken vermag. Er gilt nicht mehr als ein Wesen, mit dem umzugehen und zu sprechen vielleicht ein Vehikel der Wahrheit ist. Er gehört zu einer niedereren Gattung. Die Verfolgungen sind die logische Konsequenz. Wenn vom Geist die Kraft nicht abzulösen ist, den anderen zu erhöhen, indem sie das Höhere in ihm entdeckt, dann sind die vorurteilsvollen, „autoritären" Charaktere der Widerpart des Geistes. In der Forschung wurden sie beschrieben und lassen sich zumeist erkennen, auch wenn von Nationalität, von Religion und Rasse nicht die Rede ist. Das zur Zeit des Krieges für Amerika entworfene Modell wies unter anderen die bekannten Züge auf. Die Autoritären pflegen hierarchisch zu denken, teilen die Menschheit nach der sozialen Stufenleiter ein. Sie haben feste Maßstäbe, schließen an das je Bestehende genau sich an, sind gegen alles Schwanken und fordern, daß die Macht rasch zugreift. Unfähig sind sie, in irgendeinem Fall die Schuld im Ernste bei sich selbst zu suchen. Sie sagen gerne „Wir" und meinen dabei das ganze Land. Über sich zu lächeln, ist ihnen versagt. Je weniger sie ihr eigenes Subjekt in Frage stellen, desto rascher sind sie bei der Hand, die anderen anzuklagen. Sie haben eine feine Witterung für Machtverhältnisse, nach ihnen richten sie ihr Leben ein. Die Züge des „autoritären Charakters" variieren nach Zeiten und Ländern. Sie und ihren Vorsprung zu erforschen ist eitel, solange die Ergebnisse, fragmentarisch wie sie heute noch sind, in Politik und Erziehung nicht wirksam werden. Trotz allem, was die Gegenwart verdüstert, könnte solche Kenntnis dazu helfen, daß die Zahl der einzelnen wächst, deren Urteil nicht starr, sondern sinnvoller Entfaltung fähig ist ... (aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 5. 1966, Autor: Max Horkheimer) 114 123 Der persönlichkeitstheoretische Ansatz • Der sog. autoritäre Charakter („nach oben buckeln, nach unten treten") wird als der Charaktertyp angesehen, der neben anderen Faktoren auch ein Gelingen des Nationalsozialismus möglich gemacht hat. • Dieser Charaktertyp hat sich möglicherweise psychostrukturell verändert. Der „neue" Sozialisationstyp zeichnet sich durch ein sehr geringes Selbstbewußtsein und durch den fehlenden Zugang zu seinen Stärken aus. • Verursacht wird diese „Ich-Schwäche" durch eine zu starke Bindung an die Mutter im frühkindlichen Alter. Dem Kind wird nicht die Möglichkeit gegeben, seine eigenen Stärken und Grenzen kennenzulernen, daher bleibt es orientierungslos und sucht als Erwachsener weiterhin nach Menschen und Regeln, die ihm zeigen, „wo's lang geht". • Dieser Charaktertyp hat die Eigenschaft, sich an starke, autoritäre Führungspersönlichkeiten zu binden, auch um sich selber aufzuwerten. (aus: Jäger, Uli und Seeboth, Annette, Eine (r)echte Provokation. Der Rechtsextremismus und sein Umfeld, Tübingen, Verein für Friedenspädagogik, 1990, S. 140 f.) 124 Theoretische Bedingungen für soziale Vorurteile (Autorenschaubild) 115 1. Erstellen Sie eine Übersicht (Gruppenarbeit), in der Sie Merkmale, Funktion und Ursache von Vorurteilen zusammentragen (Mat. 122 und 123). Worin liegen die Schwierigkeiten im Abbau von Vorurteilen? Nach Horkheimer ist eine rationale Aufklärung allein nicht ausreichend, um Vorurteile zu überwinden – warum? Beurteilen Sie die Perspektiven, die die Materialien 122 und 123 zu ihrem Abbau bieten. 