‘Ich will einfach nur weg ...’ Die Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen - Jungsein im Bezirk Radkersburg - Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl - Franzens - Universität Graz vorgelegt von Maria - Elisabeth Weber am Institut für: Erziehungswissenschaften Begutachter: Univ.-Prof. Dr. Josef Scheipl Graz, 1997 INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG 5 2. JUGEND - JUGENDPHASE EINE ALLGEMEINE ANNÄHERUNG 2.1. Begriffsklärung: Jugend - Jugendphase 2.1.1. Entwicklungspsychologische Aspekte des Begriffes Jugend: 2.1.2. Soziologische Aspekte des Begriffes Jugend 2.2. Historische Aspekte der Entwicklung des Phänomens Jugend 2.2.1. Entdeckung oder Erfindung der Jugend? 2.2.2. Das öffentliche Erscheinungsbild gegenwärtiger Jugendlicher 2.2.2.1. Exkurs: Begriff der Individualisierung 2.2.3. Jugend - eine eigenständige Lebensphase? Zusammenfassung 6 6 9 14 16 17 24 25 29 29 3. LÄNDLICHER RAUM - LÄNDLICHE LEBENSWELTEN 3.1. Begriffsdefinition: Ländlicher Raum - Ländliche Region 3.1.1. Unterteilungs- und Typisierungsversuche ländlicher Räume Ländliche Räume innerhalb von Regionen mit großen Verdichtungsräumen Ländliche Räume mit leistungsfähigen Oberzentren und vergleichsweise guten wirtschaftlichen Entwicklungsbedingungen Periphere, dünn besiedelte ländliche Gebiete abseits der wirtschaftlichen Zentren 3.2. Ländliche Region - Steiermark 3.2.1. Unterteilung der Steiermark Zusammenfassung 3.2.1.1. Indikatoren für die ländliche Prägung einer Region am Beispiel des Bezirkes Radkersburg 3.2.1.2. Der Bezirk Radkersburg - das südoststeirische Randgebiet 3.3. Begriffsdefinition: Ländliche Räume - Regionen als Lebenswelten 3.3.1.: Kennzeichen ländlicher Lebenswelten 3.3.1.1. Exkurs: Erklärungsansatz zur Eigenart ländlicher Lebenswelten 3.3.1.2. Das Dorf - Träger der Metapher ländlicher Lebenswelten 3.4. Ausgewählte Charakteristika ländlicher Lebenswelten 3.4.1. Soziale Beziehungen in einer ländlichen Lebenswelt -Teile der Sozialstruktur Familie im ländlichen Kontext Geschlechtszugehörigkeit im ländlichen Kontext Altersgruppenzugehörigkeit im ländlichen Kontext Religion im ländlichen Kontext Politik im ländlichen Kontext Arbeit im ländlichen Kontext Das Vereinsleben im ländlichen Kontext 3.4.2. Die Dorföffentlichkeit - die Dorfgemeinschaft 3.4.2.1. Interaktion in der Dorfgemeinschaft 3.4.2.2. Soziale Kontrolle 3.5. Zusammenfassung: Lebensbedingungen in ländlichen Regionen 32 32 36 36 4. LEBENSLAGE JUGENDLICHER IN LÄNDLICHEN REGIONEN 73 4.1. Gedankliche Annäherung an den Diskussionsgegenstand 4.2. Die Bedeutung der Landjugendforschung im Kontext der Jugendforschung - Ein Überblick Die Landjugendforschung der Weimarer Zeit Landjugendforschung in den 50er Jahren Landjugendforschung der 60er und 70er Jahre Die sozialpolitisch motivierte Forschungsperspektive 4.3. Soziale Freisetzung Jugendlicher in ländlichen Regionen 73 74 75 77 79 81 84 2 36 36 38 38 39 41 45 50 51 55 56 59 60 60 61 62 63 63 64 65 66 67 68 71 4.3.1: Exkurs: Sozialen Freisetzung bei Mädchen und jungen Frauen 4.4. Aspekte der Regionalität und regionaler Optionen 4.4.1. Phänomenologie der sozialräumlichen Erschließung der Region 4.5. Beschäftigungs- und Reproduktionsstruktur in ländlichen Regionen 4.5.1. Exkurs: Berufsfindung als Aspekt der Lebenslage 4.6. Dörfliche und soziale Integration vs. Segregation 4.7. Bleibe- oder Abhauorientierung? 88 90 92 95 96 97 98 5. Forschungsfrage 101 5.1. Die Untersuchungsgruppe Auswahl der Befragten 103 103 Alter 104 Geschlecht 104 Familiensituation Ausbildung der Eltern Tatsächlich ausgeübte Berufe der Eltern Anzahl und Ausbildung der Geschwister 5.2. Die Interviewsituation 104 105 105 106 107 5.3. Die Untersuchungsmethode 108 5.3.1. Das Interview Begrifffsbestimmung Das qualitative Interview Methodologische Kriterien des qualitativen Interviews 5.4. Der Interviewleitfaden Aufbau des Interviewleitfadens Fragenkatalog 108 108 109 110 112 112 114 5.5. KATEGORIEN FÜR DIE AUSWERTUNG 115 6. Auswertung der Interviews 118 6.1. Die Inhaltsanalyse Ziel und Aufgabe der Inhaltsanalyse 6.2. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring 6.2.1. Die Technik der qualitativen Auswertung nach Mayring Ablauf der Analyse von Texten nach Mayring Validierung Zusammenfassende Inhaltsanalyse Arbeitsschritte der zusammenfassenden Inhaltsanalyse Interviewausschnitt Demonstration der Arbeitsschritte 118 120 121 122 122 123 125 125 126 128 6.3. INTERPRETATION DES REDUZIERTEN TEXTMATERIALS NACH MAYRING 129 Kategorie a: ‘Wie nehmen die Jugendlichen das dörfliche Leben wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) 130 Kategorie b: ‘Wie nehmen Jugendliche Widersprüche und Brüche im ländlichen Alltag wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) 135 Kategorie c: ‘Wie nehmen Jugendliche Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung und bewältigung wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) 139 Kategorie d: ‘ Wie gelingt die Wahrnehmung der Jugendlichen als eigene Sozialgruppe mit Ansprüchen und Problemen ?’ (vgl.Abschnitt 5.5.) 147 3 Kategorie e: ‘Welche persönlichen Konsequenzen werden gezogen? Findet eine kreative oder resignative Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des Jungseins im ländlichen Raum statt?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) 150 7. Exkurs: Qualitative Inhaltsanalyse mit dem Computer 7.1. ATLAS/ti Der Arbeitsprozeß mit ATLAS/ti Arbeitsprotokoll Kodes Kodefamilien ‘Primary document families’ als Variablen Verknüpfungen ‘PF * KF’ 7.2. Beschreibung des durch ATLAS/ti gewonnenen Textmaterials 154 155 156 156 157 158 159 160 161 8. RÉSUMÉ 169 9. ANHANG Begleitfragebogen Transkription der Interviews B und N Exemplarische Darstellung der Auswertung nach Mayring 172 172 174 192 10. LITERATURVERZEICHNIS 203 4 1. Einleitung Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Lebenssituation Jugendlicher in ländlichen Regionen darstellen. Mit der in zwei Teile gegliederten Arbeit soll der Versuch unternommen werden, anhand einer bestimmten Gruppe von Jugendlichen (SchülerInnen) und einer ausgewählten ländlichen Region (Bezirk Radkersburg in der Steiermark) bestimmende Faktoren der spezifischen Lebenslage herauszuarbeiten. Das zweite Kapitel soll eine Annäherung an den Begriff und an allgemeine Phänomene der Lebensphase ‘Jugend’ gewähren. Im nachfolgenden Kapitel geht es einerseits um die Findung einer Definition des ‘ländlichen Raumes’ bzw. der ‘ländlichen Region’ sowie um die Darstellung verschiedener Unterteilungsund Typisierungsversuche. Andererseits sollen Kennzeichen ländlicher Lebenswelten aufgespürt und auf einige wesentliche Merkmale der ländlichen Sozialstruktur eingegangen werden. Im vierten und abschließenden Kapitel des theoretischen Teiles folgt die Darstellung der Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen. Zunächst soll auf die Bedeutung der Landjugendforschung im Kontext der Jugendforschung eingegangen werden. Danach kommen ausgewählte Aspekte, die der Beschäftigung mit dem Thema dienlich sein können, zur Behandlung. Hierbei wird es darum gehen, Bereiche wie die ‘soziale Freisetzung’ und ‘Aspekte der Regionalität und regionaler Optionen’ zu untersuchen. Das fünfte Kapitel gilt als Einleitung zum empirischen und somit praktischen Teil der Arbeit. Ziel dieses Abschnittes ist es, die im theoretischen Teil inhaltlich ausgearbeiteten Bereiche zu erfassen. Im empirischen Teil (Kapitel 6 und 7), werden einerseits die verwendete Methode qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring - und die damit zusammenhängenden Arbeitsschritte beschrieben, andererseits werden in diesem Teil der Arbeit die Forschungsfrage und die entsprechenden Ergebnisse diskutiert. Ein Teilbereich der Auswertung wird sich im Überblick mit der ‘computerunterstützten qualitativen Inhaltsanalyse’ - namentlich mit der Verwendung des Programmes ATLAS/ti - beschäftigen. Im Anhang befinden sich das Literaturverzeichnis, zwei Interviews und die exemplarische Darstellung der Arbeitsschritte nach Mayring sowie der zur Unterstützung verwendete Fragebogen. 5 2. Jugend - Jugendphase eine allgemeine Annäherung 2.1. Begriffsklärung: Jugend - Jugendphase Wenn man eine Annäherung an den Begriff „Jugend" unternimmt, muß man sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Zugänge vertraut machen. Im Bereich der wissenschaftlichen Literatur, der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es verschiedenste Zugriffe und Sichtweisen, die zur Abklärung des jeweiligen „Jugendblickwinkels“ führen. Je nachdem von welcher wissenschaftlichen Disziplin man eine klärende Antwort erhalten will, werden auch die thematischen Schwerpunkte des Begriffes gesetzt sein. So zeigen sich in der dargebotenen Literatur allein der letzten 60 Jahre unterschiedliche Zugänge. Waren es in den 30er Jahren Jugendpsychologen, die sich diesem Thema gewidmet haben, sind es in den 60er und 70er Jahren vorwiegend Soziologen. Daraus ergibt sich, daß der Jugendbegriff in seinem begrifflichen Verständnis immer von dem dahinter liegenden wissenschaftlichen oder aber auch “alltagspsychologischen” und “alltagssoziologischen” Hintergrund betrachtet werden kann. Vaitkus (1988, 16) geht davon aus, daß der Jugendbegriff ein Begriff des Alltagswissens sei, der in den wissenschaftlichen Diskussionsbereich Eingang gefunden hat. Alltagswissen wird als unbewußtes, unreflektiertes Routinewissen aus dem alltäglichen Umgang beschrieben. „Die formale Struktur des Alltagswissens entsteht in routinierten Prozessen der Bewältigung der gesellschaftlichen Praxis und stellt umgekehrt für die Praxis allgemeine Streuungs-, Symbolisations-, und Orientierungsmechanismen zur Verfügung“ (vgl.Vaitkus 1988, 16). Rosenmayr (1990, 9), schreibt „Jugend ist ein explosiver Begriff“, Jugend ist ein Reizwort im negativen und positiven Sinn. Diese negative bzw. positive Konnotation ergibt sich aus dem jeweiligen aktuellen Nahverhältnis der Jugend zur Gesellschaft, -obwohl, und darauf wird immer wieder hingewiesen, die Jugend gibt es nicht. Die Jugend hat es auch nie gegeben. Jugend ist vielfältig, daher ist es auch nicht möglich, Jugend begrifflich eindimensional zu erfassen. Es ist kaum möglich, den Begriff der Jugend zu bilden, sondern lediglich Inhalte dessen zu definieren, wodurch Jugend gekennzeichnet sein kann (vgl. Janig 1990, 38 ). Um die historische Einordnung der Begriffsfindung „Jugend“ abzuklären, scheint es notwendig zu erwähnen, daß der Begriff „Jugend“, sowie weitere Begriffe wie z.B. „junge Generation“, „Jungsein“ mit ihrer ausgeprägten Orientierungsfunktion kurz vor dem Ende des letzten Jahrhunderts auftauchen und seither vermutlich zu den spannendsten Schlüsselbegriffen unserer postindustriellen Gesellschaft gehören (vgl. Reulecke 1986, 21). Der Begriff ist zwar keine Neuerfindung des ausklingenden 19.Jahrhunderts, aber am Ende 6 des Jahrhunderts wird Jugend als gesellschaftliches Thema interessant und als Herausforderung gesehen. Man könnte auch behaupten, daß mit der sprichwörtlichen „Entdeckung“ der Jugend im zu Ende gehenden 19.Jh. ein Begriff entworfen wurde, der sich durch eine geradezu inflationäre Handhabung in unserem Jahrhundert fortsetzt. Die Definitionen, die es zum Begriff Jugend gibt, sind geprägt durch das Umfeld der zu benennenden Jugendlichen, den Zweck, zu dem sie erstellt werden, den wissenschaftlichen Kontext des Forschers/der Forscherin und das jeweilige zugrundeliegende Menschenbild (vgl. Janig 1990, 39). „Jugend“ wird zum einen als „Übergangszeit von der Kindheit zum Erwachsenendasein definiert, als Subkultur in einer auf die spezifische soziale Situation bezogene Gesamtgesellschaftskultur und den sozialen Status“ (vgl. Reimann 1987,13). Vaitkus beschreibt Jugend als einen Teilbereich der Gesellschaft, der sich aufgrund des der Gesellschaft impliziten Prozeßcharakters herausgebildet hat. Einer dieser Teilbereiche wird mit dem Begriff „Jugend“ erfaßt (vgl.Vaitkus 1988, 13). Wenn man aber für einen bestimmten Teilbereich in einer Gesellschaft einen bestimmten Begriff benützt, so muß dieser Begriffsfindung auch eine inhaltliche Positionierung folgen, die sich zum anderen vom gesamtgesellschaftlichen Begriffsinhalt abgrenzen muß. Vaitkus kommt in seinen Ausführungen zum Schluß, daß es einen reinen Jugendbegriff nicht gibt. Dennoch sei es möglich, eine Begriffsumgrenzung festzulegen, die es ermöglicht, der entsprechend bezeichneten Personengruppe einen besonderen Status innerhalb der Gesellschaft zuzuweisen und sie auf dieser Basis zum Objekt pädagogischer (politischer) Bemühungen zu machen (vgl.Vaitkus 1988, 14).Diese Definitionsfindung nach Vaitkus erfordert die Notwendigkeit einer Eingrenzung dessen, was im Zusammenhang mit dem genannten Ziel der jeweiligen Bemühung unter „Jugend“ verstanden werden soll. Michael Mitterauer bringt mit seiner „Sozialgeschichte der Jugend“ (1986) weitere Aspekte in die Begriffsdiskussion mit ein. Zum einen weist er darauf hin, daß es möglich sei, den Begriff über die speziellen körperlichen Entwicklungsprozesse der Altersgruppe zu definieren, zum anderen muß man aber immer auch auf die starke Relevanz von gesellschaftlichen Phänomenen in diesem Diskussionsraum eingehen. Läßt man sich auf eine Beschäftigung mit dem Thema „Jugend“ ein, so ergeben sich im Vergleich zwischen Epochen, zwischen europäischen Regionen, zwischen Stadt und Land, vor allem aber zwischen den sozialen Schichten, Unterschiede. Lediglich aus den Gegebenheiten der Natur lassen sich diese nicht befriedigend erklären, hier ist es notwendig, auch die Bedingungen im Bereich des Gesellschaftlichen zu suchen (vgl. Mitterauer 1986, 10f). Um die Begriffsbildung „Jugend“ zu 7 unterstreichen, geht Mitterauer den Weg über Erklärungen zu Pubertät - Adoleszenz Jugend. Die ersten beiden Begriffe sind daher stark geprägt von entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Inhalten, der dritte Begriff (Jugend) wird über zeit- und milieuspezifisch gebundene Prozesse der Sozialentwicklung erklärt. Mitterauer zitiert hierzu Robert Bell: „Es gibt Gesellschaften ohne sozial definierte Jugendzeit. In diesen Gesellschaften wird das Kind solange als Kind behandelt, bis es sich für den Erwachsenenstatus qualifiziert hat; es unterzieht sich den Pubertätskrisen der Gesellschaft und wird von diesem Augenblick an als erwachsen betrachtet“ (vgl. Mitterauer 1986, 22). In diesem Zitat wird die starke gesellschaftliche Abhängigkeit der Begriffsbildung hervorgekehrt. So sind es letztendlich doch die gesellschaftlichen Instanzen, die den Menschen einmal als Kind und einmal als Erwachsenen bezeichnen. August Hollinghead unterstreicht in seiner Definition den soziologischen Aspekt des Jugendbegriffes: „Soziologisch gesehen ist die Jugend die Periode im Laufe eines Lebens, in welcher die Gesellschaft, in der er lebt, ihn nicht mehr als Kind ansieht, ihm aber den vollen Status, die Rollen und Funktionen des Erwachsenen noch nicht zuerkennt ... Sie ist nicht durch einen besonderen Zeitpunkt bestimmt, etwa durch die körperliche Pubertät, sondern nach Form, Inhalt, Dauer und Abschnitt im Lebenslauf von verschiedenen Kulturen und Gesellschaften verschieden eingegrenzt“ (vgl. Mitterauer 1986, 25). Mitterauer greift in seiner Diskussion noch eine weitere Definition von Jugend auf, nämlich jene von Friedhelm Neidhardt. Dieser meint: „In Abgrenzung gegenüber Kindern und Erwachsenen lassen sich Jugendliche also als diejenigen definieren, welche mit der Pubertät die biologische Geschlechtsreife erreicht haben, ohne mit Heirat und Berufsfindung in den Besitz der allgemeinen Rechte und Pflichten gekommen zu sein, welche die verantwortliche Teilnahme an wesentlichen Grundprozessen der Gesellschaft ermöglichen oder erzwingen“ (vgl. Mitterauer 1986, 26). Diesen beiden Definitionen zufolge ist Jugend ein eigenständiger Status innerhalb der menschlichen Entwicklung, in welchem zwar auf der einen Seite biologische Entwicklungs- bzw. Reifungsprozesse mehr oder weniger abgeschlossen sind, soziale, gesellschaftlich relevante Entwicklungsschritte aber noch nicht, entsprechend den Vorstellungen der jeweiligen Kultur, Gesellschaft, erreicht worden sind. Gerade in diesem „unvollkommenen“ Zustand menschlichen Seins liegt die Chance für die menschliche Entwicklung, natürlich aber auch Gefahr und Irritation. Klaus Hurrelmann versucht darzustellen, daß die Jugendphase einen eigenständigen Wert im menschlichen Lebenslauf besitzt. „... Jugendliche setzen sich auf ihre eigene Weise produktiv mit der gegebenen gesellschaftlichen Realität und mit ihrer sozialen Lebenslage auseinander und entwickeln dabei charakteristische Formen der Lebensgestaltung“ (vgl. Hurrelmann 1985, 7). Die Dimensionen der menschlichen Entwicklung werden durch innere und äußere Faktoren beeinflußt und stimuliert. 8 „Persönlichkeitsentwicklung und Gesellschaftsentwicklung bedingen sich in wechselseitiger Abhängigkeit, in der Jugendphase erreicht dieses Beziehungsverhältnis eine einzigartige Dichte und Differenziertheit“ (Hurrelmann 1985, 7). Hurrelmann versucht darzustellen, durch welche Merkmale bzw. Charakteristiken die Jugendphase als Abschnitt im menschlichen Lebenslauf gekennzeichnet ist. In seinen Darstellungen werden entwicklungspsychologische und soziologische Aspekte der Jugendphase herausgearbeitet. Bevor ich einerseits auf historische Zugänge, andererseits auf gegenwärtige Konstruktionen des Jugendbildes eingehe, möchte ich einen kurzen Überblick über entwicklungspsychologische und soziologische Aspekte des Jugendbegriffes wiedergeben. In vielen Literaturquellen, welche für diese Arbeit herangezogen wurden, werden einige, geradezu klassische Begriffe zur Charakterisierung des mit „Jugend“ verbundenen Lebensabschnittes verwendet: → Pubertät → Adoleszenz → Jugendalter Unter Pubertät werden dabei vorwiegend biologische Phänomene bzw. Reifungsvorgänge beschrieben. Der Begriff Pubertät ist vor allem ein in der psychoanalytischen, entwicklungspyschologischen Literatur fest umrissener Begriff. Gerade die Psychoanalyse ist es auch, die sehr klar zwischen Pubertät und Adoleszenz unterscheidet. Adoleszenz kennzeichnet die psychische Bewältigung der Geschlechtsreifung, die Anpassung der Persönlichkeit des Kindes an die biologischen, körperlichen Veränderungen (vgl. Janig 1990, 39). Der Adoleszenzbegriff kommt aus der englischsprachigen Literatur. Stanley Hall hat 1904 ein Werk mit dem Namen „Adolescence“ vorgelegt. Der Begriff Jugendalter wird vorwiegend in der entwicklungspsychologischen Diskussion verwendet. Veränderungen, Reifungen psychologischer Faktoren werden mit den Variablen Lebensalter gekoppelt. Ursprünglich bezeichnete der Jugendbegriff in der psychologischen und soziologischen Jugendforschung ein einheitliches Konzept. Heute wird diese Sichtweise differenzierter gesehen (vgl. Janig 1990, 40). 2.1.1. Entwicklungspsychologische Aspekte des Begriffes Jugend: 9 Wie bereits erwähnt, liegt die Bedeutung der entwicklungspsychologischen Begriffsbildung in der Koppelung der Veränderungen auf psychischer Seite mit einem dafür bestimmten Altersabschnitt. In dieser Phase kommt es zu einem Ungleichgewicht in der psychophysichen Struktur der Persönlichkeit. Es wird aufgrund der veränderten Körperfunktion eine Neuorientierung der bisherigen Verhaltensmuster verlangt, um auf die veränderten Umweltfunktionen reagieren zu können (vgl. Hurrelmann 1985, 11). Die in der Entwicklungspsychologie verwendeten Altersangaben für das Jugendalter liegen zwischen dem 12. und 20. Lebensjahr. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um eine generelle Altersangabe, zumal Akzelerationsprozesse die Altersangaben für die Reifungsprozesse kontinuierlich nach vor verschoben haben. Es ist nur eine ungefähre Angabe für jene Lebensphase, die zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter liegt. In dieser Lebensphase muß sich der Jugendliche auf ständige Umstellungen und Veränderungen einrichten. Zum einen sind es Veränderungen im biologisch-körperlichen Bereich. In dieser Zeit folgt, neben dem verstärkten Wachstum, das Einsetzen geschlechtlicher Reifungsprozesse. Bei Mädchen beginnt der Reifungsprozeß mit dem Einsetzen der Menarche, im Alter von ca. 13 Jahren; bei Buben mit dem ersten Samenerguß mit ca. 14 Jahren. An den körperlichen Veränderungen kann man ablesen, daß die Jugendlichen das Stadium der Kindheit verlassen. Aber diese körperlichen Veränderungen sind keine singulären Erscheinungen. Damit verbunden ist eine große Anzahl psychosozialer Entwicklungschritte. „Entsprechend hoch sind die jeweiligen Anforderungen an die Synthetisierungsleistungen des Individuums. Es muß ein Spannungs- und Konfliktzustand gelöst werden, der sich aus der Ungleichheit zwischen biologischer Entwicklung und psychosozialer Entwicklung ergibt. Ebenso unabdingbar ist der Aufbau einer stabilen Persönlichkeitsstruktur und die Gewinnung einer stabilen ICH-Identität.“ (vgl. Hurrelmann 1985, 11). Unter Identität wird nach Erikson, die Fähigkeit einer Person verstanden, sich als einmalig, unverwechselbar zu definieren. Sowohl durch die soziale Umwelt als auch durch sich selbst. Eine Entwicklung bzw. Bewältigung dieser Lebensphase ist demnach nur möglich, wenn sich der Jugendliche von den zentralen Bezugspersonen Vater und Mutter innerlich ablöst und eine Autonomie seiner Persönlichkeitsorganisation aufbaut. Ausgehend vom Konzept der Identität nach Erikson (1968), haben sich in den letzten, Jahren eine Vielzahl von Forschungsansätzen entwickelt, welche sich mit der Entwicklung der Identität und der damit verbundenen Bedeutung für die Jugendphase befaßt. Waterman gehört zu jenen Vertretern innerhalb der Forschung, welche Identitätsentwicklung als ‘Persönlichkeitsentwicklung’ betrachten. In seiner Konzeption von Identität, definiert er diesen Begriff folgendermaßen: 10 ‘Identität bezieht sich auf klar beschriebene Selbstdefinitionen, die jene Ziele, Werte und Überzeugungen enthält, die eine Person als persönlich wichtig erachtet und denen sie sich verpflichtet fühlt’ (Fend 1991, 17). Während im Ansatz von Erikson der Aspekt der Ganzheitlichkeit des psychischen Zusammenhanges für die Ausbildung einer stabilen Identität als zentrales Merkmal zu finden ist, kann dies im Konzept von Waterman nicht Geltung beanspruchen. Für Waterman geht es nicht darum, den Prozeß der Entstehung von Zielen, Werten und Überzeugungen global zu untersuchen, sondern er geht von bestimmten Handlungsbereichen aus, in denen wichtige Entscheidungen gefällt werden. Waterman betont in diesem Zusammenhang besonders Aspekte der beruflichen Laufbahn, der eigenen Geschlechtsrolle, der Antizipation von Heirat und Elternschaft, der Entstehung einer Weltanschauung und moralische Überzeugungen sowie schließlich Aspekte der Entstehung einer politischen Ideologie (vgl. Fend 1991, 17). Innerhalb der Phase von Jugendzeit und Adoleszenz soll die Identitätsbildung abgeschlossen sein. Der Prozeß der Identitätsbildung kann dort kurz und problemlos verlaufen, wo Identifikationsangebote der Umwelt für Jugendliche ohne innere Konflikte und mittels selbständiger Meinungsbildungsprozesse in Anspruch genommen werden können. Identitätsreife ist dann erreicht, wenn eine Integration der persönlichen Möglichkeiten mit den sozialen Opportunitätsstrukturen erlangt wird (vgl. Fend 1991, 19). Dahingehend ist es notwendig, den ganzheitlichen, auf die innere Organisation einer Person gerichteten Blickwinkel nicht zu vernachlässigen. Blasi rekonstruiert das Konzept der Identität im Sinne von Erikson wie folgt: ‘Im Konzept der Identität geht es um den Aufbau von Perspektiven für die sinnvolle Gestaltung des Lebens auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene. Es geht um Wahrnehmungen und Bedeutungsverleihungen, um die Entwicklung von normativen Konzepten des Wünschenswerten und um die Einübung von Handlungen bzw. dem Aufbau von Handlungsbereitschaften’ (vgl. Fend 1991, 22) Demzufolge weisen entwicklungspsychologische Ansätze immer auf bestimmte psychosoziale Entwicklungsaufgaben hin, welche es zu bewältigen gilt: „Unter Entwicklungsaufgaben werden die kulturellen und gesellschaftlich vorgegebenen Erwartungen und Anforderungen verstanden, die eine Person in einer bestimmten Altersgruppe gestellt bekommt. Entwicklungsaufgaben definieren für das Individuum in bestimmten situativen Lebenslagen objektiv vorgegebene Handlungsprobleme, denen es sich 11 stellen muß. Anhand dieser soll sich die personelle und soziale Identität konstituieren“ (Hurrelmann 1985, 12). Wenn, wie in der Gegenwart dem sozialhistorischen Prozeß der Individualisierung aller Lebensmöglichkeiten und Lebensperspektiven auf individualgeschichtlicher Seite der Prozeß der Individuation gegenübersteht, bedeutet dies für das Individuum, daß die Konstituierung des persönlichen Lebensprogrammes nicht mehr nach vorgegebenen Schablonen funktioniert. Die Erhöhung der Freiheit von Handlungen auf gesellschaftlicher Ebene bedeuten für das Subjekt Autonomie sowie persönlich zu verantwortende Lebensführung. Von der Gesellschaft formulierte Entwicklungsaufgaben können daher nur unter dem Ziel der Herausbildung von Selbstverantwortung im Zuge von verantwortlicher Entscheidungsfindung und Lebensplanung erfüllt werden (vgl. Fend 1991, 11). Um den Bedingungen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse im Rahmen der Identitätsentwicklung gerecht zu werden, verwendet Keupp (1992, 176) den Begriff der ‘Patchwork - Identität’. Der Begriff beruht auf Überlegungen, daß es zur Herausbildung einer postmodernen Identität notwendig ist, sich in der Fülle von Angeboten und Orientierungsmustern der Umwelt mittels kreativer Prozesse der Selbstorganisation zurecht zu finden (vgl. Keupp 1992, 177). Im Konzept der ‘Patchwork - Identität’ liegen einige Bedingungen zu Grunde: 1. Die Konstituierung einer stabilen Identität wird als ‘offenes Projekt’ gesehen, in dem neue Lebensformen erprobt werden sowie ein eigener Lebenssinn entwickelt wird. Ein offenes Identitätsprojekt bedarf materieller Ressourcen. Selbstfindung im beruflichen Bereich ist an die Rahmenbedingungen eines arbeitsteilig gegliederten Beschäftigungssystems gebunden. Um in diesem Bereich Selbstentwicklung zu erlangen, sind viele aktive Akkomodationsleistungen notwendig. Das eigene Wollen und Können muß mit den Bedingungen des Arbeitsmarktes in Einklang gebracht werden (vgl. Fend 1991, 25). Ohne Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß in Form einer sinnvollen Tätigkeit (und angemessener Bezahlung) wird Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand. 2. Spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeiten - der Rückhalt durch soziale Ressourcen - sind auf Grund der Verringerung bestehender sozialer Bezüge notwendig. Die Notwendigkeit, ein soziales Beziehungsnetz durch die Eigenaktivität selbst aufzubauen, wird größer. Die Bereitschaft sich selbst einzubringen ist gefordert. 3. Nicht mehr die Bereitschaft zur Übernahme von fertigen Regeln, Normen und Zielen ist gefordert, sondern die Fähigkeit zum Aushandeln. Dies erfordert demokratische Willensbildung und Konfliktfähigkeit. ‘Identität bedeutet hier, eine Vision aufzubauen, wie 12 man die Welt gerne gestaltet hätte, wie man sie sich wünscht und in welcher Weise man in ihr mitwirken will’ (Fend 1991, 26). 4. Der gesellschaftliche Freisetzungsprozeß bedeutet einen objektiven Zugewinn individueller Gestaltungskompetenz, gleichzeitig auch die Notwendigkeit sie einzusetzen. Die Fähigkeit, sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen, sie zu erkunden, wird gefordert. Es geht um die Überwindung des Eindeutigkeitszwanges und die Ermöglichung von neugieriger Exploration von Realitätsschichten (vgl. Keupp 1992, 177f.). Entwicklungsaufgaben bzw. ‘Anforderungen an das Subjekt in einer widersprüchlichen Welt’ - wie Keupp (1992) sie nennt - lauten daher: • Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz; • Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle und des sozialen Bindungsverhaltens zu Gleichaltrigen des eignen und des anderen Geschlechts; • Entwicklung eines eigenen Wert- und Normensystems und eines ethischen und politischen Bewußtseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Einklang gebracht wurde. Ziel: Verantwortliches Handeln. • Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des Konsummarktes und des kulturellen Freizeitmarktes. Ziel: Eigener Lebensstil, autonom gesteuerter, bedürfnisorientierter Umgang mit den entsprechenden Angeboten (vgl. Hurrelmann 1985, 25). Stein (1987) faßt die Konfrontation der modernen Gesellschaft mit den Jugendlichen auf drei zentrale Probleme zusammen, die während der Jugendzeit gelöst werden müssen: • Lösung aus der konventionellen Identität der Kindheit, vor allem Lösung von den Eltern, zur Erlangung von Eigenständigkeit und Selbständigkeit. • Zielpunkt der Lösungsphase ist die Erreichung einer stabilen ICH-Identität beim Eintritt ins Erwachsenenleben. • Dem späteren gesellschaftlichen Erwachsenenstatus wird in der Jugendzeit über Ausbildung und Qualifikation ein Grundstein gelegt (vgl. Stein 1987, 14). Der Übergang ins Erwachsenenalter ist dann möglich, wenn alle jugendspezifischen Entwicklungsaufgaben bewältigt und zugleich die psychodynamischen Veränderungen sowie der Prozeß der inneren Ablösung von den Eltern abgeschlossen worden ist. 13 Als Kernkonflikt der Jugendphase gilt aus entwicklungspsychologischer Sicht die Gewinnung der Identität gegenüber der drohenden Zerstückelung und Diffusion des Selbstbildes und des Selbstverständnisses. Identität bildet sich aufgrund der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich vorgegebenen Normen, Werten und Handlungsanforderungen heraus. Das Weltbild der Gesellschaft wird systematisch nach seiner Deutungsleistung abgefragt, wobei Defizite und Leerstellen, Widersprüche und Ambivalenzen Ausgangspunkt und Auslöser für heftige Orientierungs-Selbstwertkrisen sein können (vgl. Hurrelmann 1985, 14). 2.1.2. Soziologische Aspekte des Begriffes Jugend Soziologische Aspekte beschäftigen sich mit dem Begriff Jugend in seinen sozial definierten Komponenten. Es geht also darum festzustellen, welchen Beitrag im weitesten Sinn die Gesellschaft als „soziales Gefüge“ für die Jugend, und diese wiederum für die Gesellschaft leisten kann. Der Schwerpunkt soziologischer Betrachtungsweisen der Jugend liegt im Bereich der möglichen gesellschaftlichen Integrationsleistungen, welche in der Jugendphase erlangt werden sollen. Hurrelmann beschreibt die soziologische Perspektive folgendermaßen: In soziologischer Perspektive wird das Jugendalter insoweit als einheitlicher und gesondert indentifizierbarer Lebensabschnitt verstanden, als in ihm der Prozeß der Integration in die wesentlichen gesellschaftlichen Mitgliedschaftsrollen abläuft und zum Abschluß kommt (vgl. Hurrelmann 1985, 14). In der Jugendphase werden Funktionen der elementaren sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten soweit weiterentwickelt und ausgebaut, daß die für die Übernahme des Erwachsenenstatus notwendigen komplexen Kompetenzen angeeignet und erworben werden. Integrationsleistungen betreffen zuallererst immer die unmittelbare Gesellschaft, in der man lebt. Kompetenzen, die angeeignet werden müssen, liegen in folgenden Bereichen: • schulisch - beruflich • interaktiv - partnerschaftlich • politisch - ethnisch • kulturell - konsumorientiert. Soziologische Konzepte, die sich mit der Jugendphase befassen, kommen zur Übereinkunft, daß es in diesem Altersabschnitt zu einer Erweiterung der handlungstheoretischen Komponenten kommt. Es stellen sich ganz konkrete Entwicklungsaufgaben vor. Entwicklungsaufgaben wie sie bereits im vorangegangenen Teil formuliert worden sind, 14 werden in soziologischer Sichtweise um den gesellschaftlichen Bereich erweitert. Jugend wird als sozialer Entwicklungsprozeß verstanden, in dem es darum geht, von der gesellschaftlich definierten Rolle des Kindes zu jener des Erwachsenen zu kommen (vgl. Kytir/Münz 1994, 29). Hurrelmann (1985, 15) meint, daß Jugend ein Nebeneinander von unselbständig - kindheitsgemäßen und selbständig - erwachsenengemäßen Handlungsanforderungen darstellt. Ein Austritt aus der Jugendphase und der Übertritt ins sogenannte Erwachsenenalter ist dann möglich, wenn „in möglichst vielen Handlungsbereichen ein möglichst hoher Grad von Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des Handelns erreicht worden ist“. Kytir/Münz ( 1994, 29) meinen, daß hierzu drei zentrale Kriterien von Bedeutung sind: 1. Eintritt ins Berufsleben 2. Auszug aus dem Haushalt der eigenen Herkunftsfamilie 3. Gründung einer eigenen Familie durch Heirat und/oder durch die Geburt eines Kindes. Wer alle diese Schritte vollzogen hat, gilt in unserer Gesellschaft als Erwachsener, nur muß beachtet werden, daß sich diese Punkte in den letzten Jahrzehnten biographisch verschoben haben (Kytir/Münz 1994, 30). Generell muß beim Erwerb der Eigenverantwortlichkeit des Handelns in öffentliche und private Bereiche unterschieden werden. Im öffentlichen Bereich wird diese angesprochene Automonie und Eigenständigkeit mehr oder weniger mit der Erlangung der ökonomischen Selbständigkeit im Zuge einer abgeschlossenen Berufsausbildung erreicht. Im privaten Bereich spricht man dann davon , wenn der Jugendliche aufgrund einer eigenen Partnerschaft, respektive einer Familiengründung sich vom Elternhaus ablöst; wenn somit die soziale Selbständigkeit erreicht wird. Daß es in hochdifferenzierten Gesellschaften zu Verschiebungen und Überlagerungen dieser Autonomiegrade kommt, ist als selbstverständlich anzusehen. Das Jugendalter ist als gesellschaftlich produziertes Phänomen zu betrachten, in welchem die Konturen durch soziale Vorgaben bestimmt werden. In den privaten Handlungsbereichen werden früher erwachsenengleiche Kompetenzen erworben als in beruflichen (öffentlichen) Handlungsbereichen. Was bedeutet das? „Es wird zunehmend soziokulturelle Autonomie ohne ökonomische Eigenverantwortlichkeit erlangt. Dies ist als Konsequenz der sozialen Selektions- und Statusplazierungsprozesse in Form der Zuweisung einer Position in der Gesellschaft zu sehen“ (Hurrelmann, 1985, 16). 15 In hochdiffernzierten Gesellschaften werden in bestimmten sozialen Funktionen Teilreifen erlangt (vgl. Reimann 1987, 13). So spricht z.B. Gerhard Wurzbach (1987) über heterosexuelle Beziehungen Jugendlicher, als ein Gebiet der Teilreife, als Notwendigkeit in einer stark industriell geprägten Zeit, um der Vereinzelung und der Verunsicherung standzuhalten. „...Vereinzelung und Unsicherheit der Jugendlichen in der industriell geprägten Leistungsgesellschaft werden früher und stärker durch intime Paarbindungen zu bewältigen versucht“ (vgl. Wurzbach 1987, 39). Der Begriff Jugend, bzw. die Jugendphase muß als Integrationsphase gesehen werden, in welcher es einen Zusammenhang von Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung gibt. Wenn man von Jugend als Lebensphase spricht, handelt es sich immer um die Verknüpfung individueller und gesellschaftlicher Entwicklung (vgl. Hurrelmann 1985, 18). 2.2. Historische Aspekte der Entwicklung des Phänomens Jugend Im folgenden Teil meiner Arbeit möchte ich einen kurzen Überblick, über die historischen Aspekte des Phänomens Jugend geben. Ich glaube, daß die Vergegenwärtigung einiger historischer Entwicklungstendenzen einen besseren Zugang zu gängigen Jugendbildern in der Gesellschaft erlaubt. Gillis (1980) schreibt, daß es innerhalb der europäischen Geschichte der Gesellschaftsentwicklung eine eigene Geschichte der Jugend gibt. Diese ist zwar immer verbunden mit anderen gesellschaftlichen Institutionen zu sehen, läßt sich aber analytisch durchaus auch von diesen trennen. Wichtig ist zu erkennen, daß die Geschichte der Jugend durch spezifische soziale und kulturelle Lebensformen geprägt ist, über die ein phasenweises Hereinwachsen in die Erwachsenenwelt ermöglicht wird. Ein weiterer Aspekt in der Geschichte der Jugend ist die Tatsache, daß Jugend immer starken Mythen und Projektionen ausgesetzt ist (vgl. Baacke 1993, 210f). Auf das Phänomen Jugend werden und wurden immer wieder Zielvorstellungen Erwachsener projiziert, entweder in positiver oder negativer Weise. Zu einer Steigerung von Jugend - Projektionen kommt es nach Baacke dann, wenn daraus ein Jugend - Mythos wird, in dem Jugend zu einem gesellschaftlichen Leitbild schlechthin avanciert. Diese Mythisierung des Phänomens, fernab ihrer realen Gestalt, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder von Parteien und Interessensgruppen genutzt. Vom bürgerlichen Jugendidol des vergangenen Jahrhunderts über das Jugendideal des Dritten Reiches bis zum mediensuggerierten Jugendbild der Gegenwart. 