Individuelle Förderpläne in der Fachrichtung Emotionale und Soziale Entwicklung Andrea Gansel, Katarina Kerkmann, Silke Staschen "Ungünstige Entwicklungsbedingungen und defizitäre Lebenserfahrungen können nachhaltig die Erlebens- und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigen, die als von gesellschaftlichen Normen abweichend wahrgenommen werden können. Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist allerdings abhängig von den Normen der Betrachter und unterliegt einem stetigen Wandel. Abweichendes oder herausforderndes Verhalten zeigt sich in einer Vielzahl von Erscheinungsformen und in individuell außerordentlich unterschiedlicher Weise" (RdErl. d. MK v. 1.2.2005). In der Pädagogik gibt es vielerlei Erklärungen für auffälliges Verhalten. Es wird häufig versucht, das Verhalten auf eine oder mehrere Ursachen zurückzuführen. Solche Ansätze erweisen sich für unsere pädagogische Handlungsfähigkeit in der Regel als nutzlos. Vielmehr geht es darum, das Verhalten zu verstehen, sich in das Kind hineinzuversetzen und die Sinnhaftigkeit zu entschlüsseln, denn „die Verhaltensweisen sind (aber) nicht nur individuelle Probleme eines Kindes oder Jugendlichen. Sie können (auch) als subjektive Problemlösungen verstanden werden und Hinweise auf vorhandene Konflikte geben" (RdErl. d. MK v. 1.2.2005). Veränderungspotentiale werden nur mobilisiert, wenn sie von innen heraus kommen. Gestützt wird diese Aussage dadurch, dass viele der eingesetzten Sozial- und Präventionstrainings im Bereich der Emotionalen und Sozialen Entwicklung eine vergleichsweise geringe Erfolgsquote zeigen. Lehrkräfte müssen sich vielmehr auf eine detaillierte Beobachtung von Verhaltensweisen und Interaktionsmustern fokussieren. Unsere Beobachterperspektive ist allerdings beschränkt, da wir von dem Kind nur einen zeitlichen und räumlichen Ausschnitt wahrnehmen und immer selbst Teil des Beobachtungsprozesses sind. Unsere Einstellung zum Kind ist geprägt von Empfindungen und Gefühlen, die oft unbewusst verankert sind und die doch stillschweigende Vorannahmen unserer Wahrnehmungen bilden. Nur durch eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen innerpsychischen Prozessen, einer mentalisierende Haltung sowie hypothetischen Ideen über mögliche Intentionen des Kindes können wir uns an die inneren Welten der Kinder herantasten. Eine Orientierungsgrundlage für diesen Weg stellen der Aufsatz von H. Reiser: „Annäherungen an innere Welten und Pfade aus dem Dickicht“ und das Buch „Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen“ von M. Baumann dar. Dort geht es darum, eine Idee davon zu entwickeln, welche Faktoren das Handeln eines Kindes bestimmen. Verhalten ist nach Reiser immer eine Überlebensstrategie. Hierbei steht die Suche nach Sinnzusammenhängen im Fokus – wie, wo und warum hat ein störendes Verhalten eine besondere Bedeutung für das Kind. Der Fokus liegt auf der Bildung von Hypothesen über diese Sinnzusammenhänge und darauf, wieder eine Dialogfähigkeit mit dem Kind herzustellen. Diese Haltung und der damit einhergehende „Verstehensprozess“ sind die Grundlage für den individuellen Förderplan in der Fachrichtung Emotionale und Soziale Entwicklung. Erfahrungen zeigen, dass dieser „Verstehensprozess“ für viele Lehrkräfte in der Praxis eine Herausforderung darstellt. Der Artikel soll dazu beitragen, mithilfe einer systematischen Beobachtung und der reflexiven Auseinandersetzung mit dem Kind zu experimentell verwendbaren Hypothesen und somit zu Förderansätzen zu gelangen. Es werden dazu vier Arbeitsschritte ausgeführt, in denen verschiedene Kontexte in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden (s.u.). Darüber kann es gelingen, die eigenen Einstellungen dem Kind gegenüber grundlegend zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Es kann somit eine neue Offenheit gegenüber den Eigenheiten und Handlungen des Kindes erreicht werden. Wir werden wieder handlungsfähig. Grundlage der Hypothesenbildung ist der Gedanke, dass das Verhalten nicht die Folge einer aktuellen oder vergangenen Lebenssituation ist, sondern eine Antwort darauf. Das Verhalten wird als eine Leistung anerkannt, die von dem Kind aktiv hervorgebracht wird, um damit seine konflikthafte Lebenslage zu lösen. Das Kind zahlt in der Regel einen hohen Preis für seine Lösungsversuche. Diese Tatsache stellt den Kern der Pädagogik bei Verhaltensstörungen dar. Schwerpunkte und Ziele: Im Bereich der Emotionalen und Sozialen Entwicklung gelingt es uns als Lehrkraft nicht immer, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Es gilt zu ermitteln, welchen Einfluss die Subjektlogik des Kindes auf seine Beziehungsgestaltung hat und welche Beziehungsangebote es braucht. Diese Beziehungsdefinition ermöglicht es uns, das Kind neu wahrzunehmen und unser Verhalten ihm gegenüber entsprechend seiner Beziehungsbedürfnisse umzugestalten. Beziehungen können somit eine neue Qualität erlangen, sie werden tragfähiger und belastbarer. Den LiVD soll ermöglicht werden, die störenden Verhaltensweisen des Schülers /der Schülerin als in sich schlüssig und als sinnvolle Anpassungsleistung zu erfassen. Im Anschluss an die Hypothesenbildung muss überlegt werden, in welchem Bereich der Fokus der Förderung liegt. Hierzu bietet es sich an, eine Förderkonferenz (Teamsitzung) mit allen beteiligten Mitarbeitern einzuberufen. Diese ist aber nicht zwingend erforderlich. Auf der Grundlage der erstellten Hypothesen werden Ziele für konkrete Handlungsveränderungen und Interventionen formuliert, die erprobt und anschließend evaluiert werden sollen. Inhalte des vorbereitenden Seminars: Stand der Förderplanarbeit an den Ausbildungsschulen Vorstellung und Erprobung der einzelnen Schritte des Förderplans Gemeinsame Hypothesenbildung für ein oder zwei Schülerinnen/Schüler Formen und Möglichkeiten der Evaluation Literatur: Baumann, M.: „Verstehende Subjektlogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen“, 2009 Reiser, H.: „Annäherungen an innere Welten und Pfade aus dem Dickicht“ in: Lernchancen 3, 2000, S.10-17 Aufbau des Förderplans in der Fachrichtung Emotionale und Soziale Entwicklung Der Aufbau gliedert sich in folgende Schritte: Schritt 1: Meine Beziehung zu dem Schüler/der Schülerin Schritt 2: Analyse der eigenen emotionalen Beteiligung Schritt 3: Analyse der Kontexte (Schule und Klasse, Lebensumwelt und Lebensgeschichte) Schritt 4: Bildung von Hypothesen Schritt 5: Entwicklung eines nächsten Ziels Schritt 6: Evaluation In Folgenden werden die einzelnen Schritte mit möglichen Fragestellungen aufgeführt und exemplarisch zwei Darstellungen fiktiver innerer Landkarten von Kindern gezeigt. Arbeitsschritt 1 Erste Analyse der Beziehung zwischen dem Kind /Jugendlichen und mir Erinnern Sie sich an eine oder zwei Situationen, die Ihnen spontan einfallen wenn Sie an das Kind denken: Schreiben Sie knapp auf, was in diesen Situationen vorgefallen ist – möglichst ohne Wertung und Interpretation. Beantworten Sie folgende Fragen: 1. Was gefällt mir besonders am Verhalten des Kindes? 2. Was missfällt mir besonders am Verhalten des Kindes 3. Was würde sich ändern, wenn der Schüler /die Schülerin nicht in meiner Lerngruppe wäre? 4. Vor welche Schwierigkeit in meiner Rolle als Lehrkraft und in meinem eigenen Verhalten stellt mich dieses Kind? Arbeitsschritt 2 Analyse der eigenen emotionalen Beteiligung Selbstreflexion Setzen Sie sich mit folgenden Fragen auseinander: 1. Wenn ich an das Kind denke, in welche Stimmung gerate ich dann (Bedrücktheit-Fröhlichkeit, Gereiztheit – Gelassenheit, Sorge - Zuversicht etc.)