2. Offenbar sind Stereotype an sich nicht problematisch (s. Mat. 122). Die Bereitschaft diskriminierend vorzugehen, ist gebunden an die Verknüpfung von kognitiver, affektiver und konativer Dimension (Mat. 124). Untersuchen Sie anhand von Texten aus der NS-Zeit und/oder rechtsradikaler Presse, inwiefern dort affektive und konative Aspekte, die Voraussetzung für diskriminierendes Handeln sind, eingesetzt werden. 125 Gruppeninteressen – Sherifs-Untersuchungen (1949, 1953 und 1954) Im Zentrum von Sherifs Theorie steht die Annahme, daß Intergruppeneinstellungen und -verhalten von Gruppenmitgliedern in der Regel die objektiven Interessen ihrer Gruppe gegenüber anderen Gruppen widerspiegeln. Um die Gültigkeit dieser Perspektive zu demonstrieren, führte Sherif zusammen mit Kollegen drei Feldexperimente durch, die zu Klassikern der sozialpsychologischen Literatur geworden sind. Obwohl diese Experimente sich geringfügig voneinander unterscheiden, sind sie sich doch in der Konzeption und im Ergebnis so ähnlich, daß wir sie gemeinsam betrachten können. Es handelt sich um Längsschnittuntersuchungen (über etwa drei Wochen), die darauf angelegt waren, systematische Verhaltensänderungen als Ergebnis sich verändernder Intergruppenbeziehungen zu erfassen. Das Gesamtdesign bestand aus drei Phasen: Gruppenbildung, Intergruppenkonflikt und Konfliktreduktion. Zur Realisierung dieses Designs trafen Sherif und seine Kollegen das Arrangement, die Experimente im Kontext eines Ferienlagers durchzuführen. Soweit es die Beteiligten betraf, handelte es sich um ein ganz normales Ferienlager. Alle Aktivitäten waren genau von der Art, wie sie für amerikanische Sommerlager der 50er Jahre (und vielleicht noch heute) charakteristisch waren. Der Unterschied lag natürlich darin, daß (was die Jungen, die teilnahmen, nicht wußten) die Erwachsenen, die das Lager be-aufsichtigten, sämtlich ausgebildete Wissenschaftler waren, die alle Vorgänge sorgfältig beobachteten. Die Jungen selbst – alle weiß, aus der Mittelklasse und etwa zwölf Jahre alt – waren mit Bedacht aus-gewählt worden, bevor man sie zu dem Ferienlager eingeladen hatte, und nur die, die psychologisch „gesund" schienen und aus stabilen Elternhäusern stammten, waren akzeptiert worden. Darüber hinaus kannte keiner der Jungen den anderen, bevor sie ins Lager kamen. Obwohl es sich um eine sehr selek-tive und nichtrepräsentative Stichprobe handelte, wurde dadurch sichergestellt, daß jegliches Verhalten, das in der Folge gezeigt wurde, nicht auf frühere soziale oder psychische Deprivation oder auf vorher bestehende persönliche Beziehungen untereinander zurückgeführt werden konnte. Gruppenbildung. In der ersten Phase des Experiments wurde die große Gruppe von 22 – 24 Kindern in zwei Experimentalgruppen aufgetrennt. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, diese beiden Gruppen so exakt wie möglich einander entsprechen zu lassen. In den ersten beiden Experimenten wurde darauf geachtet, daß die Mitglieder der beiden Gruppen hinsichtlich verschiedener physischer und psychischer Eigenschaften vergleichbar waren. Es wurde aber auch dafür gesorgt, Freundschaften, die sich in den ersten paar Tagen des Lagers gebildet hatten, aufzubrechen und die überwiegende Anzahl der besten Freunde jedes Jungen in die Fremdgruppe zu bringen. Im dritten Experiment begegneten sich die Jungen überhaupt nicht, bevor die Gruppen gebildet wurden, diese waren zu Anfang in einiger Entfernung voneinander untergebracht und wußten nichts von der Existenz der anderen Gruppe. Einige Tage lang beteiligten sich die Kinder an verschiedenen Aktivitäten innerhalb dieser Gruppen, ohne daß sie jedoch etwa mit der anderen Gruppe viel zu