16 Mit dem folgenden Abriß der historischen Entwicklung des Phänomens soll keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit gestellt werden, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen müßte. 2.2.1. Entdeckung oder Erfindung der Jugend? Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ist die begriffliche Kategorie „Jugend“ keine Neuerfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Tatsache ist aber, daß „Jugend“ als ein gesellschaftliches Problemfeld mit eigener Bedeutung und Dringlichkeit von älteren Generationen am Ende des vorigen Jahrhunderts „entdeckt“ wurde. Das Bild des Jugendlichen, welches annähernd dem der Gegenwart entspricht, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s und löste das Bild des „Jünglings“ ab, welches einen starken Ideologisierungscharakter aufwies und auch nur in gehobenen Sozialgruppen zu finden war (vgl. Vaitkus 1988, 131f) Der Begriff der „Jugend“ oder besser gesagt, das Phänomen „Jugend“ als Stadium zwischen Geschlechtsreife und vollgültigem Erwachsenenstatus ist eindeutig eine Errungenschaft der industrialisierten Gesellschaft. Kurz: „Man entdeckte um 1890 Jugend als eine eigenständige Lebensphase zwischen Kindheit (Kriterium Schulentlassung) und Erwachsenenwelt (Kriterium Wehrdienst und Eheschließung)“ (Reulecke 1986, 21). Natürlich gab es auch im vorindustriellen Europa des 18.Jh.s eine Lebenspassage jugendlichen Seins. Zu dieser Zeit waren „Lebenshorizonte der Heranwachsenden“ zwar existent, nur wurden diese nicht gesondert thematisiert, sondern waren an den jeweiligen Stand gebunden. Gillis (1980) schreibt, daß im vorindustriellen Europa Jugend jenen Lebensabschnitt darstellt, der beginnend mit dem Verlassen der Familie bis zur eigenen Heirat das Leben eines Menschen bestimmt. Meist verlassen die Kinder in einem Alter von sieben bis acht Jahren ihre Familien, um in anderen Familien zu leben und zu arbeiten. Die vollständige Unabhängigkeit wird erst durch die Heirat ca. Mitte zwanzig erreicht (vgl. Gillis 1980, 18f.). Obwohl die verwendeten Altersgrenzen die Jugendzeit nicht ganz klar zu definieren vermögen, ist doch ihre Stellung in der Gesellschaft evident. Kinder werden aus ihren Familien herausgelöst und leben in fremden Familien (Gesindedienst). Dort haben sie den Status von Halbabhängigen und leben als Diener, Lehrlinge, Knechte, Mägde oder Studenten. Mit diesem Lebensstatus werden idealtypische Lebensläufe Jugendlicher des 18.Jh.s umschreiben, wobei diese Ausformungen von Jugendlichkeit bzw. Jugend nur unter den 17 spezifisch demographischen, ökonomischen bzw. sozialen Verhältnissen jener Zeit zu sehen sind. Die Altershierarchie des 18.Jh.s spiegelt die altersstrukturelle Gliederung der Gesellschaft wider - und somit auch das Bild der Gesellschaft, welches jene konstruierten, die soziale, kulturelle und politische Macht besaßen (vgl. Gillis 1980, 21). Es darf aber nicht vergessen werden, daß die Einheit von Heirat und ökonomischer Verselbständigung, die als Basis für die gesellschaftliche Übernahme der Erwachsenenrolle gilt und in der europäischen Geschichte weit verbreitet war, nicht als durchgehend dominanter Typus des Übergangs zum Erwachsenenstatus zu sehen ist (vgl. Mitterauer 1986, 27f.) Bestimmte Muster der Haushaltsgründung bspw., daß erst dann geheiratet werden durfte, wenn der Mann die Stellung als Vorstand eines Hauses übernommen hatte, machen ein hohes Heiratsalter in Teilen Europas verständlich. Für die Beurteilung des Phänomens ‘Jugend’ aus historischer Perspektive hat das wesentliche Konsequenzen, da das höhere Heiratsalter sich auf die Dauer der Jugendphase auswirkte. Verschiedene Wesensinhalte der Jugendphase haben unter dem Einfluß der jeweiligen Heiratsbedingungen bzw. des mit ihnen korrespondierenden Familiensystems eine besondere Ausprägung erhalten (Mitterauer 1986, 30). Mitterauer (1986) zeigt in seinen Ausführungen auf, daß es im vorindustriellen Europa des 16. bis 18.Jh.s schon Formen jugendlichen Seins in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen gab. So spielten z.B. im argrarischen Bereich, im dörflichen Leben die Aktivitäten der schon geschlechtsreifen, aber noch nicht verheirateten jungen Leute eine wesentliche Rolle (vgl. Tillmann 1993, 193f.). Nur stellten sich damals Probleme der Identitätsfindung, vergleichbar mit Problemen der pluralistischen Gegenwartskultur, nicht. Es gab also auch in der vorindustriellen Zeit Europas in der Gesellschaft so etwas wie „Jugend“, allerdings ohne vergleichbare Entscheidungs-, Orientierungs-, und Identitätsprobleme (vgl. Tillmann 1993, 194). Die Gesellschaft war, wie bereits erwähnt, in Altershierarchien geteilt, wobei Kindheit den Status der Abhängigkeit, Jugend jenen der Halbabhängigkeit und Alter jenen der Zurückgezogenheit darstellen. Dadurch war mehr oder weniger ein Generationsabkommen in der Gesellschaft gesichert (vgl. Gillis 1980, 21). Zusammenfassend läßt sich sagen, Jugend war im vorindustriellen Europa durch ökonomische, Bedingungen demographische, der hohen soziale Fruchtbarkeit, und der biologische hohen Bedingungen Sterblichkeit, der bestimmt. traditionellen wirtschaftlichen Gegebenheiten waren gepaart mit festen Regeln von Vererbung, Heirat welche an die jeweiligen gesellschaftlichen Muster der Verehelichung gebunden war (vgl. Mitterauer 1986, 27f.) - und somit von Existenzsicherung. Diese Situationen machten die bereits erwähnte Herausnahme der Kinder aus ihren Familien nötig, da das Bestehen der 18 Familien auf diese Weise garantiert werden konnte. Diese Bedingungen markierten einen Teil des Lebens innerhalb eines Lebenszykluses, welchen man definiert und institutionalisiert als Jugend bezeichnen kann (vgl. Gillis 1980, 52). Erst mit dem Ende des 18.Jh.s, mit dem starken Auftreten einer sogenannten „bürgerlichen Gesellschaft“ kann man von Jugend als einem sozialen Phänomen sprechen. Das Ende des 18.Jh.s bzw. der Beginn des 19.Jh.s war gekennzeichnet durch Stadien der ökonomischen und politischen Modernisierung. Es kam zu tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und demographischen Veränderungen in Europa. So wird aus dem agrarisch geprägten Europa eine zunehmend industrialisierte, urbanisierte Welt. „John Stuart Mill nannte diese Epoche - das Zeitalter des Übergangs -, eine Zeit, in der die Menschheit aus alten Institutionen und Gegensätzen herausgewachsen ist, sich aber noch keine neuen geschaffen hat“ (Gillis 1980, 50). Dieses Zeitalter des Übergangs betrifft über die ökonomischen und politischen Strukturen hinaus auch die Familien jener Zeit. Diese waren mit den Problemen der Arbeitslosigkeit, der schlechten Lebensbedingungen, vor allem aber auch mit Spannungen zwischen den Altersgenerationen konfrontiert. Der geschürte Generationskonflikt ist ein Konflikt der Werte. So orientierten sich die Eltern vielfach an traditionellen Werten, dem Beruf, dem Stand, der Ehre, der Moral. Die Jugend orientierte sich an den neuen Werten der Industrialisierung. Die Modernisierung, der Wandel der Gesellschaft machte die Verbindlichkeit der Klassenzugehörigkeit durchlässiger. Angesichts des Zerbrechens der gesellschaftlichen Ordnungssysteme begann die Jugend aller Bevölkerungsschichten die überlieferten Verhaltensmuster und Normen neu einzuschätzen. Somit gelingt es mit der Industrialisierung erstmals, daß in allen sozialen Klassen der Gesellschaft ein eigenständiges Bild der Jugend entsteht. So ist bspw. die aufstrebende Arbeiterjugend nicht zu vergleichen mit der Jugendpopulation der Mittelschicht bzw. der Oberschicht. Alle Schichten der Jugendkulturen, die während dieser Epoche entstanden, waren das Ergebnis eines dialektischen Prozesses, der sich aus dem Umgang mit dem Wandel und den Traditionen der Gesellschaft ergab (vgl. Gilles 1980, 50). Das Bürgertum des 19. Jh.s entwickelte eher ein Bild des Jugendlichen, welches diesen als rechtschaffen, herb, heldenhaft, gehorsam und später auch christlich erscheinen lies. Hingegen ist die im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung immer zahlreicher heranwachsende Arbeiterjugend durch solche Konzepte nicht erfaßt (vgl. Baacke 1993, 203). Projezierte der „bürgerliche Jugendliche“ Hoffnungen und positive Ideale, ist der jugendliche Arbeiter mit seinem Potential an Protestkraft eher der gefährdete und negativ besetzte 19 Jugendliche. In Gesetzestexten zum Ende des 19.Jh. tauchte der Begriff des „Jugendlichen“ erstmals auch im Zusammenhang mit der Gefangenenseelsorge auf. Hierbei handelte es sich um korrektionsbedürftige, gescheiterte junge Menschen, die vorwiegend aus der proletarischen Klasse stammten. Es schien so, als ob von der Jugend, vor allem aber von der Arbeiterjugend eine erhebliche Gefahr für die Gesellschaft ausgehen würde. „Es ist bezeichnend, daß sich der Begriff des „Jugendlichen“, womit anfangs der verwahrloste, kriminelle, zu Gewalttaten neigende junge Asoziale gemeint war, als Bezeichnung für die Proletarierjugend insgesamt durchsetzte“ (Reulecke 1986, 21). So galt es zum einen, gezielte Fürsorgemaßnahmen für diese Jugend zu errichten, was in der Folge Jugendliche in Bereichen der Jugendfürsorge, in Jugendhäusern verstärkt zum Vorschein treten ließ. Zum anderen entstand mit dem „aufstrebenden Bürgertum“ die Ausweitung des Bildungsgedankens und die Wichtigkeit des Schulwesens. Dieser Aspekt ist als sehr wichtige Zäsur im historischen Abriß des Jugendbegriffes bzw. des Phänomens Jugend festzuhalten. Hat doch vor allem die Ausweitung der Bildungsstrategien einen Jugendbegriff geformt, der wesentliche Inhalte noch für die Gegenwart enthält. Auch dann, wenn sich lediglich das Bürgertum gegen Ende des 19.Jh.s verstärkt den Zugang zum Bildungs“monopol“ sichern konnte während Jugendliche aus den Arbeiterschichten und den ländlich-dörflichen Milieus noch lange nicht als Nutznießer dieser Bildungsoffensiven gelten durften. So ist es vor allem das Bürgertum, das gegen Ende des 19.Jh.s das Jugendalter als “Entdeckung“ fast für sich alleine beansprucht. Dennoch waren auch innerhalb der Bürgerschicht wiederum nur männliche Nachkommen von diesem Bildungsgedanken betroffen und nur sie profitierten von diesen Neuerungen. Die entscheidende Frage war jene der Zukunftssicherung. Durch eine qualifizierte Ausbildung der männlichen Nachkommen sollten Qualifikationen und Werthaltungen erlangt werden, die der Bewahrung und Vergrößerung des väterlichen Erbes dienlich waren (vgl. Tillmann 1993, 194). Allerdings kann festgehalten werden, daß sich durch die Forcierung des Bildungsaspektes eine gesteigerte Aufmerksamkeit und damit eine größere Bedeutung dieses Altersabschnittes für die Gesellschaft (vgl. Janig 1990, 41) ergab. Das Bürgertum, konzentrierte sich auf eine länger dauernde Bildung und Ausbildung ihrer Nachkommen, und gerade dieser Sachverhalt läßt sich als „Geburtsstunde“ der uns bekannten Jugendzeit bezeichnen (vgl. Tillmann 1993, 194). Neben der gesteigerten Bedeutung des Bildungsaspektes ist vor allem auch die Forcierung der Lohnarbeit und des Dienstleistungssektors mit Arbeitsmöglichkeiten außer Haus, für eine veränderte Aufmerksamkeit bezüglich der Jugend zu nennen. Bewirkte die Lohnarbeit eine geringere soziale und ökonomische Abhängigkeit der Jugendlichen, vor allem der Arbeiterjugendlichen, so verlängerte die Schulbildung die Lebensphase im Elternhaus 20 (vgl. Janig 1990, 41). Aus diesen Aspekten ergibt sich eine größere Bedeutung dieses Lebensabschnittes für die Gesellschaft. Für die Familien des mittleren und ausgehenden 19.Jh.s ergibt sich aus dieser reziproken Beziehung eine neue Lebensituation (vgl. Janig 1990, 41). Einerseits verlieren sie an Funktion im Hinblick auf die wirtschaftliche Produktion, auch Einbußen hinsichtlich ihrer Erziehungs-, Ausbildungs-, und Sozialisationsfunktion sind die Folgen. Andererseits aber gewährleistet die verlängerte und höhere Schulbildung - vor allem den Mittelschichten in den Städten - eine bessere Grundlage zur Erhaltung und Vermehrung von Besitz und der damit verbundenen Absicherung (vgl.Janig 1990, 41). Wichtig ist nochmals zu erwähnen, daß diese Veränderungen vorwiegend männlichen Jugendlichen der Mittelschicht zu Gute gekommen sind. Der weibliche Nachwuchs des Bürgertums wurde im häuslichen Kontext auf die Ehe vorbereitet und erst im Verlauf des 20.Jh.s in die höhere Schulbildung und damit auch in die bürgerliche Jugend einbezogen (vgl. Tillmann 1993, 195). Für Jugendliche aus Arbeiterfamilien und aus bäuerlichen Familien konnten noch kaum Veränderungen ausgemacht werden. So hatten Jugendliche dieser Milieus noch bis in die 50er Jahre dieses Jh.s eine sehr kurze Jugendzeit. Häufig folgte nach dem Besuch der Hauptschule (bis zum 14. Lebensjahr) der Übertritt ins “Erwachsenleben“ mit einer Berufstätigkeit. Bezüglich der Veränderungen im 19.Jh. muß gesagt werden, daß sich beschränkt auf die Städte, im Zuge der Industrialisierung, ein starkes Arbeiterproletariat gebildet hatte. Viele Jugendliche aus den agrarischen Bevölkerungsschichten sind in die Städte gezogen. Kinderund Jugendarbeit mit langen Arbeitszeiten und vorwiegend maschinenabhängiger Arbeit war keine Seltenheit. Zwar waren damit bereits geringe soziale Aufstiegschancen verbunden, der Zugang zur bürgerlichen Schicht und weiteren Verbesserungen war aber noch nicht gegeben (vgl. Janig 1990, 41). Zu Beginn des 20.Jh.s zeigen sich in der bürgerlichen und proletarischen Jugend Widerstände gegen die Erwachsenenwelt und den damit verbundenen Werten und Normen. Jugendbewegungen formierten sich, um gegen die Erwachsenenwelt zu protestieren. Obwohl diese Bewegungen zahlenmäßig nur einen geringen Teil der Jugendlichen erfaßten, war erstmals so etwas wie eine „Jugendkultur“ geschaffen. Damit war es zumindest gelungen, die Öffentlichkeit auf die veränderten Bedürfnisse der Jugendlichen aufmerksam zu machen (vgl. Janig 1990, 43). So wurden mit Beginn des 20.Jh.s Kräfte dahingehend wirksam, die Jugendlichkeit nach unten auszudehnen. Immer mehr junge Leute wurden für ihr zweites Lebensjahrzehnt aus dem Arbeitskräftemarkt herausgenommen (vgl. Gillis 1980, 142). 21 “...ein Trend, der in den 1920er Jahren beträchtliche Schubkraft erlangte, während der Zeit wirtschaftlicher Härten der dreißiger Jahre etwas zurückging und nach dem zweiten Weltkrieg einen erneuten Aufschwung erlebte“ (Gillis 1980, 142). Natürlich war diese Entwicklung, hin zur Verlängerung der Bildungszeit, nach wie vor in unterschiedlichem Ausmaß auf die sozialen Schichten verteilt. Die städtischen Mittel- und Arbeiterschichten sind eher und stärker vertreten als Jugendliche aus agrarisch-ländlichen Regionen. Dennoch hat sich in der Mitte des 20.Jh.s sich nochmals eine starke Wende vollzogen. Vor allem der Trend zu einem längeren Schulbesuch führte dazu, daß - wie bereits erwähnt - Jugendliche aus bisher benachteiligten Schichten und auch Mädchen in den Genuß weiterführender Bildung kamen. In ländlichen Regionen war es vereinzelt für Jugendliche (eher männliche als weibliche) möglich, höhere Bildung in Anspruch zu nehmen, nämlich dann, wenn diese Jugendlichen in die Städte kamen und dort, meist in der Obhut einer kirchlichen Institution, die Schule besuchten. „Jugend“ entwickelte sich von einer kurzen Episode im Lebenslauf zu einer gesonderten Lebensphase. Neben diesen strukturellen Veränderungen der Jugendphase veränderte sich auch die alltägliche Lebenssituation der Jugendlichen; vorrangig seit den 50er Jahren in massiver Ausprägung (vgl. Tillmann 1993, 196). Prinzipien der gesellschaftlichen Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozesse führten zu einer verstärkten Ausdifferenzierung von jugendlichen Lebensverhältnissen. Die skeptische Generation der 50er Jahre und die darauffolgende unbefangene Generation der 60er Jahre waren sicherlich eine Reaktion auf den Mißbrauch der Jugend durch Staat und Gesellschaft im Nationalsozialismus (vgl. Schäfers 1994, 53). Es ist eine Tatsache, daß die junge Generation nach dem Zweiten Weltkrieg eine „zerrüttete, unauffindbare Generation“ darstellte. Unzählige männliche Jugendliche hatten einen Teil ihrer Jugend auf den Schlachtfeldern Europas verloren. Diese Jugendgeneration war geprägt von Flüchtlingsschicksalen, Arbeitslosigkeit und sozialem Chaos. Somit lag auf dieser Generation die Last, möglichst rasch erwachsen zu werden. Es war die Jugendgeneration, die Schelsky die „skeptische Generation“ nannte. „Sie sei, so hieß es damals, glaubens - und illusionslos, angepaßt und zugleich unbefangen im Umgang mit den Chancen, die die Wiederaufbauphase bot: eine `Generation der vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer´ die in der Wohlstandsgesellschaft überleben wollte“ (Reulecke 1986, 25). Der Jugendliche zeigte gutartige Züge wie politische Apathie und soziale Anpassung (vgl. Gillis 1980, 187). Zu fragen bleibt allerdings, ob die `skeptische Generation´ der 50er Jahre, über den Aspekt hinaus, Repräsentant eines gesellschaftlich-ökonomischen Modernisierungsschub zu sein, nicht auch unter dem spezifischen Hintergrund, nämlich dem 22 Ende der Ära des Faschismus,gesehen werden muß. Vielleicht läßt sich dann das brave und angepaßte Verhalten, bzw. die Politik- und Ideologieabstinenz der Generation eher erklären und verstehen (vgl. Helsper 1991, 13). Die darauffolgende Jugendgeneration der 60er Jahre war alles andere als `still´. Kritiker meinen, daß sich die Generation der 50er nur tot gestellt habe, um dann in den folgenden Jahren jugendlicher Proteste und jugendlicher Aktivität zu neuem Leben zu erwachen. „Was lange gärt, wird endlich Wut“, lautete ein Stichwort der Jugendbewegung Ende der 60er Jahre (vgl. Reulecke 1986, 25). Mit den (politischen) Protesten in den 60er Jahren versuchte die Jugend, sich wieder einen akzeptierten Platz in der Gesellschaft zu erobern. Die Proteste standen unter dem Zeichen der `Aufklärung´, des Fortschritts und umfassender gesellschaftlicher Reformen und Veränderungen. Für viele Jugendliche der Zeit waren die Jugendproteste eine Befreiung aus subjektiv erlebten und zum Teil noch selbst vertretenen, traditionalen Zwängen alltäglicher Enge und Kontrolle (vgl. Helsper 1991, 13). In den 60er Jahren tauchte darüber hinaus ein Jugendphänomen auf, das sich durch die Bezeichnung „Post - Adoleszenz“ festmachen läßt. Der Begriff Post-Adoleszenz stammt aus dem angloamerikanischen Raum und bedeutet kurz „Mündigkeit ohne wirtschaftliche Grundlage“ (vgl. Gillis 1980, 206). „Wie es in der industriellen Gesellschaft gelungen ist, einer großen Zahl von Kindern eine längere Jugendzeit zu verschaffen, so machte die nachindustrielle Gesellschaft allmählich eine nach - jugendliche Phase der Jugend möglich“ (Gillis 1980, 208). Natürlich waren es vorwiegend Kinder aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten, die sich eine Phase der Nach -Jugend leisten konnten. Mittlerweile zeigt sich diese Phase in fast allen Gesellschaftskreisen, in denen es Jugendlichen ermöglicht wird, an sozialen, kulturellen, politischen Lebensbereichen teilzunehmen, ohne aber eine eigenständige ökonomische Absicherung erlangt zu haben. Die entfesselte Jugendgeneration der 60er Jahre bildete, getragen durch die Studentenbewegung, ein starkes Wir-Gefühl heraus. Die Jugend glaubte daran, Geschichte machen zu können. Daß man aber vielleicht nur einem Mythos in die Falle gegangen war, bemerkten die meisten Protagonisten der Zeit spätestens dann, als sie Mitte der 70er Jahre selbst über dreißig Jahre alt waren und selbst zu jenen gehörten, denen man am besten nicht trauen sollte (vgl. Reulecke 1986, 25). Im Übergang zu den 70er Jahren bildete sich eine Jugendgeneration heraus, welche einerseits begann, die bis dahin errungenen modernen Lebensprinzipien in Frage zu stellen.“Programm der jugendlichen Gegenkultur war weniger eine wie auch immer verstandene `kritische Modernisierung´, sondern `Entmodernisierung´“ (Helsper 1991, 14). Es entstand so etwas wie eine `Grüne Revolution´. Schlagwörter wie `Zurück zur Natur´ verdanken sich der Faszination, die von alten, archaischen Kulturen ausging. Fernöstliche Kulturen und Religionen, sowie soziales Engagement in verschiedenen 23 sozialen Bewegungen waren en vogue. Es schien so, als wollte man dem massiven Fortschritt der Technisierung und der Institutionalisierung der Gesellschaft mit einer demonstrativen Rückbesinnung auf das `Archaische, Natürliche´ Einhalt gebieten. Dieser Jugendgeneration folgte in den 80er Jahren eine jugendliche Bewegung, die als tendenziell zynisch - illusionslos charakterisiert wird. Von Soziologen, Pädagogen und auch Psychologen wird diese Generation gerne als „neuer Sozialisationstyp des Narziß“ bezeichnet. Ein Jugendgenerationstyp, der empfindsam und ichbezogen (‘Ego-Ära’) allen Herausforderungen aus dem Weg geht (Fogt 1982, 177). Als weitere Kennzeichen dieser Generation werden Parteien- und Staatsverdrossenheit, Motivationslosigkeit und Orientierungsverlust angeführt, sie sich sowohl in Aussteigertum und Realitätsflucht, aber auch in einer Hinwendung zu höchst unterschiedlichen alternativen, sinnstiftenden Szenen und Lebenswelten manifestieren können. Prägenstes Kennzeichen der Jugendgeneration der 80er war das Erscheinungsbild in vielen unterschiedlichen Fassetten, zum einen jugendliche Hausbesetzergruppen der frühen achziger Jahre, zum anderen selbstverliebte `New Wave´ Disco - Queens und Kings. Aufkommende Perspektivenlosigkeit, Zuspitzung sozialer und persönlicher Zukunftslosigkeit wird mit dem Motto „Ich will Spaß“ beantwortet oder mit zynisch - sarkastischem, schwarzem Humor zugedeckt. Die achtziger Jahre werden zum beginnenden Feld des „Überlebenstrainings in der `neuen Wildnis´ der Moderne“ (vgl. Helsper 1991, 15). Wie läßt sich nun die Jugend der 90er Jahre beschreiben, anhand welcher Kriterien kann man ein Bild der gegenwärtigen Jugend zeichnen? Augenscheinlich ist, daß “Jugend“ als Gegenstand zahlreicher Diskussionen unterschiedlichster Medien richtiggehend trendfavorisiert ist. Nicht nur Sozialwissenschaftler, Pädagogen oder Psychologen, sondern auch eine breite `Hochglanzmagazin´ - Öffentlichkeit mischt sich verstärkt in den Diskussionsraum mit ein. Vor allem Phänomene der sogenannten postmodernen Jugendkulturen wird diskutiert und analysiert (vgl. Stocker 1995, 231). Was sind nun die tragenden Argumente der Charakterisierung gegenwärtiger Jugend? 2.2.2. Das öffentliche Erscheinungsbild gegenwärtiger Jugendlicher Das Erscheinungsbild der Jugend ist geprägt von Widersprüchlichkeiten, verwirrender Buntheit und Unübersichtlichkeit. War im geschichtlichen Verlauf noch nie auf ein einheitliches Bild „der Jugend“ zu schließen, so ist es jetzt am Ende des 20.Jh.s um so weniger möglich. Thesen der Entstrukturierung bzw. Pluralisierung der Jugendphase sprechen davon, daß der Lebensabschnitt Jugend schillernd und unübersichtlich geworden ist. Gerade aber diese Tatsachen deuten darauf hin, daß die junge Generation nur im Kontext 24 gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen gesehen werden kann (vgl. Friesl/Richter/Zulehner 1994, 49). Jugend bedeutet Vieldeutigkeit, Pluralität und Individualisierung. Der Individalisierungsaspekt ist für den Erklärungsansatz aktueller Jugendbilder zentral geworden. Aber nicht nur für Jugendbilder wird der Begriff zum wesentlichsten Instrumentarium, sondern auch deshalb, um einen Zugang zu gesellschaftlichen Analysen zu finden. 2.2.2.1. Exkurs: Begriff der Individualisierung „Individualisierung bezeichnet einen gesellschaftlichen Tatbestand, der nicht nur gegenwärtig wirksam ist, sondern der seit der Heraufkunft der modernen Gesellschaft zentrale Merkmale der Sozialstruktur und der normativen Anforderungen an die Individuen erfaßt (Heitmeyer/Olk 1990, 11). Individualisierung, d.h. ein erhöhter Anspruch auf Individualität sind Kennzeichen einer modernen Gesellschaft. Zum einen impliziert dieses Motiv natürlich den Aspekt der Erweiterung des persönlichen Handlungs- und Freiheitsraumes, der innerhalb gesellschaftlicher Verpflichtungen vorgesehen wird, andererseits sind dadurch wieder Gefahren für das Individuum und der vorhandenen Sozialstrukturen gegeben. Beck (1986) sieht sozialstrukturelle Individualisierungstendenzen. Entwicklungen Vor als allem dann, maßgebliche wenn man Triebfeder von für `sekundären Individualisierungsschüben´, ausgehend von den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, spricht. Nun geht es ja nicht mehr vorranging um die grundsätzliche Freisetzung der Individuen aus Bindungen und Verpflichtungen der Gesellschaft (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, 14). Kennzeichen der sozialstrukturellen Entwickungen als Motoren für die Individualisierung wären etwa: • Die Steigerung des Lebensstandards, die Steigerung des individuellen Lohns, Verringerung der Arbeitszeit. Für den Einzelnen eröffnen sich damit neue Konsummöglichkeiten, die Verfügung über Freizeit wird als neue `Zeitkategorie´ erfahrbar. • Steigerung der sozialen und georaphischen Mobilität. Ökonomische Modernisierungstendenzen, die Expansion wohlfahrtstaatlicher Einrichtungen ermöglichen eine weitreichende Änderung der Berufsstruktur und eine Umstrukturierung der sozialräumlichen Lebensverhältnisse. 25 • Eine weitere sozialstrukturelle Veränderung wäre die breitfächrig angelegte Expansion des Bildungssektors, welche vielfältige Veränderungen für die Gesellschaft mit sich bringt. (vgl. Heitmeyer/Olk, 1990, 14/ Beck 1986, 115f.) Grundsätzlich kann also von durchaus positiv zu bewertende Entwicklungen des Individualisierungsprozesses gesprochen werden. Für Beck bringen diese Prozesse allerdings nicht die Auflösung sozialer Ungleichheiten mit sich. Entwicklungsprozesse dieser Art, verursachen vielmehr eine ‘Individualisierung sozialer Ungleichheiten’ und eine ‘Enttraditionalisierung der sozialmoralischen Milieus’. Der gesellschaftliche Individualisierungsschub hat die Herauslösung aus den traditionellen Klassenbedingungen und Versorgungsbezügen der Familie forciert. Dieser Vorgang verstärkt die Konzentration auf das Selbst. Gegenwärtige Existenzformen zwingen den Menschen dazu, sich selbst zum Zentrum der Lebensplanung zu machen. „Individualisierung läuft in diesem Sinne auf die Aufhebung der lebensweltlichen Grundlagen eines Denkens in traditionalen Kategorien von Großgruppengesellschaften hinaus“(Beck 1986, 117). Das bedeutet, daß das hierarchische Modell der sozialen Klassen unterminiert wird, und soziale Ungleichheiten somit auch ohne Klassen weiterhin vorhanden sind. Der Einzelne hat aufgrund der Individualisierungsoptionen, der Erhöhung der Handlungsgrade die Möglichkeit, ungeachtet seiner traditionalen Bindungen und Versorgungsbezüge zu handeln, ist aber somit gleichzeitig auch unvermittelter mit den Zwängen der gesellschaftlichen Institutionen konfrontiert. „In den enttraditionalisierten Lebensformen entsteht eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft, die Unmittelbarkeit von Krise und Krankheit in dem Sinne, daß gesellschaftliche Krisen als individuelle erscheinen und in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden können“ (Beck 1986, 118). So werden dann Verschärfungen am Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, zu einem beträchtlichen Teil als persönliches Versagen konnotiert. Individualisierungsprozesse sind nun nicht gleichzusetzen mit der Selbsterschaffung der Existenz, sondern viel eher mit der Institutionalisierung und Standardisierung von Lebensprozessen. Die individuelle Lebenslage wird abhängig von institutionalisierten Entscheidungsprozessen. Das Individuum wird bildungsabhängig, arbeitsmarktabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen (vgl. Beck 1986, 118). Subjektiv betrachtet eröffnen sich für den Einzelnen eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, zugleich aber vergrößert sich der Entscheidungsdruck, weil grundsätzlich für jeden dieselben Möglichkeiten offenstehen, und das bei gleichzeitiger Zunahme einer undurchschaubaren sozialen Komplexität. Der Prozeß der Individualisierung wird durch die Vergrößerung des subjektiven Gefühls der individuellen Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit begleitet und konterkariert. Individualität scheint vielmehr ein strukturell 26 erzwungener subjektiver Zustand zu sein, der durch ständige Suchbewegungen neu konstituiert werden muß (vgl.Lüscher 1990, 34). Übertragen auf die Situation Jugendlicher bedeutet dies, daß durch die Dynamik der gesellschaftlichen Individualisierungsprozesse und die Enttraditionalisierung von Lebensformen eine verstärkte Destandardisierung der Jugendphase hervorgerufen wurde. Die Jugendphase ist genauso von Prozessen der Entgrenzung, Desorientierung und Stabilitätsverlust gekennzeichnet wie Lebensphasen Erwachsener (vgl. Helsper 1991, 30). Jugendliche werden mit einer Vielzahl von Alltagswelten konfrontiert. Teil dieser Alltagserfahrung ist beispielsweise die Erosion der Generationsgrenzen, die Auflösung der symbolisch - kulturellen Grenzlinien zwischen Erwachsenen und Jugendlichen. Elternbeziehungen sind partnerschaftlicher, Konsummärkte richten sich an die Jugendlichen als `vollmündige´ Partizipienten. Alltagserfahrung ist aber auch das Ausgegrenztsein durch sozio - ökonomische Abhängigkeiten. Die Verlängerung der Inanspruchnahme von Ausbildungsgängen bringt Jugendliche in finanzielle Abhängigkeiten entweder von Eltern oder, sie wird durch wohlfahrtstaatliche Unterstützungen institutionalisiert. Einerseits ermöglicht der Konsum von Bildungsangeboten vermehrt Chancen zur Überwindung des Herkunftsmilieus, andererseits forcieren die im Bildungssystem implizierten Selektionskriterien individuelle Orientierungsmuster, um wirklich erfolgreich zu sein. Jugendliche sind ständig darum bemüht, die Balance zwischen diesen unterschiedlichen Erfahrungen zu halten. Was liegt dann näher, als sich am nächst Greifbaren, am Gegenwärtigen zu orientieren und die Zukunft mit dem Augenblick zu verschmelzen? Jugendliche der 90er werden als abgeklärt, zynisch, exponiert, haltlos, individualistisch, rauschhaft, radikal und hedonistisch beschrieben. Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl von Selbstdarstellungsmustern und Selbststilisierungen aus. „Der aktuelle Lebensraum wird zur Bühne von individueller Selbstdarstellung“ (Ferchhoff/Dewe 1991, 187). Das Leben wird ästhetisiert, im self - casting wird der spezifische Lebensstil zum Ausdruck gebracht. Hinter diesem Spiel mit der Oberfläche steckt aber vielmehr der Wunsch nach Individualität und Selbstentfaltung, der sich durch den Rückzug der traditionellen Unterstützungsmilieus und die Forcierung institutioneller Bezugsrahmen (Bildungseinrichtungen ect.) nur mehr in Form verstärkter Selbstverwiesenheit und Inszinierung des Äußeren darstellen läßt. Die eigene Persönlichkeit, die Findung des eigenen ICH, eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben des Menschen, wird gegenwärtig zum `Recherche - ICH´, dessen Suche oftmals ein Leben lang unabgeschlossen bleibt oder sich als `Zufalls - ICH´damit begnügt, `seine Existenz in wechselnd - szenischer Vergegenwärtigung´ zu erfahren“ (vgl. Lenzen 1991, 46). Jugendliche 27 der 90er sind demzufolge ausgezeichnet durch explizite Modelle der Gegenwartsorientierung. Einzelerlebnisse der Gegenwart erhalten eine erhöhte Ausgestaltung. Zeit und Zukunft werden nicht mehr nach den gesellschaftlichen Mustern der Ausgestaltung von Zukunftsorientierung erfahren. Zeit entwickelt sich zu einem höchst subjektiven, inividuellen Erfahrungsspektrum. Jugendliche müssen feststellen, daß es nicht mehr möglich ist, etwa aufgrund einer gegenwärtig praktizierten Berufsausbildung längerfristige Lebens- und Zukunftspläne zu machen. Die Ausbildung ist zwar von momentaner Bedeutung, muß aber im Rahmen flexibler Lebensgestaltung gesehen werden. Ständige Zusatzausbildungen, Flexibilität und Mobilität gehören unweigerlich zum Lebensbereich Arbeit und Ausbildung. Dies führt zu dauerhaften Be- und Überlastungen, zu unaufhörlichen Reflexionsansprüchen an sich selbst. Jugendliche erleben relativ früh eine Eigenverantwortlichkeit für ihr Sein. Durch den Zuwachs an Individualisierungsmöglichkeiten aufgrund freier Kombinationsvielfalt von `Lebensbausteinen´, werden gleichzeitig Erfahrungen im Sinne erhöhter Austauschbarkeit von Personen gemacht. „Objektiv betrachtet hat es für Jugendliche noch nie so viele Möglichkeiten der Individualtität im Sinne einer Besonderung der Selbstdarstellung gegeben, andererseits waren noch nie so stark subjektive Gefühle individueller Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit verbreitet“ (vgl.Helsper 1991, 83). Jugendliche zeigen gegenwärtig wenig Interesse an Großentwürfen, Illusionen halten sie für unangebracht. Selbstdarstellung, Vergegenwärtigung im Jetzt, das bewußte Genießen von Verwirrung, chaotischen Zuständen und absichtslosen Augenblicken, das Leben in variablen Ordnungen, Differenzen und Dissonanzen ist angesagt (vgl. Ferchhoff/Dewe 1991, 196). Ferchoff/Dewe, gehen sogar so weit zu behaupten, daß in bestimmten (urbanen) Jugendkulturen (evt. Techno, Rave - Szene) eine Art fröhlich referenzloses Nomandentum und provokantes Durcheinanderwirbeln und Schockieren in den Sinn - Ruinen des Lebens herrsche (vgl. Ferchhoff/Dewe 1991, 188). „Sinn - Ruinen“ wohl dahingend gemeint, daß es den `ein ganzes Leben umspannenden Sinn´ nicht mehr gibt, da sinnstiftende Größen immer kurzzeitiger und variabler geworden sind. Nur mehr ein verschwindend kleiner Teil von Jugendlichen lebt in lokalen, dichten, sozialen Kontrollnetzen mit geschlossener weltanschaulicher Sinngebung, klaren Bezugsverhältnissen und Kategorien. Ob diese Behauptung, wie weitläufig vermutet wird, für Jugendliche in ländlichen Lebenswelten noch verstärkt zutrifft, wird zu analysieren sein. Abschließend läßt sich aber festhalten, daß den Jugendlichen auch jenseits sozialer Bindungstraditionen und jenseits sicherheitsgewährender sozialmoralischer Milieus ein hohes Maß an Selbstverantwortung, Selbstbehauptung und damit auch klare Visionen der Erfüllung und des Versagens, bzw. der Scheiternsrisiken aufgebürdet werden (vgl. Ferchhoff/Dewe 1991, 196). 28 2.2.3. Jugend - eine eigenständige Lebensphase? Wenn man die historische Entwicklung der „Jugend“ im Verlauf des 20.Jh.s verfolgt, ist es notwendig, Jugend gerade am Ende dieses Jahrhunderts als eigenständige Lebensphase zu betrachten. Wir haben gesehen, daß sich Jugend aus biologischen, entwicklungspsychologischen, und sozial definierten Kriterien bestimmen läßt. Daraus ergibt sich, daß Jugend nicht einheitlich definiert werden kann. Während aus den unterschiedlichen Blickrichtungen relativ einfach ist, Kriterien für den Eintritt in das Jugendalter zu definieren, ist es umso schwerer, das Ende dieser Lebensphase festzusetzen. Wird Jugend als sozialer Entwicklungsprozess begriffen, in dem das Individuum von der Rolle des Kindes in jene des Erwachsenen übergeführt wird, bekommen drei zentrale Kriterien eine wesentliche Bedeutung : „Erstens der Eintritt ins Berufsleben, zweitens das Verlassen des Haushaltes der Herkunftsfamilie und drittens die Gründung einer eigenen Familie, bzw. die Geburt eines Kindes“ (vgl. Kytir/Münz 1994, 29). Im Verlauf des 20.Jh.s haben sich diese biographischen Übergänge erheblich verschoben, bis weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein.“Theoretisch ergiebig ist jene Festlegung, die Jugend als Lebensphase eigener Form und eigener selbsterlebbarer Qualität sieht und zugleich auch als ein gesellschaftliches und kulturelles Produkt konzipiert, das durch seinen charakteristischen Stellenwert im menschlichen Lebenslauf und seine spezifische Bedeutung für die Reproduktion der Gesellschaft bestimmt werden kann“ (vgl. Hurrelmann 1985, 18). Jugend wird demnach als eine durch gesellschaftliche Strukturprobleme notwendige Lebensphase zur persönlichen Entwicklung und sozialen Plazierung des Menschen gesehen (vgl. Hurrelmann 1985, 18). Jugend als eigenständige Lebensphase ist ein Nebenprodukt umfassender gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, die sich im 20.Jh. durch eine Ausweitung des Grades der persönlichen Entscheidungsfreiheit und der damit verbundenen Probleme konstituiert hat. Die Etablierung des Jugendalters in der Gesellschaft ist als Ergebnis der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zu sehen (vgl. Fend 1988, 184). Zusammenfassung Betrachtet man das Jugendalter als sozialen Prozeß, der von der definierten Rolle des Kindes zu jener des Erwachsenen führt, so wird man erkennen, daß die in diesem Zusammenhang häufig genannten Kriterien - Berufseintritt, ökonomische Unabhängigkeit, eigener Haushalt und Familiengründung bzw. Leben in einer Partnerschaft - im Zuge der letzten Jahren eine starke Veränderung erfahren haben. Hatten ‘frühere Jugendgenerationen’ nur das Problem, ab der Pubertät individuell und bewußt den Anschluß an die Außenwelt zu 29 finden sowie eine in der individuellen Biographie als privates Erlebnis auftretende Kluft zwischen Innen und Außen, Ich und Welt zu überwinden, um sich schließlich am Ende des Jugendalters zu etablieren, fehlen diese Möglichkeiten jetzt weitgehend. Mit dem zunehmenden Individualisierungsprozeß sind die äußeren gesellschaftlichen Rahmendaten, welche dem prekären Suchprozeß innerhalb des Jugendalters immerhin noch eine grobe Richtung und eine gewisse Sicherheit geboten haben, weggefallen. Die Jugendphase, welche sich im Laufe der letzten 100 Jahre herausgebildet hat und uns in dieser Form gegenwärtig bekannt ist, kann durch folgende Merkmale und Strukturen gekennzeichnet werden: • Eine lange Phase der Bildung und Ausbildung: Dadurch ist es zwar möglich, Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung zu gewinnen und sich aufgrund des Bildungsgutes aus klassenspezifischen Milieus herauszuentwickeln - die ökonomischen Unabhängigkeit zögert sich jedoch immer weiter hinaus. • Trotz längerer und besser qualifizierter Bildungsbiographien kommt es zur Verunsicherung der Jugend durch zunehmende Arbeitsmarktkrisen. Jugendliche werden zunehmend mit der Nichtrealisierung ihrer Berufswünsche konfrontiert. • Ein weiteres Merkmal gegenwärtiger Jugendphasen ist die Vervielfältigung des Übergangs in das Erwachsenenalter. Individualisierte Lebens- und Beziehungsformen haben sich statt verbindlicher Lebensformen durchgesetzt. Ein ‘alternatives Angebot an Beziehungsformen’, abseits von institutionalisierten Ehe- und Familienformen, bildet sich immer weiter aus. • Jugendliche treten hinsichtlich ihrer sozialen, moralischen, erotisch - sexuellen, intellektuellen und politischen Handlungsfähigkeiten früh in die Selbständigkeit der Erwachsenen ein - ohne dabei bereits - ökonomische Unabhängigkeit erlangt zu haben (vgl. Tillmann 1993, 264f.). • Das Jugendalter muß als entwicklungsoffener Prozeß gesehen werden, in dem es gelingen soll, die Fähigkeiten zur eigenen sozialen Gestaltung und Vereinbarung bei der Verwirklichung des eigenen Weges ohne Zielvorgaben zu entwicklen. Das Jugendalter ist ein Stück individuelle Konstruktion von sozialer Wirklichkeit (vgl. Brater 1997, 150). Wenn in den wesentlichen Fragen der Jugendlichen - wie: Wie finde ich meinen Beruf? Soll ich eine Familie gründen? Welchen Lebensweg soll ich gehen? - gesellschaftliche Normen und Antworten zur Orientierung fehlen, dann ändert sich grundsätzlich der Charakter und die lebensgeschichtliche Bedeutung der Jugendphase: Sie ist dann kein ‘transitorischer’ 30 Abschnitt mehr zwischen der relativ klaren und festen Welt der Kindheit und dem des Erwachsenalters (vgl. Brater 1997, 150). Die Erhöhung der Freiheitsgrade im individuellen Handlungsbereich, Verunsicherungen bedingt durch die verstärkte Freisetzung der Handlungsoptionen und Verschleierungen der Übergänge ins Erwachsenenalter verstärken die Aufsplittung des Jugendalters in intermediäre Lebensformen (vgl. Kytir/Münz 1994, 30). Diese gelten als Kennzeichnen das Jugendalters am Ende des 20.Jh.s, - einer Lebensphase, die Auskunft über die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen sowie deren hohe Anforderungen an das einzelne Individuum gibt. 31 3. Ländlicher Raum - Ländliche Lebenswelten 3.1. Begriffsdefinition: Ländlicher Raum - Ländliche Region „Ländlicher Raum - Ländliche Region“, deshalb mit Bindestrich, weil in der Literatur jeweils Raum oder auch Region verwendet wird, obwohl immer wieder auf die Synonymie der Begriffe hingewiesen wird. Mit den Begriffen werden hinlänglich Land, Dorf, vielleicht auch Kleinstadt assoziiert, zumindest aber „nicht Stadt“, d.h. weder Ballungszentren noch Industriegebiete. Das bedeutet wiederum, daß ländliche Regionen der Inbegriff für Ruhe und Erholung sind - kurz für alles, was ‘anders’ ist als der hektische, anstrengende Lebensbereich Stadt. Trotz allem: wer aus ländlichen Regionen kommt, wird vielfach auch heute noch belächelt. Menschen aus ländlichen Regionen wird im „Weltbild des Kosmopoliten nur ein geringer Stellenwert eingeräumt“. Aber es sei den Großstädtern verziehen - vor allem dann, wenn man „den österreichischen Großstädter“ vor Augen hat. Wien, das stimmt, ist zweifelsohne nicht der `Nabel´ Österreichs, sondern es umfaßt den größten Ballungsraum innerhalb der Alpenrepublik. Gemessen daran fällt die zweitgrößte Stadt - Graz- mit ihren knapp 240.000 Einwohnern bereits klar ab (vgl. Schöffel 1996, 3). Davon abgesehen bedarf es angesichts der europäischen Betrachtung ländlicher Regionen ohnehin einer Korrektur des „österreichischen Stadt - Land, Metropole - Provinz - Denkens“. Es erhebt sich die Frage nach der Größe ländlicher Regionen im Europa der Union. Die Summe dessen, was in der europäischen Landschaft als „ländlich“ bezeichnet wird, ist eigentlich erstaunlich groß. „Das Europa der Union ist zu 85% ländlicher Raum, obwohl ‘nur’ ein Viertel der Bevölkerung auf dem Land lebt. Österreich ist insgesamt gesehen mit seinen kleinstädtischen und dörflichen Strukturen und deren jeweiligen Einwohnerzahlen das, was vor allem Städter mitunter verächtlich unter ‘Land’ einstufen - außer sie fahren ‘aufs Land’, um ‘Landluft’ zu schnuppern, ‘Landleben’ zu entdecken (vgl. Schöffel 1996, 3). Ist es grundsätzlich überhaupt noch sinnvoll, von ‘Land’ zu reden und ländliche Regionen zu thematisieren? „Längst scheint doch der gesellschaftliche Modernisierungsprozeß auch zu einem Nivellierungsprozeß geworden zu sein, der das Land seiner Besonderheit beraubt hat“ (Gängler1990,15). Längst schon sind strukturelle Wandlungsprozesse und gesellschaftliche Modernisierungsbestrebungen auch in ländliche Regionen eingedrungen. Bereits Kötter (1958, 7) schreibt, daß der Begriff des ‘Landes’ Wandlungen unterworfen ist. „... nicht landwirtschaftliche und landwirtschaftliche Bevölkerung lebt häufig auf engstem Raum zusammen, dies ist als Folge der Entwicklung unserer Gesellschaft zu sehen, die als ‘industrielle Gesellschaft’ bezeichnet wird...“ (Kötter 1958, 7). Stadt und Land sind nicht mehr 32 durch klare Kriterien voneinander trennbar, sondern sie unterscheiden sich nur mehr in einigen Übergangsformen. Interessant an der Literatur Kötter’s, die aus den 50/60er Jahren stammt, ist die noch sehr emotionale Diagnostik des Wandlungsprozesses. Unbestritten ist die Tatsache, daß der Wandlungsprozeß der Gesellschaft in den 50er Jahren, also in der Nachkriegszeit eingetreten ist. Kötter schreibt:“... jetzt erst setzt der Wandlungsprozeß in aller Schärfe ein und ist oft mit schmerzhaften Härten verbunden“ (Kötter 1958, 11). Der Struktur- und Funktionswandel der ländlichen Regionen ist im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu sehen. Ländliche Regionen sind nicht gleich ländliche Regionen. Sie sind durch eine strukturelle Vielfalt ausgezeichnet. Kötter (1958, 88) trifft bei der Betrachtung ländlicher Regionen einige Unterteilungen. Wie er ausführt, sind diese vorerst einmal ‘Soziallandschaften mit Misch- und Übergangsstrukturen bzw. spezifischen sozialökonomischen Strukturen’. Zwischen Stadt/Land gibt es nach Kötter: ‘die Zone des städtischen Raumes’ ‘die Zone der stadtnahen Pendlerräume’ ‘die Zone der ländlichen Industrieräume’ ‘die Zone der industriearmen Agrarräume’. Die Begriffe Land und Region ergeben die Verbindung „ländliche Region“. Hier drängt sich die Frage auf, was Regionen tatsächlich sind. Gängler (1990, 21) empfiehlt, den Begriff der Region dann einzusetzen, wenn man sich auf ein bestimmtes Gebiet bezieht, welches sich durch charakteristische Kriterien von anderen Gebieten und Regionen abgrenzen läßt. Kriterien der Abgrenzung können sein: - geographische - ökonomische - sozio - kulturelle - politische - sprachliche Ländliche Regionen können verstanden werden als, „... territoriale Räume, die nicht im Sogbereich von Ballungsgebieten liegen, und die selbst bei einem Bevölkerungsaustausch mit den Ballungsgebieten, wie er durch Pendler stattfindet, nicht sozio-ökonomisch und sozio-strukturell nivelliert werden“ (vgl. Gängler 1990, 21). Diese Definition wird vor allem in Raumordnungsberichten verwendet und beinhaltet den Charakter einer Negativdefinition im Sinne von Stadt - ist nicht - Land. Einer der bekanntesten ‘Landsoziologen’, Ulrich Planck, verwendetet einige grundlegende Indikatoren und Merkmalsgruppen zur Beschreibung ländlicher Räume in Abgrenzung zu städtischen Räumen. Planck geht davon aus, daß bestimmte Raumeigenschaften das soziale Leben von Menschen beeinflussen. Raumeigenschaften wirken auf die „äußeren Umstände menschlichen Handelns, Denkens 33 und Fühlens“ (Planck 1979, 23). Zwischen den Raumkomponenten und dem menschlichen Handeln ergeben sich wechselseitige Abhängigkeiten. Das Handeln wird auf die Raumgestaltung ausgerichtet, und im Gegenzug beeinflußt der Raum das notwendige Handlungsrepertoire der Menschen. Für Planck gelten folgende Merkmale als grundlegend für die Beschreibung des ländlichen Raumes: „ Das Fehlen städtischer Privilegien und Funktionen, die Land- und Forstwirtschaft als prägender Wirtschaftsbereich, eine geringe Verdichtung von Wohnstätten, Arbeitsstätten und Infrastruktureinrichtungen“ (vgl. Planck 1979, 23). Nach Planck haben vor allem Kriterien wie der Rechtsstatus, die Wohngröße, die Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichte, die Agrarquote und die Kennziffern der Lebensbedingungen an Bedeutung für die Beschreibung des ländlichen Raumes gewonnen. Planck (1979, 23) gibt eine Zusammenfassung der wichtigsten Indikatoren für die Abgrenzung ländlicher Räume zu städtischen Räumen wieder. Diese Indikatoren findet man vorwiegend in der Literatur der Raum- und Landschaftsplanung. Indikatoren für die Abgrenzung ländlicher Räume wären: 1. Juristisch-administrative: Rechtsstatus, Verwaltungsbeziehungen, Verkehrsverbände, Gebühren und Steuersätze, Ortsklassen, Lohntarife, kommunale Privilegien, Infrastrukturausstattung. 2. Geographisch-städtebauliche: Flächennutzung, Dichte und Geschlossenheit der Bauweise, Art der Bauweise, Geschoßzahl und Abstand der Gebäude. 3. Demographisch-soziologische: Bevölkerungszahl, Bevölkerungsdichte- und entwicklung, Geburten-, Sterbe- und Heiratsziffern, Haushaltsart und -größe, Wohndichte, Lebensstil. 4. Sozialökonomische: Berufs-, Erwerbs- und Beschäftigungsstruktur, Pendler- und Konsumbeziehungen, zwischenortliche Ferngespräche, sozialökonomische Funktion, Industriebesatz, Realsteuerkraft, Bruttoinlandsprodukte, Arbeisplatzdichte (vgl. Planck 1979, 23). In Anbetracht der Mehrdeutigkeit einzelner Indikatoren werden der Raumgliederung häufig Merkmalskombinationen zugrunde gelegt. Aber auch dies führt nicht immer zu eindeutigen Ergebnissen, weil die ‘ländlichen’ Merkmalsausprägungen mitunter schwach miteinander korrelieren (Planck 1979, 28). Diese Ausführungen lassen darauf schließen, daß Indikatoren, die für die Abgrenzung und für die Strukturierung des ländlichen Raumes verwendet werden, hauptsächlich aus den Betrachtungen der jeweiligen • Siedlungsgröße • Bevölkerungsdichte • Arbeitsplatzdichte • Agrarquote 34 • Ökonomischen und sozialpolitischen Infrastruktur herangezogen werden (vgl. Gängler 1990, 21). Aber in der Grenzziehung dessen, was als ländliche Region oder ländlicher Raum bezeichnet werden kann, gibt es Schwierigkeiten eben hinsichtlich der Abgrenzung und Strukturierung. Gängler (1990) gibt eine Problematisierung von Planck aus dem Jahre 1979 wieder: „Die Abgrenzung ländlicher Räume wird dadurch kompliziert, daß wirtschaftliche, soziale und kulturelle Raumkomponenten zu berücksichtigen sind, die Schwierigkeiten wachsen in dem Maße, wie städtische, industrielle und touristische Elemente den ländlichen Raum durchdringen und sich Misch- und Übergangsformen ausbreiten. Die Raumkonturen werden dadurch in dem Begriffspaar Land und Stadt immer undeutlicher. Man weicht deshalb auf Begriffe wie ‘Verdichtungsraum’ und ‘Erholungsraum’ aus. Dabei gewinnt der Grad der Bevölkerungsagglomeration vorrangige Bedeutung. Land kann in einer modernen Industriegesellschaft auch nicht mehr einfach mit landwirtschaftlichem Siedlungsraum identifiziert werden. Im ländlichen Raum entstehen moderne Agrarräume, Erholungräume, die strukturell so verschieden sind, daß von einer einheitlichen Gebietskategorie ‘ländlich’ keine Rede sein kann“ (Gängler 1990, 22/ Planck 1979, 28). Gerhard Henkel (1995) versucht eine Definition des ländlichen Raumes dahingehend zu finden, indem er Definitionskriterien in „innere und äußere Kriterien des ländlichen Raumes“ unterscheidet. Innere Kriterien nach Henkel (1995, 27) beschreiben den ländlichen Raum als einen von der Natur, von der Land- und Forstwirtschaft geprägten Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Zentralität der Orte, aber höherer Dichte der zwischenmenschlichen Bindungen. Im wesentlichen handelt es sich hier um sehr traditionelle Kriterien, die anscheinend trotz allfälliger Wandlungsprozesse nach wie vor gerne zur Kennzeichnung ländlicher Räume verwendet werden. Betrachtet man die äußeren Bestimmungskriterien (z.B. Siedlungsgröße, Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichten, Agrarquote, sozialpolitische und ökonomische Infrastruktur) näher erkennt man, daß es sich um die selben Indikatoren wie sie auch von Gängler (1990) verwendet werden, handelt. In der Regel wird der ländliche Raum hier mit Hilfe einer Negativdefiniton erklärt. Der ländliche Raum ergibt sich aus dem Gesamtraum eines Landes nach Abzug der Verdichtungsräume. Das bedeutet, ländliche Räume erstrecken sich auf Gebiete außerhalb der Verdichtungsräume und ihrer Randbereiche, sowie auf Gebiete außerhalb sonstiger verdichteter Räume (vgl. Henkel 1995, 27). Henkel ergänzt den Punkt der Siedlungs bzw. Gemeindegröße um die Angabe, daß man bei Einwohnerzahlen bis zu 2000 Einwohnern von Landgemeinden im engeren Sinn spricht, bei einer Einwohnerzahl zwischen 2000 - 5000 Menschen von Landgemeinden im weiteren Sinn. Das Kriterium der Arbeitsplatzdichte wird durch den Begriff der ‘Industriellen Arbeitsplätze’ 35 erweitert. Hier gilt, daß man bei 60 Industriearbeitsplätzen auf 1000 Einwohnern von einem Agrargebiet, bei 60 - 120 auf 1000 Einwohnern von Mischgebieten und bei mehr als 120 auf 1000 Einwohnern von Industrie bzw. Ballungsgebieten spricht (vgl. Henkel 1995, 27f). 3.1.1. Unterteilungs- und Typisierungsversuche ländlicher Räume Als sinnvoll erweisen sich Unterteilungen der ländlichen Regionen in Räume, die innerhalb dicht besiedelter und wirtschaftlich hoch entwickelter Regionen liegen, und weiträumige, dünnbesiedelte, wirtschaftliche zurückgebliebene, periphere Gebiete (vgl. Gatzweiler 1986, 22). Gatzweiler unterscheidet in seinem Aufsatz „ Entwicklung des ländlichen Raumes im Bundesgebiet - Probleme, Ziele und Strategien aus Raumordnungspolitischer Sicht“ (1986, 22) allgemein zwischen drei unterschiedlichen Typen von ländlichen Räumen. Es erscheint mir sehr wertvoll, diese Einteilung hier wiederzugeben, denn wenn es auch Einteilungen sind, die in Raumordnungsplänen Bundesdeutscher Orientierung abgehandelt werden, so decken sie sich in ihrer inhaltlichen Positionierung auch mit österreichischen Maßstäben. • Ländliche Räume innerhalb von Regionen mit großen Verdichtungsräumen - Zugang zu Arbeitsplatzangeboten der Verdichtungsräume ist gegeben - Infrastruktur der Verdichtungsräume steht zur Verfügung - Wohn- und Umweltbedingungen sind gut - Es besteht allerdings ein wachsender Siedlungsdruck, weil die ländliche Region im Verdichtungsraum liegt. • Ländliche Räume mit leistungsfähigen Oberzentren und vergleichsweise guten wirtschaftlichen Entwicklungsbedingungen - Leistungsfähige zentrale Orte, gute Infrastruktur und Erwerbsgrundlagen sind vorhanden - die Nähe zu den Verdichtungsräumen ist gegeben, ebenso auch landschaftliche Nutzungsmöglichkeiten. • Periphere, dünn besiedelte ländliche Gebiete abseits der wirtschaftlichen Zentren - benachteiligte Lagen, niedrige Bevölkerungsdichte, ungünstige Wirtschaftsstruktur - Standortnachteile, geringe Entwicklungsmöglichkeiten. Zusammengefaßt: - Regionen mit großen Verdichtungsräumen - Regionen mit Verdichtungsansätzen 36 - ländlich geprägte Regionen (Problemgebiete) Dünn besiedelte Gebiete, sind, bedingt durch ihre siedlungsstrukturellen Schwächen, die vor allem die wirtschaftlichen Hauptprobleme liegen im Entwicklungsprozesse nur marginalen betreffen, Vorhandensein Problemgebiete. Die außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze, im nicht Vorhandensein von ausreichenden qualitativ fordernden Arbeitsplätzen und in unbefriedigenden Ausbildungsmöglichkeiten und Anforderungen, sowie in den unbefriedigenden Verdienstmöglichkeiten (vgl. Gatzweiler 1986, 25). Unzureichende Erwerbsmöglichkeiten ‘zwingen’ mehr oder weniger, zur Abwanderung. „Seit Jahrhunderten, weisen diese ländlichen Regionen die größten Wanderungsverluste an jungen Menschen auf. Meist handelt es sich um gut ausgebildete und aufstiegsorientierte Arbeitskräfte“ (Gatzweiler 1986, 27). Gängler (1990) stellt zwei Abgrenzungskriterien für ländliche Regionen zur Diskussion. Er unterscheidet ländliche Regionen in ihre (a): siedlungsstrukturelle Typologie und (b): wirtschaftsstrukturelle Typologie. Wobei unter (a) die Einteilung Gatzweilers aufgegriffen wird. In dieser Typologie werden ländliche Gebiete ganz allgemein als dem ‘Ballungsgebiet abgewandte’ Räume begriffen. Es geht hier um eine Abgrenzung zu großstädtischen Ballungsgebieten, wobei der ländliche Raum in ländliche Regionen mit Verdichtungsansätzen und dünnbesiedelte Räume oder größere Mittelzentren unterteilt wird (vgl. Gatzweiler 1986, 27/Gängler 1990, 22). Unter (b) werden drei ländliche Raumtypen nach dem jewiligen wirtschaftlichen Entwicklungsstand unterschieden: 1. ländliche Räume ohne besondere Strukturschwächen [viele moderne Klein- und Mittelbetriebe, überdurchschnittliche infrastrukturelle Versorgung] 2. ländliche Räume mit einer alten Industrietradition [heute in Strukturkrisen] 3. Agrarisch geprägte ländliche Räume mit erheblichen Mängeln an Erwerbsstrukturen [wenig industrielle Arbeitsplätze oder nur konjunkturabhängige Zweigbetriebe] (vgl. Gängler 1990, 22f.) In der raumplanerischen Einteilung des ländlichen Raumes ist das Konzept der „funktionsräumlichen Aufteilung“ sehr verbreitet. Jedoch erscheint dieses Einteilungskonzept für die weiter Verwendung als nicht sehr hilfreich. Sind doch gerade agrarische Funktionen gegenwärtig immer weniger von ökologischen Funktionen und Erhohlungsfunktionen immer weniger von Wohnfunktionen zu trennen. Folgt man dieser Einteilung, gelangt man zu nachstehender Unterteilung der ländlichen Räume: 1. Räume mit agrarischer Funktion 2. Räume mit Wohn und Siedlungsfunktion 37 3. Räume mit Erholungs- und Fremdenverkehrsfunktion 4. Räume mit ökologischer Funktion (vgl. Gängler 1990,22f.). 3.2. Ländliche Region - Steiermark Bei der Betrachtung der Steiermark mit ihren 17 Bezirken erkennt man einen relativ stark ausgeprägten ländlich strukturierten Charakter des Bundeslandes. Wird die Steiermark nach den siedlungs- und wirtschaftsstrukturellen Kriterien analysiert, ergeben sich zwei Regionen mit sehr großer Ähnlichkeit im Hinblick auf ihre Bevölkerungs- und Sozialstruktur. Die zwei großen Gruppen der steirischen Bezirke, die sich voneinander vor allem im Hinblick auf den Verstädterungsgrad, den Landwirtschaftsanteil und die Bevölkerungsdynamik unterscheiden, sind die im Nordwesten sowie die im Süden und im Südosten der Steiermark gelegenen Bezirke. In diesen Bezirken leben etwa 80 bis 90% der Bevölkerung in kleineren Gemeinden, was auf eine extrem starke ländlich geprägte Struktur der Bezirke hinweist. In den obersteirischen Bezirken der Mur - Mürzfurche sowie im Bezirk Voitsberg leben durchwegs über 40% der Bevölkerung zumindest in mittelgroßen Gemeinden bzw. Städten ab 5.000 Einwohnern. Graz selbst ist noch einmal von den obersteirischen Bezirken abgehoben. Aufgrund dieser und anderer Kriterien kann man die Steiermark in vier große Makrobereiche einteilen, die sowohl intern homogen strukturiert als auch untereinander eng verflochten sind (vgl.Haller/Höllinger 1994, 52f.). 3.2.1. Unterteilung der Steiermark • - „Inneralpine Bezirke“: Unter diesen Begriff fallen die Bezirke Liezen und Murau. Mit 114.000 Einwohnern lebt fast ein Zehntel der steirischen Wohnbevölkerung in dieser Region. Neben einem hohen Erwerbsanteil in der Land- und Forstwirtschaft ist für diese Region auch der Tourismus von hoher Bedeutung. • - „Alte Industriegebiete der West- und Obersteiermark“: Diese Region umfaßt die Bezirke Judenburg, Knittelfeld, Leoben, Bruck, Mürzzuschlag sowie Voitsberg. Kennzeichnend für diese Regionen ist der hohe Anteil an Erwerbstätigen in den heimischen Industriebetrieben wobei die Werte bis zu über 50% reichen. Krisen in diesem Erwerbssektor lassen auch die Zahl der Arbeitslosen steigen. So weist bspw. der Bezirk Leoben immer wieder eine äußerst kritische Beschäftigungssituation auf. 38 • - „Großraum Graz“: Diese Region, gebildet aus der Landeshauptstadt Graz und dem Bezirk Graz-Umgebung, ist mit Abstand die dynamischste der steirischen Regionen. Charakteristisch ist das Bevölkerungswachstum im Bezirk, bzw. in den Gemeinden rund um die Landeshauptstadt Graz. • - „Süd- und Südoststeirische Randgebiete“: Diese Region zählt zu den flächen- wie auch einwohnermäßig größten Gebieten der Steiermark. 395.000 Einwohner, somit gut ein Drittel der steirischen Bevölkerung, leben in den Bezirken Leibnitz, Radkersburg, Feldbach, Fürstenfeld, Hartberg, Weiz und Deutschlandsberg. Die Bezeichnung als Randgebiet ist deswegen zutreffend, weil bedingt durch die Lage der Bezirke entweder die Staatsgrenze oder die Grenze zu einem anderen Bundesland an ihrem Rand verläuft. Im übertragenen Sinn kann die Bezeichnung „Randgebiet“ auch auf die klar erkennbare Verlangsamung der wirtschaftlichen Entwicklungsdynamik übertragen werden. Die Hauptproduktions- und Erwerbsbereiche liegen hier vorwiegend im Bereich der Land- und Forstwirtschaft. So stellen die Bezirke Radkersburg und Feldbach mit rund 30% der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft den höchsten Anteil der Beschäftigten in diesem Erwerbsbereich. Die Region bildet, nach Regionen in Ober - und Niederösterreich, den zweitgrößten ländlichen Siedlungsraum Österreichs. Am wenigsten Randlage weisen die direkt an den Bezirk Graz - Umgebung angrenzenden bzw. durch infrastrukturelle Anbindungen begünstigten Bezirke Weiz und Hartberg im Osten und Leibnitz sowie Teile Deutschlandsbergs im Süden auf. Sie sind von günstigeren Werten in der Beschäftigungsund Einkommenssituation geprägt. Diese Begünstigung resultiert vor allem aus der Tatsache, daß der Ballungsraum Graz zum einen über öffentliche Verkehrsmittel [Bahn] und zum anderen durch den direkten Autobahnanschluß erreichbar ist (vgl. Haller/Höllinger 1994, 53f.). Abgesehen davon ist in einigen Teilen des Raumes trotz der agrarischen Prägung auch der gewerblich - industrielle Sektor von überraschend großer Bedeutung. So weisen insbesondere die Bezirke Weiz, Fürstenfeld und Deutschlandsberg eine stärkere industrielle Prägung auf. Diese Randgebiete verzeichneten in den letzten Jahren eine starke Gründungsdynamik, aber auch hohe Stillegungsraten. Im allgemeinen ist die Situation in diesen Gebieten aber besser als in anderen Grenzlandregionen Österreichs (vgl. Institut für Regionalentwicklung, Technologiepolitik und Grenzlandfragen 1994, 1). Zusammenfassung Faßt man die Struktur der Steiermark, aufgrund der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung zusammen, kommt man nach der von Gängler (1990, 22) vorgeschlagenen Einteilung der ländlichen Regionen auf eine Straffung der vier steirischen Regionen in drei Raumtypen: 39 1. Ländliche Regionen ohne ‘Strukturschwächen’ mit einer Vielzahl moderner Klein- und Mittelbetriebe und einer überdurchschnittlichen infrastrukturellen Versorgung [Leibnitzer Feld, Grazer Becken]. 2. Altindustrielle ländliche Räume, die heute von Strukturkrisen gekennzeichnet sind. Sie weisen einen hohen Anteil an Industriearbeitsplätzen auf, die meist aber nur Anlernberufe benötigen. Das Ausbildungsangebot ist eingeschränkt [Mur - Mürzfurche]. 3. Agrarisch geprägt ländliche Räume mit erheblichen Lücken in der Erwerbsstruktur, in denen die Chancen der Jugendlichen, den gewünschten Arbeitsplatz zu finden, sehr gering sind. Es gibt in diesen Regionen wenig industrielle Arbeitsplätze und diese meist nur in konjunkturabhängigen Zweigbetrieben. Die Ausbildung wird deshalb hauptsächlich von den kleinen gewerblichen und handwerklichen Betrieben getragen, die weit über den Bedarf ausbilden [Teile der West- und Südoststeiermark]. Diese verhältnismäßig grobe Einteilung vervollständigt sich erst, wenn wir auch innerhalb dieser Region differenzieren, daß heißt zwischen: - ländlichen Räumen, die in den Entwicklungsachsen liegen [Leibnitzer Raum]. - ländlichen Räumen, die im Sinne der funktionalräumlichen Arbeitsteilung den Entwicklungsachsen zugewandt sind d.h. Räume, die gute Anschlüsse zu Verkehrswegen bieten [St.Veit am Vogau im Bezirk Leibnitz]. - ländlichen Räumen, welche den Entwicklungsachsen abgewandt sind, periphere Dörfer. [Sicheldorf, Gemeinde Radkersburg Umgebung] (Haller/Höllinger 1994, 53f). 40 3.2.1.1. Indikatoren für die ländliche Prägung einer Region am Beispiel des Bezirkes Radkersburg Der Grad der ländlich - kleinstädtischen Prägung einer Region kann bspw. daran gemessen werden, daß die Geburtenrate in kleinen Gemeinden und bei Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft höher ist als in größeren Gemeinden mit heterogener Erwerbsstruktur. Zum einen werden dafür sowohl materielle Umstände als auch die Verfügbarkeit über mehr Wohnraum und Spielmöglichkeiten für Kinder angegeben. Darüber hinaus sind soziale und kulturelle Faktoren, stärkere soziale Kontrolle in überschaubaren kleinen Ortsnetzen und die stärkere Einbindung der ländlichen Bevölkerung in traditionelle und religiöse Werte und Normen anzuführen. In stark ländlichen Regionen ist zwar eine hohe Geburtenrate, gleichzeitig aber auch eine höhere Abwanderungsrate zu erwarten, weil das Tempo des wirtschafts- und berufsstrukturellen Wandels gemächlicher ist, somit die Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht den Anforderungen - vor allem der jungen Generationen - entspricht. Politischer Bezirk / Gemeinden Veränderungen der Wohnbevölkerung: 1981 - 1991 insgesamt durch durch Geburten- Wanderungs bilanz bilanz in % in % in % -3.4% -1.8% -1.6% 5.0% -27.6% 32.6% -12.9% 4.6% -17.5% Deutsch Goritz -2.6% 0.7% -3.4% Dietersdorf am Gnasbach -5.6% 7.0% -12.6% Eichfeld -6.7% -1.7% -5.1% Gosdorf 0.9% 0.7% 0.2% Halbenrain -1.5% -1.0% -0.5% Hof bei Straden -6.1% 0.3% -6.5% Klöch -3.8% 1.5% -5.3% Mettersdorf am Saßbach -3.9% 2.9% -6.8% Mureck -8.8% -4.3% -4.5% Murfeld -1.9% -1.7% -0.2% Radkersburg Bad Radkersburg Bierbaum am Auersbach 41 Radkersburg Umgebung 42 -5.8% -1.8% -3.9% Politischer Bezirk / Gemeinden Veränderungen der Wohnbevölkerung: 1981 - 1991 insgesamt durch durch Geburten- Wanderungs bilanz bilanz in % in % in % Ratschendorf -0.7% 2.3% -3.1% St. Peter am Ottersbach -5.7% 0.4% -6.1% Straden 0.5% 2.2% -1.7% Tieschen -6.7% -0.5% -6.1% Trössing -10.6% 4.9% -15.5% 0.5% 1.5% -1.0% Weinburg am Saßbach (vgl. Haller/Höllinger; 1994/Bd.2; Tabelle A1: Wohnbevölkerung 1961, 1981, 1991 in den Gemeinden). Ein weiteres Kennzeichen ist die Zentralität der geographischen Lage, womit gemeint ist, ob sich eine Region in einem sehr dicht besiedelten Gebiet befindet oder eben weit abgelegen von dichtbesiedelten Zentren bzw. dahin führenden Verkehrswegen ist. Kleine Gemeinden am Rande der Großstadt müssen ganz andere Strukturen aufweisen als Gemeinden in äußerst peripheren Regionen. Je peripherer eine Region, desto eher bilden sich Kriterien wie soziale Kontrolle und dergleichen heraus. Nach diesen Kriterien bildet z.B. der Bezirk Radkersburg eindeutig eine „periphere Region“ der Steiermark. Die wirtschaftliche Dynamik der Region, Ausmaß und Tempo der Industrialisierung und Tertiarisierung, das Beschäftigungsniveau, das Wirtschaftswachstum und Einkommensniveau bestimmen die unterschiedlichen Regionen. Je stärker diese sind, desto eher ist eine Region in der Lage, Einwohner anzuziehen. Da diese Regionen häufig städtisch bzw. großstädtische Agglomerationen darstellen, ist allerdings zumeist eine stagnierende oder negative Geburtenbilanz zu verzeichnen. Neben diesen Faktoren sind zur Bestimmung einer Region auch historischkulturelle Faktoren, welche eine Region schon seit Generationen beeinflussen, ausschlaggebend für die innere Dynamik. Hierzu gehören z.B. die vorherrschenden Formen der Ehe und des Familienlebens, die Fertilität, aber auch die spezifisch religiös - kulturellen Traditionen. In diesem Zusammenhang zeigen sich wesentliche, historisch bedingte Unterschiede zwischen der Ober- und Südsteiermark. Diese sind z.B. hauptsächlich in der unterschiedlichen, historisch begründeten Strukturierung der Landwirtschaft aber auch des 43 Religionsbekenntnisses zu finden. Während in der Obersteiermark immer landwirtschaftliche Großbetriebe vorherrschten, waren es in der Südsteiermark vor allem Klein- und Kleinstbetriebe. War die Obersteiermark durch den Protestantismus mit der jeweiligen individualisierten Sozialethik geprägt, so war es im Süden der Steiermark der Katholizismus (vgl. Haller/Höllinger 1994, 58f). Daraus ergeben sich unterschiedliche Formen des Zusammenlebens, die sich in traditionellen Verhaltens- und Handlungsmustern noch jetzt zeigen. 44 3.2.1.2. Der Bezirk Radkersburg - das südoststeirische Randgebiet Der Bezirk Radkersburg gehört zur Region des süd- südoststeirischen Randgebietes. Radkersburg ist ein Bezirk, der - ähnlich jenen Bezirken im Nordwesten der Steiermark dadurch geprägt ist, daß ein Großteil (80-90%) der Bevölkerung in kleinstrukturierten Gemeinden lebt. Insgesamt setzt sich der politische Bezirk Radkersburg aus 19 Gemeinden zusammen. Politischer Bezirk - Gemeinden Wohnbevölkerung 1991 1981 1961 24.799 25.671 25.803 1.938 1.845 2.040 528 606 465 1.365 1.402 1.526 Dietersdorf am Gnasbach 406 430 390 Eichfeld 995 1.067 1.090 Gosdorf 1.279 1.268 1.247 Halbenrain 1.946 1.975 2.039 886 944 1.088 Klöch 1.318 1.370 1.453 Mettersdorf am Saßbach 1.397 1.454 1.248 Mureck 1.585 1.737 1.890 Murfeld 1.695 1.727 1.731 Radkersburg Umgebung 1.793 1.903 1.802 679 684 673 St.Peter am Ottersbach 2.477 2.626 2.567 Straden 1.700 1.691 1.676 Tieschen 1.381 1.480 1.478 Trössing 311 384 268 1.120 1.114 1.132 Radkersburg Bad Radkersburg Bierbaum am Auersbach Deutsch Goritz Hof bei Straden Ratschendorf Weinburg am Saßbach ( vgl. Haller/Höllinger, 1994, Bd.2; Tabelle A1: Wohnbevölkerung 1961,1981,1991 in den Gemeinden). Im Vergleich dazu leben in den obersteirischen Bezirken der Mur - Mürzfurche und dem Bezirk Voitsberg immerhin rund 40% der Bevölkerung zumindest in mittelgroßen Gemeinden bzw. Städten ab 5.000 Einwohnern. Der südöstlichste Bezirk der Steiermark ist 45 Radkersburg. Er ist ein durch eine ausgeprägte Randlage gekennzeichneter Bezirk und erfüllt eine unmittelbare Grenzfunktion zu Ungarn und Slovenien. Überdies ist er durch die Distanz zu den wirtschaftlichen Zentren des Westens- und Nordens Österreichs geprägt (vgl.Haller/Höllinger 1994, 56). Die Grenzfunktion zu Ungarn und Slovenien müßte allerdings nicht mehr als Nachteil gesehen werden, denn seit dem Umbruch im Osten und dem dadurch nähergerückten südosteuropäischen Raum haben sich sicherlich Chancen für die Region ergeben, die als positiv zu bewerten sind. So kann die verstärkte Orientierung, vor allem in den slovenischen Raum hinein, kleinregional als Impuls vor allem für Gewerbe- und Industriebereiche des Bezirkes gesehen werden: z.B. Anhängen Sloveniens am steirischen Radwegkonzept, grenzüberschreitende Kultur- und Kunstveranstaltungen u.a. (vgl. Institut für Regionalentwicklung, Technologiepolitik und Grenzlandfragen 1994, 1). Tatsache ist aber, daß der Bezirk nach wie vor zu den sturkturschwächsten Regionen der Steiermark zählt. Radkersburg und auch Feldbach weisen mit 30% die höchste Erwerbsquote in der Land- und Forstwirtschaft auf. Deshalb ist die Abhängigkeit von der Landwirtschaft und den Agrarstrukturen in weiten Bereichen extrem hoch. Infolge des EU -Beitritts und der Ostöffnung ist aber in diesem Erwerbszweig ein sich noch verstärkender Strukturwandel zu erwarten, womit der ohnehin nicht wirklich aufnahmefähige Arbeitsmarkt weiter belastet wird. So ist vor allem der Dienstleistungssektor in seiner Aufnahmefähigkeit sehr eingeschränkt und zeichnet sich darüber hinaus durch eine geringe Branchenvielfalt aus, was wiederum die Lehrlinge vor große Probleme stellt. Die Lehrlinge insgesamt, vor allem aber die weiblichen Geschlechts, sind auf einige wenige traditionelle Branchen angewiesen. Um aus einem größeren Lehrstellenangebot schöpfen zu können, bzw. um überhaupt eine Lehrstelle zu erhalten, ist es notwendig in den Zentralraum Graz zu pendeln. Dabei wird das geringe Angebot, gekoppelt mit unter dem Durchschnittseinkommen liegenden Verdiensten im Dienstleistungsbereich und durch die geringe Nachfrage nach Unternehmensdiensten verstärkt. Die für die weitere wirtschaftliche Entwicklung immer wichtiger werdenden produzentennahen Dienstleistungen sind stark unterrepräsentiert. Für viele Arbeitnehmer außerhalb der Land- und Forstwirtschaft bleibt aus diesen Gründen häufig nur die Möglichkeit des Pendelns. In der Region des steirischen Randgebietes sind es vorwiegend die mobileren männlichen Arbeitskräfte, die auf dem Weg zur Arbeit ihren Bezirk verlassen, um nach Graz zu pendeln. Der Mangel an Arbeitsplätzen in der Region schlug sich lange Zeit nicht in den Arbeitslosenraten nieder, sondern vielmehr in einer engen Verflechtung des regionalen Arbeitsmarktes mit den Zentralräumen Graz und auch Wien: Mehr als 30% der wohnhaften Beschäftigten müssen auf dem Weg zur Arbeit ihren Wohnbezirk verlassen, bis zu 70% davon pendeln über weite Distanzen in die Zentralräume (vgl. Institut für Regionalentwicklung, Technologiepolitik und Grenzlandfragen 1994, 2). Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann die 46 Landeshauptstadt Graz von der Bezirksstadt Radkersburg aus nur mit einem Fahraufwand von 1 ½bis 2 ½Stunden [Unterschied zwischen Bus/Bahn] erreicht werden; mit einem eigenen Fahrzeug ist der Autobahnanschluß der A9 in Richtung Graz, erst nach rund 40 Minuten Fahrzeit erreichbar. Bedenkt man dies, werden die Belastungen der Tagespendler abschätzbar, vor allem der Verlust an freier Zeit durch den Fahraufwand. Im Jahr 1981 gab es in der Region Süd- Südoststeiermark einen Überhang von rund 40.000 Beschäftigten, welche nicht in der Region arbeiteten (vgl. Haller/Höllinger 1994, 69). Deshalb ist es notwendig, Aspekte der Wirtschaftspolitik, der Verkehrs- und Mobilitätspolitik auch unter soziale Betrachtungswinkel zu setzen. Eine der wesentlichen regionalpolitischen Aufgaben des Bezirkes wird es sein, gezielte Siedlungsentwicklungen und lokales Engagement anstelle unkontrollierte Zentralisierungen und Mobilitätsforderungen zu unterstützen. Zwar ist unumstritten, daß die Förderung der individuellen Mobilitätsbereitschaft der Bewohner ein zentrales Ziel der Wirtschafts- und Regionalpolitik sein muß, weil in dieser Mobilitätsbereitschaft ein Garant für qualitativ höhere Ausbildungen und Berufschancen liegt, trotzdem aber darf eine undifferenzierte Unterstützung der beruflich - geographischen Mobilität nicht das primäre gesellschafts- und regionalpolitische Ziel sein (vgl. Haller/Höllinger 1994, 66). Es muß daher eine Umkehr der dominanten Formen der Mobilitätspolitik stattfinden. Nicht die Abwanderung aus den kleinen und mittleren Orten und das Auswandern in große, zentrale Gebiete ist das Ziel einer aktuellen Regionalpolitik, sondern die Ermutigung und Förderung des engagierten Verbleibens in den Orten der Region. „Engagiert sein bedeutet, daß diese Orte nicht bloß Schlaf- und Wohnorte sind, sondern auch am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben Beteiligungen ermöglichen“ (Haller/Höllinger 1994, 68). Die Wahrnehmung des Bezirkes tendiert aber eher in die Richtung, daß der Bezirk mit einer zunehmenden Verdünnung der impulsbringenden Strukturen in der Region zu rechnen hat: Diese Annahme stützt sich vor allem darauf, daß junge Menschen, mit höheren Qualifikationen einem erhöhten Druck der Abwanderung ausgesetzt sind, daß durch die Branchenkleinheit, die Einkommensituation und die Aufstiegsmöglichkeiten vor Ort das erworbene Anspruchsniveau vielfach nicht erfüllt werden kann. Das heißt, daß die Absprungbereitschaft vor allem jugendlicher Arbeitnehmer aufgrund der geschilderten Strukturen als hoch angesehen werden kann. Es läßt sich also vermuten, daß der Bezirk in verstärkter Weise durch die ‘typischen Probleme’ ländlicher Regionen gekennzeichnet ist, die hauptsächlich in folgenden Bereichen anzusiedeln sind: „Arbeitsplätze, Dienste und Einrichtungen sind nicht ubiquitär im ländlichen Raum verteilt, sondern in Beibehaltung traditioneller Standorte in zentralen Orten bzw. Industriesiedlungen konzentriert. Durch die Umstrukturierung der Arbeitsplatzsituation in der Landwirtschaft, die mangelnde Möglichkeit der Abdeckung im sekundären und tertiären Bereich, wird das 47 Arbeitsplatzdefizit des ländlichen Raumes in Zukunft noch größer werden. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem, nämlich die hohe Zeit - Kosten - und Mühebelastungen der Bewohner für die Befriedigung sämtlicher Grunddaseinsfunktionen, unter denen Arbeit, Bildung, Konsum und Dienstleistungen aller Art hervorzuheben sind. Genauso wie die Pendelwege im Durchschnitt länger werden, gilt dies auch für die Bildungs- und Versorgungswege für Konsumgüter und Dienstleistungen [Zentralisierungstendenzen]“ (Kirlinger 1986, 3). Die österreichische Raumordnungskonferenz [ÖROK] hat im Jahr 1981 18 Ziele für den ländlichen Raum formuliert, in denen es darum geht, die dringlichsten Probleme der ländlichen Regionen darzustellen, um daraus etwaige Handlungskonsequenzen, für die einzelnen Regionen zu entwickeln. Diese gesteckten Ziele betreffen vor allem die Problemkreise Bevölkerungsabnahme, Arbeitsplätze, Zersiedelung, unausgewogene Einkommensentwicklung in der Land- und Forstwirtschaft, fehlende Infrastruktur und dgl. „Das wichtigste Ziel für den ländlichen Raum ist sicherlich das Ziel [1] ‘Im ländlichen Raum soll eine Bevölkerungsabnahme soweit wie mögliche vermieden werden’. Starke Bevölkerungsverluste beeinträchtigen die Wirtschaftskraft und die Versorgung der verbleibenden Bevölkerung mit den notwendigen Dienstleistungen und Gütern. Dies führt zu einer weiteren Verstärkung der Abwanderung“ (Kirlinger 1986, 6f). Dieser Zielformulierung ist wenig entgegensetzen, vor allem hinsichtlich der Situation des Bezirkes Radkersburg. Die gesamte Großregion der süd- und südoststeirischen Randgebiete, bietet nach Haller/Höllinger (1994, 56f) hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung allerdings ein differenziertes Bild. Gemeinsam ist den Bezirken nämlich eine stark positive Geburtenbilanz, aber eine negative Wanderungsbilanz. Besonders die gut an das Autobahnnetz angebundenen Bezirke Hartberg, Feldbach und Leibnitz, können in den vergangenen Jahrzehnten ein trotz der Abwanderung überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum verzeichnen. Vielleicht hängt die positive Bevölkerungsentwicklung auch mit den relativ traditionellen Familien- und Sozialstrukturen zusammen. Man könnte sogar vermuten, daß diese Region trotz der schlechten wirtschaftlichen Situation hinsichtlich der sozialen Lebensqualität keine Randlage einnimmt. So hat bspw. der Bezirk Radkersburg trotz seiner zurückgebliebenen, wenig dynamischen, stagnierenden wirtschaftlichen Situation in den 80er Jahren zwar eine Bevölkerungsabnahme zu verzeichnen, trotz alledem aber eine relativ geringe. Dies läßt eventuell den Schluß auf ein niedriges Niveau des ‘sozialen Stresses’ und auf eine hohe Heimatverbundenheit der Bewohner zu (Haller/Höllinger 1994, 57). Es kann aber kaum genügen, ländliche Regionen nur nach Kriterien der Einteilung wie sie Gängler (1990), Gatzweiler (1986) und Haller (1994) vorgeben, zu erfassen. Die spezifische Beschreibung muß durch jene des ländlichen Sozialgeschehens maßgeblich ergänzt 48 werden. Schließlich läßt sich bereits erahnen, daß auch die unterschiedlichen Kriterien, wie sie in den raumordnungspolitischen Aspekten angesprochen wurden, einen erheblichen Einfluß auf das soziale Geschehen und das Leben der Menschen in den Regionen haben werden. 49 3.3. Begriffsdefinition: Ländliche Räume - Regionen als Lebenswelten Wenn das Sozialgeschehen der Regionen erfaßt werden soll, ist es hilfreich, von ländlichen Lebenswelten zu sprechen. In der Auseinandersetzung mit den Menschen, den Bewohnern der Regionen ist es unumgänglich; „...Regionen als `Lebenswelten´ zu begreifen, die nicht ausschließlich aus einer ökonomisch determinierten Stellung im Arbeitsprozeß abgeleitet werden können. Als Bestimmungsmerkmal dieser Umwelt müssen ebenso soziale und kulturelle Merkmale der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung herangezogen werden“ (vgl. Gängler 1990, 23). Daher muß bei einer Auseinandersetzung mit ländlichen Räumen auch von diesen als Lebenswelt gesprochen werden. Lebenswelt bezeichnet die alltägliche Wirklichkeitserfahrung eines verläßlichen, soziale Sicherheit und Erwartbarkeit bietenden, primären Handlungszusammenhangs. Es geht um soziale Zusammenhänge, die die Grundlage sozialer Handlungen darstellen. Soziale sinnvolle Handlungen, die immer die Interaktion brauchen, können nämlich nur in einem System funktionieren, welches intersubjektive Deutungen, Unterstellungen und Nachvollziehbarkeit von gemeinsamen Symbolen erlaubt. Symbole wären demnach Bedeutungsinhalte, die von jedem Interaktionsteilnehmer gleich interpretiert werden. Lebenswelt ist der Rahmen, in dem sich soziale Integration vollzieht. Man kann drei strukturelle Komponenten der Lebenswelt unterscheiden: • „ Sie enthält den kulturellen Wissensvorrat der Wert- und Deutungsmuster als gemeinsame Wissensbasis zur Bewältigung der Alltagsbasis. • Sie stiftet den Hintergrund des Sozialisationsprozesses, der den einzelnen für die realtiätsgerechte Teilnahme an der Interaktion befähigt, d.h. Lebenswelten stiften personale Identität. • Sie stiftet und regelt durch einen Grundbestand fraglos anerkannter Normen soziale Ordnung und interpersonale Beziehungen“ (Fachlexikon der Sozialen Arbeit 1993, 614f). Daraus läßt sich das Ergebnis ableiten, daß wir, wollen wir Menschen in ihrem Handeln verstehen, sie immer im Zusammenhang mit ihrer Lebenswelt betrachten müssen. Leicht könnte der Eindruck entstehen, daß die Lebenswelt ein festes Gefüge ist, welches dem Menschen starre Grenzen setzt und ihn in seiner Entwicklung determiniert. Man geht jedoch davon aus, daß sich die Lebenswelt aus dem Handeln der Menschen konstituiert, somit permanent produziert, reproduziert und verändert. Um den Menschen als Ganzes wahrnehmen zu können, müssen wir einerseits seine Lebenswelt betrachten, andererseits 50 ihn selbst in seiner Eigenart und Fähigkeit sehen, diese Lebenswelt in sozialen Interaktionen zu konstituieren. Darüber hinaus sind die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse zu berücksichtigen, die auf die Lebenswelt Einfluß nehmen. Wenn es also darum geht, ländliche Lebenswelten, so wie sie sich jetzt gestalten, zu begreifen, muß auch ein Bezug darauf hergestellt werden, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert haben, um tradiertes Wissen [Werte, Deutungsmuster, Normen..] offenzulegen, welches eine zentrale Bedeutung für die Alltagsbewältigung besitzt (vgl. Löffler 1996, 16f). 3.3.1.: Kennzeichen ländlicher Lebenswelten Der traditionellen Sichtweise folgend kann man davon ausgehen, daß sich ländliche Räume mit ihren kleinstrukturierten, übersichtlichen Siedlungsformen durch eine relativ einfache soziale Ordnung auszeichnen. Davon ausgehend hat Planck in seiner „Einführung in die Land- und Agrarsoziologie“ (1979) spezifische Merkmalsgruppen ‘einfacher Gesellschaften’ wiedergeben, wozu seinen Kriterien zufolge zweifellos ‘ländliche soziale Mitwelten’ zu zählen sind. Dem lassen sich ländliche Lebenswelten folgendermaßen beschreiben: − wenig Spezialisierung und Arbeitsteilung − stark ausgeprägte Verwandschaftsbeziehungen − Autoritäts- und Statusunterschiede auf Grund des Alters, des Geschlechts und der Herkunft − geringe soziale Schichtung und soziale Mobilität − starke Solidarität und symbolische Ortsbezogenheit − wenig Außenkontakte und Abweisung von Fremdem − die Festhaltung an traditionellen Werten und überkommenen Verhaltensmustern − Verhaltensorientierungen mehr an örtlichen Sitten und Bräuchen als an formalen Gesetzen − eine unbürokratische Verwaltung − eine strenge soziale Kontrolle der Handlungen und Äußerungen − vorwiegend primäre, informelle Gruppen und − die Gleichförmigkeit des Lebensstils (vgl. Planck 1979, 54). Wenn auch einige dieser Kriterien stark pauschalierend und überzeichnet erscheinen, haben sie auch gegenwärtig noch eine Berechtigung. Gerade durch Aufbruchs-, Wandlungs- und Modernisierungstendenzen ländlicher Räume können diese Zuschreibungen wieder an Bedeutung gewinnen. 51 Die Lebenswelten ländlicher Räume können aber heute kaum mehr nur in Kategorien traditioneller, dörflicher Sozialwelten allein beschrieben werden. Die gegenwärtige - moderne - Lebenswelt des ländlichen Raumes, ist wesentlich davon bestimmt wie der Raum im Zuge der urban - industriellen Modernisierung ‘aufgegangen’ ist (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 112). Dieser Begriff meint eine „Gestaltveränderung“, d.h. die Durchmischung des Raumes mit urban - industriellen Einflüssen und seiner daraus resultierenden Gestalt. Im Zuge der „Urbanisierung“ ist die Stadt zunehmend in das Land hineingewachsen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch die ländliche Region durch den Prozeß der Modernisierung tiefgreifend umgestaltet worden (vgl. Stein 1991, 18). In verstärktem Maß wurden und werden städtische Lebensmuster, Verhaltensmuster und Wertorientierungen auf ländliche Regionen übertragen (vgl. Lenz 1994, 31). Aber daraus läßt sich nicht gleich folgern, daß das Land in seinem ‘Eigen-Sinn’ vollständig im städtischen aufgegangen ist. Neben einer mehr oder weniger auch durchlässigen Modernisierung des ländlichen Raumes zeigt sich, daß auf dem Land Traditionelles neben Modernem ständig gegenwärtig ist (vgl. Stein 1991, 19). Teilweise sind gegenwärtige ländliche Alltagsstrukturen noch jenen Strukturen ähnlich, die wirkten als das Land noch im Einklang mit der landwirtschaftlich ökonomischen Basis und den adäquaten soziokulturellen Elementen stand, obwohl heute weitestgehend ein gänzlich anderes ökonomisches Fundament herrscht. So sind beispielsweise traditionelle Sinnstrukturen in ländlichen Regionen nicht einfach abgelöst worden, sondern teilweise lediglich überlagert. „Die Landbewohner übernehmen zwar zahlreiche urbane Elemente, diese werden aber in diesem besonderen Sozialgebilde vielfach nur umgeformt“ (Lenz 1994, 131). Böhnisch (1989), spricht in diesem Zusammenhang von einem „Amalgam“ aus Tradition und Moderne, das zu einer spezifischen Inkonsistenz der ländlichen Wert- und Sinnstrukturen innerhalb einer dominanten Moderne führt (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 112). Stein (1991, 19) spricht von einem Verhältnis der ‘Ungleichzeitigkeit’ zwischen traditionellen Verhaltens- und Interpretationsmustern und modernen Segmenten. Der Begriff der ‘Ungleichzeitigkeit’ spiegelt in diesem Verwendungsrahmen eine Adaption des Bloch’schen Paradigma’s der Ungleichzeitigkeit wider, welches besagt, daß das moderne Leben des Landes ein Problem der widersprüchlichen Koexistenz von entfalteten kapitalistischen und mitgeschleppten vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen und Ideologien ist. Der ideologische Überbau des Landes wälzt sich wesentlich langsamer um als der Unterbau der technisch ökonomischen Modernisierung (Böhnisch/Funk 1989, 52). Diese Ungleichzeitigkeit oder das Amalgam aus Tradition und Moderne zeigen sich vor allem in ihren Auswirkungen auf die Kommunikationsgemeinschaft des ländlichen Raumes, und auf die Lebenslagen der 52 Individuen in den Spannungsbögen einer Ambivalenz und Überforderung durch die hegemoniale urbane Kultur (vgl. Rudolph 1995, 14). Generell bringt der ländliche Raum als Lebenswelt für seine Bewohner Chancen und Eingrenzungen mit sich. Die Lebensbedingungen sind gekennzeichnet von Möglichkeiten der Infrastruktur, dem Freizeitverhalten, der Ausbildungs- und Berufsorientierung, der Bleibeorientierungen und geschlechtsspezifischen Problemen. Ländliche Lebenswelten eröffnen für Männer und Frauen unterschiedliche Möglichkeiten der Verwirklichung von Lebensmustern. In der Diskussion bezüglich des Umbruchs und der Modernisierung müssen deren gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Aspekte der Veränderung betrachtet werden. Veränderungen im Zuge der Modernisierung zeigen sich vor allem als: • Veränderungen der Dorfstruktur • Veränderungen der traditionell von der Landwirtschaft geprägten TagesJahresabläufe • Veränderungen der Kommunikationsbeziehungen • Veränderungen der Zusammensetzung der Dorfbewohner [altes/neues Dorf mit seinen Pendlern] • Veränderungen im Freizeitverhalten, zunehmend städtisch - kulturelle Orientierung in der Freizeit (vgl.Rudolph 1995, 16). Alle diese angesprochenen Veränderungen zeichnen sich dadurch aus, daß, wie bereits vielfach erwähnt, traditionelle Sinnstrukturen, ländliche Normwelten weitgehend ‘überformt’, ‘überlagert’ und teilweise auch ‘ausgehöhlt’ werden, wobei Aushöhlung in diesem Zusammenhang die ‘Disfunktionalität traditioneller Integrationsmuster’ bedeutet, Überformung ein ‘Amalgam moderner, traditioneller Integrationsformen’, Überlagerung die ‘Relativierung der dörflichen Orientierung durch eine dorfübergreifende Regionalorientierung’ (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 206). Diese Entwicklungsprozesse werden allgemein unter dem Begriff der Modernisierung zusammengefaßt. Bevor nun auf einige Spezifika gegenwärtiger ländlicher Lebenswelten eingegangen werden soll, möchte ich kurz charakterisieren, was unter dem Begriff ‘Modernisierung’ verstanden wird. „Unter Modernisierung versteht man die fortschreitende Anpassung der soziokulturellen Lebensbereiche an die technisch - ökonomischen Wachstums- und Entwicklungsprozesse der Industrialisierung. Historisch rückständige Orientierungsmuster und unzeitmäßige 53 Gesellschaftsbilder sollen in ihrem Einfluß abgelöst und eine Entsprechung von industrieller Wirtschaftsweise und Sozialcharakter hergestellt werden“ (Böhnisch/Funk 1989, 110). In der Regel läuft dieser Prozeß nicht in abrupten Umformungstendenzen ab, sondern es bilden sich Mischformen aus, in denen alte Verhältnisse so verändert werden, daß sie in den neuen Anforderungen aufgehen können. Gerade diese Mischformen sind für ländliche Regionen typisch (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 110). „Überlieferte kulturelle Orientierungen bestehen neben modernistischen Orientierungen weiter, Traditionselemente der sozialen Kontrolle, der Nachbarschaft, der Moral und der dörflichen Öffentlichkeit haben sich oftmals gehalten, obwohl ihnen der ursprüngliche ökonomische Unterbau und damit ihr historischer Sinn entzogen ist (Böhnisch/Funk 1989, 110). In ländlichen Lebenswelten kann man im Bezug auf den ‘sozialen Wandel’ als ‘sozialer Wandel als Regel’ sprechen: Wandel als natürlicher Prozeß ist bekannt und sozialer Wandel im Dorf ist nicht spektakulär, er passiert vielmehr langsam: der einzelne und das Dorf ändern sich schleichend. Aber die weitergehende Frage nach den Motiven, nach den physischen und sozialen Kosten blieb oder bleibt unbeantwortet, weil das Nachdenken und das Reden darüber nicht gelernt wurden, weil es nicht gelernt werden kann, wenn der Wandel selbst zur Regel wird. Dies wird nicht zuletzt durch die soziale Kontrolle gewährleistet, die als Regel reibungslos verläuft, wenn das Denken und Reden in ständiger Wiederholung selbst regelhaft geworden sind. Wandel wird erst als Resultat über einen längeren Zeitraum hinweg bezeichenbar, zum Faktum. Als Prozeß mit augenblicklichem Vollzug bleibt er unbemerkt. Das, was in ländlichen Regionen als Reduktion des Zusammenhaltes beklagt wird, ist nichts anderes als das Wahrnehmen der eigenen Veränderungen, die ihre Interpretation in der Formveränderung von Institutionen findet (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 137). Die Lebenswelt ländlicher Regionen ist heute weitestgehend gekennzeichnet durch die aus folgenden Punkten entstehende Ambivalenz: „Enge versus Überschaubarkeit; Transparenz versus Aufeinanderhocken und ständige Beobachtung der Handlungen; Kontrolle versus Kontaktdichte und Kommunikationslebendigkeit; Öde, Anregungslosigkeit versus Ruhe und Beständigkeit; Tristesse der Trägheit versus verläßliche Tradition“ (vgl. Bausinger 1987, 26). 54 3.3.1.1. Exkurs: Erklärungsansatz zur Eigenart ländlicher Lebenswelten Böhnisch und Funk haben versucht, auf dem Hintergrund des Erscheinungsbildes des ländlichen Amalgams einen Erklärungsansatz für die Eigenart ländlicher Lebenswelten zu konstruieren. Dieses Modell empirischer Untersuchungen zum Stadt - Land Verhältnis verwendet nicht mehr das einschlägige Stadt - Land - Paradigma, sondern versucht, diese klassische Polarisierung mithilfe von Begriffen wie ‘großstädtische Ballung - regionale Ausdünnung’, ‘räumliche Verdichtung - räumliche Entleerung’ zu umgehen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 14). Diese neueren ‘Urbanisierungsansätze’ bilden eine These, welche einen vielschichtigen Zugang zum Spezifikum ländlicher Lebenswelten ermöglicht. Zunächst wird die Bedeutung der Urbanisierung für die moderne Industriegesellschaft herausgearbeitet. Im Rahmen der Industrialisierung werden Städte zu zentralen Orten der Produktion und auch selbst Produktionskraft. Nunmehr werden Elemente des industriellen Prozesses in ein neues räumliches Verhältnis gebracht. Der städtische Raum vereinigt kulturelle, ökonomische und soziale Inhalte, die sich gegenseitig in ihrer Nähe aufschließen. Das bedeutet, daß das Urbane Ort und Zeit der Manifestation von kontroversen Inhalten wird (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 115). Daraus hat sich eine „urbane Dialektik von Konfrontation und Befriedigung entwickelt, die typische Institutionen und Öffentlichkeiten hervor bringt, in denen wiederum die ökonomischen, sozialen und kulturellen Widersprüche historisch neu vermittelt und so urban vergesellschaftet werden“ (Böhnisch/Funk 1989, 115). Diese spezifische sozial - räumliche Dialektik prägt das urbane Sozialverhalten, womit das Urban - Räumliche zum signifikanten Kontext der Lebensbewältigung wird. Entscheidend ist dabei, daß in dieser Dialektik der ‘Raum’ in eine gesellschaftliche Kategorie transformiert wird. „Gegensätze, Kontraste, Überlagerungen und Nebeneinander treten an die Stelle von Entfernungen, von Raum - Zeit - Distanzen“ (Böhnisch/Funk 1989, 115). Das Prinzip der Zentralität wird hier zum herrschenden Sozialprinzip - und zum Vergesellschaftungsprinzip. Durch die allgemeine Urbanisierungstendenz wird der ländliche Raum zwar städtisch modernisiert, in der Struktur ist die Dialektik von Konfrontation und Befriedigung des städtischen Raumes aber nicht enthalten. Die ‘Nähe’ des ländlichen Raums wurde und wird im Vergleich zur urbanen ‘Nähe’ sozial nicht transformiert, sondern bleibt etwas Nicht - Widersprüchliches, Komplementäres, traditional Nebeneinander - Gesetztes, Widersprüche - Ausgrenzendes“ (Böhnisch/Funk 1989, 115f). Böhnisch und Funk meinen, daß das, was gegenwärtig als Tradition bezeichnet wird, eher auch als ritualisierter Nachvollzug von Althergebrachtem und einer Form von nicht vermitteltem Nebeneinander von Altem und Modernem zu verstehen sei (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 116). So ist das Alltagsleben der ländlichen Lebenswelt geprägt von einem 55 unzusammenhängenden Nebeneinander alter, traditioneller Formen einerseits und neuer, moderner Formen andererseits, woraus diese gesellschaftliche Sozialdimension entsteht, in der die Lebenswelt des ländlichen Raumes vermittelt wird. Während sich also in städtischen Regionen im Zuge der Industrialisierung spezifische Verhaltensformen etabliert haben, ist im ländlichen Raum nur ein Nebeneinander und eine allmähliche Überlagerung alter und neuer Verhaltensformen entstanden. Aus diesem Spezifikum ländlicher Lebenswelten entstehen Spannungsfelder, die „zum einen auf der individuellen-physischen Ebene, auf der auch Beziehungsstrukturen und das soziale Lebensumfeld einbezogen sind , zum anderen auf der strukturell-ökonomsichen Ebene, im Sinn von gesellschaftlich verursachten Konfliktlagen gesehen werden“ können (Rudolph 1995, 19). Diese Überschneidungsbereiche von individueller und gesellschaftlicher Ebene drücken sich in spezifischen kulturellen Formen aus. Rudolph (1995), beschreibt dies wie folgt: „Traditionen und kulturelle Übergänge bleiben in der geschichtlichen Landschaft nicht einfach als Kulissen oder leere Hüllen stehen. Sie haben ihre eigene soziale Logik, subjektiv im Sinne ihrer Träger und objektiv, indem sie im Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung trotz ihrer Patina Lebensfähigkeit und offensichtlich auch Funktionstüchtigkeit beweisen. Dahinter nur ... ländliche Intoleranz gegenüber ökonomisch - sozialen Wandlungsvorgängen und neuen gesellschaftlichen Anforderungen zu vermuten, hieße die gesellschaftliche Perzeptionsfähigkeit ländlicher Lebenswelten entschieden zu unterschätzen. Konservativ und traditionell strukturiert sind das gesellschaftliche Blickfeld und die Rahmenbedingungen dörflichen Erfahrens und Lernens - nicht die subjektive Lernfähigkeit und Lernbereitschaft“ (Rudolph 1995, 19). Im folgenden Abschnitt geht es darum, Charakteristika ländlicher Lebenswelten zu beschreiben und zu diskutieren, womit der Versuch unternommen werden soll ‘das typisch Ländliche’ zu erläutern. 3.3.1.2. Das Dorf - Träger der Metapher ländlicher Lebenswelten Der ländliche Raum kann nicht ausschließlich über eine ausgeprägte Dorfstruktur erfaßt werden, aber ‘das Dorf’ ist der Sozialisationsort für ‘das Ländliche’. Gegenwärtig wird ‘das alte Dorf’ durch die ‘ländliche Region’ ersetzt. Trotzdem lassen sich ländliche Lebensmuster, anhand dörflicher Strukturen anschaulich darstellen. Wenn man nach einer verbindlichen Definition für das Dorf sucht, wird es relativ schwierig. Einfacher ist es, den Versuch zu unternehmen, den ländlichen Alltag eines Dorfes in seiner Gewordenheit zu betrachten. Traditionale Strukturen der Dörfer in Österreich lassen sich in ihrer Entwicklung seit dem Mittelalter folgendermaßen nachskizzieren: „Das Dorf als selbstverwaltete Wohn-, Lebens56 und Kulturgemeinschaft - Das Dorf als unfreies Untertanendorf im Hoch-, Spät- und Nachmittelalter - Das Dorf als freie Ortsgemeinde seit der Mitte des 19.Jahrhunderts“ (vgl. Kirlinger 1986, 8). Die Rahmenbedingungen dörflichen Lebens waren bis weit ins 19. Jahrhundert geprägt von Armut und Abhängigkeit von feudalen Herrschaftsverhältnissen. Daraus entwickelte sich ein fast hermetisches ökonomisches und soziales Regelwerk aus Arbeit und Alltag, welches das Leben weitgehend determiniert hat (vgl. Burger 1996, 29). Zentrale Fundamente dieser Lebenswelt sind Grund, Boden, Haus und Arbeitskraft, wobei die Arbeitskraft jedes einzelnen gefordert wurde, und die Arbeitsbereiche einer Arbeitsteilung nach den Geschlechtern unterlag. Die daraus resultierende Bedeutung der Arbeit, besonders das Ausmaß der Verschlungenheit von Arbeit und Leben sind charakteristisch für ländliche Lebenswelten. Brüggemann/Riehle (1986, 177) führen an, daß die Art und Weise der Produktion alle übrigen Lebensbereiche bestimmte, vor allem auch jene der Reproduktion und Sozialisation. Das ständige Ringen um die Existenzsicherung ließ wenig Platz für die Herausbildung individueller Beziehungen und Bedürfnisse. In transformierter Weise sind diese Strukturen ländlichen Milieus noch heute in der Schwierigkeit enthalten, Gefühle oder Bedürfnisse zu formulieren, die eigene Situation zu reflektieren bzw. über Alternativen nachzudenken. Die Bedeutung von Grund und Boden hatte nicht nur eine rein ökonomische Relevanz, sondern war auch für die soziale Position der Familie innerhalb des Dorfverbandes von ausschlaggebender Bedeutung. Wer mehr hatte, war angesehener und wichtiger, hatte ‘automatisch’ Macht im Dorf. Leben am Land bedeutete in einer Hausgemeinschaft, d.h. einer Produktionsgemeinschaft, Konsumgemeinschaft und Besitzeinheit, in patriarchalischen Strukturen zu leben [vgl. Henkel 1995, 75). Der Einzelne war auf die Solidargemeinschaft angewiesen, dabei in erster Linie auf die der Familie, in weiterer Folge auf die der Dorfgemeinschaft. „Die Angst vor Ausgrenzung und Verachtung zwang die Menschen, sich als arbeitsfähig, funktionierend und normal darzustellen“ (Burger 1996, 30). Jede Abweichung wurde sofort wahrgenommen. „Inflexibilität, Konfliktunfähigkeit und defensive Grundhaltung sind Merkmale dieser bäuerlichen Lebensweise. Die Bedingungen und Formen liegen in der landwirtschafltichen Produktion selber, aus dem regelmäßigen, naturbedingten Ablauf der Arbeit und aus der permanenten Erfahrung der Abhängigkei, sei es von der Natur, oder sei es von weltlichen und kirchlichen Herrschern, sowie aus den mit Arbeit und dem Besitz entstandenen Autoritäts- und Hierarchiestrukturen“ (Brüggemann/Riehle 1986, 225). In Anbetracht der historischen Bedingtheit des traditionalen Dorfes läßt sich vieles auf die Gegenwart übertragen, ohne in pauschalierende Feststellungen zu verfallen. Der Rückblick auf das ‘historische Dorf’ hilft, die Dynamik dieser Lebenswelt zu erfassen. Dennoch ist das, was ‘das Dorf’ ist, in begrifflicher Hinsicht noch nicht klar, weil es sich hierbei eben um einen schwer zu fassenden und abzugrenzenden Sozialkörper mit Geschichte handelt. Ähnlich der 57 Verwirrung im Zuge der Definition dessen, was als ländliche Region zu gelten hat, wird auch hier folgendermaßen argumentiert: Ein Dorf ist eine Siedlung mit bäuerlichem Charakter, die nicht im Sog einer Großstadt liegt. Es handelt sich hierbei um Siedlungen, in denen die Landwirtschaft eine klar definierte Bedeutung hat, und dies auch in der Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur zum Ausdruck kommt (vgl. Kirlinger 1986, 21), obwohl die Wohndörfer im peripheren städtischen Bereich wenig ‘bäuerlichen Charakter’ aufweisen können. Besser ist es, sich dabei auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, der ‘das Dorf’ darstellt: • geringe Bevölkerungs- und Bebauungsdichte, • geringe Zentralität, • ursprünglich von der Landwirtschaft geprägt, • Lage in der offenen Landschaft. Diese Kriterien lassen sich erweitern durch die Beschreibung der ‘Dörflichkeit’ eines Dorfes: • geschlossene Siedlungseinheit • soziale, kulturelle und wirtschaftliche Einheit, • Einheit im Bewußtsein [subjektive Einheit] • historische Einheit [Katastral- oder selbständige Gemeinde]. Dem ist noch hinzuzufügen, daß unter ‘Dorf’ also die soziale und bauliche Einheit zu verstehen ist, unter ‘Gemeinde’ hingegen die verwaltungsrechtliche Einheit. Vor allem seit den Kommunalstrukturverbesserungen besteht eine Verwaltungseinheit ‘Gemeinde’ meist aus mehreren ‘Dörfern’. „Gemeinsam ist diesen Begriffsbestimmungen, daß sie bestimmte physische Kriterien [Lage ect.] und soziale Kriterien [soziokulturelle Einheit ect.] kombinieren“ (Kirlinger 1986, 21). Abseits dieser Begriffsmerkmale des ‘Dorfes’ ist der wesentlichste Aspekt jener, daß nach wie vor die historischen Sinnstrukturen, begründet auf die ökonomisch - landwirtschaftliche Basis, einen Einfluß auf das ländliche-dörfliche Leben ausüben. Neben diesem Aspekt ist als wichtigstes Merkmal des Dorfes die Überschaubarkeit zu nennen. Diese erleichtert und erschwert den Dorfbewohnern gleichzeitig die Teilnahme am sozialen Leben. Die Überschaubarkeit ist bei einer Zahl von 2.000 Einwohnern, höchstens aber bei 5.000, noch gegeben (vgl. Kirlinger 1986, 22). Es scheint, daß spezifische Verhaltensmuster in den sozialen Beziehungen als Residuen der vielfach verschwundenen landwirtschaftlichen Kultur begriffen werden müssen. Brüggemann und Riehle (1986) schreiben über das Verständnis 58 sozialer Strukturen und Interaktionsformen dörflicher bzw. ländlicher Gemeinschaften folgendes: „Der Schlüssel zum Verständnis vom dörflichen Eigen - Sinn liegt in der historisch geprägten Bäuerlichkeit von Dörfern. Sie bestimmte Wahrnehmung, Denken und Handeln, Kommunikations- und Interaktionsstile ihrer Bewohner. Die bäuerlich Geschichte von Dörfern ließ eine spezifische Sozialform ‘Dorf’ entstehen, die von ihrer Konstruktion her eine solche Hartnäckigkeit zeigt, daß sie noch heute in Grundzügen vorherrscht ...“(Brüggemann/Riehle 1986, 17). Aber: Die ökonomische und gesellschaftliche Basis, die diese Lebenstotalität Dorf hervorgebracht hat, gibt es nicht mehr. „So richtet sich die Frage nach der gegenwärtigen dörflichen Identität nicht allein auf die Veränderungen, sondern darauf, daß in diesem Prozeß (...) sich die Verhaltensweisen sowie die Ziel- und Wertvorstellungen der Bevölkerung- und damit auch und gerade jene der bäuerlichen Bevölkerungsschicht, gewandelt haben und weiterhin im Wandel begriffen sind“ (Brüggemann/Riehle 1986, 37). „Überschaubarkeit, Integration und Identifikation mit der Gemeinschaft des Dorfes verlieren zwar zunehmend an Bedeutung, Aspekte wie Geborgenheit im sozialen Geflecht einer Gemeinde werden in den Hintergrund gedrängt, während die traditionell ländliche soziale Kontrolle weitgehend bleibt“ (Böhnisch/Funk 1989, 112). In Gemeinden, die stark von Alteingesessenen geprägt sind, hat z.B. die Nachbarschaft noch einen hohen Stellenwert. Die Strukturen verändern sich aber dort erheblich, wo Zugezogene quasi urbane Kommunikationsformen entstehen lassen. Die alltägliche Kommunikation derer im Dorf [die dazugehören], folgt noch traditionellen Regeln und Normen dörflicher Öffentlichkeit. Diese Tatsache zeigt schon ein Charakteristikum dieser Lebenswelten, nämlich die Schwierigkeit im Umgang mit Fremden. Das Dorf macht dazugehörig, grenzt ein, liefert aus. „Die hohe affektive Besetzung des dörflichen Sozialsystems, die sich passiv als Dauergefühl des Beobachtetseins äußert bzw. verinnerlicht hat, führt umgekehrt zu einer leicht mißtrauischen Dauerbeobachtung der Lebenswelt, eine Einstellung, die stets projektieranfällig ist“ (Ilien 1977, 93). Ländliche Lebenswelten zeigen in ihren sozialen Kommunikationsstrukturen eine Inkonsistenz auf, was übrigens auch ein Schlüsselproblem der sozialen Orientierung im ländlichen Raum zu sein scheint. 3.4. Ausgewählte Charakteristika ländlicher Lebenswelten Einen Überblick über das Wesen und das Sein des ländlichen Raums sollen die nachfolgenden, sozialen und gesellschaftlichen Bestimmungsfaktoren geben. Die ausgewählten Kriterien haben nicht nur für die vergangene, historische Entwicklung ländlicher 59 Lebenswelten eine Bedeutung, sondern sie sind auch für die gegenwärtige Sozialstruktur von erheblicher Wichtigkeit. 3.4.1. Soziale Beziehungen in einer ländlichen Lebenswelt -Teile der Sozialstruktur Das Leben und Handeln in ländlichen Lebenswelten war früher durch eine geschlossene Kommunikations- und Interaktionsstruktur gekennzeichnet: Die Bewohner orientierten sich an gemeinsamen Werten und Normen, das soziale Leben spielte sich innerhalb der Gemeinde ab und die Kirche war noch im eigentlichen Wortsinne im Dorf (vgl. Behringer 1995, 108). Das Zusammenleben in ländlichen Gemeinden und Dörfern ist durch Kriterien bestimmt, aus welchen sich die soziale Geltung des einzelnen Dorfbewohners ablesen läßt. Die Kriterien dieser Zuschreibung sind nicht explizit ausformuliert, sie sind aber existent und werden auch von allen weitgehend akzeptiert. Zum einen gibt es Kriterien der Zuschreibung, die traditionellen Vorstellungen entspringen, zum anderen sind es Kriterien, die aus modernen, urbanen Vorstellungswelten abgeleitet sind. Traditionelle Vorstellungen sind Alter, Geschlecht, Familienstand, lokale Herkunft, Besitz von Grund und Boden und die Konfession einer Person. Moderne Kriterien sind solche, wie die kommunalpolitische Fähigkeiten, eine Vereinszugehörigkeit oder der Berufserfolg einer Person. Diese, aber auch die traditionellen Vorstellungen unterliegen dem jeweiligen spezifischen Kontext des ländlichen Milieus. Generell zeichnen sich ländliche Sozialstrukturen dadurch aus, daß sie eher traditionsgeleitet sind als städtische. Konkret bedeutet das, daß auf dem Land in gewisser Weise Geborgenheit in der Tradition herrscht, in der Stadt hingegen eher ständig nach den neuesten Entwicklungen gelebt wird. Diese tradtitionsgeleitete Orientierung zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen, obwohl natürlich nicht außer acht gelassen werden darf, daß es auch im ländlichen Bereich starke Tendenzen zur Inidividualisierung der Lebensweise gibt. Durch die wachsende Heterogenität der Landbevölkerung entsteht ein Pluralismus der Normen und Verhaltensweisen, Traditionelles und Neues vermischt sich (vgl. Henkel 1995, 65). • Familie im ländlichen Kontext Natürlich ist es nicht möglich, von der ‘Landfamilie’ im Gegensatz zur ‘Stadtfamilie’ zu sprechen. Die traditionelle multifunktionale und patriarchalisch strukturierte Hausgemeinschaft der Großfamilie ist längst auch am Land von der modernen Kleinfamilie mit partnerschaftlicher Ausrichtung abgelöst worden. Dennoch haben sich charakteristische Züge herausgebildet, die bestimmend für Familien sind. Diese Züge sind sicherlich von der bäuerlichen Geschichte der ländlichen Regionen bedingt (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 143f). Familie bzw. Familienstrukturen sind im ländlichen Kontext nicht nur für den einzelnen 60 bestimmend und identitätsstiftend, sondern sie sind für den ganzen Ort von Bedeutung. Die einfache Frage ‘Wem gehörst denn Du?’ , dient der Zuordnung und Einordnung. Die Zugehörigkeit, d.h. die ‘Abstammung’ von einer bestimmten Familie bedeutet indirekt, nach wie vor bestimmte soziale Positionen und Verhaltensregeln wahrnehmen zu müssen. „Die Merkmale, nach denen die einzelnen Menschen in soziale Ränge, Positionen eingestuft werden, können wie die Herkunft und das Geschlecht angeboren sein“ (Henkel 1995, 66). Allein schon der ‘richtigen’ Familie anzugehören, kann den Alltag in ländlichen Gemeinden vereinfachen oder, im umgekehrten Fall, erschweren. Zum deutlichsten Merkmal der ländlichen Familie gehören die Kinder. Auch gegenwärtig ist es für ‘normale, verheiratet Lebenspartner’ wichtig, Kinder in die Welt zu setzen. Kinderlosigkeit wird als Mangel angesehen und nicht selten auch als persönlicher Makel erlebt, weil man immer wieder damit konfrontiert wird. Der Begriff der Familie beschränkt sich nicht nur auf die Kernfamilie, sondern ist auf die verwandtschaftlichen Beziehungen ausgedehnt. Diese sind in ländlichen Regionen noch sehr intensiv. Die Bedeutung der Verwandtschaft zeigt sich auch daran, daß die volle Integration in die Dorfgemeinschaft für einen Dorffremden vielfach nur durch eine Einheirat, oder durch die Bekanntschaft mit einer im Dorf sehr angesehenen, wichtigen Familie möglich ist (vgl. Henkel 1995, 75). • Geschlechtszugehörigkeit im ländlichen Kontext Auch gegenwärtig sind die Rollen, zwischen Männern und Frauen eindeutig verteilt. Die Trennung der geselligen Sphäre wird ebenso wenig hinterfragt wie die Aufgabenteilung zur Alltagsbewältigung zwischen Männern und Frauen (vgl. Brüggemann/Riehl 1986, 78). Auch wenn es dem Wunsch vieler Frauen entspricht, mehr am öffentlichen Leben teilzunehmen, ist das auch heute weitgehend nicht Realität. Ebenso wie ‘einer bestimmten Familie anzugehören’, ist die Geschlechtszugehörigkeit wichtig für die soziale Rang- und Rollenpositionierung innerhalb der Gemeinschaft. Soziale Rollen bedeuten konkrete Verhaltenserwartungen an die Person. Diese können belastend wie auch entlastend sein. Rollenkonflikte, vor allem hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Verteilung, sind auch im ländlichen Bereich recht häufig, da Wertewandel und Wertepluralismus zu Rollenunsicherheit und Hinterfragung geführt haben. Besonders junge Frauen, Bäuerinnen, sind nicht mehr ohne weiteres bereit, den traditionellen Erwartungen zu entsprechen (vgl. Henkel 1995, 65), hat sich doch häufig die soziale Stellung der Frauen in der Landwirtschaft nicht in gleichem Maße verändert wie der bäuerliche Betrieb insgesamt. Die mit dem sicherlich gewachsenen Selbstbewußtsein verwirklichten kleinen Emanzipationsschritte sind an den Preis der Mehrarbeit geknüpft (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 171). Trotzdem ist es durchaus noch 61 zulässig, die Situation der Frau folgendermaßen zu umschreiben: „Die Frau soll die Familie aufrechterhalten, aber auch, wenn es sein muß, zum Familieneinkommen beitragen. Dieser Beitrag zum Familieneinkommen wird aber in der Regel stillschweigend vorausgesetzt, aber sozial nicht geachtet. Frauen werden durch die Arbeit, bspw. in Fabriken, nicht selbständiger, sondern, weil sie weniger Zeit haben, weniger im Dorf geachtet und damit in der informellen Dorföffentlichkeit isoliert und wieder abhängiger“ (Böhnisch/Funk, 1989, 70f). Von Frauen wird erwartet, daß sie Mitarbeiterinnen im Betrieb sind, bzw. zur Aufbesserung des Einkommens einer Tätigkeit nachgehen, das allerdings nicht aus Gründen der Selbstverwirklichung. Zu allererst sollen sie zumindest Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen sein. Bernard/Schlaffer (1979) schreiben: „Frauen sollen Frauen bleiben, zwischen Frauen und Männern gibt es eben Unterschiede, und das ist auch gut so, und soll auch so bleiben“ (1979, 85). Diese beiden Autorinnen führen in ihrer Studie (1979) an, daß in ländlichen Lebenswelten vieles durch Männlichkeit kompensiert werden kann, bspw. Schicht- und Bildungsdefizite. So ist es z.B. in wirtschaftlich - strukturell benachteiligten Regionen für Burschen/ Männer immer noch leichter, einen Beruf auszuüben, als für Frauen und junge Mädchen. Die männliche Kultur gewährleistet als Korrektiv ein spezifisches Priviligierungssystem (vgl. Bernard/Schlaffer 1979, 102), wenn auch Ziele der Partnerschaft und Selbstverwirklichung heute höher bewertet werden als das traditionelle Patriarchat, das allerdings noch nicht gänzlich nivelliert zu sein scheint. Böhnisch/Funk (1989, 76) meinen, daß patriarchalisch strukturierte Hierarchien und die spezifisch ländliche Freiheitsideologie des ‘Auf - Sich - Gestellt - Sein’ in der dörflichen Tradition eng zusammen gehören und traditional an die Verfügung des Mannes über den (bäuerlichen) Familienbesitz, über Haus, Hof und Frau gebunden sind. Wenn auch, bedingt durch den Strukturwandel der ländlichen Räume, dieser Ideologie die sozio - ökonomische Grundlage entzogen worden ist, leben doch in der ländlichen Sozialwelt diese Einstellungen als kulturelle Selbstverständlichkeiten weiter. So ist es auch nicht verwunderlich, daß in dieser kulturellen Selbstverständlichkeit die männliche Dominanz in den Familienbezügen und in den Gemeinschaften der ländlichen Welt bis heute oft unangetastet bleibt. • Altersgruppenzugehörigkeit im ländlichen Kontext Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe, bspw. jener der ‘Jugend’, ist mit den jeweiligen Erwartungen, Positionierungen und Rollenzuteilungen innerhalb der bestimmten ländlichen Gemeinschaft verbunden. Albert Ilien stellte in seiner Studie über ein schwäbisches Arbeiterdorf fest, daß Konfession, Familienstand, Alter, Geschlecht und Lokalität einen Einfluß auf den Rangplatz der jeweiligen Person ausüben. So wurden in dieser Studie z.B. Jugendliche, Personen mit zweitem Wohnsitz im Dorf, aber ständiger Abwesenheit, zugezogene Akademiker und Gastarbeiter ohne Rangplatz eingestuft. 62 Jugendliche sind mit der Haltung des ‘Abwartens’ und ‘Beobachtens’, was aus ihnen wird, konfrontiert (vgl. Henkel 1995, 67). In dieser Studie von Ilien, nehmen ältere, katholische, einheimische Ehepaare den höchsten Rangplatz ein. Diese Wertung beinhaltet neben der Kategorie Alter also noch jene der Konfession, der Lokalität und auch jene des Familienstandes. Katholisch zu sein, ist in diesem schwäbischen Dorf von großer Bedeutung: So sind bspw. ältere, zugezogene, evangelische Ehepaare erst auf dem sechsten Rangplatz zu finden. An dieser Stelle sei bemerkt, daß diese Studie von ausgewählten ‘Gewährsleuten’ aus dem Dorf unterstützt wurde. • Religion im ländlichen Kontext Wie bereits im vorangegangenen Punkt erwähnt hat Religion im Hinblick auf die jeweils „richtige“ Konfession einen wesentlichen Einfluß auf die Plazierung einer Person im Gemeinschaftsverband. Ländliche Religiosität finder ihren Ausdruck in der dörflichen Alltäglichkeit. „Von besonderer Bedeutung für religiöse Institutionen sind Riten und Bräuche, geregelte und wiederkehrende Gesten und Handlungen. Im ländlichen Leben spielen religiöse Riten und Bräuche, die sich vielfach mit weltlichem Brauchtum vermischen, auch heute noch eine wichtige Rolle“ (Henkel 1995, 77). Manchesmal kann man sich aber des Eindruckes nicht erwehren, daß viele dieser religiösen Ausdrucksformen nur mehr stattfinden, weil sie in eine ritualisierte Vergegenwärtigung übergegangen sind, somit ‘ausgeführt’ werden, weil es immer so war. Religiosität als Sinnstiftung wird durch zwanghafte Aufrechterhaltung obsoleter Bräuche überlagert. Kirchliche Amtsträger, wie der Pfarrer, der Kaplan, sind in ländlichen Regionen häufig unbestrittene Autoritätspersonen. Oft sind sie auch aufgrund ihres Amtes dazu berufen, in anderen Vereinen, bspw. dem Kameradschaftsbund oder der Feuerwehr, eine Funktion zu übernehmen. Wenn auch mit abnehmender Tendenz, so gelten doch in vielen Orten der Pfarrer, der Bürgermeister und der Lehrer als Autoritätspersonen. Der abnehmende Einfluß hierarchischer, traditioneller Strukturen, wie z.B. der Einfluß religiöser Institutionen auf Personen und soziale Gemeinschaften, geht auch an ländlichen Regionen nicht spurlos vorüber. „Das Schwinden von Kirchentreue, Gläubigkeit und Frömmigkeit ist auch auf dem Land zu beobachten; Liberalisierung, Individualisierung und aufgeklärtes Denken tragen zum Autoritätsverlust der Kirchen bei“ (Henkel 1995, 77). • Politik im ländlichen Kontext Die Ausübung einer politischen bzw. kommunalpolitischen Funktion ist zweifellos durch soziale Komponenten gekennzeichnet. Es darf nicht vergessen werden, daß neben etwaigen Kompetenzen der positionsinhabenden Person auch die Komponenten der Familie, des Besitzes und der traditionellen politischen Verpflichtung einer Familie für den Ort eine 63 wesentliche Rolle spielen. Häufig haben männliche Angehörige aus bestimmten Familien beinahe eine exsitenzielle Verpflichtung, sich für die politischen Belange ihrer Gemeinde zu engagieren. Nach wie vor wird vielerorts vielfach die Gesamtheit der lokalen Führungspositionen von alteingesessenen Bauern- und Handwerkerfamilien gestellt, während zugezogene, junge Familien, Arbeiter, Angestellte ect. es schwerer haben, sich im ‘Gemeinderat’ eine Position zu erkämpfen. Ländliche Lokalpolitik ist traditionell von Überschaubarkeit, Nähe, Konkretheit und personaler Betroffenheit geprägt (vgl. Henkel 1995, 178). • Arbeit im ländlichen Kontext Arbeit hat in ländlichen Regionen einen traditionell hohen ethischen Stellenwert. Arbeit bestimmt den Wert eines Menschen in der Gemeinschaft und auch für sich selbst, wobei das, was als Arbeit gilt oder galt, einer spezifischen Betrachtung unterliegt. Arbeit stellte einen Wert an sich dar, der sich an Fleiß und Arbeitsamkeit messen ließ, jahreszeitlich vorbestimmt und lebens- und freizeitfüllend war. Aus diesen und anderen historischen Konnotationen der ‘Arbeit’ ergibt sich im ländlichen Bereich und Sprachgebrauch ein spezifischer Inhalt (vgl. Scheu 1989, 87). Dreh- und Angelpunkt des Lebens und des Wertsystems auf dem Land ist die Arbeit, wonach sich der gesamte Lebensrhythmus ausrichtet. Wer arbeitet entspricht der Norm, Arbeitslosigkeit gilt demnach als Normabweichung. Diese ‘Normabweichung’, wodurch auch immer sie verschuldet ist, muß gut getarnt werden: Arbeitslos zu sein heißt nämlich implizit, nicht arbeiten zu wollen und damit faul zu sein. „Arbeitslosigkeit durchbricht den Kreislauf ‘Arbeit - Besitz - Familie’ und bedeutet in den Augen der traditionellen Dorföffentlichkeit eine existentielle Bedrohung“ (Behringer 1995, 117). Arbeitsfreie Zeit ist lediglich die lohnarbeitsfreie Zeit, Arbeit auf dem Land bedeutet, auch in der Freizeit zu schaffen. Gerade für Frauen endet die Arbeit nie, gibt es, in Haus oder Garten, immer etwas zu tun. Wer wochentags spazieren geht oder in der Sonne sitzt, macht sich verdächtig, vernachlässigt Haus und Haushalt, ist faul und gibt sich ‘vornehm’. Gesellschaftliche Standards der Freizeitgesellschaft greifen noch nicht wirklich, die Maxime „leben heißt arbeiten“ ist noch sehr stark verbreitet (vgl. Horstkotte 1985, 54), obwohl natürlich die eigentliche Arbeit von der Freizeit, dem ‘Schaffen’ in der Freizeit getrennt wird. Für viele Tagespendler beginnt nach der Arbeit an einer dorffremdem Arbeitsstelle das ‘Schaffen’ in der Öffentlichkeit für das Dorf. Hier wird beim Hausbau, in der Nebenerwerbslandwirtschaft, im Verein ect. gezeigt, daß man ‘arbeiten’ kann. Die Daseinsund Lebensbewältigung heißt ‘arbeiten’ und ‘schaffen’ (vgl. Scheu 1991, 145). 64 • Das Vereinsleben im ländlichen Kontext Gruppensoziologisch werden Vereine als formale Gruppierungen bezeichnet, die umso mehr in Erscheinung treten, je differenzierter eine Gesellschaft ist. „Die Vereine übernehmen vielfach Aufgaben der Kooperation und der Kommunikation, die sonst in informellen Gruppen wahrgenommen werden. Sie erfreuen sich auf dem Land größeren Zulaufs als in der Stadt, weil sie offenbar dem Bedürfnis der ländlichen Bevölkerung nach Selbsthilfe, geselliger Freizeitgestaltung, Selbstdarstellung, Meinungsaustausch und dorforientierter Meinungsbildung entgegenkommen“ (Planck 1979, 107). Das Vereinswesen hat in ländlichen Regionen eine große Bedeutung für die soziale und kulturelle Integration in das Dorf. Die Mitgliedschaft in einem Verein ist der Gradmesser für das Sozialprestige im Gemeinschaftsverband. Vereine werden als absolute Notwendigkeit betrachtet, die wie jede andere Arbeit verrichtet wird. Gemünzt auf die Vereine heißt dies nur, daß gesungen, daß ‘gekickt’, und im Jagdverein geschossen werden muß. „Dieses ‘Muß’ ist vom Dorf in seiner Gesamtheit zu erfüllen, und gibt dem Dorf insgesamt Selbstdarstellung“ (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 70). Das Vereinsleben bietet aber auch eine Ritualisierung in der zeitlichen Organisation, ein Stück Lebensorganisation, es produziert Orientierungs- und Verhaltenssicherheit und läßt zumindest in diesem Kontext die soziale Kontrolle nicht wirken. Für ländliche Vereine ist es charakteristisch, daß Mädchen und Frauen meist nur über die männlichen Familienzugehörigen aktiv daran teilnehmen. Namentlich in kleineren Ortschaften werden erhebliche soziale Zwänge zum Vereinsbeitritt ausgeübt, bestehen starke traditionelle Bindungen einzelner Familien zu bestimmten Vereinen, erfüllen die Vereine über ihre eigentlichen Zwecke hinaus wichtige soziale Funktionen und werden Vereinsfeste zu wahren Dorffesten. Die Gastwirte nehmen einen starken Einfluß auf das Vereinsleben und auswärtige Auftritte der Ortsvereine werden stets als eine Prestigsache der gesamten Ortschaft erlebt. Ländliche Vereine geraten allerdings viel häufiger als städtische in Überlebenskrisen (vgl. Planck 1979, 108). Diese Überlebenskrisen entstehen vor allem dadurch, daß man sich unter allzu großer Berufung auf die Tradition des Vereines nicht flexibel genug auf die zeitlichen Veränderungen einstellt. So passiert es sehr häufig, daß durch Intervention einiger Vereinsältester auf die Aufrechterhaltung des jeweiligen Vereines gepocht wird, obwohl etwa aufgrund einer veränderten Erwerbsstruktur oder zurückgehender Geburtenzahlen [Vereinsnachwuchs] der Verein schon längst seine ‘natürliche’ Legitimation verloren hat. Aber bevor man den Verein in ‘Würde’ auflöst oder sich zumindest über seine Bedeutung Gedanken macht, wird mit größter Mühe versucht, das was schon immer so war zu retten. 65 3.4.2. Die Dorföffentlichkeit - die Dorfgemeinschaft „Die Dorfgemeinschaft ist ein viel benutzter Schlüsselbegriff für die Gesamtheit der sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb ländlicher Siedlungen“ (Henkel 1995, 73). Der Begriff der Dorfgemeinschaft und die damit verbundenen Thesen der ‘idealen Gemeinschaft’ sind seit langem im Brennpunkt der Kritik, vor allem dann, wenn dieser ‘idealen Gemeinschaft’ Harmonie, Ruhe und Idylle zugeschrieben wird. Heute ist man sich im klaren darüber, daß es die Homogenität und Harmonie geprägte Dorfgemeinschaft nie gegeben hat, sondern daß der dörfliche Alltag aufgrund seiner Übersichtlichkeit und seiner Durchlässigkeit von Interessensgegensätzen der Bewohner geprägt war und ist (vgl. Henkel 1995, 73). „Hinter der Fassade einer Gemeinschaft findet man oft zerstrittene Geschwister, rivalisierende Familien, konkurrierende Vereine und verfeindete Nachbarn. [...]. Kleine Gemeinheiten und grobe Ungerechtigkeiten gehören ebenso zum ländlichen Alltag wie Nachbarschaftshilfe und Dorfsolidarität“ (Planck 1979, 138). Ein nach wie vor wesentliches Kennzeichen ländlicher Lebenswelten ist, daß es in der ländlichen Tradition kaum eine Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre gibt. Dorföffentlichkeit und Alltagswelt des Dorfes sind ineinander verwoben, gehen ineinander über, so daß eher von einer dörflichen ‘Quasi - Öffentlichkeit’ zu sprechen ist (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 208). Gerade diese Öffentlichkeit bildet das Fundament für das Spezifikum der Dorfgemeinschaft. Das ‘weder-noch’ von Öffentlichkeit und Privatsphäre ist Grundlage für die Überschaubarkeit und die Gegenseitigkeit der Verständigung der Dorfbewohner. Böhnisch/Funk (1989, S.209) spalten diese ‘Quasi-Öffentlichkeit’ in zwei Bereiche auf: Zum einen in den informellen, alltäglichen Bereich, und zum anderen in den formellen, manifesten Bereich der Dorföffentlichkeit. Ist der erste Bereich auf die alltägliche Kommunikation des Miteinander - oder Übereinander-Redens (Tratsch, Gerücht), also, auf die alltägliche Interaktion beschränkt, so ist der zweite Bereich in den Vereinsvorständen und kommunalpolitschen Gremien zu finden (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 208). Unschwer läßt sich daraus ablesen, daß in diesem Kontext Frauen eher zu Trägern der informellen Öffentlichkeit und Männer eher zu jenen der formellen Öffentlichkeit werden. Behringer (1995, 115), unterscheidet die Dorföffentlichkeit in eine eminente, die ganz von den Männern beherrscht ist [Dorfpolitik und Vereinsleben], und eine relevante, in der die Fraurn die führende Rolle innehaben. Ein besonderes Kennzeichen prägt den Bereich der formellen Öffentlichkeit: Diese wird zwar von Personen repräsentiert, die in die alltägliche informelle Dorföffentlichkeit eingebunden sind , gleichzeitig aber aufgrund ihrer Funktionen dieser dörflichen Alltagskontrolle weitgehend entzogen sind (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 208). Sowohl die formelle als auch die informelle Dorföffentlichkeit sind Räume sowohl der sozialen Integration wie auch der Ausgrenzung, sozialer Kommunikation wie sozialer Kontrolle. Soziale Kontrolle ist eindeutig informell organisiert und als quasi nachbarschaftliche Kontrolle gewachsen. Zum 66 einen fürchten die Bewohner diese Kontrolle, zum anderen beteiligen sich aber auch alle daran. Diese informelle oder relevante Dorföffentlichkeit dringt tief in die Privat- und Intimsphäre des einzelnen ein. Hier entwickeln manche die bekannte Neu - Gier, schielen hinter dem Vorhang vor oder reden mit Dritten, um auf dem Laufenden zu sein und üben damit soziale Kontrolle aus. 3.4.2.1. Interaktion in der Dorfgemeinschaft Eine besondere Bedeutung für die Interaktion in ländlichen Gemeinden haben die vorhandenen sozialen Netzwerke und die kommunalen Gemeinschaftseinrichtungen. Diese sind besonders ausschlaggebend für die ländliche Kommunikation, für die Verbreitung von Neuigkeiten und Neuerungen, für die soziale Kontrolle und für die gegenseitige Unterstützung und Behinderung (vgl. Planck 1979, 114). Die Dorfgemeinschaft erhält ihren wesentlichen Zusammenhalt durch die Gemeinschaftseinrichtungen, wie sie Vereine im religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich darstellen. Diese Strukturen stärken das gesellige, gemeinschaftsfördernde Element der ländlichen Lebenswelt. Sie dienen der Einbindung in die Gemeinschaft und zugleich der Selbstdarstellung und Geschlossenheit des Gemeinwesens mit einem hochdotierten Prestigegewinn. Die sozialen Netzwerke sind im allgemeinen eng geknüpft und fest geknotet. Die meisten Beziehungen innerhalb ländlicher sozialer Netzwerke sind lokal, dauerhaft und ständig aktiviert. Ländliche Sozialbeziehungen sind eher diffus als spezifisch, wobei diffus bedeutet, daß mehrere Interessen dahinter stehen können. Sie sind relativ intensiv, wobei die Intensität den Grad meint, bis zu dem die Personen bereit sind, die Verpflichtungen zu erfüllen und die Rechte wahrzunehmen, die in ihrer Beziehung zu anderen Personen verankert sind. Ländliche Sozialbeziehungen bzw. ländliche soziale Netzwerke bestehen überwiegend aus verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen. Soziale Interaktion ist auf der einen Seite durch die gegenseitige Hilfe und Unterstützung in Notsituationen gekenzeichnet, auf der anderen Seite ist sie durch tiefes Mißtrauen und Neid dem anderen gegenüber geprägt. Generell erfolgen Interaktionen in Kategorien, nach denen sich die Einwohner in ländlichen Gemeinden bewerten, in ihrem Antrieb sich sozialen Gruppen zuzuordnen. Diese Kategorien stehen nicht unbedingt einem rationalen Diskurs offen. Jeder ist von der Einschätzung und Zuordnung des anderen abhängig. Mißachtet man diese impliziten Regeln, kann man in die „Fallstricke“ der Dorfbewohner laufen. Aber diese halb bewußten Spielregeln wie die Kenntnisse von Tabuzonen und Dorfzwängen verlieren im alltäglichen Umgang an Bewußtsein, bzw. sie werden gar nie richtig bewußt. Bewußt werden sie vielfach erst, wenn man dorffremd ist oder dem Sozialisationsort Dorf durch andere Erfahrungen entkommt. Eine wichtige Voraussetzung für den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft ist die ständige soziale Kontrolle. „Jede Handlung, Äußerung und 67 Gefühlsregung war der unmittelbaren Kontrolle der Mitmenschen ausgesetzt. Diskrepanzen zu den lokal geltenden Verhaltensmustern wurden sofort registriert und in soziale Sanktionen umgesetzt, um die Gemeindemitglieder zu normgerechtem Handeln zurückzuführen“, schreibt Henkel (1995, 73) bezüglich der Interaktionsmuster traditioneller Dorfgemeinschaften. Obwohl, die restriktiv eingesetzte soziale Kontrolle weitgehend an Bedeutung abgenommen hat, weil aus den engen, geschlossenen Gemeinschaften offenere und liberalere Sozialsysteme entstanden sind, ist vieles an der gegeseitigen Interaktion im Hinblick auf die soziale Kontrolle ausgerichtet. Vor allem in jenen Dörfern, die nicht im Sogbereich der Verdichtungsräume liegen, in denen das soziale Aufeinandergewiesensein noch stärker gegeben ist als dort, wo durch die Entwicklung hin zum reinen Wohndorf Anonymität und Privatheit bereits vorrangig sind. 3.4.2.2. Soziale Kontrolle Ein Kennzeichen ländlicher Sozialsysteme ist, daß das Verhalten mehr von impliziten Normen, Sitten, Bräuchen und sozialen Gewohnheiten geregelt wird als von expliztien Normen [Gesetzen, Vorschriften, Geschäftsordnungen, Satzungen, Befehlen] (vgl. Planck/Ziehe 1979, 121). Diese impliziten Regelungsmechanismen sozialen Verhaltens können auch mit ‘Permanenz der sozialen Kontrolle’ beschrieben werden. Durch die soziale Kontrolle werden jene Regeln durchgesetzt und gesichert, die sich ein ländlicher Lebensraum auferlegt hat. Planck (1979, 142) meint, daß in einer ländlichen Siedlung jede Handlung, jede Äußerung und jede Gefühlsregung der unmittelbaren Kontrolle der Mitmenschen unterliegt, die den Maßstab der geltenden Verhaltensmuster anlegen. Soziale Kontrolle ist im Dorf überall, an jedem Ort, zu jeder Zeit und fast jeder übt sie aus. Soziale Kontrolle macht die dörfliche Sozialform unbeweglich. Soziale Kontrolle im Dorf ist nicht räumlich oder zeitlich begrenzt, der als normal akzeptierte räumliche und zeitliche Handlungsrahmen ist aber sehrwohl variabel (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 180). Dies führt dazu, daß sich die Bewohner an dem als Tradition empfundenen Niveau von Normalität orientieren - bewußt oder unbewußt funktioniert man nach Mechanismen der sozialen Kontrolle. „Die Angst davor, durch eigenes Verschulden oder durch einen Schicksalsschlag innerhalb der Produktionsgemeinschaft an Ansehen zu verlieren, zwang die Menschen dazu, sich der Kommunikationsgemeinschaft des Dorfes als arbeitsfähig, funktionierend ‘normal’ darzustellen“ (Stein 1991, 21). Dadurch entsteht ein ständiges Gefühl, sich an die Norm des Dorfes anzupassen, wobei das eigene Verhalten in diesem Prozeß in der dörflichen Öffentlichkeit ständig adäquat inszeniert werden muß (vgl. Stein, 1991, 22). Diese Anpassung scheint notwendig zu sein, dem psychischen Überleben innerhalb der Gemeinschaft zu dienen. Unter diesen Bedingungen wird es schwierig, Auseinandersetzungen zu führen oder 68 Probleme und Konflikte zu benennen, denn das würde bedeuten, sich eigenes Versagen einzugestehen. Tritt nun ein sogenanntes abweichendes Verhalten auf [Arbeitslosigkeit, Uneheliches Kind...], muß alles daran gesetzt werden, dieses nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Was müßig ist, weil diese aufgrund der Enge über dieses ‘Versagen’ längst Bescheid weiß: Die direkte Problematisierung solcher Sachverhalte findet nicht statt. „Über diese komplizierten Prozesse bildete sich ein ‘typisch’ dörflich-ländliches Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre heraus (vgl. Stein 1991, 22). Im Bereich eines sich immer wieder informell herstellenden Normaltitätsrahmens eines Dorfes ist abweichendes Verhalten kaum möglich, denn es wird schnell als Bedrohung des dörflichen Lebens eingeschätzt (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 209). Brüggemann/Riehle nennen hierzu drei Bedingungen für die Entstehung von sozialer Kontrolle: • ‘Eine besondere Beobachtungsstruktur, die sich an allseitig akzeptierten äußeren Merkmalen festmacht, z.B. Haus, Garten, Felder, Auto, Kleidung ...’ • ‘eine festgelegte Kommunikations- und Interaktionsstruktur, so wird etwa nicht direkt gefragt, wenn man über jemanden etwas wissen will...’ • ‘eine psychische Struktur, die nur bestimmte Interessenslagen und dorfbezogene Orientierungen zuläßt bzw. eingeübt hat ...’ (vgl. Brüggemann/Riehle 1986, 180). Das heißt, daß durch die typische dörfliche Beobachtungs-, Kommunikations- und Interaktionsstrukturen, die sich in Verhaltensweisen wie ‘hinter dem Vorhang vorschielen’, ‘Dritte befragen’ und ‘Informationen an Dritten’ weitergeben, ausdrücken, der Mechanismus der sozialen Kontrolle bestens gesichert ist (vgl. Behring 1995, 111). Ausgenommen von dieser sozialen Kontrolle ist niemand, nicht einmal die „Fremden“, als welche in der Regel die neu Zugezogenen wahrgenommen werden. Soziale Kontrolle setzt Information voraus. Informationsbeschaffung geschieht öffentlich und doch heimlich, und im häufigsten Fall unbewußt. Soziale Kontrolle wird nur in wenigen Fällen als lästig empfunden. Ihr zu entsprechen bedeutet mehr Genuß als der Verstoß gegen sie. Wer der sozial kontrollierten Regel genügt, wird akzeptiert, wer aneckt, hingegen leicht als Außenseiter deklariert. Außenseiter wiederum sind nötig, um sich abgrenzen zu können. Diese spezifischen Bedingungen entstehen auch infolge des dichten sozialen Netzwerkes ländlicher Lebenswelten, in welchen jeder über jeden und über jedes Ereignis eine öffentliche Meinung bilden kann. Die dörfliche Meinung ist funktional etwas ganz anderes als die hauptsächlich im Gespräch und in der allgemein vorgeschobenen Diskretion praktizierte Meinungsbildung. Kern dieser Meinungsbildung im Dorf ist das Gerede. Das Gerede oder Getratsche erfüllt für das Dorf wesentliche Funktionen: 69 Die mitmenschliche Anteilnahme und die wechselseitige Beaufsichtigung, was einen gewissen Schutz für das Individuum, aber vor allem die Verhütung von für das soziale System schädlichen Handlungen bedeutet (Planck 1979, 142). Die Angst vor dem Gerede und der Kontrolle der Mitmenschen ist vielleicht die wichtigste Triebfeder ländlicher Verhaltensanpassung. Den Menschen scheint es ‘in Fleisch und Blut’ übergegangen zu sein, sich bei jeder Handlung und Entscheidung zu fragen: „Was werden die Leute dazu sagen?“ Man versucht, sich vor dem „Ins-Gerede-Kommen“ auf bestimmte Art und Weise zu schützen: Durch Verstellung und Verheimlichung. Dort, wo man der Öffentlichkeit ausgesetzt ist, tut und redet man so, wie es erwartet wird. Mißbilligende Handlungen geschehen in aller Heimlichkeit. Aber nichts wird im Dorf so übelgenommen wie Heimlichtuerei, weil das System der sozialen Kontrolle damit unterlaufen wird. Eine andere Möglichkeit, sich vor dem Gerede zu schützen, ist jene, sich selbst am Gerede zu beteiligen, in der Hoffnung, die Furcht vor seiner spitzen Zunge werden die anderen davon abhalten, ihn selber ins Gerede zu bringen (vgl. Planck 1979, 143). Die Normierung durch Sitte und Brauch, die soziale Kontrolle durch die öffentliche Meinung und Gerede und die Angst, seinen guten Ruf zu verlieren, ergänzen sich zu einem Mechanismus, der das soziale System ländlicher Siedlungen stärkt, das individuell - persönliche Leben, vor allem Jugendlicher und Frauen, aber erstickt (vgl. Planck 1979, 143). Soziale Kontrolle unterscheidet nicht zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit; im Gegenteil, gerade das Familienleben unterliegt ihr besonders. Der private Bereich ist der eigentlich interessante, gerade weil er nicht immer offenen Zugriff gewährt, andererseits aber fast überall gleich aussieht, so daß aus wenigen Informationen auf ein ganzes Bild geschlossen werden kann. Soziale Kontrolle wird durch einen internalisierten und damit allseits akzeptierten Kommunikations- und Interaktionsstil begründet und tagtäglich bestätigt, wobei dieser als allen gemeinsamer gar nicht so sehr der Meinungsmacher bedarf. Soziale Kontrolle prägt Handeln und Verhalten. Das Dorf als Lebenszusammenhang ist nicht nur Sozialisationsinstanz und Identitätsstifter, indem es Zusammenhang und Einheit bietet und seine Bewohner mit einem ausgrenzenden Selbstbewußtsein ausstattet. Für das Leben im Dorf bringt dieses Bewußtsein darüber hinaus eigene Wahrnehmungs- und Verhaltensstrukturen mit sich (vgl. Brüggemann/Riehle 1989, 184). Die soziale Kontrolle des Dorfes und im Dorf ist vor allem ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Regelmäßigkeit und Form angesichts existentieller Unsicherheit. Dem einzelnen bietet die soziale Kontrolle Selbstbewußtsein, wo keines ist. Sie gewährt soziale Sicherheit, Kommunikation und Handlungsorientierung. Nur jemand, der anders lebt, ist immer ‘verdächtig’. Ausbruchsversuche, z.B. Jugendlicher werden zumeist mit scheinbarer Nichtbeachtung gestraft, wenn aber der Jugendliche sich nach einiger Zeit wieder im Dorf 70 blicken läßt, dann wird alles aus seinem Privatleben und seinem Beruf transparent bzw. man hat sich bereits ein Bild davon gemacht und braucht gar nicht mehr die Mühe aufzubringen, den anderen zu verstehen. „Im Strukturwandel des dörflichen Zusammenlebens - vor allem durch die demographischen und sozialen Umschichtungen, die Trennung und Auslagerung der verschiedenen Lebensbereiche, die Dorföffentlichkeit in Assimilation ihrer urbaner Kontroll- und Lebensformen, wurde die Kommunikationsgegenseitigkeit alltägliche weitgehend ausgedünnt und überformt. Dörfliche Kontrolle ist heute vielerorts ihrer Verbindlichkeit und Sanktionsfähigkeit verlustig gegangen“ (Böhnisch/Funk 1989, 209). 3.5. Zusammenfassung: Lebensbedingungen in ländlichen Regionen Anhand zweier wesentlicher Punkte lassen sich die Lebensbedingungen in ländlichen Regionen zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschreiben: Auf der einen Seite herrscht ein Nebeneinander von Auswirkungen eines weiter fortschreitenden extremen Strukturwandels in der Land- und Forstwirtschaft, der vormaligen ökonomischen und sozialen Basis in den ländlichen Regionen, auf der anderen Seite findet man nach wie vor eine Konstanz der gewachsenen sozialen und normativen Strukturen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 1995,120). Der Struktur- und Funktionswandel in der Landwirtschaft hat seit dem Ende der 50er Jahre zu einer steigenden Arbeitsplatznachfrage in nichtlandwirtschaftlichen Bereichen des ländlichen Raums geführt. Die geringe Möglichkeit der Abdeckung des Bedarfs an Arbeits- und auch Ausbildungsplätzen hat aufgrund von Standortabwanderungen zu einer verstärkten Pendlerbewegung in die Agglomerationszentren der Großstädte bzw. der Verdichtungsräume geführt. Ländliche Räume sind vor allem in peripheren Regionen durch diese Prozesse zunehmend mit dem Problem der Abwanderung der jüngeren Generationen und damit der Überalterung ihrer Bevölkerungsstruktur konfrontiert. Ländliche Regionen in der Nähe von Städten und Verdichtungsräumen erhalten verstärkt die Funkion von Wohn- Schlafdörfern. Kulturelle und soziale Iniativen werden dadurch weitgehend vernachlässigt. Im Zusammenhang mit der Überalterung der Bevölkerung und der qualitativen Aushöhlung des Erwerbspotentials durch die Abwanderung der Jüngeren kann man von einer Verschlechterung der Qualifikationsstruktur des Arbeitskräfteangebotes und zum Teil auch von einem Sinken der Eigeniniative der Bevölkerung sprechen. Die Abwanderung der Bevölkerung, wenn auch nur allmählich bemerkbar, hat neben dem qualitativen auch einen quantitativen Aspekt: Der Bevölkerungsverlust übt in seiner quantitativen Dimension vor allem auf die geringe Auslastung der noch vorhandenen Infrastruktureinrichtungen Einfluß aus. Dies führt zu einer Verteuerung und Verschlechterung der Infrastrukturangebote und zu einem Sinken der Wohnattraktivität. Beide Aspekte führen wiederum zu einer abnehmenden 71 Attraktivität für Investitionen, was mangelnde Arbeitsplatz- und Ausbildungangebote in den Regionen zur Folge hat (vgl. Kirlinger 1986, 26f). Der Strukturwandel mit seinen quantitativen und qualitativen Folgen für die Bevölkerung der ländlichen Regionen hat zu einer generellen Orientierungskrise beigetragen. Denn nach wie vor sind die in jahrhundertelanger Tradition des bäuerlichen Lebens gewachsenen Werte und Normen von Bedeutung. Besitz, Eigentum, Arbeit und Familie sind mit hohen ethischen Wertvorstellungen gekoppelt. Um ein eigenes Haus zu erwerben und zu erhalten, gehen Familien noch immer ökonomische und soziale Bindungen und Verpflichtungen ein, die oft ein Leben lang bestehen. Der Zusammenhalt der Familie ist noch von wesentlicher Bedeutung: Die Traditionen und Normen innerhalb der Familie stehen über individuelle Bedürfnissen und Autonomiebestrebungen. Ebenso ist die zwar ihrer ökonomischen Grundlagen beraubte soziale Gemeinschaft des Dorfes durch Hierarchien und Normen bestimmt. Der einzelne muß sich den Normen fügen; Richtschnur für das Handeln ist das, ‘was die Leute sagen’. Im Bereich der Freizeit und des geselligen Zusammenlebens sind die Möglichkeiten vor Ort zunehmend qualitativ eingeschränkt. Neue, durch die Medien vermittelte Aspekte sind hinsichtlich ihrer Realisierung nur schwer möglich. Viele ländliche Regionen haben im Zuge der Umstrukturierungen an sozialer und politischer Eigenständigkeit verloren. Gebietsreformen haben wichtige Verwaltungsbereiche nach außen verlagert. Kennzeichnend für das Leben in einer ländlichen Region ist, daß ‘Entfernungen’ das Leben prägen, die überbrückt und bewältigt werden müssen. Gelingt dies nicht, bleibt man in seinen Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt (vgl. Fröhlich-Gildhoff 1995, 120f). Im dritten Teil der Arbeit geht es darum, zu fragen, wie sich die Lebensituation Jugendlicher in ländlichen Regionen unter den geschilderten Bedingungen gestaltet. Überliefertes und Traditionelles scheinen sich aufzulösen und dennoch anzudauern. Die Wirkung dessen, ‘was immer so war’, ist nicht mehr von wesentlicher Bedeutung, weil nicht mehr von allen geteilt: Man ist selbstbestimmter und will gestalten. Dennoch bildet das Dorf und die ländliche Region ein in seinen Wirkungen wahrnehmbares Sozialisationsfeld. Stärker als in städtischen Lebensmilieus übt das ländliche einen Einfluß das Leben des Einzelnen aus (vgl. Knufmann 1993, 143f). 72 4. Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen 4.1. Gedankliche Annäherung an den Diskussionsgegenstand Im folgenden Teil der Arbeit möchte ich mich mit unterschiedlichen Aspekten der Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen auseinandersetzten. Finden wir im ersten Kapitel einen mehr oder weniger globalen Zugang zur Jugend ‘an sich’, so geht es in diesem Teil der Arbeit um die Frage, ob sich Jugendliche ‘auf dem Land’ in ihrer Lebensbewältigung und ihren Alltagshandlungen wirklich mit ‘Zwischenwelten’, d.h. einem Konglomerat aus traditionellen und modernen Lebensbezügen beschäftigen und arrangieren müssen, oder ob sich Unterschiede zu Jugendlichen in urbanen Gebieten nicht überhaupt auflösen. In der Literatur zu diesem Thema stößt man immer wieder auf die Hypothese, daß die Lebenslage von Jugendlichen in ländlichen Räumen durch ein weitgehend unvermitteltes Nebeneinander von traditionellen Wertorientierungen, gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsleitbildern und massenmedial vermittelten Stilen der Jugendkultur geprägt sei. Dem kann grundsätzlich nichts entgegengesetzt werden, scheint doch das Leben jedes einzelnen gegenwärtig von Vielfalt gekennzeichnet zu sein. Das Besondere an der Lebenslage Jugendlicher auf dem Land scheint jedoch jener Umstand zu sein, daß sie sich nicht nur, wie andere Jugendliche, mit sich immer schneller verändernden Lebensbedingungen arrangieren müssen, sondern daß sie nach wie vor in traditionelle Vergemeinschaftungsformen eingebunden sind, die unter konkreten Lebensbedingungen oft gar keine Berechtigung mehr haben und nicht mehr erklärlich sind. Jugendliche auf dem Land leben in einem Wechselverhältnis von gesamtgesellschaftlichen Individualisierungstendenzen und regional gebundenen, traditionell orientierten Kulturidentitäten (vgl. Burger 1996, 42). Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, daß Jugendliche, bedingt durch Erfahrungen mit anderen sozio-kulturellen Bezugswelten außerhalb des ländlichen Sozialmilieus, mit einer hohen Sensibilität die in vielen Bereichen weitgehend ausgehöhlten traditionellen Lebensbezüge des ländlichen Milieus durchschauen und in Frage stellen. Aus dieser differenzierten Sicht des eigenen Sozialmilieus, verglichen mit der Erwachsenenwelt, ergeben sich gänzlich unterschiedliche Bedarfslagen der Jugendlichen. Auf diese Unterschiede wird im ländlichen Alltag häufig nicht eingegangen, weil dafür weitgehend kein Platz zu sein scheint. Daraus können Schwierigkeiten im Sinne eines „nicht - koordinieren Könnens“ der unterschiedlichen Kultureinflüsse entstehen, vor allem deswegen, weil die Jugendlichen sehr wohl in der Lage sind, den modernen ländlichen Alltag mit seinen Spannungsverhältnissen zu erfassen. Dieser befindet sich im Brennpunkt von Spannungen 73 zwischen Tradition und Moderne, von territorialen Spannungsverhältnissen zwischen Dorf, Region und Stadt, zwischen Mobilität und Dorfverbundenheit, und gerade bei Jugendlichen zwischen dörflicher Erwachsenenorientierung und der Teilhabe an regionalen und städtischen Jugendkulturen (vgl. Burger 1996, 42). Das Wahrnehmen dieser Spannungen wird aber nicht thematisiert, weil man damit, so scheint es, Gefahr laufen würde, eine mühsam aufgebaute ‘ländlichen Idylle’ zu zerstören. Ein anderer Punkt, der nicht außer Acht gelassen werden darf ist jener, daß Jugend als eigenständige Lebensphase auf dem Land auch heute noch nicht vollständig anerkannt ist. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, die aufgrund ihrer Bildungs- und Lebensbiographien im Lauf des zweiten Lebensjahrzehnts nicht den landläufig Erwachsenenstatus erreicht haben, üblichen ‘normalen’ Übergang zum werden beargwöhnt und sind schlicht und einfach marginalisierungswürdig. Bevor ich auf spezifische Aspekte der Lebenssituation Jugendlicher in ländlichen Regionen eingehe, scheint es mir wichtig einen Überblick über die Bedeutung der Landjugendforschung im Kontext er Jugendforschung zu geben. 