? 2. Wenn ich mit dem Kind zu tun habe, welche Körperempfindungen spüre ich dann bei mir: Ruhe – Hektik, Anspannung – Lockerheit etc.? 3. Spüre ich im Umgang mit dem Kind bei mir häufig bestimmte Gefühle wie Trauer, Wut, Verzweiflung, Freude, Angst, Ekel, Neugier etc.? 4. Fallen mir bestimmte Situationen mit dem Kind ein, die besonders gefühlsgeladen waren? Worum ging es dabei und wie verstehe ich das Aufkommen dieser Gefühle bei mir? 5. Was mag ich an dem Kind und was kann ich nicht leiden? 6. Welche Stimmungen und Gefühle des Kindes habe ich wahrgenommen? 7. Wie glaube ich, dass das Kind mich wahrnimmt? 8. Wie reagiere ich auf Affekte des Kindes und/ oder das Kind auf meine? 9. Was würde das Kind einem Freund von sich über mich erzählen? 10. Was könnte ich für das Kind bedeuten: Kumpel, Schreckgespenst, Sicherheit, Nebelwand, Vater-/Mutterersatz etc.? 11. Was will ich für dieses Kind darstellen und was nicht? Arbeitsschritt 2 Analyse der eigenen emotionalen Beteiligung Das Fünfmal-Sieben-Minuten-Gespräch Setzen Sie sich mit einer vertrauten Kollegin/einem Kollegen zusammen und investieren Sie 35 Minuten für die Klärung Ihres Kontaktes zu einem schwierigen Kind. Gehen Sie wie folgt vor: 1. In den ersten sieben Minuten erzählen Sie, was Ihnen zu Ihrem Kontakt zu dem Kind einfällt. Bleiben Sie einzig und allein bei Ihrem Kontakt zu dem Kind (es geht nicht um didaktische Schwierigkeiten oder Hintergründe über die Eltern!). Äußern Sie möglichst freimütig alles, was Ihnen zu dem Kontakt einfällt. Ihre Kollegin /Kollege hört einfach zu und redet nicht dazwischen. Nach sieben Minuten sagt Sie Ihnen, dass die Zeit vorbei ist. 2. In den zweiten Sieben Minuten wiederholt Ihre Kollegin /Kollege alles, was sie /er gehört hat über Ihren Kontakt zu dem Kind. Sie /er fasst zusammen, was sie/ er verstanden hat. Wenn sie /er ausgeredet hat können Sie verbessern, verändern, ergänzen. 3. In den dritten sieben Minuten unterhalten sie sich zu zweit über Ihren Kontakt zu dem Kind. Ihre Kollegin /Kollege fragt nach, um Sie besser verstehen zu können. Sie erörtern Ihre Vermutungen über Zusammenhänge und Hintergründe. Wo immer Sie nach sieben Minuten sind, brechen Sie dieses Thema ab. 4. In den vierten sieben Minuten betrachten Sie gemeinsam Ihren bisherigen Gesprächsverlauf. Wie haben Sie miteinander gesprochen? Was haben Sie Ihrem Gegenüber nonverbal mitgeteilt? In welcher Stimmung waren Sie und welche Affekte sind wann aufgetreten? Betrachten Sie die Phasen des Gesprächs im Einzelnen. 5. In den letzten sieben Minuten überlegen Sie gemeinsam: Können die Stimmungen und Affekte, die in diesem Gespräch spürbar waren, etwas zu tun haben mit den Stimmungen, die in der Interaktion zwischen Ihnen und dem Kind vorherrschen? Welche Vermutungen haben Sie über Ihre Bedeutung für das Kind? Welche Bedeutung hat das Kind für Sie? Inwieweit hat sich Ihre Sichtweise der Interaktion zwischen dem Kind und Ihnen verändert? Arbeitsschritt 3 Analyse der Kontexte Kontext 1: Schule und Klasse Setzen Sie sich mit folgenden Fragen auseinander: 1. Welche Stellung hat das Kind in der Klasse? Mit welchen Kindern kommt es gut aus, mit welchen schlecht? 2. Stellen Sie sich vor, Sie machen mit der Klasse einen Ausflug in einen Freizeitpark – wie würde sich das Kind verhalten? Wo würde es sich aufhalten (in Ihrer Nähe)? 3. Welche anderen Kinder könnten am Verhalten des Kindes partizipieren, welche leiden eher darunter? 4. In welchen Situationen verhält sich das Kind so wie die anderen Kinder, in welchen Situationen verhält es sich ganz anders? 5. Welche Gründe sind denkbar, dass das Kind gerne oder nicht gerne in der Klasse ist? Was müsste sich verändern, damit das Kind lieber am Unterricht teilnimmt? 