tun gehabt hätten. Sehr schnell entwickelten die Gruppen eine innere Struktur und bildeten eigene Minikulturen mit eigenen Gruppensymbolen, Namen und Normen akzeptierten Verhaltens. Obwohl die jeweils andere Gruppe in ihren Gedanken keine Rolle spielte, ist es interessant, daß die Beobachter in den beiden ersten Experimenten einige Fälle von Ver- 116 gleichen zwischen den Gruppen aufzeichneten; bei diesen Vergleichen wurde die eigene Gruppe als überlegen angesehen ... Darüber hinaus schlugen im dritten Experiment, in dem die Gruppen in dieser Phase noch nichts voneinander wußten, einige Jungen auf die Information über die Existenz der anderen Gruppe hin den Lagerleitern spontan vor, die andere Gruppe zu einem sportlichen Wettbewerb herauszufordern. Wir werden sehen, daß es von Bedeutung ist, daß diese Äußerungen zugunsten der Eigengruppe auftraten, bevor die experimentelle Phase des Intergruppenkonflikts eingeführt wurde. Intergruppenwettbewerb. Dann begann die zweite Phase. Man kündigte den Jungen an, daß eine Reihe von Intergruppenwettbewerben stattfinden würde (zum Beispiel Ballspielen, Tauziehen usw.). Der Gesamtsieger sollte einen Pokal und jedes Mitglied der siegreichen Gruppe ein funkelnagelneues Taschenmesser erhalten – genau der richtige Preis für Zwölfjährige. Die Verlierer sollten nichts bekommen. Auf diese Art wurde ein objektiver Interessenkonflikt zwischen den Gruppen eingeführt. Technisch formuliert, hatte man aus unabhängigen Gruppen interdependente, wechselseitig voneinander abhängige gemacht: was die eine gewann, verlor die andere. Mit Beginn dieses Konflikts veränderte sich das Verhalten der Jungen dramatisch. Hatten die beiden Gruppen in den ersten Tagen mehr oder weniger friedlich koexistiert, waren aus ihnen jetzt feindliche Fraktionen geworden, die keine Gelegenheit ausließen, sich gegenseitig zu verhöhnen und in einigen Fällen sogar physisch zu attackieren. In einer Vielzahl von Mikroexperimenten, die als Spiel getarnt waren, konnten Sherif und seine Mitarbeiter die systematische und konsistente Begünstigung der Eigengruppe in Beurteilungen, Einstellungen und soziometrischen Präferenzen dokumentieren. Auch innerhalb der Gruppen fanden Veränderungen statt: Die Gruppen wurden beständig kohäsiver, gelegentlich veränderte sich die Führungsstruktur, indem ein aggressiver Junge die dominante Rolle einnahm. Diese Verhaltensmuster sind um so bemerkenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zumindest in den beiden ersten Untersuchungen der beste Freund eines jeden in der anderen Gruppe war. Als wie flüchtig erwiesen sich diese anfänglichen interpersonalen Beziehungen angesichts einer neuen Intergruppenbeziehung! Konfliktreduktion. Nachdem sie mit so einfachen Mitteln eine so erbitterte Wettbewerbssituation geschaffen hatten, versuchten die Forscher, den Konflikt durch Einführung einer Reihe übergeordneter Ziele für die beiden Gruppen zu reduzieren, das heißt Ziele, die von beiden Gruppen angestrebt wurden, die jedoch mit den alleinigen Anstrengungen einer einzelnen Gruppe nicht zu erreichen waren. Ein solches übergeordnetes Ziel wurde realisiert, indem man dafür sorgte, daß der Lastwagen, der zum Sommerlager gehörte, einige Meilen außerhalb des Lagers liegenblieb. Da es gerade Essenszeit war, hatten die Kinder ein eindeutiges gemeinsames Interesse daran, den Wagen wieder flottzumachen, um zum Essen ins Lager zu gelangen. Der Wagen war jedoch zu schwer, als daß ihn eine Gruppe allein hätte anschieben können. Nur indem beide