4.2. Die Bedeutung der Landjugendforschung im Kontext der Jugendforschung - Ein Überblick Böhnisch/Funk (1989, 15), betiteln ein Überblickskapitel zur Geschichte der Landjugendforschung mit „Eine Jugend, die gelernt hat zufrieden zu sein“. Und tatsächlich ist es zulässig, dieses Bild auf die Präsenz in Jugendstudien zu übertragen. Die Situation Jugendlicher in ländlichen Regionen wird in Jugendstudien kaum explizit analysiert: Es existieren wenig aktuelle, vor allem aber kaum österreichische Studien über die Lebenssituation und -führung Jugendlicher des ländlichen Raumes. Dies hat sicherlich damit zu tun, daß urbane Lebensgebiete einfach ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten und augenscheinlicher Diskussionsfläche bieten. Ländliche Jugend wird nach wie vor mit idealisierenden Attributen versehen und dem Bild der Idylle angepaßt, das der ländliche Raum der großstädtischen Vorstellungswelt zu tragen hat. Dabei wäre es aber von größtem Interesse, sich mit der Situation dieser Jugendlichen auseinanderzusetzen; gerade an ihnen als Kristallisationspunkt lassen sich die Schwierigkeiten der Lebensphase Jugend und gleichzeitig die bedingt durch strukturelle Veränderungs- und Modernisierungsprozesse der letzten Jahre bedingten Schwierigkeiten des ländlichen Raumes ablesen. Einen wesentlichen Beitrag zur Erfassung der Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Lebensräumen leistet das Deutsche Jugendinstitut in München (DJI). Zahlreiche Veröffentlichungen dieses Institutes beschäftigen sich eingehend mit der Situation dieser 74 Jugendgruppe, aber auch mit der Tradition der Jugendforschung, im besonderen mit jener der Landjugendforschung. Im folgenden soll ein kurzer Überblick - ausgehend von der Weimarer Zeit bis zur gegenwärtigen, sozialpolitisch motivierten Forschungsperspektive der Jugendforschung - gegeben werden. In Österreich bewegen sich Untersuchungen zur Situation von Jugendlichen ländlicher Regionen im theoretischen Bezugsrahmen der Jugendsoziologie, der Gemeindeforschung, aber auch im Referenzfeld der Regionalforschung (vgl. Kàràsz/Rögl 1988, 539). • Die Landjugendforschung der Weimarer Zeit Dieser Teil der Jugendforschung war, wie generell Jugendforschung dieser Zeit, der entwicklungspsychologischen Forschungstradition untergeordnet. Den Jugendkundlern der Zeit ging es in ihren Studien vor allem darum, die personellen Entwicklungsmöglichkeiten des Jugendlichen im allgemeinen, und in der speziellen ländlichen Umgebung zu erfassen. So richteten sich beispielsweise Untersuchungsziele nach folgenden Fragen aus: „Kann sich im ländlichen Raum eine eigenständige jugendliche Persönlichkeit im Sinne der kulturpubertären Entfaltung entwickeln?“ oder „Wie dringen städtsche Lebensformen auf das Land vor und was bedeutet das für die Eigenarten des Landjugendlichen - Erwachsenenzentrierung, Naturbezug, Konfliktlosigkeit des Generationsverhältnisses?“ (Böhnisch/Funk 1989, 16). Die jugendkundliche Forschung dieser Zeit ist eindeutig durch die kulturpessimistische Sichtweise der Stadt charakterisiert, der eine Idealisierung des ländlichen Raumes zu Grunde liegt und die mit Hilfe empirisch beobachtbarer soziologischer Gesichtspunkte auch die Eigenart des ländlichen Raumes im Gegensatz zum städtischen beschreibt (vgl. Böhnisch/Funk 1989,19). Eine Frage die bereits in den 20er Jahren mit großem Nachdruck gestellt wurde und auch heute im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Modernisierungstendenzen heftig diskutierte wird, war jene nach dem Einfluß der urban gesteuerten Modernisierung der Gesellschaft auf die Entwicklung des Stadt-LandVerhältnisses. Diese Fragen richtete sich vor allem darauf ob es durch die Modernisierungstendenzen zu einer Stadt-Land-Nivellierung kommen wird oder ob es dem Land gelingen wird, auch mit zunehmenden modern-technisierten Einflüssen die kulturelle Eigenart und Identität zu bewahren (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 19). Die Jugendkundler der Zeit versuchten im Bereich der Landjugendforschung der Frage nachzugehen, ob es im Zuge der urban-industriellen Nivellierung zu einer Überlagerung oder Auflösung der „ländlichen Eigenart“ der Lebendbewältigung kommt, oder ob es den Jugendlichen gelingt, diese „Eigenart“ zu bewahren. Hier stellt sich natürlich die Frage, was als ländliche Eigenart operationalisiert werden kann. 75 Böhnisch/Funk (1989, 22) geben zu bedenken, daß - obwohl die Jugendkunde der Zeit sehr gut in der Lage war, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu erfassen - an anderer Stelle Mängel herrschten: Dort, wo es darum ging, das ‘Jugendgemäße’, d.h. die ‘Eigengesetzlichkeiten der Jugend’ zu erfassen, hätte wenig Sensibilität bestanden. Es ist den Jugendkundlern nicht gelungen, die ersten Anzeichen der sozialen Freisetzung auch der ländlichen Jugend der 20er Jahre zu erheben. Dieser Umstand könnte auch der Tatsache zugeschrieben werden, daß dem Forschungsanliegen noch „keine Sozialisationstheorie zugrundegelegt war, welche auf diese Prozesse der sozialen Freisetzung aufmerksam machen konnte“ (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 22). Mit dem städtischen Einfluß auf das Land hat sich vor allem der Wert bzw. die Bedeutung der Bildung und der Berufsorientierung wesentlich verändert. Besonders für die männliche Jugend eröffnete die Installierung ländlicher Fortbildungseinrichtungen neue Möglichkeiten, es entstanden neue Berufsorientierungen und es kam darüber hinaus auch zu einer Entdeckung neuer Lebensmodelle und Orientierungen. So gibt es starke Hinweise dafür, daß diese neue Berufsorientierung der Jugendlichen mit der traditionellen Arbeitsorientierung des ländlichen Raums in Konflikt geraten mußte, die zwischen Arbeit und Leben keinen Unterschied sah (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 23). Der städtische Einfluß brachte somit nicht nur eine andere Arbeitseinstellung sondern auch eine neue Lebenseinstellung mit sich. Diese wiederum brachten die Möglichkeit von sozialer Selbstständigkeit und Abgrenzung gegenüber der traditionellen Erwachsenenwelt der ländlichen Lebensgemeinschaft zu erlangen. Es zeichnete sich also die Entwicklung eines eigenen ländlichen Jugendstatus ab, den es bis dahin traditionell nicht gab. Die Jugendforschung der 20er Jahre arbeitete vorwiegend mittels beschreibender und verstehender Methoden. Es ging dabei hauptsächlich, um ein reines Nachvollziehen der beobachtbaren Vorgänge: Man versuchte, die Lebensäußerungen der Jugendlichen aus ihrem Lebenszusammenhang heraus zu deuten und damit auch in ihrer Tendenz zu objektivieren (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 25). Bis zu den 50er Jahren gibt es eine Lücke in der Tradition der Landjugendforschung. Der Grund liegt darin, „daß in der nationalsozialistischen Ära die jugendkulturell orientierte Tradition der pädagogischen Landjugendforschung, abgebrochen ist“ (Böhnisch/Funk 1989, 16). Ursachen dafür sind in den historischen Tatsachen der Zeit zu suchen. Mit dem Jahr 1933 ist in Deutschland die gesamte Dorfjugend fast automatisch in die Hitlerjugend 76 übergegangen. „Diese Rekutierung der ländlichen Jugend für die Hitlerjugend schien einfacher gewesen zu sein als im städtischen Bereich“ (Böhnisch/Funk 1989, 16); vermutlich deswegen, weil Dorf- bzw. Landjugendliche in Jahrgangskameradschaften eingeteilt waren. Der Nationalsozialismus brachte eine Transformation des Jugendstatus in eine alltagstotalitäre Organistationsform mit sich, die sich leicht in den Dörfern verankern konnte. Parallel dazu gab es eine starke Tendenz großstädtische Lebensformen und damit auch jugendkulturelle Bezüge zu denunzieren. „Die ideologische Verneinung subkultureller Lebensformen führte jugendpädagogische gleichsam zu Suchbewegung einem nach Forschungsverbot, der somit jugendkulturellen wurde die Besonderheit der Landjugend abgeschnitten“ (Böhnisch/Funk 1989, 16). • Landjugendforschung in den 50er Jahren In den 50er Jahren kam zu einer Gabelung der Landjugendforschung. Einerseits wurde die entwicklungspsychologische Forschungslinie weitergeführt, andererseits wurde verstärkt mit einstellungs- und verhaltensorientierten, repräsentativen Forschungslinien gearbeitet. Diese Entwicklung ist vor allem vor dem Hintergrund des Strukturwandels des ländlichen Raums und der veränderten Zusammensetzung der ländlichen Bevölkerung, damit auch der Jugendszene, zu sehen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 17).Die Intention der Forschung lag darin, die Auswirkungen der allgemeinen Erosion der dörflichen Integrationsmuster im Zuge der urban-industriellen Überformung und Durchdringung des ländlichen Raums auf die Jugendphase zu beschreiben (Böhnisch/Funk 1989, 36). Eine wesentliche Veränderung entwicklungspschologische Bezugsmomenten und gab es vor Betrachtungsweise soziologischen allem und Methoden dahingehend, Methodik mit verknüpfte daß man die sozialstrukturellen und erweiterte (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 17). Nicht mehr die Entwicklung der Persönlichkeit und des Charakters der Landjugend in ihrer Lebenswelt stand nun im Mittelpunkt des Interesses sondern vielmehr die Bewältigung des veränderten ländlichen Alltags vor dem Hintergrund der sich veränderten ländlichen Sozialstruktur. So ist beispielsweise auch das Forschungsinteresse der ersten der drei Repräsentativuntersuchungen von Ulrich Planck über die Situation Jugendlicher in ländlichen Regionen in den 50er Jahren rund um die Einschätzung angelegt, ob die Jugend bei den sich abzeichnenden ökonomischen und sozialen Entwicklungs- und Umwälzungsprozessen ‘mitkommt’ oder nicht (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 49). Ulrich Planck (Planck/Wagner 1957, 77 180) beschreibt die Situation der ländlichen Jugend, insbesondere der bäuerlichen Jugend, als Lebenssituation in einem Spannungsfeld zwischen überlieferten Lebensformen und Leitbildern der industriellen Gesellschaft (vgl.Planck/Wagner 1957, 49). „Die ländliche Jugend befindet sich in dem Spannungsfeld zwischen Lebensformen der vorindustriellen Gesellschaft und der Sozialnormen der industriell-bürokratischen Gesellschaft, die sie als gültig anerkennt“ (Planck/Wagner 1957, 180). Planck stellt in diesem Zusammenhang auch die Forderung auf, man müsse den Jugendlichen den Übergang von den alten zu den erstrebten neuen Gesellschaftsformen erleichtern. Es geht nicht nur darum die städtischen Formen nachzuahmen: Vielmehr soll aus diesem Spannungsverhältnis ein schöpferischer Akt entstehen, um ein Zurechtfinden in den Umwälzungsprozessen der Zeit zu ermöglichen. Für Planck ist dies auch eine der wesentlichen pädagogischen und sozialen Aufgaben, die im ‘Blick auf die westdeutsche Landjugend’ erfüllt werden müssen (vgl. Planck/Wagner 1957, 180). So ist es auch verständlich, daß sich die Landjugendforschung angesichts der förmlichen Überflutung des Erscheinungsbildes der Dörfer durch Industrialisierung- und Modernisierung mehr und mehr hin zu den vergesellschaftungs- und modernisierungsorientierten ‘systemischen’ Jugendstudien entwickelt hat. Die Fragen, die diese Jugendstudien begleitet haben waren z.B.: „Wenn die Jugend im ländlichen Raum ‘städtischer’ wird, hat sie dann auch vergleichbare soziale und kulturelle Möglichkeiten?“ Um diese Fragestellung formulieren zu können, war es notwendig, Jugend als sozial freigesetzte Lebensphase anzuerkennen, um dadurch auch die Forschung besser regional- und schichtspezifisch zu differenzieren. In den 50er Jahren findet man auch erste Studien, die sich explizit mit den Lebensverhältnissen von Mädchen und jungen Frauen in ländlichen Regionen auseinandersetzen, vor allem dort, wo sie als Fabriksarbeiterinnen aus der traditionellen Frauenrolle des bäuerlichen Milieus heraustraten. Allerdings wurden diese Studien dann nicht geschlechtsspezifisch weiterverfolgt und bewertet. Die Motivation dieser Studien ist nicht von jugendkundlichem Interesse geleitet, sondern eher von der Sorge, ob angesichts des ökonomischen Strukturwandels und der damit diagnostizierten Erosion des bäuerlichen Milieus durch modernere Einstellungen der Landmädchen die familiäre Integrationsrolle der Frau geschwächt würde (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 36). Der große Verdienst der Landjugendforschung der 50er Jahre liegt in der Analyse der Veränderung der Jugendphase in Verbindung mit dem Strukturwandel des ländlichen Raumes: Vor allem die Herausarbeitung der Ambivalenz der ländlichen Lebensformen angesichts der Modernisierungs- und Urbanisierungstendenzen ist von nachhaltiger 78 Bedeutung (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 37). In den 50er Jahren entsteht - erstmals auch für Jugendliche in ländlichen Regionen - die Möglichkeit, sich als eigenständige Sozialgruppe zu deklarieren. Dazu gehörte unter anderem auch das Bewußtsein, eigene Probleme in Bezug auf die Lebensbewältigung auzuformulieren bzw. auch, das ‘Bewußtsein der eigenen sozialen Sitution’ wahrzunehmen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 39). Gerade aus diesem neuen Bewußtsein entwickelt sich zum einen die scheinbar vorbehaltlose Übernahme moderner Verhaltensweisen aus den urbanen Gebieten: Die Jugendlichen entwickeln den Wunsch, diese neuen Orientierungen auch in ihrem Lebensraum auszuleben - obwohl es ihnen in den traditionellen dörflichen Welten erschwert wird, von diesen neuen Selbständigkeiten zu profitieren. Die Landjugendforschung der 50er Jahre hat erkannt, daß die traditionellen dörflichen Welten einen großen Beitrag zu der starken Abwanderung junger Menschen in die Städte geleistet haben: Nicht nur schlechtere wirtschaftliche und soziale Bedingungen haben also die Abwanderung der jungen Bevölkerung forciert, sondern auch die abwehrende Haltung der dörflichen Gemeinschaft gegenüber der ‘neuen Selbständigkeit’ der Jugend (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 39). • Landjugendforschung der 60er und 70er Jahre Die Landjugendforschung der 60er bis 70er Jahre wird vor allem von der Umfrageforschung dominiert. Diese Methodik der Erhebung kommt den Tendenzen der zunehmenden Vergesellschaftung der Landjugend durch das Bildungswesen zugute. War in den 50er Jahren trotz beginnender Modernisierungsbestrebungen noch ein deutlich ländlicher Milieubezug festzustellen, so entwickelte nun die Jugend des ländlichen Raumes von da an zunehmend in Richtung einer milieuabgehobenen Durchschnitts- „Bildungsjugend“ (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 46). Das Interesse der Landjugendforschung richtete sich nunmehr nicht mehr darauf, ob die ländliche Jugend den Entwicklungsprozessen des ländlichen Raumes überhaupt Folge leisten konnte, sondern darauf, ob die durch die Modernisierungstendezen aufgeworfenen Aufgaben von der Jugend gelöst werden konnten (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 41). „Nun konnte gefragt werden, wie sich die Landjugend im sozialen Wandel strukturell verändert und funktional bewährt hat“ (Böhnisch/Funk 1989, 41). Ein Großteil der Jugendforschungen dieser Zeit, besonders der 70er Jahre, bezog sich auf Untersuchungsgebiete wie Bildungsmobilisierung, Berufsorientierung und Arbeitsplatzmobilität. Alle Studien, die in diesem Zeitraum durchgeführt wurden, kamen zu dem Ergebnis, daß die Jugend in ländlichen Regionen im Bildungs- und Ausbildungsstand eindeutig aufgeholt hat. Deutlich erkennbar ist vor allem, daß die Jugendlichen nicht mehr nur einen beliebigen Beruf wollen, sondern die Qualität des Berufes und damit auch die Qualität 79 des künftigen Lebens mit in die Berufsentscheidung einbeziehen (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 49). Ein weiteres Ergebnis der Studien ist die Erkenntnis der Tatsache, daß immer mehr Jugendliche angeben, ihr späteres Leben auch auf dem Land verbringen zu wollen. Diese Tendenz läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß ländliche Regionen in den 70er Jahren verstärkt durch infrastrukturelle Maßnahmen verändert wurden, womit eine bessere Anschließung an den urbanen Raum gegeben war. Hinsichtlich der „Bleibeorientierung“ zeichnet sich in den Untersuchungsergebnissen ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern ab:Mädchen und jungen Frauen formulierten einen schwächer und negativer ausgeprägten Bleibewunsch als männliche Jugendliche (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 49). Das Ergebnis der tatsächlichen Umsetzung zeigt aber, daß es männlichen Jugendlichen leichter gelungen ist, sich aus den mehr oder minder fest gefügten Traditionsmustern zu lösen als Mädchen; Mädchen sind nach wie vor verstärkt an den unmittelbaren, traditionellen, ländlichen Lebensbezug gebunden. Ein weiteres Ergebnis der Landjugendforschung bringt zutage, daß der Wunsch nach eigenen Räumen zur Freizeitgestaltung ausformuliert wurde. Jugendliche geben sich immer weniger mit den konventionellen Freizeit- und Gesellungsmustern [Vereine] zufrieden; als sichtbare Manifestation ihrer Selbständigkeit sollen Räume dienen, die ihnen verstärkt eine eigene Freizeitgestaltung erlauben. Trotz allem zählt es zu den wesentlichen Ergebnissen der Forschung der 70er und beginnenden 80er Jahre, daß sich mit dem Strukturwandel auf dem Lande der Anpassungsdruck an konventionelle Lebensentwürfe überwiegend eher noch verstärkt hat, obwohl die Jugendlichen einen größeren kulturellen Bewegungsraum besitzen als früher und die ländliche Enge zumindest teilweise aufgebrochen werden konnte. Einerseits ist das Selbstbewußtsein gewachsen, was es etwa möglich machte, sich auch über bestimmte Lebensbereiche [Mode, Medien] von den traditionellen Lebensentwürfen abzulösen. Dem, so Böhnisch/Funk (1989, 53), stehe gegenüber, daß der ländliche Raum weiter sozial und kulturell ausgedünnt sei, daß sich die sozial - ökonomischen und sozial - kulturellen Voraussetzungen für die Freisetzung einer Jugendkultur analog der in den städtischen Ballungsgebieten nicht entfalten können. So wie das gesamte Erscheinungsbild ländlicher Regionen in den 70er Jahren als spezifisches „Amalgam“ (Böhnisch/Funk 1989, 52) aus traditionellen kulturellen und modernen kulturellen Einflüssen besteht, stellt auch die Jugendkultur ein solches Amalgam dar. Eine Vermischung aus Tradition und Moderne ohne theoretische Legitimation. 80 • Die sozialpolitisch motivierte Forschungsperspektive In der Folge soll versucht werden, die Forschungsintention der Forschergruppe um Lothar Böhnisch zu skizzieren. Diese Gesamtschau seiner Forschungsergebnisse ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung, weil der Großteil der erhältlichen aktuellen Literatur unter dem Einfluß dieser Forschergruppe steht. Das wesentliche Kennzeichen einer sozialpolitisch motivierten Forschungsrichtung besteht darin, auf empirischem Weg soziale Daten zu erheben und sie aufeinander zu beziehen. Dabei handelt es sich um Daten, die die Lebensverhältnisse der Menschen in ihrer Lebenswelt wiedergeben. Im konkreten Fall der Landjugendforschung geht es darum, die „Lebensverhältnisse von Jungen und Mädchen im ländlichen Raum nach Struktur, Entwicklung und Veränderung der in ihnen enthaltenen regionalen sozialen Chancen zu erschließen“ (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 54). Der Begriff „regionale Sozialchance“ bedeutet in diesem Kontext, daß Jugendliche und junge Erwachsenen, die sich dazu entschließen, in ihrer Heimatregion zu bleiben, die dort erreichbaren und herstellbaren Möglichkeiten, einen ökonomischen und soziokulturellen Lebensmittelpunkt zu finden, gegeben sind (Böhnisch/Funk 1989, 54). Ein weiterer Diskussionspunkt in sozialpolitisch motivierten Forschungsansätzen ist die Auseinandersetzung mit den Begriffen Lebenslage und Lebensbewältigung, wobei letzterer die subjektive Seite der Lebenslage beschreibt. Der Begriff der Lebenslage wird bei Böhnisch/Funk (1989, 54f) folgendermaßen umrissen: „[...] damit ist die These verbunden, daß kollektive Lebenssituationen unter modernen sozialstaatlichen Bedingungen nicht allein durch den marktförmigen sozialökonomischen Kontext von Produkion und ihrem Gegenstück - Haus-Frauen-Arbeit- geprägt sind, sondern darin immer auch durch die besonderen Wirkungen sozialstaatlicher Politik - sei es der Familienpolitik, der Sozialpolitik, der Regionalund Bildungspolitik - mitbestimmt sind“. Unter Lebensbewältigung [subjektive Seite der Lebenslage], werden „[...] die aktiven Leistungen des einzelnen Subjekts, seine alltäglichen Praktiken ebenso wie seine Lebensentwürfe und Lebensperspektiven“ verstanden. Wenn nun in diesem Kontext von Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen gesprochen wird, bedeutet dies ein besonderes Eingehen auf „[...] typische Formen der sozialstaatlichen Vergesellschaftung des ländlichen Raums, welche verbunden mit entsprechenden regionalpolitischen Strategien bestimmte Entwicklungshorizonte und Muster sozialer Reproduktion setzen. Diese wiederum strukturieren das soziale Spannungsfeld regionaler Lebensbewältigung“ (Böhnisch/Funk 1989, 55). 81 Daraus ergeben sich für eine „Lebenslagenorientierte, sozialpolitisch motivierte Jugendforschung“ drei wesentliche Untersuchungsaspekte: 1. Wie lassen sich die modernen Muster sozialer Reproduktion im ländlichen Raum auf die heutige Jugendphase vermitteln? Wie wird die Jugendphase durch diese Muster in ihrer Struktur beeinflußt? 2. Wie gewinnen Jugendliche in alltäglichen Prozessen Raum für die Entwicklung von Spielräumen und Entfaltungsmustern? 3. Inwieweit erkennen öffentliche Organe und Institutionen im sozialpolitischen Kontext die Schwierigkeiten der Lebenslage der Jugendlichen? (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 56). Diese Art der Forschung richtet demnach ihr Interesse auf die öffentliche Transparenz der Diskussion von Lebensumständen. Wie wird mit Lebensproblemen Jugendlicher [Frauen,...] in ländlichen Regionen Diskussionsgegenstand umgegangen? regionalpolitsicher Wieweit Iniativen? sind jugendspezifische Nimmt man Themen Jugendliche als eigenständige Sozialgruppen war oder werden sie „übergangen“? „Übergangen werden meint nicht, daß die Lebensprobleme nicht wahrgenommen oder behandelt werden, sondern verweist auf die Art und Weise, wie sie behandelt werden“ (Böhnisch/Funk 1989, 58). Das Konzept der Lebenslage bzw. der Lebensbewältigung wird vor allem dort interessant, wo traditionelle, institutionelle Lebensentwürfe mit starr zugeschriebenen Statuspassagen brüchig geworden sind. Gerade im ländlichen Raum haben bislang gesicherte Muster der Lebensführung an Selbstverständlichkeit und Bedeutung verloren bzw. sind in Veränderung begriffen. Diese Veränderungen treffen insbesondere für Jugendliche in ländlichen Regionen zu. Die sich daraus ergebenden Ambivalenzen im ländlichen Bereich zeigen sich besonders im Prozeß der Freisetzung der modernen Lebenslage der Landjugend. Dahingehend formulieren auch Böhnisch/Funk für das Forschungsinteresse folgenden relevanten Hypothesenzusammenhang: „Vor dem Hintergrund lebenstypsicher Formen sozialer Reproduktion ergeben sich Handlungsspielräume und Entwicklungshorizonte, deren Realisierung aber immer abhängig ist von der Art der sozialpolitsichen Definition und den Formen der öffentlichen Akzeptanz dieser Zusammenhänge“. Daraus ergibt sich, daß besonders durch das Lebenlagenkonzept „zentrale kategoriale Dimensionen für eine landregionalspezifische Operationalisierung geeignet sind“ (1989, 61). Unter welchen Gesichtspunkten erfolgt nun die Herausarbeitung lebenslagenbeschreibender Aspekte? Gundsätzlich läßt sich eine These von Kàràs/Rögl verwenden: Bedingt durch den sozialen Wandel seien bei Jugendlichen in ländlichen Regionen Lebens- und Werthaltungen 82 entstanden, die jenen derselben Altersgruppe in städtischen Lebensräumen ähnlich sind (vgl.Kárás/Rögl 1988, 539). Der Unterschied besteht lediglich darin, daß diese ‘neuen’ Verhaltensorientierungen, die neue Bedürfnis- und Interessenslagen mit sich bringen, nicht in jeder Hinsicht vor ‘Ort’ zur Geltung gebracht werden können. Mit dieser Nichtumsetzbarkeit ist der Jugendliche vordergründig im Bereich der Schul- und Berufsausbildung und der damit verbundenen beruflichen Karrieremöglichkeiten konfrontiert, wie auch in seinen Freizeit- und Konsumbedürfnissen. Trotz Angleichung der Aufwachs- und Lebensbedingungen zwischen Jugendlichen in Städten und ländlichen Gebieten ist ihre Lebenswirklichkeit weiter an die alltägliche Lebenssituation der ländlichen Region gebunden. Die Jugendlichen müssen sich nicht nur mit veränderten Vergemeinschaftungsformen Lebensbedingungen vormalig arrangieren, landwirtschaftlich - sondern sind in dominierter Orientierungen eingebunden, die trotz des Schwindens ihrer Berechtigung unter den konkreten Lebensbedingungen noch eine starke Auflösungsresistenz zeigen. Die Ansätze zu jugendkultureller Individualisierung bewegen sich so zwischen sie fördernden zeitgeistigen Strömen, sowie konkreten, schon individualisierten Lebensbedingungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite in einer noch kraftvollen, aber ohne lebensweltiche Evidenz ‘freischwebenden’ ländlichen Formierungen von Handlungs-, Lebensorientierungen und Deutungsmustern (vgl. Sander 1987, 115). Gerade dieser Aspekt ist ein prägendes Merkmal für die Lebenssituation der Jugendlichen. Sie bemerken zwar, daß der soziale Wandel in ländlichen Regionen zur Herausbildung heterogener Lebensstile geführt hat, erleben diese Heterogenität aber unter Anregung ganz anderer Maßstäbe als etwa die Erwachsenen- bzw. Eltergeneration. Das Leben der Jugendlichen ist von urban-modernen Vorstellungen geprägt, die sich täglich in ihrem Erfahrungs- und Wahrnehmungsraum vergegenwärtigen. So sehen sie, bedingt durch Erfahrungen in anderen sozial-kulturellen Bereichen, Veränderungen der Lebensbedingungen anders und vielleicht auch realistischer. Gleichzeitig bemerken sie aber auch, daß die Chancen, und wie diese Perspektiven in der alltäglichen Lebensführung umzusetzen sind, abhängig sind von der besonderen Beschaffenheit der ländlichen Sozialwelt (vgl. Böhnisch/Winter 1990,18). So ist auch die ‘Heterogenität’ der Lebensstile immer in der Zugehörigkeit zur spezifischen sozialräumlichen Struktur der jeweiligen Landgemeinde zu sehen. Tiefgreifende Veränderungen der Lebensbedingungen in ländlichen Regionen zeigen nachhaltige Wirkungen für die Lebenssituation Jugendlicher, auch dann, wenn der ursächliche Zusammenhang nicht klar ersichtlich ist. Einige spezifische Konstellationen bieten sich besonders dazu an, die Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen zu thematisieren und die Annäherung an die „Sozialgruppe ländliche Jugend“ zu versuchen (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 121). So sind vor allem die Fragen der ‘sozialen Freisetzung der Jugendlichen’, der ‘Aspekte der Regionalität und regionalen Optionen der 83 Schul- Berufsbildung und Freizeitgestaltung’, der ‘dörflich sozialen Integration bzw. Segration der Jugendlichen und jungen Erwachsenen’ und der aus diesen Fragen resultierenden ‘Bleibe- oder Abhauorientierung’ relevant (vgl.Böhnisch/Funk 1989/Böhnisch/Winter 1990). Auf diese Themenbereiche soll nun im weiteren eingegangen werden. 4.3. Soziale Freisetzung Jugendlicher in ländlichen Regionen Wie bereits im historischen Überblick über die Landjugendforschung erwähnt, wird die soziale Freisetzung Jugendlicher in ländlichen Regionen und die damit korrespondierende Anerkennung der Jugend als eigenständige Sozialgruppe mit spezifischen Bedürfnis- und Interessenlagen, in den 50er Jahren zum Gegenstand sowohl der Forschung als auch der eigenen Wahrnehmung der ländlichen Jugend. Die sukzessiven Umstrukturierungen der Gesellschaft ermöglichen Jugendlichen in ländlichen Regionen erstmals ein Bewußtsein für eigene Probleme, d.h. die Fähigkeit, die eigene Lebenssituation auszuformulieren und dementsprechende Bedürfnisse zu artikulieren: Man sieht sich als eigene soziale Gruppe. Natürlich ist dieses „historische Datum der sozialen Freisetzung“ immer relativ in Bezug auf das jeweilige ländliche Milieu und die jeweilige Geschlechtslage zu sehen. Ein wesentliches Merkmal des modernen Freisetzungsprozesse der Jugend im ländlichen Raum ist, daß sich diese Tendenzen nicht punktuell, traditionalen Dorfes ergeben aus dem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext des haben, sondern sich in einem dorfübergreifenden Zusammenhang entwickeln mußten (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 120). Ein Erklärungsansatz für diesen Umstand findet sich in den historischen Daten der Modernisierung und Strukturveränderung der ländlichen Räume. Strukturfunktionale Veränderungsmaßnahmen in den ländlichen Räumen haben dazu geführt, daß im Zuge von Zentralisierungsmaßnahmen und Infrasturkturverbesserungen die bis in die 50er/70er Jahre verbreitete Kleinstrukturiertheit der ländlichen Räume weitgehend aufgelöst wurde. Hand in Hand mit Veränderungen im Produktions- und Erwerbssektor, vor allem dem der Landwirtschaft, hat diese Entwicklung dazu geführt, daß vorwiegend die junge Generation in das ‘erweiterte ländliche Sozialmilieu’ vordringt bzw. vordringen muß, um den neuen gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen. Die Region wird also von der Bevölkerung am Land zunehmend als wichtige Lebensraumkategorie wahrgenommen. Das Dorf allein kann nicht mehr alle funktionalen Ansprüche erfüllen, behält aber als unmittelbare sozio-kulturelle Instanz seine Bedeutung. Fischer (in: Böhnisch/Funk 1989, 136) kommt in einer zusammenfassenden Interpretation, der deutschen Shell Jugendstudie 1981 zum Schluß, daß Jugendliche in ländlichen Regionen verstärkt den Wunsch hätten, so schnell als möglich erwachsen zu werden, weil sie ihr Jungsein noch immer als Durchgangsstadium zum Erwachsenenstatus erfahren. Böhnisch/Funk (1989, 136) halten dem entgegen, daß diese Aussage primär jugendkulturelle 84 Einstellungsunterschiede im Stadt-Land Vergleich thematisiert, aber wenig über die sozio kulturelle Lebenswirklichkeit der Jugendlichen in ländlichen Regionen aussagt. Bezüglich der sozialen Freisetzung Jugendlicher ist noch auf einen weiteren Unterschied zwischen Stadt und Land zu beachten: Während der gesellschaftliche Strukturwandel für Jugendliche in den urbanen Lebensräumen dazu geführt habe, kulturelle Potentiale freizusetzen, welche sie dazu nutzen, um eigenständig von Durchschnittsmustern der Erwachsenengesellschaft abweichende Lebensstile zu entwickeln, habe im Gegensatz dazu der gesellschaftliche Strukturwandel in den ländlichen Regionen eher zu einem Anpassungsdruck an den konventionellen, durchschnittlichen Lebensentwurf der dörflich - ländlichen Erwachsenengesellschaft geführt. Andererseits hätten Jugendliche heute größere kulturelle Bewegungsmöglichkeiten, die sie in vielfältiger Art und Weise die Veränderungen der ländlichen Enge nutzen lassen, um den Alltag elastischer und bunter zu gestalten. In diesem Kontext ist natürlich auch das Selbstbewußtsein Jugendlicher in ländlichen Regionen gestiegen, was sich in der Verwirklichung selbstbestimmter Lebensbereiche manifestiert. Das neue Selbstverständnis entwickelt sich vor allem aus dem Konsum- und Freizeitverhalten der Jugendlichen, das sich ausdrücklich von dem der Erwachsenengeneration abhebt. Im besonderen hat die starke Differenzierung von Arbeitsund Freizeit zu einer starken Veränderung der traditionellen Lebensführung auf dem Land geführt. Böhnisch/Funk (1989, 137) meinen aber, daß der ländliche Raum kulturell ausgedünnt und disparitär sei, daß die sozio - ökonomischen und sozio - kulturellen Voraussetzungen für eine Jugendkultur, anders als in den Ballungsgebieten, nicht gegeben seien. In Ballungsgebieten kommt es zu einem starken Hervortreten von jugendlichen Subkulturen, worauf der ländliche Raum in seiner Beschaffenheit nicht ausgerichtet ist. Dies sei auch der Grund dafür, daß sich Jugendliche in ländlichen Räumen nicht an den gegenwärtigen Stilrichtungen der Jugendkultur beteiligen können. Jugendliche am Land sind auf konventionelle Lösungen angewiesen. Aus diesem Grund wird den Jugendlichen auch eine ‘jugendkulturelle Lücke’ diagnostiziert, was mehr als nur ein kulturelles Nachhinken der Jugendlichen bedeutet und eher auf der qualitativen Ebene zu suchen ist. Damit wird das Phänomen schwer faßbar. Die Autoren Böhnisch/Funk (1989, 137) kommen zu dem Schluß, daß sich in ländlichen Regionen nicht jene subkulturellen Szenen etablieren können wie in urbanen Gebieten. Soziokulturelle Freisetzungsprozesse führen zwar allgemein auch in ländlichen Gebieten zur eigenständigen Herausbildung der Sozialgruppe Jugend; diese Freisetzung ist aber eine andere und muß daher auch mit anderen Maßstäben gemessen werden, als dies weitläufig aus der subkulturellen Perspektive des großstädtischen Raumes geschieht. Der Unterschied in der sozialen Freisetzung zwischen urbanen und ländlichen Gebieten scheint der zu sein, daß es in ländlichen Regionen nach wie vor so ist, daß etwa die 85 familiale Nahwelt, die Verwandten, die Erwachsenenwelt der Dorföffentlichkeit und die allgemeine Sozialwelt des Dorfes sehr stark ineinander übergehen, was die soziale Freisetzung der Jugendlichen dementsprechend prägt. Die Verpflichtung zum Arrangement mit und im örtlichen Alltag ist omnipräsent und kaum umgehbar. Dieses Übereinkommen sichert die Reproduktion der dörflich - lokalen Normalität, geht aber, bedingt durch die jugendkulturelle Perspektive, auf einer jeweils moderneren Stufe der Lebensformen und Verhaltensstile vor sich (vgl. May 1994, 328). Die soziale Freisetzung der Jugendlichen ist mit einer mehr oder weniger stark antizipierenden Integrationsperspektive, ausgerichtet auf das Lebensumfeld, ausgestattet, aber im Unterschied zur Elterngeneration und Dorföffentlichkeit mit einer vergleichsweise höheren soziokulturellen Selbständigkeit. Die Jugendlichen streben nach einer eigenständigen, respektierten Rolle neben der dörflichen Erwachsenenwelt, sie grenzen sich bewußt gegen die Erwachsenen im Dorf ab, möchten aber auch möglichst früh das erreichen, was in der dörflichen Erwachsenenwelt Status und Selbständigkeit verheißt. Konkret ähneln die Verhaltensmuster Jugendlicher im Geselligkeitsund Konsumbereich jenen der Erwachsenen, sind diesen aber nicht gleich. Diese Verhaltensformen zielen darauf ab, zu demonstrieren, daß man nicht mehr auf das Dorf angewiesen ist. Damit wird die eigene Mobilität, die Teilhabe am Markt als Konsument und die eigene Interessenslage bekundet (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 138). Der Prozeß der soziokulturellen Freisetzung der Jugend im ländlichen Raum ist also immer im Spannungsverhältnis zwischen jugendkultureller und dörflicher Integrationsperspektive anzusiedeln. Die soziokulturelle Freisetzung der Jugendlichen ist im ländlichen Raum vor allem unter den Begriffen der ‘Dorforientierung’ und der ‘dörflicher Freisetzung’ zu verstehen. ‘Dörfliche Freisetzung’ meint in diesem Zusammenhang, daß die Jugendlichen ihre Adoleszenz als Lebensphase nutzen, in der man sich vom Dorf absetzen kann, in der man praktisch oder zumindest intentional nicht mehr auf das Dorf angewiesen ist, obwohl absehbar ist, daß man später einmal im selben Dorf oder einem anderen dörflichen Umfeld der Region leben wird. Die Perspektive, später einmal in einem dörflichen Umfeld zu leben, wird als ‘Dorforientierung’ verstanden (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 139). Ein wesentlicher Beitrag zur Freisetzung Jugendlicher in ländlichen Regionen wird auch der Auflösung der Jahrgangsgruppen zugesprochen. Haben doch über Generationen hinweg Jahrgangsgruppen und Altersjahrgänge die Strukturen der traditionellen Jugendzeit gebildet. Noch immer sind in Regionalzeitungen und Gemeindeblättern Aufrufe zu sogenannten „Jahrgangstreffen“ zu lesen, Großeltern und Eltern sprechen immer wieder von der großartigen Gemeinschaft des jeweiligen Jahrganges und den einmaligen Aktivitäten, mittels deren man sich nachhaltig in die Gemeindegeschichte eintragen wollte. Die Funktion dieser Jahrgangsgruppen war darin zu sehen, daß die Jugendzeit 86 keine eigenständige jugendkulturelle Freisetzung hervorbrachte. Sie war eine dörflich kontrollierte und organisierte Übergangszeit zum Erwachsenenstatus. Die Jugendphase war in die dörfliche Reproduktion und in die allmähliche Einführung in die jeweilige dörfliche Sozialwelt eingebunden. Im Zuge der gesellschafltichen Modernisierungsmaßnahmen löste sich diese Aufspaltung in Jahrgangsgruppen auf. Die bis dahin erfolgte Formierung der Jahrgangsgruppen aus den jeweils schulentlassenen Gruppen, die auch weiter auf das Dorf zentriert bleiben, hat sich mit der Ausweitung und Auslagerung der Bildungseinrichtungen in die Regionen weitgehend aufgelöst. Böhnisch/Funk (1989, 144) vermuten die Auflösung der Jahrgangsgruppen in den Dörfern seit der Nachkriegszeit sei ein wichtiges historisches Indiz für die Anfänge der sozialen Freisetzung der Jugend im ländlichen Raum. Die Jugendlichen begannen sich vermehrt nach außen zu orientieren, und die Jahrgänge durchmischten sich altersmäßig zu Cliquen die sich immer mehr der sozialen Kontrolle des Dorfes entziehen konnten. Die genaue zeitliche Verortung dieser Tendenzen variiert sehr stark von den lokalen Gegebenheiten der ländlichen Gebiete: Dörfer, die im näheren Umfeld von Verdichtungsräumen lagen, konnten die Auflösung der Jahrgangsgruppen schon in den 50er Jahren beobachten, während andere weiter in der Peripherie liegende Gebiete diese Veränderungen erst in den 60er oder 70er Jahren erfuhren. 