6. Welche Sicherheiten /Strukturen bietet die Lernsituation für das Kind? Was erweist sich im Unterricht als hilfreich für eine kontinuierliche Teilnahme? 7. Wodurch ist das Kind überfordert/unterfordert (Lernaufgaben, soziale Situationen)? Kontext 2: Lebensumwelt /Lebensgeschichte Erinnern Sie sich, was Sie über die Lebensgeschichte und Umwelt des Kindes gehört oder in der Akte gelesen haben. Unterscheiden Sie dabei, was Sie von wem gehört haben und versuchen Sie, die subjektive Beobachterperspektive der jeweiligen Quelle der Informationen mit zu bedenken. Arbeitsschritt 5 Arbeitsschritt 4 Bildung von Hypothesen Entwicklung eines ersten Ziels /Ableitung von Fördermaßnahmen Identifizieren Sie sich mit der Position des Kindes. Stellen Sie sich vor, seine Sicht von sich selbst und seiner Umwelt in Sätzen auszudrücken (auch das, was ihm nicht bewusst ist und was es durch sein Verhalten unbewusst auszudrücken scheint!) Beginnen Sie mit einem einfachen Satz, mit dem der fiktive Monolog des Kindes beginnen könnte. Schreiben Sie diesen Satz auf ein großes Blatt (oder auf eine Karteikarte). Sicher fallen Ihnen noch mehrere Sätze ein. Schreiben Sie diese ebenfalls auf und positionieren Sie die Sätze räumlich so, wie sie sich innerlich zueinander verhalten. Drücken Sie die Verhältnisformen durch Verbindungslinien oder Pfeile aus. Allmählich entsteht ein Bild – eine fiktive innere Landkarte des Kindes. Wohlgemerkt: Ihre Konstruktion dieser Landkarte. Sie werden bald merken, dass Sie die Sätze neu anordnen müssen (deswegen sind Karteikarten hilfreich!). Ordnen Sie diese solange neu, bis Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind! Betrachten Sie das entstandene Bild: Auf der Grundlage der Hypothesenbildung sollen Sie sich nun ein erstes Entwicklungsziel für das Kind überlegen und ein bis zwei geeignete Fördermaßnahmen ableiten. Wo und wie können Sie ansetzen? Übertragen Sie das Ziel und die Fördermaßnahmen in eine Förderplanvorlage. Notieren sie die Verantwortlichkeiten und den Zeitpunkt der Evaluation. Welche Aspekte halten Sie für den Umgang mit dem Kind für besonders wichtig? Überlegen Sie sich ein daraus abgeleitetes erstes Entwicklungsziel für das Kind! Welcher nächste Entwicklungsschritt ist aus Ihrer Sicht für das Kind relevant? Welches kleine Ziel ist auch erreichbar? Welche Fördermaßnahmen könnten sinnvoll und hilfreich dafür sein? Welche Fördermaßnahmen sind praktikabel im Unterricht einsetzbar? Wer ist dabei für was verantwortlich? Achten Sie darauf, dass das Ziel möglichst SMART formuliert ist. S= spezifisch M= messbar A= aktiv /aktionsorientiert R= realistisch T= terminiert Arbeitsschritt 6 Evaluation Überprüfung der Fördermaßnahmen /Modifikation Sie haben aufgrund Ihrer Hypothesenbildung ein erstes Entwicklungsziel für das Kind herausgestellt und entsprechende Fördermaßnahmen abgeleitet. In diesem Schritt sollen die eingeleiteten Fördermaßnahmen kritisch überprüft werden: Was genau hat sich verändert/nicht verändert? Wurde das Entwicklungsziel erreicht? Wenn ja, was könnte der nächste Schritt sein? Wurde das Entwicklungsziel nicht erreicht? Woran könnte es gelegen haben? War die Hypothese richtig? War die Fördermaßnahme vielleicht nicht stimmig? Muss sie modifiziert oder verworfen werden? Wenn ja, was kann verändert werden? Schreiben Sie ihre Beobachtungen dazu auf und überlegen Sie im Team die nächsten Schritte. Der diagnostische Prozess (Anamnese, „Diagnose“ im Sinne von Verstehen, Intervention gekoppelt an Entwicklungsziele, Evaluation) wäre an dieser Stelle einmal durchlaufen. Sie würden nun mit einer erneuten Erfassung des aktuellen Entwicklungsstandes und mit dem Bestimmen eines neuen Entwicklungszieles weiter fortfahren.