Gruppen ihn mit demselben Seil, das sie noch wenige Tage zuvor zum Tauziehen verwendet hatten, gemeinsam anzogen, konnte dies gelingen. Nach einer Reihe solcher Szenarios kam es zu deutlichen Veränderungen im Verhalten der Jungen. Sie wurden weniger aggressiv gegenüber Mitgliedern der anderen Gruppe, und eine Reihe quantitativer Indikatoren erwies eine deutliche Reduktion der Begünstigung der Eigengruppe. (aus: Brown, Rupert, Beziehungen zwischen Gruppen, in: Stroebe, Wolfgang u. a. (Hrsg.), Sozialpsychologie, Berlin, Springer, 1990, S. 409 ff.) 1. Machen Sie deutlich, welche Annahme Sherif jeweils in den drei Experimentphasen verifizieren wollte, und stellen Sie seine Ergebnisse zum Intergruppenverhalten zusammenfassend dar (Mat. 125). 2. Entwickeln Sie eine Konfliktsituation, in der mit Hilfe der Überlegungen Sherifs Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen beigelegt werden könnten. 1 17 Berücksichtigt man Sherifs Beschreibung des Sommerlagers, so fällt die Beobachtung auf, daß allein die Nähe einer zweiten Gruppe schon Zeichen von Rivalität erzeugte. Das hat viele Wissenschaftler veranlaßt Experimente durchzuführen, in denen alle möglichen Gruppenbezüge minimiert wurden (minimale Gruppen). Es blieb den Teilnehmern nicht mehr als das Bewußtsein, Mitglied einer bestimmten Gruppe und nicht einer anderen zu sein. Dabei zeigte sich, daß die Grup- penzugehörigkeit für die Versuchsteilnehmer nicht erst dann zu einem Datum wurde, wenn sie mit einer gemeinsamen Erfahrung, Belohnung oder Frustation zusammenhing, sondern das bloße Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Gruppe reichte aus, um Intergruppenverhalten in dem Sinne auszulösen, daß Mitglieder anderer Gruppen fehlerhaft beurteilt und diskriminiert wurden. Hierauf versucht die Theorie der sozialen Identität eine Antwort zu geben. 126 Gruppenmitgliedschaft und soziale Identität Die Unterteilung der Welt in eine handhabbare Anzahl von Kategorien hilft uns nicht nur dabei, sie zu vereinfachen und ihr einen Sinn zu geben, sondern erfüllt eine weitere, sehr wichtige Funktion: zu definieren, wer wir sind. Wir klassifizieren nicht nur andere als Mitglieder dieser oder jener Gruppe, sondern wir weisen auch uns selbst einen Platz in Beziehung zu eben diesen Gruppen zu ... Die Vorstellung, daß soziale Identität sich aus Gruppenmitgliedschaften ableitet, hat eine lange Geschichte (zum Beispiel Mead, 1934), aber erst vor kurzer Zeit erkannte man, daß Prozesse der sozialen Identität Auswirkungen auf das Intergruppenverhalten haben können ... Nehmen wir mit Tajfel & Turner ... an, daß Menschen im großen und ganzen lieber ein positives als ein negatives Selbstkonzept haben. Da ein Teil unseres Selbstkonzepts (oder unserer Identität) über Gruppenbindungen definiert ist, wird es auch eine Präferenz geben, diese Eigengruppen eher positiv als negativ zu sehen. Wie kommen wir jedoch zu einer solchen Bewertung? Tajfel & Turner (1979) erweitern Festingers Theorie der sozialen Vergleiche ... und nehmen an, daß unsere Bewertungen von Gruppen ganz wesentlich relativer Natur sind: Wir schätzen den Wert oder das Prestige unserer Eigengruppe durch den Vergleich mit anderen Gruppen ein. Das Ergebnis dieser Intergruppenvergleiche ist für uns von großer Bedeutung, weil es indirekt zu unserer Selbstwertschätzung beiträgt. Wenn unsere Eigengruppe auf irgendeiner Wertdimension (Fähigkeit oder sozialer Umgang) als eindeutig überlegen wahrgenommen werden kann, können auch wir uns im Lichte dieser Vorzüge sonnen (siehe Cialdini, 1976, der eine Illustration dieses Phänomens bei Gruppen von Fußballfans unter Collegestudenten gibt). Aufgrund des vermuteten Bedürfnisses nach einem positiven Selbstkonzept folgt daraus, daß es bei diesen Vergleichen einen Beurteilungsfehler dahingehend gibt, daß man nach den Wegen sucht, die Eigengruppe in günstiger Weise von Fremdgruppen zu unterscheiden. Tajfel ... nennt dies die „Herstellung positiver Distinktheit". Ein (d. Verf.) Beispiel ist die bekannte Tendenz von Arbeitergruppen industrialisierter Länder, ihre Arbeitslöhne mit denen anderer Gruppen zu vergleichen. Diese Tendenz war in der englischen Maschinenbauindustrie in den 70er Jahren besonders stark, aber Beispiele für Auseinandersetzungen über Lohnspannen gehen historisch bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück. Was diese industriellen Konflik-te so interessant macht, ist die Tatsache, daß sie häufig kaum eine „realistische" Grundlage haben, und zwar in dem Sinne, daß sie nur selten einen expliziten Interessenkonflikt zwischen den beteiligten Gruppen betreffen. Sehr häufig dagegen haben die betroffenen Arbeiter verschiedene Arbeitgeber und arbeiten in völlig anderen Industriebereichen. Ein zweiter wichtiger Aspekt der Lohnauseinandersetzungen ist der, daß es darin um die Unterschiede zwischen Gruppen und nicht um die absolute Höhe der Löhne geht. Diese beiden Gesichtspunkte wurden von Brown (1978) in einer Untersuchung in einer Flugzeugfabrik sehr deutlich herausgearbeitet. Brown zeigte unter Verwendung von modifizierten Matrizen aus Experimenten mit minimalen Gruppen, daß Mitglieder des Betriebsrats aus einer bestimmten Abteilung der Fabrik dazu bereit waren, pro Woche ein Pfund Lohn zu opfern, wenn sie dadurch den Lohnunterschied zu anderen Gruppen auf zwei Pfund erhöhen konnten. Ein Beispiel für diese Matrizen ist unten dargestellt. 119 Ab der Mitte der 50er Jahre zeichnete sich ab, daß der interne Arbeitsmarkt in den industriellen Zentren Mitteleuropas auf absehbare Zeit erschöpft sein würde. Der bis dahin kontinuierliche Zustrom von Flüchtlingen aus dem Osten, ein beachtlicher Transfer aus dem Agrarsektor, die (Wieder-)Aktivierung von Frauen sowie der allgemeine Geburtenanstieg schienen nicht mehr auszureichen, das für das beschleunigte Wirtschaftswachstum in der Rekonstruktionsphase nötige Arbeitskräftepotential bereitzustellen. Die Industrienationen begannen eine gezielte Anwerbepolitik: ... die Bundesrepublik Deutschland und andere Industrieländer wie Schweden, Holland, Belgien, die Schweiz und Österreich an der südeuropäischen Peripherie. Es ging in dieser Phase nicht in erster Linie um billige, sondern um zusätzliche Arbeitskräfte, die gebraucht wurden, um die Wachstumsziele einhalten zu können ... Die Migranten wurden arbeitsmarktpolitisch als Verfügungsmasse behandelt (Rotationsmodell), die im Bedarfsfall wieder zurückgeschickt werden sollten ... Exemplarisch läßt sich der Mechanismus der indirekten, in Kauf genommenen Diskriminierung an dem Handeln der Gewerkschaften vorführen. Die deutschen Gewerkschaften haben zwar in ihrer frühen Ausländerpolitik darauf geachtet, daß die ausländischen Arbeitskräfte in die Tarifordnung der Bundesrepublik Deutschland einbezogen wurden. Vermieden werden sollte damit die Spaltung der Arbeiterklassen durch den Import eines Subproletariats, das deren Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit hätte schwächen müssen. Tarifvertraglich nicht gebundene Arbeitnehmer wären zwar (rechtlich) geschwächte