87 4.3.1: Exkurs: Sozialen Freisetzung bei Mädchen und jungen Frauen Ein Aspekt, der im Zusammenhang mit der sozialen Freisetzung der Jugend in ländlichen Regionen nicht vernachlässigt werden sollte, ist jener der Freisetzung von Mädchen und jungen Frauen. Für Mädchen gestaltet sich dieser Prozeß anders als für Burschen. Natürlich ist allgemein mit der Freisetzung der Jugend im ländlichen Raum die traditionelle Geschlechterrollentrennung durch den jugendkulturellen Nivellierungsprozeß transformiert (Böhnisch/Funk 1989, 145). Gegenwärtig scheinen Mädchen in ländlichen Regionen sowohl mit modernen als auch mit traditionellen Grenzen der Geschlechtsrollenzuschreibung konfrontiert zu sein. Der Unterschied im Freisetzungsprozeß zu dem der Burschen liegt darin, daß diesen zugestanden wird, den Freisetzungsprozeß nach außen hin offensiver zu gestalten: Mädchen unterliegen hier stärker der familialen und dörflichen Kontrolle. „... im ländlichen Raum haben Mädchen meist wenig Zugang zu Öffentlichkeiten, sie sind der familialen und dörflichen Kontrolle stärker ausgesetzt, finden aufgrund der überkommenen, aber modern neu geformten Geschlechterrollenstereotype wenig kulturelle Akzeptanz für Aktivitäten, die in Richtung eines eigenen Sozialstatus gehen“ (Böhnisch/Funk 1989, 141). Allerdings setzen sich Mädchen aktiver mit Mechanismen der sozialen Regelementierung und Kontrolle auseinander als Burschen. Sie reagieren sensibler auf das Ungleichgewicht im Freisetzungsprozeß, konstituieren sich doch die Spannungsverhältnisse von Freisetzung und dörflicher Integration, die den modernen Jugendstatus im ländlichen Raum strukturieren, für Mädchen und Burschen in unterschiedlichen sozialen Welten (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 141). Empirische Untersuchungen (Böhnisch/Funk/Huber/Stein 1991) zeigen, daß man hinsichtlich des Umgangs mit sozialer Freisetzung bzw. dörflicher Integration zwischen zwei Gruppen von Mädchen unterscheiden muß. Eine Gruppe verläßt den Ort zur Verwirklichung der eigenen Bildungsbiographie und zieht es vor, in urbanen Gebieten zu leben. Eine zweite Gruppe verläßt den ländlichen Lebensraum nur zeitweilig, um nach Abschluß der Lehre oder Ausbildung wieder in das ursprüngliche soziokulturelle Milieu zurückzukehren. Diese Gruppe, würde mit der bereits oben genannten Gruppe zusammenfallen, also jener, die die jugendliche Freisetzung vorwiegend als dörfliche Freisetzung erlebt. Mädchen haben unter dem Spannungsverhältnis von Freisetzung und Integration auch sehr stark in Form eines Druckes von außen zu leiden. Es wird von ihnen verlangt, ihre Anpassungs- und Arbeitsfähigkeit darzustellen und den Status der Familie zu repräsentieren. Auf diese Weise wird auch die Integrationsbereitschaft in die dörfliche Sozialwelt direkter erwartet als von Burschen (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 146). Mädchen versuchen ihre Freisetzung dort zu demonstrieren, wo sie im Rahmen der Öffentlichkeit agieren können. Aktive Mitarbeit in Vereinen und in der Jugendarbeit gewähren traditionelle Möglichkeiten für Mädchen, aus der 88 familialen Kontrolle herauszutreten. Trotzdem muß nachhaltig festgehalten werden, daß die Freisetzung der weiblichen Jugend in erster Linie auch eine Freisetzung aus den ländlich weiblichen Rollenzwängen bedeutet. Soziale Freisetzung kann insofern auch, Möglichkeiten der Eigenständigkeit eröffnen. Eigene Bildungsbiographie und eigener Berufsstatus werden für Mädchen wichtig, um sich von traditionellen Frauenrollen in ländlichen Sozialmilieus abzugrenzen, in denen Frauen noch sehr stark als Anhang des männlichen Partners verstanden werden und das ‘männliche Schaffen’. Der Akt der Berufsfindung und der Realisierung scheint im Hinblick auf die soziale Freisetzung aber gerade für Mädchen höchst ambivalent zu sein. Auf der einen Seite strukturiert sich der Prozeß der Freisetzung stark über die Berufsfindung und auf der anderen Seite kommen aber geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und Rollenzuschreibungen der Eltern auf die Mädchen zu (Böhnisch/Funk 1989, 151). So zeigt es sich, daß berufliche Enttäuschungen nicht Gegenstand öffentlicher und privater Diskussionen sind, weil für Mädchen ohnehin der ‘Ausweg’ als Ehefrau und Mutter offensteht. Es ist nicht unverständlich, daß bei Mädchen die Idee der sozialen Freisetzung sehr stark unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit, dem Anspruch aktiv Dabeizusein steht. Die jungen Frauen versuchen in den Freisetzungsprozessen ganz bewußt auch auf eine Freisetzung der traditionellen Frauenrolle hinzuweisen. Zusammenfassend formuliert geht es im sozialen Freisetzungsprozeß Jugendlicher in ländlichen Regionen vor allem darum, sich im dörflich-öffentlichen Raum sichtbar zu machen, den Lebensraum mit jugendkulturellen Symbolen auszugestalten und der Erwachsenenwelt damit zu zeigen, daß sie als Jugendliche im Zuge ihrer modernen Freisetzung im ländlichen Raum verstärkt in eigenstrukturierten ländlichen Erfahrungswelten leben und damit auch mit neuen Problemen der Lebensbewältigung konfrontiert sind. Der Prozeß der sozialen Freisetzung ermöglicht den Jugendlichen, diese Altersphase bewußt zu erleben und öffentlich zu inszenieren. Die soziokulturelle Freisetzung und die mit ihrer Hilfe erlangte Selbständigkeit wird vorwiegend räumlich ausgelebt und ausgedrückt, was wiederum in der starken Perspektive der regionalen Orientierung der Jugendlichen zum Zuge kommt. 89 4.4. Aspekte der Regionalität und regionaler Optionen Die sozialräumliche Erschließung und Nutzung der Region ist die wesentliche Basis für die Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen. Für die Jugendlichen scheint der regionale Nahraum von besonders großer Bedeutung zu sein. Regionale Orientierungsmuster zeigen, daß junge Menschen im Zuge des Freisetzungsprozesses nicht mehr auf jene dörflichen Hierarchien angewiesen sind, an die sich beispielsweise noch der traditionell orientierte Jugendstatus der Elterngeneration anlehnte. Natürlich ist die starke Regionalorientierung kein generell ausgeprägtes jugendkulturelles Phänomen, sondern hängt mit den ‘modernen’ Typen der Vergesellschaftung des ländlichen Raumes zusammen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 172). Die ‘neue Regionalität’ des ländlichen Raumes ist neben jugendkulturellen, ökonomischen und regionalpolitischen auch von kulturideologischen Aspekten besetzt. Die Vorrangigkeit des Aspektes der Regionalität unter jugendkultureller Gewichtung scheint deswegen gegeben zu sein, weil sich der moderne Prozeß der sozialen Freisetzung der Landjugend und der Prozeß der regionalen Vergesellschaftung des ländlichen Raumes offensichtlich historisch überschneiden: diese ‘regionale Vergesellschaftung’ bildet den strukturellen Hintergrund für die moderne soziale Freisetzung der Jugendlichen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 172.). Der Unterschied in der Erfahrung von Regionalität zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ist, daß die jugendkulturelle Qualität vom ‘funktionalen Regionalbezug’ der Erwachsenen abeweicht. Jugendliche Regionalität wird nach anderen Gesichtspunkten verwirklicht: Man entwickelt ein ‘regionales Lebensgefühl’, welches seine kulturelle Eigenart aus der besonderen Verbindung von vertikaler und horizontaler Mobilität definiert (vgl.Böhnisch/Funk 1989, 176). Den ‘funktionalen Regionalbezug’ der Elterngeneration kann man vielleicht zum einen damit erklären, daß sie den Zugang zur ‘Region’ unter ganz anderen Vorausetzungen erlebt haben als Jugendliche der Gegenwart. Wie bereits ausgeführt haben etwa die Umstrukturierungen der landwirtschaftlichen Produktionsweisen in den 50er und 60er Jahren starke Auswirkungen auf die damalige ländliche Ökonomie nach sich gezogen. Die ursprünglich dominiante ländliche Wirtschaftsform büßt an Bedeutung ein, viele ‘freigesetzte’ Arbeitskräfte sind nun gezwungen, ihre Arbeitskraft in anderen Erwerbszweigen außerhalb des ländlichen Milieus, wie z.B. in der nächstgelegenen Stadt, zur Verfügung zu stellen. Neben diesen Veränderungen ist es vor allem die Neuabgrenzung der kommunalen und staatlichen Verwaltungseinheiten, die kleinere Landgemeinden verstärkt ihrer Selbstverwaltung enthoben hat und diese in große Einheiten zusammenfaßte (vgl. Sander 1987, 122). Eine Folge dieser neuen verwaltungstechnischen Organisation der ländlichen Räume ist die Schulreform, welche sicherlich einen wesentlichen Betrag zur Veränderung der Lebensbedingungen in den ländlichen Räumen nach 1945 bewirkt hat. Die 90 reformatorische Umstrukturierung der ländlichen Schullandschaft bewirkte für die Jugendlichen eine nachhaltige Veränderung: Mit der Installierung von Mittelpunktschulen in den Regionen wurden die alten achtstufigen Volksschulklassen in den Dörfern abgelöst. Diese alten Volkschulen ohne Klassendifferenzierung, stärkten die lokalen, religiösen und sozialen Verklammerungen des ländlichen Lebens, vor allem aber waren sie in keiner Weise Sprungbrett für die spätere Berufskarriere oder gar für Karrieren höherer Schul- und Universitätsbildung (Sandner 1987, 124). Die Möglichkeit einer weiterführenden Schule versprach eine größere Auswahl an Berufsmöglichkeiten, welche aber ‘vor Ort’ nicht ausgeübt werden konnten, weshalb von dieser Option vielfach nicht Gebrauch gemacht wurde. Für viele Erwachsene haben die Erfahrungen dieser funktionalen Bindungen und Umstrukturierungen des vertrauten Gebietes, eine pragmatische Haltung entstehen lassen: Sie fahren ‘in die Region’, um zu arbeiten (Arbeitspendeln), nutzen eine Fahrt in die naheliegende Kleinstadt für Einkäufe, Arztbesuche und Behördengänge. Die Region ist zwar notwendig, aber das Dorf stellt den Lebensmittelpunkt dar. Für Jugendliche der zweiten und dritten Generation des ‘sozialen Wandels’ erhält die Region, deren Erschließung für sie schon sehr früh beginnt, bereits eine ganz andere Bedeutung. Jugendliche werden früher als ihre Eltern in regionale Lebensbezüge eingebunden. Vielfach findet schon der Besuch von Kindergarten und Volksschule in regionalen Schwerpunkteinrichtungen statt. Der Schulbus erschließt ihnen die umliegenden Regionen, die bald ebenso zu ihrer Lebenswelt gehören wie das eigene Dorf oder die eigene Region. Dieser Umstand stellt einen wesentlichen Unterschied zur Elterngeneration dar: Während diese eine längere Sozialisation in einer begrenzten Region, d.h. in einer lokal definierten Lebenswelt erfahren haben, wird diese heute bei Kindern und Jugendlichen schon früh aufgebrochen (vgl.Sander 1987, 126). Das Dorf als Sozial- und als Lebensraum wird frühzeitig durch die gesamte Region erweitert. Sander formuliert in einem Aufsatz (1987,126), der Erstkontakt mit qualifizierender Schulbildung für Jugendliche in ländlichen Regionen müsse als ‘Einfallstor für die moderne Lebenswelt’ gedeutet werden, ‘um die kleinräumlichen, lokalen, vorindustriell geprägten Lebensmilieus für den ökonomischen und kulturellen Einfluß städtischer Zentren zu öffnen’. Diese rein ‘pragmatischen’ Gründe führen dazu, daß Jugendliche frühzeitig eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Regionalorientierung entwickeln. Gleichzeitig wird aber die Erfahrung gemacht, daß dieser Orientierung keine dörfliche Tradition zugrunde liegt. Jugendliche erleben, daß das Jugendleben trotz jugendkultureller Freisetzung und regionaler Orientierung deutlich im ländlichen Generationsgefüge verankert und immer wieder auf die dörfliche Sozialwelt rückbezogen ist (vgl.DJIbulletin 1991, 10). Grundsätzlich wird aber für die Jugendlichen spürbar, daß sie, bedingt durch die Eroberung des sozialen-regionalen 91 Nahraums, nicht mehr so stark wie frühere Generationen durch das dörfliche Milieu kontrolliert werden, und auch nicht mehr so sehr auf das Dorf angewiesen sind. 4.4.1. Phänomenologie der sozialräumlichen Erschließung der Region Ein zentraler Terminus in diesem Zusammenhang ist jener der ‘Mobilität’, wobei dieser Begriff durchaus im doppelten Sinn von horizontaler und vertikaler Mobilität gemeint ist. Die Möglichkeiten einer relativen vertikalen Mobilität über Bildung sind mit einer horizontalen Mobilität verschränkt, die sich in Form der Motorisierung ausdrückt. Wer mobil ist, muß nicht im Dorf bleiben und „sieht mehr von der Welt“. Kàràs/Rögl (1988, 539), orten bezüglich der im Zuge der Modernisierungstendenzen in ländlichern Regionen entstandenen neuen Verhaltensorientierung und der Tatsache, daß diese nicht vor Ort umgesetzt werden kann, einen ‘Mobilitätszwang’ Veränderungen der für die junge Lebensbedingungen Generation. Nachhaltige ländlicher Gemeinden sozio-ökonomische verschärfen den Mobilitätszwang für Jugendliche. Wenn vertikale Mobilität nicht nur als Möglichkeit zum sozialen Aufstieg und der personalen Entfaltung gesehen wird, kann sie vor allem auch in einem anderen Kontext stehen, der für die Beschreibung der Lebenssituation Jugendlicher interessant ist: Die Jugendphase wird für immer mehr Jugendliche auf dem Land zu einer sozial-kulturell eigenwertig erlebten Lebensphase. Dadurch steigert sich auch der Wunsch, die damit verbundene Selbständigkeit räumlich auszudrücken und auszuleben. Mobilität als Sinnbild für regionale Orientierung fördert die Entwicklung von Verhaltensstilen, die aus der besonderen sozialräumlichen Aneignung der regionalen Umwelt resultieren (vgl. Deinet 1994, 255). ‘Mobil-Sein’, diese Art der Mobilität im Sinne von Motorisierung, ist auch determinierend für den sozialen Status der Jugendlichen untereinander. Es ist bereits erwähnt worden, daß in vielen Fällen schon Kleinkinder im Kindergarten- und Volksschulalter mittels Schulbussen oder Eltern - Fahrgemeinschaft in die nächst gelegenen Schulen und Kindergärten gebracht werden. Man könnte meinen, das Leben auf dem Land sei schon frühzeitig vom ‘Pendeln’ geprägt: Der „natürliche“ Tagesrhythmus von schulbesuchenden Kindern und Jugendlichen in ländlichen Regionen ist vorwiegend von Busfahrplänen und Fahr-Zeiten bestimmt. Fahrzeiten von bis zu einer Stunde und mehr sind keine Seltenheit, und so ist es auch nicht verwunderlich, wenn ein Teil der Kinder und Jugendlichen um ihren Morgen gebracht wird: Während andere Kinder noch beim Frühstück sitzen oder im Bett liegen, stehen sie schon an der Bushaltestelle oder sind unterwegs zur Schule. Die Abhängigkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln oder chauffierenden Eltern wird häufig durch das erste Kleinmotorrad überwunden, welchem mit dem Erreichen des 18.Lebensjahres oft das eigene Motorrad oder Auto folgt. Mit der Möglichkeit, über ein eigenes 92 Fahrzeug zu verfügen - oder sich zumindest das der Eltern auszuborgen -, steigt der soziale Status innerhalb der Jugendgruppe. Wer motorisiert ist, ist mobil und kann die Region auch über den Schulbesuch oder die Arbeit, hinaus erreichen, d.h., daß auch die Freizeit außerhalb des Dorfes verbracht werden kann. Jene Jugendlichen, die nicht motorisiert sind, müssen sich auf die begrenzten Freizeitangebote in den Dörfern oder auch gelegentliche Mitfahrgelegenheiten beschränken. „Ihr ‘Stigma’ ist Nicht-Mobilisiert-Sein und betrifft alle diejenigen, die kein Fahrzeug zur Verfügung haben, also vorwiegend auch Mädchen“ (Scheu 1991, 147). Wer nicht mobil ist, sieht sich darüber hinaus in stärkerem Maße gezwungen, sich in das dörfliche Sozialleben zu integrieren: Dieses ist aber vorwiegend erwachsenenzentriert und bietet Jugendlichen wenig Gestaltungsmöglichkeiten. Mobilität ermöglicht den Jugendlichen, sich den dörflichen Normen, Riten und dem dörflichen Anpassungsdruck zu entziehen und dadurch neue und andersartige Erfahrungen zu sammeln. Der Besitz eines eigenen Fahrzeuges und das damit verbundene Mobil-Sein versprechen somit auch das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit und werden zur notwendigen Bedingung einer erlebnisreichen Freizeit (vgl. Scheu 1991,147). Die Bedeutungszunahme von vertikaler und horizontaler Mobilität im ländlichen Jugendalltag und die damit stärker werdende regionale Orientierung sind aber nicht mit einer Abkapselung vom Heimatdorf oder einer bruchlosen Übernahme urbaner Lebensstile gleichzusetzen: Die Region wird vielmehr als Lebensraum erfahren, der andere Aneignungs- und Gestaltungsmechanismen bietet als die dörflich/traditionelle Lebenswelt. Durch diese Art der Orientierung kommt es zur Ausbildung einer modernen ‘ländlichen’ Identität und zur Freisetzung eines neuen ländlichen Bewußtseins. „Von den Jugendlichen wird die regionale Umwelt als ein Raum erlebt, den man sich selbst und auf andere Weise aneignen bzw. gestalten kann, als dies in der traditionellen Dorfwelt vorgegeben ist“ (Deinet 1994, 255). Die sozialräumliche Aneignung der regionalen Umwelt ist durch die Eigenart der regionalen Mobilität und der regionalen Treffpunktstruktur gekennzeichnet. Das Phänomen der „Regionalität“ ist weniger in der Attraktivität der Orte selbst zu suchen als vielmehr in der Mobilität selbst und den potentiellen und aktuellen Möglichkeiten außerdörflicher Gleichaltrigentreffpunkte. Das andere Dorf wird meistens deswegen attraktiver, weil man sich der „eigendörflichen Kontrolle“ entziehen und anonymer agieren kann. Tatsache ist aber, daß der Schein meist trügt und deshalb auch kein wirklicher Austausch an Erfahrungen durch diese Art der Regionalität stattfindet. „In der geistigen Orientierung werden die Jugendlichen immer in ihren Dörfern bleiben, auch wenn sie drei oder vier Dörfer weiter wegfahren“ (Böhnisch/Funk 1989, 175). Gerade aber aus der oben angesprochenen Mischung von ‘regionaler Mobilität’ und ‘regionaler Treffpunktstruktur’ kann sich jener unstrukturierte Gelegenheitsraum entwickeln, der zur Entstehung eines spezifischen 93 Lebensgefühles beiträgt, welches bei Jugendlichen in den Regionen häufig zu finden ist. Die Wochenenden werden dazu genutzt, um mit den Fahrzeugen in der Region unterwegs zu sein und auf der Suche nach dem großen ‘es ist etwas los’, Treffpunkte anzufahren. In Berufsaus- oder Berufsweiterbildung stehende Jugendliche ziehen den unstrukturierten Gelegenheitsraum der nächsten Ortschaften für ihre Freizeitgestaltung eher vor als Gymnasiasten. Jugendliche Gymnasiasten nehmen den Schulort, der sich meistens mit der nächstgelegenen Kleinstadt deckt, auch jugendkulturell wahr, vor allem dann, wenn das dortige Milieu auch so strukturiert ist, daß es als ‘außerschulische Gelegenheitsstruktur’ nutzbar zu machen ist (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 175). Die regionale jugendkulturelle Freisetzung in den Regionen löst in ihrer unstrukturierten Verortung aber einen Spannungszustand für die Jugendlichen aus. Die Region eröffnet für sie Möglichkeiten, die nicht verpaßt werden dürfen, gleichzeitig will man aber auch nicht die Vertrautheit der dörflichen Nähe missen, aus der man aber eigentlich flieht (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 176). Die Jugendlichen bilden ein spezifisches regionales Lebensgefühl aus, das seinen Ausdruck, aus dem besonderen Erlebnis der Mobilität der Jugendlichen nimmt. Diese kulturelle Eigenart bildet sich nicht durch die ‘funktionale regionale Mobilität’ des Arbeits- oder Schulpendelns aus, sondern durch die ungerichtete Freizeitmobilität der Jugendlichen. Dieses jugendkulturelle Phänomen ist bei Erwachsenen so nicht zu finden. Das sozialräumliche Lebensgefühl der Mobilität scheint sich demnach nur beim Freizeitpendeln einzustellen. Die Fahrzeit, die Art des Fahrens ist an sich schon ein Erlebnis ganz im Gegensatz zur funktional definierten Fahrzeit zur Arbeit oder zur Schule (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 177). Wird der Aspekt der Mobilität hinsichtlich der Unterschiedlichkeit von Mädchen und Burschen betrachtet, zeigt sich, daß trotz vielfältiger Gleichstellungen Mädchen noch immer geringere Mobilitätschancen als Burschen haben. Im traditionellen Sinn war die Mobilität der Mädchen vor allem auf das spätere Auskommen im Dorf bezogen. Heute ist die Mobilität der Mädchen berufsbezogen: Gerade für Mädchen ist die Bereitschaft zur Mobilität als Grundvoraussetzung für Ausbildungschancen zu sehen. Mädchen, die eine höhere Bereitschaft zur Mobiltität zeigen, entziehen sich leichter der dörflichen Kontrolle, gleichzeitig sind ihre Ansprüche an die ‘Flexibilität’ höher als bei Burschen. In ländlichen Regionen dominieren Mädchen im Bereich der vertikalen (Bildungs)- mobilität (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 178). Mädchen sind häufiger von Konflikten im Elternhaus betroffen, wenn es darum geht, sich von zu Hause „abzusetzen“. Sie sind daher oft eher dazu angehalten, sich mit den Ressourcen vor Ort zu genügen. Das bedeutet im Bereich der Ausbildungswege eine erhebliche Reduzierung des Bildungsniveaus und -weges auf die erreichbaren Optionen der näheren Umgebung. Die Teilhabe an der regionalen Mobilität ist 94 innerhalb der Jugendszene wichtig für Status und Prestige. Jugendliche die ihre jugendkulturelle Orientierung verstärkt auf den örtlichen Nahraum richten, versuchen ihre mangelnde Mobilität häufig dadurch zu kompensieren, daß sie ihr ‘am Ort Sein’ ausdrücklich betonen und damit ihren - vielleicht mangelhaften - sozialen Status innerhalb der Jugendszene zumindest in dieser Situation aufbessern zu können (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 181). 4.5. Beschäftigungs- und Reproduktionsstruktur in ländlichen Regionen Die jeweils individuelle räumliche Struktur der Ausbildungs - und Arbeitsplatzmöglichkeiten ist für das Gelingen eines regionalen Berufsfindungsprozesses für Jugendliche von großer Bedeutung. Anhand der vorzufindenden räumlichen Strukturen läßt sich der Umfang des Mobilitätsaufwandes sowohl auf der vertikalen, als auch auf der horizontalen Ebene ermessen. Die in der Region vorhandenen - oder nicht vorhandenen - Möglichkeiten beeinflussen wesentlich die räumliche und zeitliche Ausdehnung der Ausbildung und des individuellen Arbeitsalltages. Das Beschäftigungsangebot und die Ausbildungsmöglichkeiten üben großen Einfluß auf die Bleibeorientierung bzw. auf die Abwanderungsbereitschaft/notwendigkeit der Betroffenen aus (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 122). Ländliche Regionen sind in ihren Beschäftigungs- und Reproduktionsstrukturen durchaus heterogen: Gewerblich und industriell durchmischte Regionen bieten eine größere Möglichkeitenpalette als strukturschwache Regionen mit erheblichen infrastrukturellen Lücken. So läßt sich etwa der von mir untersuchte Bezirk Radkersburg durch seine extreme Strukturschwäche charakterisieren. Der Bezirk ist von seiner gebremsten wirtschaftlichen Dynamik und der schlechten verkehrstechnischen Anbindung an den Großraum Graz geprägt. Für Jugendliche respektive Erwerbstätige bedeutet dieser Umstand eine erhöhte Inkaufnahme von regionenüberschreitender Mobilität, um die Möglichkeiten einer Ausbildung bzw. eines Arbeitsplatzes in Anspruch zu nehmen. Böhnisch/Funk (1989, 123) führen an, daß die regionale Erreichbarkeit bedeutenden Einfluß auf die Qualität der Berufsfindung nimmt: Daß sich hier für strukturschwache Regionen erhebliche Nachteile ergeben, liegt auf der Hand. Für viele Bewohner ist dieser erhöhte Mobilitätsdruck bereits selbstverständlich und wird daher auch kaum thematisiert. Obwohl nicht außer Acht gelassen werden darf, daß die gegenwärtige Situation am Arbeitsmarkt die ‘individuelle Mobilitätsbereitschaft’ als Garanten für qualitativ höhere Ausbildungen und Berufschancen forciert. Mangelnde individuelle Bereitschaft zum Wechsel des Wohnortes, für einen Arbeitsplatz wird als einer der Hauptgründe für Arbeitslosigkeit genannt. Willkürliche Mobilitätsforderungen leisten einer Abwanderung vor allem der jüngeren Generationen Vorschub insbesondere wenn die Erfahrung gemacht wird, daß man mit dem erlernten Beruf keine Arbeitsmöglichkeit in der 95 Region hat oder diese Möglichkeit weit unter dem Ausbildungsniveau liegt. Ländliche Regionen mit Bleibeattraktivität gut für durchmischter Jugendliche. Beschäftigungsstruktur Außerhalb dieser zeigen Gebiete eine zeigt höherer sich ein Abwanderungsdruck in latenter Verortung (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 125). 4.5.1. Exkurs: Berufsfindung als Aspekt der Lebenslage Die Wahl eines Berufes ist ein wesentlicher Akt jugendkultureller Freisetzung, wenn diese in den ländlichen Regionen auch sehr stark von den regionalen Optionen abhängig ist. So stehen hier oftmals Qualifikationen gegen Optionen oder die höhere ‘natürliche Lebensqualität’ muß das eingeschränkte Angebot aufwiegen. Die Chancen auf berufliche Weiterbildung, Umschulungsmaßnahmen, verlängerte Schulbildung ect. sind im ländlichen Raum zwar gegeben, werden aber noch nicht so deutlich wahrgenommen wie im gesellschaftlichen Durchschnitt. Die Verlängerung des Bildungsabschnittes ist ein offener Prozeß im Rahmen der Lebensbewältigung und somit auch in einen sozialökologischen Kontext eingebunden. „In dem Maße, in dem die Statuspassage Berufsfindung an institutionelller Stabilität und Sicherheit verliert und für den einzelnen wenig kalkulierbar wird, wird sie um so stärker den Bedingungen dieses sozialökologischen Kontextes unterworfen“ (Böhnisch/Funk 1986, 240). Deswegen sind hinsichtlich der Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen die regionalen Optionen im Bereich von Bildung und Berufes von besonderer Wichtigkeit. Regionale Optionen beinhalten den lebensperspektivischen Ausdruck des Berufsfindungsprozesses für den einzelnen Jugendlichen. Dieser Ausdruck ist abhängig von den Möglichkeiten der Bewältigung und von zwei Aspekten, die den regionalen Kontext der Berufsfindung strukturieren. Die Jugendlichen müssen sich zwischen dem beruflichen Mobilitätsdruck und dem regionalen Bleibewunsch entscheiden. Konkret bedeutet dies, daß die Berufsfindung auch zwischen ländlich-traditionaler Arbeitsorientierung und der modernen Berufsorientierung schwankt. Zum einen herrscht also ein regionaler Zusammenhang zwischen Berufsfindung und Lebensbewältigung und zum anderen in der Konfrontation mit modernen universalen Ansprüchen des Arbeits- und Berufslebens und den nach wie vor wirksamen ländlich-kulturellen Tradtitionsbeständen. Was unter traditionellem ländlichen Arbeitsethos verstanden wird, wurde bereits an anderer Stelle dargestellt. Jugendliche und junge Erwachsene bemerken, daß die Konfrontation mit den qualitativen, komplexen Anforderungen der Lebensplanung und der modernen Berufswelt unbestimmt ist. Gerade für Mädchen ist die eigenständige Berufsfindung und ein qualitativ hochwertiger Ausbildungsgang von besonders großer Bedeutung. Für Mädchen ist dieser Aspekt Ausdruck ihrer Eigenständigkeit und Selbständigkeit auch hinsichtlich der Überwindung traditioneller Geschlechterrollenzuschreibungen. 96 Trotzdem sind gerade Mädchen stärker von Einschränkungen bezüglich der Berufsmöglichkeiten und daher von verstärkten Anpassungsforderungen betroffen. Mädchen und jungen Frauen wird häufiger eine „Ortsgebundenheit“ zugemutet als männlichen Arbeitnehmern. Während nun diese über weitere Strecken pendeln und erwerbstätig sind, ohne gleich wegzuziehen, müssen Mädchen mit vergleichbaren Ansprüchen entweder den Ort verlassen oder diese Ansprüche auf eine sehr schmale Angebotspalette an Berufen für Frauen reduzieren. Burschen sind in Sachen Berufsfindung offensichtlich bevorteilt: Häufig wird nach einer Lehrzeit in einem handwerklichen Beruf eine Stelle in einem Industriebetrieb angenommen, weil sich mit dem gewählten Lehrberuf kein Auskommen sichern läßt. Burschen finden somit leichter den Zugang zu den traditionellen ländliche Erwachsenen- und Erwerbswelt (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 250). Ganz allgemein aber steigt die Tendenz zum Nachholen von Bildungsabschlüssen und auch im ländlichen Raum gibt es ein wachsendes Anregungsmilieu für Ausbildungsmotivation und alternative Berufsorientierungen. Es stellt sich daher in Zukunft für Jugendliche vermehrt die Frage nach dem Verbleiben in heimischen Bezügen oder der Bevorzugung einer qualifizierte Ausbildung und Arbeit. Aber, je qualifizierter die Ausbildungswünsche werden, um so geringer sind die Chance, dafür auf dem Land eine Realisierungsmöglichkeit zu finden ( vgl. Horstkotte 1985, 15). 4.6. Dörfliche und soziale Integration vs. Segregation Hier geht es in erster Linie um Prozesse des Hineinwachsens Jugendlicher in die dörflich ländliche Gesellschaft. Für Jugendliche läuft dieser Prozeß über das Spannungsverhältnis von sozialer Freisetzung und sozialer Kontrolle ab. Daneben wird der Prozeß sozialräumlich, eben ‘dörflich’ und ‘über das Dorf hinaus’ erlebt (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 205). Das dörflich Milieu war traditionell der zentrale sozialräumliche Integrationskontext der Landjugend. Wegen der Durchgängigkeit der Lebensbereiche gab es ein Übereinstimmung zwischen den Integrationsformen in der Familie, den dörflichen Vereinen und anderen dörflichen Institutionen. Die Eingliederung der Jugend in die Erwachsenenwelt vollzog sich über die Jahrgangsgruppen, welche eigenständige Spielräume und auch Verpflichtungen gegenüber der Dorfgemeinschaft übernehmen mußten. Zentrale Integrationsorte waren bspw. die dörflichen Vereine, die Dorfgemeinschaft. Im Zuge des modernen Strukturwandels haben sich die traditionellen Integrationsmuster gewandelt. Veränderungen der jugendkulturellen Verortung im ländlichen Raum - vor allem die Zunahme der Regionalorientierung und des damit zusammenhängenden Loslösungsprozesses vom dörflichem Milieu - ändern Bedingungen der dörflichen Integration. Jugendliche machen zunehmend Erfahrungen, für die es in Lebensbereichen, die traditionell für die Integration in das Erwachsenenleben 97 verantwortlich waren (bspw. Vereine), keine Vorbilder und keine Vergleiche mehr gibt. Wird die Integration Jugendlicher nur über traditionelle Verbindlichkeiten definiert, kann es leicht zur Segregation kommen. Die Integration in das dörfliche Milieu muß auch so erfolgen können, daß Erfahrungen und Vorstellungen jugendkultureller Möglichkeiten ausgelebt werden können und nicht nur anhand von Orientierungen an elterliche und dörfliche Vorgaben gebunden sind. Mit der dörflichen Freisetzung und der sozialen Verselbständigung der Jugendphase im ländlichen Raum wird diese zu einer Lebensphase, in der auch Lebensformen und Lebensmöglichkeiten des ländlichen Raumes sichtbar werden, aus denen Impulse für eine neue Qualität des dörflichen Zusammenlebens hervorgehen können (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 237). 4.7. Bleibe- oder Abhauorientierung? Die Beantwortung dieser Frage steht immer wieder im Mittelpunkt der Landjugendforschung. Bereits in den fünfziger Jahren wurde darauf hingewiesen, daß „Abwandern oder Bleiben als Orientierungsmuster der Landjugend nicht nur aus der disparitären ökonomischen Situation des ländlichen Raums zu verstehen sind, sondern auch davon, welchen Status die Jugendlichen auf dem Land haben“ (Böhnisch/Funk 1989, 182). Es wurde bereits mehrmals darauf hingedeutet, daß die Möglichkeit des Auslebens eigener Lebensstile sowie die Verfügung über eigene Bereiche der Gestaltung einen wesentlichen Beitrag zum Erleben als eigene Sozialgruppe beisteuert - und dies wiederum Auswirkungen auf die Orientierung des Bleibens oder Weggehens zur Folge hat. Wenn in den letzten Jahren eine gestiegene Bleibeorientierung festgestellt werden konnte, ist dies sicherlich auf die Durchsetzung jugendkultureller Gelegenheitsstrukturen im Freizeitbereich und der Etablierung vielfältiger schulischer Ausbildungsangebote im regionalen Kontext zurückzuführen. Im Zusammenhang mit der ‘Bleibe- oder Abhauorientierung’ bedeutet dies, daß die in den siebziger Jahren stark ausgeprägte Stadt- vs. Landorientierung aufgrund einer Regionalorientierung zurückgedrängt worden ist. Die Landjugendforschung zeigte, daß es in den siebziger Jahren eine starke Aktivierung der Jugend im ländlichen Raum gab. Ziel war es, den Status der ländlichen Jugend zu verbessern, sowie eigene Räume zu schaffen. „Die Aktivierung der Jugend in den siebziger Jahren im ländlichen Raum war eine jugendkulturelle Bewegung ohne ländliche jugendkulturelle Vorbilder; sie mußte sich zwangsläufig an städtischen Formen jugendlicher Aktivierung orientieren“ (Böhnisch/Funk 1989, 183). Vor allem urbane und dorfabgewandte Orientierungsinhalte wurden virulent, im engeren dörflichen Bereich der Jugendlichen konnten viele Inhalte nicht reproduziert werden. Träger dieser Aktivitäten waren vor allem Studenten und Jugendliche, die in der Stadt eine Lehre absolvierten. Sie übernahmen urbane 98 jugendkulturelle Muster und versuchten, sie auch im ländlichen Raum zu leben oder sie bewußt als Anstöße für eine ländliche Jugendkultur zu propagieren. Im Zuge vielfältiger Entwicklungen entstand eine ‘städtische Orientierung’, welche sowohl an die städtischen Lebensformen selbst, als auch an eine ‘Idee von der Stadt’, in der für Jugendlichen mehr los ist als auf dem Land, anknüpfte. Diese urbanen Einflüsse lösten eine starke Stadtorientierung - Weggehorientierung - aus, nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch mit der Hoffnung, dort anders leben zu können. Das ‘Weggehen in die Stadt’ war für viele Jugendliche attraktiv, wenn auch die Orientierung ‘Weggehen, um anders zurückzukehren’ nicht zu übersehen war. Die ‘städtische Orientierung’ läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Da sozio- und jugendkulturelle Entwicklungen der Bildungsmobilisierung im ländlichen Raum sich weder dörflich noch regional jugendkulturell umsetzen ließen, wurde vor allem in den siebziger Jahren das ‘Städtische’ zum Fluchtpunkt (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 186). In den achtziger Jahren verlor diese ‘städtische Orientierung’ weitgehend ihre Bedeutung, weil es zunehmend möglich war, ländliche Ausdrucksformen und -räume für eine jugendkulturelle Freisetzung zu finden. Das, was an ‘städtischem’ in den Lebensstilen und Verhaltensmustern blieb, ist inzwischen auch in der engeren und weiteren Region zu erreichen. Das heißt, die statusvermittelnde Jugendkultur ist regional erreichbar geworden. Die sich daraus entwickelte ‘Bleibeorientierung’ konstituiert sich vorwiegend über den verminderten Milieudruck, der durch die zunehmende Regionalisierung der ländlichen Räume entstanden ist (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 189). Viele Dörfer haben sich zumindest soweit sozial modernisiert, daß die persönlichen Beziehungen, und damit auch persönliche Smybole sozialer Kontrolle zurückgetreten sind. Zudem hat das Sichtbarwerden einer regionalen Konsum- und Kommerzszenerie, in der moderener Lebensstil und Outfits propagiert werden, jugendliches Kleidungs- und Straßenverhalten in eine neue Bezugsgröße der Normalität gesetzt, die früher im Dorf nicht vorhanden war. „Es konnten sich Lebensformen herausbilden, die für die Jugendlichen überschaubar sind und die von den Erwachsenen toleriert werden können, weil regionale Bezüge - die Normalität des Dorfes - nicht infrage gestellt werden“ (Böhnisch/Funk 1989, 189). Die so entstandene Landorientierung bedeutet, nicht auf das Städtische angewiesen zu sein. Es zeigt sich aber, daß in peripheren Dörfern, wo im engeren regionalen Umkreis noch wenig los ist, wo im Dorf die Familienkontrolle und der Anpassungsdruck durch bspw. Vereinsstrukturen noch sehr hoch ist, großstädtisch gefärbte Stereotypien vom ‘Was-los-Sein’ häufiger zufinden sind. Gerade in diesen Dörfern gibt es immer wieder Jugendliche die weggehen wollen. Auch Jugendliche, die durch ihre kulturellen Erfahrungen (Studenten, Gymnasiasten ect.) von einem städtischen Milieu beeinflußt sind, finden weniger eine Balance zwischen Regional- und Dorforientierung, wie sie sich im Zuge der Aufwertung des Regionalespektes in den letzten Jahren im ländlichen 99 Raum entwickelt hat. Sie fahren zwar gerne aufs Land zu ihren Eltern und Verwandten - aber sie sind auch froh, wieder fortzukommen. Im städtischen Milieu finden sie eine ‘subkulturell’ ausgegrenzte eigene Welt vor, die nicht mit einer späteren dörflichen Integrationsperspektive zu vereinbaren ist. Gleichaltrige im ländlichen Raum sind in ihrem Verhalten unbewußt immer auf diese mögliche Integrationsperspektive ausgerichtet (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 190). In der ‘Bleibe- oder Abhauorientierung’ lassen sich deutlich geschlechtsspezifische Differnzierungen beobachten. Für Mädchen steht immer noch stärker als bei Burschen die Weggehorientierung im Vordergrund. So geben sie in Untersuchungen von Böhnisch/Funk (1989) an: Einerseits in der Heimatregion bleiben zu wollen, nicht aber im Heimatdorf, andererseits aber auch ganz aus ländlichen Regionen weg zu wollen. Wahrscheinlich hängt dies damit zusammen, daß sie stärker unter sozialer Kontrolle stehen und für das Ausprobieren anderer Verhaltensmöglichkeiten keine eigenen Räume zur Verfügung stehen (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 200 / Gfrörer 1991, 237f.). Im empirischen Teil dieser Arbeit wurden Interviews mit Schülern und Schülerinnen eines Gymnasiums durchgeführt. Anhand der Auswertung soll untersucht werden, wie weit die Interviewpartner von den in der Literatur angeführten Verortungen der Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen betroffen sind. 100 5. Forschungsfrage Die Forschungsfrage für diese Arbeit resultiert aus einer These von Kàràs/Rögl (1988, 539) und wurde bereits ansatzweise für die Herausarbeitung lebenslagenbeschreibender Aspekte in dieser Arbeit (Kapitel 4.3) herangezogen. Die Autoren meinen, daß Jugendliche in ländlichen Regionen grundsätzlich Lebenshaltungen und Werthaltungen zeigen, die jenen derselben Altersgruppe in städtischen Lebensräumen gleich sind. Der Unterschied besteht in Möglichkeiten der Umsetzbarkeit dieser ‘neuen’ Orientierungen, den Bedürfnissen und Interessenslagen entsprechend. So sind spezifische Schul- und Berufsausbildungen und damit entstehende Karrieremöglichkeiten, Freizeit- und Konsumbedürfnisse vielfach im ländlichen Kontext nicht umzusetzen. Jugendliche sind in ihrer jugendkulturellen Freisetzung an das spezifische ländliche Sozialmilieu gebunden. Konkret bedeutet das, daß die Perspektiven der Verwirklichung der ‘urban-modernen’ Lebensorientierungen immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen ländlichen Alltag zu sehen sind. In der Literatur von Böhnisch/Funk wird darauf hingewiesen, daß sich die Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen an einem ausgeprägten Regionalitätsbezug festmachen läßt. So zeige sich gegenwärtig, daß sich für Jugendliche nicht mehr der traditionelle Widerspruch Dorf und Stadt stellt, sondern daß es vielmehr darum geht, ihre Verortung und ihre Nutzung des ländlichen Raumes in seiner regionalen Optionsvielfalt (regionale Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Freizeitangebote in den Regionen) zu erfassen. Die im Zuge der Modernisierungstendenzen in ländlichen Gebieten erfolgte Aufwertung des regionalen Umfeldes als erweiterter Lebensbereich hat vor allem für die jugendkulturelle Freisetzung eine große Bedeutung. Jugendliche ‘erfahren’ das regionale Umfeld in einer weitläufigeren Dimension als nur jener, die sich im Zusammenhang mit der politischen, administrativen also funktionsräumlichen - Aufwertung der ländlichen Region ergibt. Erfahrungen, die Jugendliche im erweiterten, auf die Kleinräumlichkeit des Dorfes bezogenen Lebensumfeld machen, werden im konkreten Lebensbereich zum Ausdruck gebracht. Die Fragestellung lautet daher: „Wie gestaltet sich die Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen zwischen dem allgemeinen Strukturwandel der Jugendphase und den jeweiligen Lebensbedingungen ländlicher Regionen, welche trotz zahlreicher Veränderungsprozesse eine Stabilität traditioneller Handlungsmuster im ländlichen Alltag aufweisen?