Konkurrenten um Arbeitsplätze, aber paradoxerweise dadurch für die Einheimischen am gefährlichsten, weil sie Arbeitsbedingungen akzeptieren müßten, die gegen eine geschlossene Organisation der Arbeiter nicht durchzusetzen wären ... Erreicht wurde jedoch mit dieser „noblen Haltung" ein ganz anderer Effekt. Da die ausländischen Arbeiter durch Universalisierung deutscher Ausbildungsstandards nahezu ausschließlich als ungelernte Arbeitskräfte eingestellt wurden und werden, kam es statt zur Spaltung der Arbeiterklasse zu einer Unterschichtung bzw. Segmentierung des Arbeitsmarktes, auf dem die tariflich schlecht bezahlten Tätigkeiten oder solche, die Einheimische nicht mehr machen wollten, also Dreckund Schichtarbeit, für Ausländer „reserviert" sind. Die einheimischen Arbeiter profitieren von einem „Fahrstuhleffekt" ... der ihre Position in der gesellschaftlichen Hierarchie dauerhaft verbessert hat ... „Ausländerpolitik" steigerte sich binnen weniger Jahre zu einer Ausländer-Abwehr-Politik, die den Migranten ihre Lebenssituation unerträglich zu machen suchte. Die getroffenen Maßnahmen sind als direkte und intentionale Diskriminierung anzusehen. Sie zielten auf eine Ausdehnung des reduzierten Rechtsstatus der „Ausländer" über den Aspekt der politischen Partizipation hinaus auf den Bereich des Arbeitsmarktes und der sozialen Ansprüche (z. B. die Änderung der Steuergesetzgebung. Danach wurden im Ausland lebende Kinder nicht mehr steuermindernd anerkannt, was einer gezielten Steuererhöhung für ausländische Arbeitnehmer gleichkommt). Die restriktiven Anstrengungen bedurften einer eigenen Legitimation, die mit der Etablierung eines öffentlichen ausländerfeindlichen Diskurses gesucht wurde (z.B. Asylantenflut, nationaler Notstand, d. Verf.). Abhängig von konjunkturellen Schwankungen, einem wachsenden Beschäftigungsproblem und fixiert auf die periodischen Wahltermine wetteiferten die politischen Parteien nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ... bei dem Versuch, den traditionell vorhandenen Klangkörper ausländerfeindlicher und rassistischer Alltagsdeutungen der einheimischen Bevölkerung zum Klingen zu bringen ... Die Ressource „nationale Identität", als vermeintliche kulturelle Gemeinsamkeit, die es zu schützen gelte, wurde allenthalben in Auseinandersetzungen über den Machterhalt bzw. -gewinn mobilisiert, diente aber immer auch dazu, die Handlungsoptionen in der gesamten Ausländerpolitik zu erweitern (z. B. Änderung des Art. 16, GG, d. Verf.) ... Die Leistung des theoretischen Konzepts der „institutionalisierten Diskriminierung" besteht in der Thematisierung von nicht intendierten Wirkungen subjektiv neutralen oder wohlmeinenden Handelns, dessen objektive Bedeutung im sozialen Kontext erst entsteht. In den Blick rücken zugleich die Hypotheken der Geschichte und das Erbe einer Kultur der Unterdrückung, die in alle Poren des alltäglichen Umgangs mit Minderheiten eingedrungen ist. Aufmerksam gemacht wird auf „die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein" ... in einer Gesellschaft, die sich politisch und kulturell in der ungebrochenen Kontinuität ihrer nationalistischen und autoritären Vergangenheit bewegt ... Die bloße Kategorisierung einer Bewerberin als „Ausländerin" entfaltet im Kontext der herrschenden Diskriminierung einen semanti- Das Material stammt aus: Heuwinkel, Ludwig, Peter Krämer, Bernhard Kühmel. Sozialisation: Wer oder Was bin ich? Reihe: Sozialwisschaftliche Studien für den Sekundarbereich II 2; Schroedel Schulbuchverlag 1993