“ 101 102 Der Ausgangspunkt der Arbeit stützt sich darauf, daß es einen Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Strukturwandel der Jugendphase und der im Zuge der Modernisierung forcierten Veränderungsprozesse ländlich - traditioneller Lebenswelten geben muß. Die Veränderungsprozesse sind immer nur im spezifischen Verhältnis der jeweiligen ländlichen Region zu sehen. Aus dieser Annahme ergibt sich, daß Jugendliche hinsichtlich ihrer Aufwachsens- und Lebensbedingungen in von Spannungsverhältnissen geprägten sogenannten ‘Zwischenwelten’ leben und verstärkt Koordinationsleistungen aufbringen müssen, um ihre Lebenssituation zu bewältigen (vgl.Böhnisch/Funk 1989,10). Jugendliche sollen auf der einen Seite Anforderungen und Aufgaben des Lebensabschnittes bewältigen, müssen aber andererseits auch mit den vorhandenen, gewachsenen ländlichen Alltagswelten umgehen können. Durch die stärkere Rückbindung an den Lebensraum, die durch die Überschaubarkeit dieses Lebensraumes verstärkt wird, ist es nicht so einfach möglich, ‘modernes’ Jungsein - wie im städtischen Bereich - subkulturell abzugrenzen und auszudrücken. Der ländliche Alltag stellt Kontexte bereit, in denen die Bewältigungsprozesse zum Teil unterhalb der öffentlichen und institutionellen Erwartungs- und Deutungsmuster ablaufen müssen (vgl. Böhnisch/Funk/Huber/Stein 1991,13). 5.1. Die Untersuchungsgruppe Die 14 Jugendlichen besuchten mehrheitlich das BORG in Bad Radkersburg. Eine Interviewpartnerin die BBAfKP in Mureck, ein Jugendlicher eine HTL in Graz, ein Jugendlicher eine HTL im Burgenland und eine Jugendliche die HAK in Leibnitz. Alle Jugendlichen haben ihren ordentlichen Wohnsitz im Bezirk Radkersburg. • Auswahl der Befragten In der empirischen Arbeit wurden 14 leitfadengestützte Interviews mit SchülerInnen des Bezirkes Radkersburg durchgeführt. Die ursprüngliche Überlegung, ein breiteres Spektrum von Jugendlichen zu erfassen - d.h. sowohl Lehrlinge als auch Schüler zu befragen, - konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgeführt werden. Aufgrund der begrenzten Auswahl von Jugendlichen - nur SchülerInnen - kann kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben werden. Sehr wohl aber ist es möglich, einen Einblick in die Lebenslage Jugendlicher aus einer spezifischen ländlichen Region zu gewinnen. Die gewählte Art der Datenerfassung bringt daher, bedingt durch den Verzicht auf Repräsentativität einzelne typische Fälle zur Darstellung. Um zu vermeiden, daß durch die Vororientierung eine verzerrte Auswahl entsteht, ist von Seiten der 103 forschenden Personen ein hohes Maß an Selbstkontrolle notwendig. Um Verzerrungen zu vermeiden lohnt es sich, die InterviewpartnerInnen nicht aus dem Bekanntenkreis zu wählen. Die Gefahr einer spezfischen Vorselektion der Inhalte wäre zu groß (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 94). • Alter Das Alter der Jugendlichen bewegt sich zwischen 15 und 20 Jahren. Im Zusammenhang mit der Interviewauswertung haben sich aufgrund der Altersstreuung zwei Gruppen herausgebildet. Acht Jugendliche gehören der ‘jüngeren Gruppe’ an - also jenen, die zwischen 15 und 17 Jahre alt sind. Sechs Jugendliche bilden die ‘ältere Gruppe’ zwischen dem 18. und 20. Lebensjahr. • Geschlecht Unter den 14 interviewten Jugendlichen befanden sich 9 Mädchen und 5 Burschen. männlich Alter weiblich Alter 1 15 - 17 7 15 - 17 Jahre 4 18 - 20 Jahre 2 Jahre 5 6 18 - 20 8 Jahre 9 14 • Familiensituation Mithilfe eines Begleitfragebogens (siehe Anhang) zu Beginn des Interviews konnte zum einen nicht nur eine Einstimmung auf das nachfolgende Interview erreicht werden, sondern auch allgemeine Fragen bezüglich der familiären Situation der InterviewpartnerInnen gestellt werden. Damit sollte die berufliche Ausbildung und Situation der Eltern und die Anzahl und Ausbildung der Geschwister erfaßt werden. Die Auswertung dieser Fragen hat zu folgenden teilweise recht erstaunlichen - Ergebnissen geführt. 104 • Ausbildung der Eltern Höchste Ausbildung Volksschule Hauptschule Fachschule Lehre Matura Universitätsstudium Berufsbildendes Studium [PädAk] Sonstiges Summe Mutter Vater 3 5 2 1 2 3 2 3 3 1 2 1 14 14 • Tatsächlich ausgeübte Berufe der Eltern Ausgeübte Berufe LandwirtIn Angestellte/r ArbeiterIn FacharbeiterIn Selbständige UnternehmerIn Summe Mutter Vater 4 6 3 - 2 7 1 2 1 14 2 14 Es zeigt sich, daß von lediglich zwei Jugendlichen beide Eltern im Vollerwerb in einem landwirtschaftlichen Betrieb tätig sind. Bei zwei weiteren Interviewpartnerinnen sind jeweils die Mütter in der Landwirtschaft tätig, während die Väter einen außerlandwirtschaftlichen Beruf ausüben. Der landwirtschaftliche Betrieb wird in diesen Familien im Nebenerwerb geführt. Von den restlichen 10 InterviewpartnerInnen wird angegeben, daß beide Eltern berufstätig sind, sei es als Angestellte in Dienstleistungsbetrieben oder als selbständige Unternehmer. Ob diese Angaben der realen Situation entsprechen , d.h. ob wirklich beide Elternteile einen außerhäuslich berufstätig sind, kann nicht überprüft werden. Als bemerkenswert soll aber noch einmal der verhältnismäßig geringe Anzahl der Eltern hervorgeboben werden, die in einem landwirtschaftlichen Betrieb tätig sind. 105 • Anzahl und Ausbildung der Geschwister Interview Bruder g a äl jü A B C D w w w w 16 16 16 17 1 E F w w 20 18 1 G H J w m m 15 16 20 1 K w 17 2 L M m w 18 15 N m 19 O m 19 Schwester Summe äl 1 1 2 1 1 1 1 2 2 2 1 2 2 1 1 1 2 2 1 2 Ausbildung Schwester jü 1 1 1 Ausbildung Bruder 2 1 2 1 2 5 2 2 4 Beruf VS Beruf Beruf [beide] BMS BHS Beruf AHS HS Beruf Kindergarten Universität Universität [beide] VS AHS Beruf [2Brüder] AHS AHS BMS; VS Beruf Universität Universität [beide] Universität [beide] Besonders auffallend hinsichtlich der Ausbildung der Geschwister ist die Tatsache, daß ein Großteil der weiblichen Geschwister eine universitäre Ausbildung absolviert. Vielleicht kann man dieses nicht weiter untersuchte Ergebnis als Zeichen eines neuen weiblichen Selbstverständnisses junger Frauen in ländlichen Regionen deuten. Der Kontakt zu den InterviewpartnerInnen wurde in fast allen Fällen persönlich geschlossen. Mit den SchülerInnen des BORG Bad Radkersburg wurde der Erstkontakt durch Fr. Mag. Oberascher hergestellt. Die Interviews wurden im Zeitraum von Februar - März 1997 durchgeführt. Bevor ich näher auf den Inhalt und die Auswertung der Interviews eingehe, möchte ich kurz die Interviewsituationen beschreiben. 106 5.2. Die Interviewsituation Die Dauer der Interviews lag zwischen 45 Minuten und mehr als einer Stunde. Die beiden kurzen Interviews wurden in zwei von Fr. Mag. Oberascher zur Verfügung gestellten Unterrichtseinheiten durchgeführt. Ort dieser Interviews war jeweils ein leeres Klassenzimmer im Schulgebäude des BORG Bad Radkersburg. Diese räumliche und zeitliche Gebundenheit ließ den Eindruck einer Prüfungssituation aufkommen. Vor allem war ich aufgrund der zeitlichen Limitierung bemüht, möglichst viele der anhand eines unterstützenden Leitfadens vorbereiteten Fragen unterzubringen. Die Interviews wirkten sehr gehetzt - obwohl ich glaube, daß beide Interviewpartnerinnen bereit gewesen wären, mehr ‘zu erzählen’ wenn die Zeit es erlaubt hätte. Auf Grund dieser Erfahrung war es für mich sehr wichtig, bei den nachfolgenden Interviews den Ort möglichst frei - bzw. im Interesse der InterviewpartnerInnen zu wählen. Lamnek (Bd.2 1995, 107) empfiehlt zwar, daß der Ort des Interviews die Lebensnähe des Interviews unterstützen und in einer dem Befragten natürlich und bekannt erscheinenden Umgebung liegen sollte. Trotzdem haben vor allem die älteren Jugendlichen vom Angebot, während der Schulsemesterferien nach Graz zu kommen, Gebrauch gemacht. Da sich die InterviewpartnerInnen mit der Wahl des Ortes sichtlich zufrieden zeigten, mag es auch verzeihlich sein, daß das Interview nicht in einer dem Alltag ähnlichen Situation stattgefunden hat. Die Interviews in meiner Wohnung waren hinsichtlich der Rahmenbedingungen die angenehmsten. In der Wohnung war die Möglichkeit gegeben, alle störenden Einflüsse [Telefon ect.] für den Zeitraum des Interviews auszuschalten, sofern es von den InterviewpartnerInnen gewünscht wurde. Ein restlicher Teil der Interviews wurde entweder in öffentlichen Lokalen oder in der elterlichen Wohnung der InterviewpartnerInnen durchgeführt. In jedem Fall aber konnten die InterviewpartnerInnen den Ort des Interviews bestimmen. Bei Interviews in Lokalen bestand lediglich das Problem akustischer Nebengeräusche, was die Transkription zum Teil erschwerte. Beim Interview einer 15 jährigen Schülerin in der elterlichen Wohnung wurde das Interview durch die ständige Anwesenheit der Mutter erheblich gestört. Grundsätzlich wurden die InterviewpartnerInnen zu Beginn des Interviews auf Sinn, Ziel und Gegenstand der Befragung hingewiesen. Die Zusicherung einer absoluten Anonymitätswahrung war für viele überhaupt die Grundbedingung, sich auf das Interview einzulassen. 107 5.3. Die Untersuchungsmethode Im Sinne einer empirisch ausgerichteten Arbeit wurden qualitative leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Mithilfe dieser Methode war es möglich, mit den Jugendlichen in eine persönliche, vor allem aber situativ flexible Kommunikationssituation zu treten. 5.3.1. Das Interview • Begrifffsbestimmung In der etymologischen Herleitung des im 20.Jh. aus dem englischsprachigen in den deutschsprachigen Raum gelangten Wortes ‘Interview’ stößt man auf das französische ‘entrevue’ was so viel bedeutet wie ‘verabredete Zusammenkunft’ bzw. unter Heranziehung des dazugehörigen Verbes ‘entrevoir’, ‘einander kurz sehen’ oder ‘sich begegenen’ (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 35). In der wissenschaftlichen Begriffsbestimmung sind einige der transportierten Vorstellungsinhalte wiederzufinden, die sich aus der Herleitung des Wortes ergeben. Das Interview ist eine Gesprächssituation, die bewußt und gezielt von den Beteiligten hergestellt wird - verabredete Zusammenkunft -, damit einer Fragen stellt, die vom anderen beantwortet werden (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 36). Die Intentionen, die zur Herbeiführung eines Interviews führen, können im wissenschaftlichen Konnex unterschiedlich sein. Lamnek (vgl. Bd.2 1995, 38) unterscheidet dahingehend in ermittelnde und vermittelnde Interviews. In vermittelnden Interviews steht die informierende und beeinflussende Kommunikation im Vordergrund. Häufig geht es darum, eine Erkenntnis- oder Bewußtseinsveränderung auf Seiten des Befragten herbeizuführen. Ermittelnde Interviews verfolgen im Gegensatz dazu das Ziel, den Interviewern durch die Befragung von ausgewählten Person bestimmte Informationen bereitzustellen. Die ermittelnden Interviews lassen sich in drei Untergruppen einteilen. Unterschieden wird in das informatorische, das analytische und das diagnostische Interview. Die in den Sozialwissenschaften gemäß dieser Einteilung am häufigsten verwendete Form ist das analytische Interview. „Das analytische Interview versucht vor allem, soziale Sachverhalte zu erfassen. Der Forscher oder der Interviewer analysiert und beschreibt die Äußerungen des Befragten aufgrund theoretischer Überlegungen und Konzepte. Hier erfolgt, wie der Name schon sagt, die Analyse der Äußerungen im Interview aus der Basis theoretisch - hypothetischer Gedanken im Sinne von Hypothesenprüfung“ (Lamnek Bd.2 1995, 39). 108 • Das qualitative Interview Aufgrund vom methodologischen Unterschied quantitativer und qualitativer Forschungsparadigmen, festgehalten am Differenzierungsmerkmal der Standardisierung des verwendeten Interviewleitfadens, läßt sich das in dieser Arbeit verwendete Interview zwischen diesen beiden Ansätzen positionieren. Der Interviewleitfaden entsprach den Kriterien eines halb - standardisierten Leitfadens. Während bei standardisierten Befragungen ein detailliert ausgearbeiteter Fragebogen verwendet wird, in dem sowohl die Formulierung als auch die Reihenfolge der Fragen fixiert ist, hat die interviewführende Person in einer halb standardisierten Befragung die Möglichkeit, die Reihenfolge und die Formulierung der Fragen im wesentlichen selbst zu bestimmen (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 40f). Die Gegenposition dieser beiden Formen nimmt das offene Interview ein. Der Interviewführende arbeitet hier ohne Fragebogen oder festes Frageschema, maximal anhand eines Rahmenthemas, über das man sich frei unterhält. Im halb - standardisierten Interview werden Inhalte ‘subjektiver Theorien’ rekonstruiert. Das bedeutet, daß Personen ausgewählt werden, von denen man annehmen kann, daß sie bezüglich des Untersuchungsgegenstandes ein mehr oder weniger komplexes - subjektives Wissen besitzen. Mit der Befragung werden subjektive Theorien des Befragten über den Untersuchungsgegenstand rekonstruiert (vgl. Flick 1996, 100). Im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit bedeutet ‘subjektive Theorien’, daß die befragten Jugendlichen eine mehr oder weniger reflektierte Theorie über ihr ‘Jungsein’ ausgebildet hatten, welches im Zuge der Interviews ausformuliert und offen dargelegt würde. Der verwendete Leitfaden war nach thematischen Schwerpunkten aufgebaut. Der Leitfaden wurde durch theoriegleitete Fragen ergänzt die sich an der verwendeten Literatur zum Thema orientierten. Die Fragen waren ‘offen’ formuliert und eröffneten den InterviewparterInnen die Möglichkeit, aus ihrem verfügbaren Wissen frei zu antworten bzw. zu erzählen. „Die Offenheit des Vorgehens wird durch den narrativen Charakter der Befragung, die dem Befragten viel Freiraum zur eigenen Betonung wichtiger Themenbereiche läßt, gewährleistet“ (Lamnek Bd.2 1995, 55). „Die darin formulierten Zusammenhänge dienen im Interview dazu, das nicht unmittelbar verfügbare, implizite Wissen der InterviewpartnerInnen zu explizieren“ (Flick 1996, 101). Diese Fragen sind als ‘Angebote’ formuliert, die von den InterviewpartnerInnen aufgegriffen oder abgelehnt werden können, je nachdem, ob sie der subjektiven Theorie entsprechen oder nicht (vgl. Flick 1996, 101). Es hat sich in diesem Zusammenhang herausgestellt, daß vor allem einige der älteren InterviewpartnerInnen Interesse an verwendeter Literatur bspw. über den ‘ländlichen Raum’ oder über ‘Jugendkulturen’ gezeigt hatten. 109 War zu Beginn der Interviews und vor allem beim Erstinterview noch eine erhebliche Verhaftung am Leitfaden zu spüren, so ergab sich im Verlauf der nachfolgenden Gespräche doch eine gewisse Loslösung vom Leitfaden. Es wurde zunehmend selbstverständlich, während der Interviews zu entscheiden, in welcher Reihenfolge die Fragen gestellt werden sollten, ob Fragen vielleicht schon ausreichend beantwortet worden waren, ob es notwendig war, detaillierter nachzufragen oder nach Ausschweifungen der InterviewpartnerInnen diese wieder an den Leitfaden zurückzuholen. Aufgrund dieser Spielräume bei der konkreten Gestaltung der Interviews schlägt Flick (1996, 113) - wie gesagt - den Begriff des ‘ teilstandardisierten Interviews’ vor. Der Rückgriff auf ein ‘teilstandardisiertes Interview’ hat sich auch deswegen gut bewährt, weil durch die offene Gestaltung der Interviews einerseits der Zugang zu individuellen Erfahrungswelten geschaffen und andererseits die Möglichkeit der Vergleichbarkeit und der Strukturierung der gewonnen Daten erreicht werden konnte. Zusammengefassend läßt sich nun festhalten, daß folgende Elemente für eine Charakterisierung der qualitativen Interviews notwendig sind: • Sie sind mündlich - personal. • Die Interviewsituation erfordert eine situative Anpassung der Fragen. Standardisierte Formen der Befragung sind nicht geeignet. • Die Fragen werden offen gestellt. • Der Interviewstil ist neutral bis weich. • Im Hinblick auf die Absicht der Interviewer wird das Gespräch eher vermittelnd geführt. Ermittelnde Interviews sind aber durchaus auch zulässig. • Das qualitative Interview wird in Form einer Einzelbefragung durchgeführt (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 59f). • Methodologische Kriterien des qualitativen Interviews Methodologische Kriterien der qualitativen Sozialforschung können auch für qualitative Interviews herangezogen werden. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben der Sozialforschung, den Versuch zu unternehmen, die soziale Wirklichkeit zu erfassen, indem man sie rekonstruiert. Bedeutungsstrukturen sozialen Handelns werden zum theoretischen Ausgangspunkt und zum methodologischen Leitfaden der Sozialforschung (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 61). Das Interview, eine Methode der qualitativ - empirischen Sozialforschung, bietet die Möglichkeit der sprachlichen Erfassung von Bedeutungsmustern der ausgewählten sozialen Wirklichkeit. Im Interview hat die befragte Person die Gelegenheit, anhand der eigenen sprachlichen Kompetenzen ein Bild der eigenen sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. Die 110 wesentlichen methodologischen Kriterien der qualitativen Sozialforschung lassen sich kurz wie folgt beschreiben: • Prinzip der Offenheit: Etwaige theoretische Vorstrukturierungen des Forschungsgegenstandes werden vom Interviewer zurückgestellt. Unvorhersehbare Informationen bilden während der Interviewsituation das Forschungsthema. Das bedeutet für das qualitative Interview, daß durch den Verzicht auf eine Vorstrukturierung oder Standardisierung der Fragen eine Bedeutungsstrukturierung durch den Befragten möglich wird. • Prinzip der Kommunikativität: Das qualitative Interview gehorcht diesem Prinzip, weil es sich um eine mündlich - personale Kommunikation handelt. Der Interviewer muß sich an die Sprache des Befragten anpassen. • Prinzip der Prozeßhaftigkeit: In der qualitativen Sozialforschung wird der Forschungsprozeß als Kommunikationsprozeß verstanden: Daraus ergibt sich, daß das qualitative Interview, in dem durch Agieren und Interpretieren Deutungs- und Handlungsmuster wechselseitig produziert und modifiziert werden, besonders dafür geeignet ist, um diese zu erfassen. • Prinzip der Flexibilität: Qualitative Formen der Datensammlung sind veränderbar in ihrer Durchführung. Der Verzicht auf konstruierte standardisierte Erhebungsinstrumente läßt es zu, die Gestaltung des Interviews im wesentlichen erst durch die Befragungssituation entstehen zu lassen (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 60-64). • Prinzip der Natürlichkeit: Das Untersuchungsfeld der qualitativen Sozialforschung ist die ‘natürliche Welt’. Daher sollte die Interviewsituation für den Interviewpartner der natürlichen Alltagssituation auch möglichst angepaßt sein. Verwendete Sprachkodes und Kommunikationsregeln sollten der Alltagskommunikation nahe kommen. Diese Bedingungen sollten dem Interviewer möglichst bewußt bleiben, denn natürlich ist die Interviewsituation auch in der qualitativen Befragung in hohem Maße ungewöhnlich und der alltagsweltlichen Kommunikation nur annähernd ähnlich (vgl. Lamnek Bd.2 1995,201). 111 Aus methodologischer Sicht gelten diese Kriterien, unabhängig vom ausgewählten Typus des Interviews, für alle qualitativen Interviews. 5.4. Der Interviewleitfaden Bevor ich auf die Auswertung der Interviews eingehen werde, soll der Interviewleitfaden vorgestellt werden. Die Zusammensetzung des Leitfadens basiert auf der verwendeten Literatur und dem persönlichen Interesse am Gegenstand der Untersuchung. Der Leitfaden garantiert hinsichtlich seines inhaltlichen Aufbaues eine Orientierungshilfe. Unter diesem Aspekt ist von einem ‘teilstandardisierten’ Interview zu sprechen während die Abfolge der Fragen aber keinen verbindlichen Charakter annahm. Grundsätzlich sollte erreicht werden, daß die Interviewsituation einem natürlichen, sich sukzessive entwickelnden Gespräch gleicht. In den Formulierungen der konkreten Fragen war es immer wieder notwendig, auf die individuelle Interviewsituation einzugehen. Die flexible Handhabung des Leitfadens und damit auch die Entscheidung für eine konkrete Fragestellung, bewirkt eine Reduktion der Vielfalt und damit die Strukturierung des untersuchten Gegenstandes (vgl. Flick 1996, 65). Außerdem wird dadurch erreicht, daß die Themen nicht immer in derselben Reihenfolge angesprochen werden, da manche Punkte nicht in einen Zusammenhang mit dem Interesse und der sozialen Wahrnehmung der Lebenswelt der Befragten gebracht werden können (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 113). • Aufbau des Interviewleitfadens 1. Fragenbereich: ‘Land - ländlicher Raum’ Fragen in diesem Bereich sollen: a. die persönliche, individuelle Sicht und die Eigendefinition des ‘Lebensraumes’ Land widerspiegeln. b. die Wahrnehmung und Sichtweise ländlicher Regionen als Lebenswelt erfassen. 2. Fragenbereich: ‘Jugend’ In diesem Fragenblock geht es darum,: a. den individuellen Zugang zum Begriff ‘Jugend’ zu formulieren und eine eigene Definition des Begriffes zu bilden. b. Die eigene Wahrnehmung dieses Lebensabschnittes auszuformulieren. 3. Fragenbereich: ‘Jugend und ländlicher Lebensraum’ Während die ersten beiden Bereiche eher dazu dienen sollten, sich mit den beiden Hauptbegriffen - Jugend und ländlicher Raum - des Interviews auseinanderzusetzen, ist der dritte Teil dem eigentlichen Thema zugeordnet. Hier geht es darum, anhand von aus der 112 Literatur gewonnenen Fragestellungen die jeweils individuelle Wahrnehmung der Lebensitutation ‘Jugend’ in einer ländlichen Lebensumwelt zu hinterfragen bzw. von den Jugendlichen ein Bild ihrer Wahrnehmung zu erhalten. Die Fragen gruppieren sich hier um folgende Aspekte: Wie wird das Jungsein im ländlichen Raum erlebt? Läßt sich eine Brücke zum selbst gewählten Jugendbegriff bilden? Welche Ressourcen und Defizite hinsichtlich einer eigenständigen jugendkulturellen Verortung und sozialen Freisetzung nehmen die Jugendlichen in ihrem Lebensumfeld wahr? Welche Rolle spielt der ländliche Alltag als äußerer Rahmen für die Umsetzung gegenwärtiger jugendkultureller Interessen, Neigungen und Bedürfnisse? Die inhaltliche Aufarbeitung konzentriert sich auf folgende Bereiche (vgl. S.82ff; dort sind die hier verwendeten Dimensionen bzw. in der Folge erläutert): a. Freizeit - Welche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung bieten sich an? Wie wird das traditionelle Freizeitangebot Verein bzw. Jugendverein von den befragten Jugendlichen wahrgenommen und genutzt? Bieten die Bereiche der Freizeitgestaltung die Möglichkeiten zur jugendkulturellen Freisetzung im Rahmen der ländlichen Lebenswelt? b. Ausbildung - Welche Berufsperspektiven eröffnen sich für die befragten Jugendlichen nach Abschluß der Schule? Wie nehmen sie ihre Rolle als SchülerInnen im ländlichen Kontext wahr? Gibt es hinsichtlich ihrer subjektiven Wahrnehmung Unterschiede in der dörflichen Anerkennung durch die Erwachsenenwelt zwischen jugendlichen Lehrlingen und Schülern? c. Mobilität - Mobilität gilt als Zauberwort für ländliche Regionen. Welche Lebensbereiche (Freizeitgestaltung, Berufsausbildung ...) werden dadurch geprägt? d. Kontakt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen - Wie gestaltet sich das Generationsverhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen im dörflichen Zusammenleben und in den Familien? Wie gehen Erwachsenen mit modernen Wünschen und Anregungen Jugendlicher um? 113 e. Wünsche - Welche Wünsche bezüglich des Jungsein in ländlichen Regionen gilt es auszuformulieren? Welche Erwartungen und Träume in Bezug auf die konkrete Lebenssituation? Für das Probeinterview wurde ausgehend vom Leitfaden ein Fragenkatalog entwickelt, welcher den Verlauf des Interviews unterstützen sollte. Auszugsweise werden nachfolgend einige der Fragen wiedergegeben: • Fragenkatalog 1. Land „ Was ist nach Deiner persönlichen Definition ‘Land’ ?“ „ Wenn von ‘Land’ die Rede ist werden Bilder wie Ruhe, Erholung, Idylle, Leben in Harmonie und Dorfgemeinschaft, Menschen in Tracht und Landwirtschaft produziert. Was bedeutet ‘Land’ für Dich?“ „ Gibt es Kriterien, die das ‘typisch Ländliche’ beschreiben?“ „ Wenn Du an Dein Dorf (Gemeinde) denkst - wie würdest Du Fremden das Leben in dem Ort beschreiben?“ „ Wodurch ist der Alltag in Deinem Ort bestimmt?“ „ In der Literatur zum Thema ländlicher Raum finden sich immer wieder Beschreibungen ländlicher Lebensmilieus als inflexibel und konfliktunfähig. Ländliche Lebensmilieus werden gekennzeichnet durch eine Unfähigkeit im Umgang mit Neuem und Fremden, durch unzeitgemäße Festhaltung an Traditionellem charakterisiert. Kannst Du zu diesen Beschreibungen etwas sagen?“ 2. Jugend „ Was ist für Dich Jugend - Wie lautet Deine eigene, persönliche Definition?“ „ Wodurch ist die Jugend der Gegenwart im besonderen ausgezeichnet - vielleicht im Vergleich zur Jugend Deiner Eltern?“ „ In den Medien werden Jugendliche gelegentlich als abgeklärt, haltlos, desinteressiert an gesellschaftlichen und politischen Geschehnissen, konsumorientiert usw. beschrieben. Wie bewertest Du diese Aussagen?“ 3. Jugend und Land „ Wie erlebst Du Dein Jungsein in einer ländlichen Region?“ 114 „ Der ländliche Alltag als äußerer Rahmen für Deine Lebensbedingungen - Wie kannst Du darin Deine Interessen, Deine Lebensträume, Deine Lebensentwürfe ... entwickeln? Paßt der Rahmen für Dich oder gibt es Schwierigkeiten?“ „ Ist das ‘Land’ für Dein Jungsein Defizit oder Ressource?“ „ Glaubst Du, daß Jugendliche anderswo in ihren Möglichkeiten der Lebensgestaltung einen Vorteil haben?“ „ Welche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung hast Du?“ „ Verbringst Du Deine Freizeit im Ort oder bist Du in Deiner Freizeit auch in Deiner Region der Umgebung unterwegs?“ „ Mobilität gilt als Zauberwort im ländlichen Raum - welche Bedeutung hat das Wort für Dich?“ „ Was machst Du in Deiner Freizeit - hast Du die Möglichkeit spontan das zu tun wozu Du Lust hast?“ „ Sind in Deinem Freundeskreis Schüler und Lehrlinge vertreten?“ „ Bist Du in einem Verein oder verbringst Du Deine Freizeit mit Freunden?“ „ Glaubst Du, daß Vereine eine Möglichkeit sind, sich leichter in das Dorfleben der Erwachsenen einzugliedern?“ „ Wie glaubst Du nehmen Erwachsene Deiner Umgebung Deine Interessen, Dein Jungsein wahr? Wie sehen Erwachsene in Deinem Ort Jugendliche?“ „ Du bist SchülerIn - wie stellst Du Dir die Zukunft nach Beendigung der Schule vor? Kannst Du Dir vorstellen in der Region (Bezirk) eine Arbeit zu finden?“ „ Ist das Erlangen der Matura das Tor zum Abschied vom Land ...?“ „ Wenn Du die Möglichkeit hättest drei Wünsche zu äußern, die Dein Jungsein am Land betreffen - was würdest Du Dir spontan wünschen? Gerade für das Probeinterview hat es sich als vorteilhaft erwiesen, den Fragekatalog als Unterstützung zu verwenden. Die Interviewunerfahrenheit konnte dadurch etwas gemildert werden. 5.5. Kategorien für die Auswertung Die Kategorien zur Auswertung der Interviews sind im wesentlichen aus der Literaturarbeit dieser Arbeit abzuleiten und wurden unter Bezugnahme auf diese Ergebnisse der Literaturrechere formuliert. Die inhaltliche Ausrichtung der Fragen in den Interviews sollten der Darstellung der theoretischen Überlegungen dienlich sein. Nach Lamnek (Bd.2 1995, 64) sollen die Aussagen des Interviews die zu Grunde liegenden Theorien darstellen. Im Auswertungsprozeß werden die gewonnen Aussagen einer Explikation unterzogen. 115 Die drei Einzelbereiche Land, Jugend und Jugend im ländlichen Raum werden zu einer übergeordneten Kategorie ‘Ländlicher Raum als Lebenswelt für Jugendliche’ zusammengefaßt. Daraus ergeben sich folgende Auswertungskategorien: a. Wahrnehmung des dörflichen Lebens mit Mustern sozialer Kontrolle, Normen, Regeln, Traditionen; Bedingungen zur Integration in den Lebensraum; Hierarchiestrukturen in der Dorfgemeinschaft; Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses. Vermittelt das Dorfmilieu Geborgenheit, soziale Rückversicherung oder Kontrolle und Verhaltenszwang ? b. Wahrnehmung von Brüchen und Widersprüchen im ländlichen Alltag. Wie wird mit Konfrontationen des Modernen mit dem Traditionellen umgegangen? Wo werden Widersprüche zwischen Modernem und Traditionellem fühlbar? c. Wahrnehmung der Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung und bewältigung. Wie sind ‘regionale Rahmenbedingungen’, ‘regionale Optionen’, ‘Formen der Aneignung’ im Freizeit-, Berufs- und Ausbildungsbereich gestaltet? Welche unterschiedlichen Formen der Nutzung dieser Bedingungen sind hinsichtlich des ‘Geschlechtsunterschiedes’ zu erfahren? d. Wahrnehmung als eigenständige Sozialgruppe mit Ansprüchen und Problemen. Wie wird das Erwachsenwerden im dörflich - ländlichen Kontext erlebt? Wie gestalten sich Kontakte mit der Erwachsenenöffentlichkeit? Wie läßt sich das Generationsverhältnis beschreiben? Wie lassen sich die dörfliche Erwachsenenorientierung und die regionale Jugendorientierung koordinieren? Welche Möglichkeiten zur Umsetzung jugendkultureller Interessen und Stile können ‘vor Ort’ in Anspruch genommen werden? Welche Unterschiede in der Lehrlings- und Schülersituation treten aus der Sicht der SchülerInnen zutage? 116 e. Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den spezifischen Bedingungen des Aufwachsens in einer ländlichen Region. Welche ‘persönlichen Konsequenzen’ werden geschlossen? Findet eine kreative Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des Jungseins im ländlichen Raum statt? Welche Möglichkeiten einer schöpferisch, selbstinitiativen Auseinandersetzung mit dem Lebensraum gibt es? Wie wird Jungsein zwischen den Optionen des ‘Bleibens und sich Arrangierens’ oder ‘Weggehens’ aus der Region eingeordnet? (vgl. Abschnitt 4.3.f. in dieser Arbeit). Die inhaltlichen Überlegungen zu diesen Kategorien sind in dem angegebenen Abschnitt dieser Arbeit zu finden. 117 6. Auswertung der Interviews 6.1. Die Inhaltsanalyse Der Begriff Inhaltsanalyse ist eine Übersetzung des englischen content analysis, eines unangefochtenen und weitverbreiteten Begriffs, der im Vergleich zu alternativ verwendeten Begriffen wie Aussagenanalyse, Textanalyse oder gar Bedeutungsanalyse umfassender ist, so daß sämtliche dazu gehörige Verfahren unter dem Begriff der Inhaltsanalyse zusammengefaßt werden können (vgl. Merten 1995, 14). Der Begriff Inhalt ist Kommunikationsinhalte in sozialwissenschafltichen festgelegt, soweit sich Forschungsansätzte diese durch auf geeignete Aufzeichnungsverfahren (schriftliches Protokoll, Tonband) protokollieren lassen. Wenn man die historische Entwicklung der Inhaltsanalyse betrachtet, kann man annehmen, daß mit dem Aufkommen der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Impuls zu ihrer Einführung gegeben wurde. Die Analyse New Yorker Zeitungen von Speed (1893) gilt als die älteste Inhaltsanalyse. Hier ging es um den Vergleich mehrerer Zeitungen über einen bestimmten Zeitraum, wobei das Interesse Speed’s auf die Veränderung der Berichterstattung von Themen in New Yorker Zeitungen gerichtet war. Max Weber referierte im Jahr 1910 auf dem ‘Ersten Deutschen Soziologentag’ über die Soziologie des Zeitungswesens und entwickelte Vorstellungen zur Inhaltsanalyse von Zeitungen, die für die deskriptive Phase charakteristisch sind. Weber wies darauf hin, daß es sich zum damaligen Zeitpunkt erst um quantitative Inhaltsanalysen handelte und daß solche Untersuchungen durch qualitative Ansätze ergänzt werden müßten (vgl. Merten 1995, 39). Mit dem Auftreten anderer Medien neben der Presse entstanden neue Anwendungsmöglichkeiten der Inhaltsanalyse. Neben den quantitativ - deskriptiven Analysen, die für Film und Radio verwendet werden, erhob sich die Frage nach der optischen Wirkung der Inhalte. Es wurden Analysen gefordert, die diese Wirkungen untersuchten, womit die deskriptive Phase überholt war. Zum anderen war man auch dazu übergegangen, von inhaltsinternen auf inhaltsexterne Merkmale zu schließen. Für diese Phase kann die Analyse von Garth genannt werden (1916). Garth erarbeitete die Reflexionshypothese, welche besagt, daß eine relativ konstante Berichterstattung zu bestimmten Themen ein konstantes Lese Interesse 118 bewirkt. Diese Phase war auch begleitet von einer Messung des ‘Sensationalismus’, womit die Wirkung des Inhalts diverser Tageszeitungen auf die öffentliche Meinung in Erfahrung gebracht werden sollte. Lasswell, der ‘Vater der Inhaltsanalyse’, interessierte sich von Beginn an für den Grad der Aufmerksamkeit, den Personen, Gruppen, Massen oder Organisationen bestimmten Symbolen und deren Kommunikatoren entgegenbringen. Unter Rückgriff auf Erkenntnisse der politischen Psychologie beschäftigte er sich mit der Wirkung von Propaganda. Er definierte Propaganda als „Technik zur Beeinflussung menschlichen Handelns durch die Manipulation von Symbolen“. In seinen Analysen erweiterte Lasswell die quantitative Aufzählung um eine qualitative Dimension, indem er bei jeder Nennung eines bestimmten Symbols zusätzlich die Bewertungsrichtung dieses Symbols anhand einer Ordinalskala mitcodieren ließ (vgl. Merten 1995, 40). Lasswell bekam 1939 von der amerikanischen Regierung den Auftrag, die Leitung der Abteilung zur Analyse von Propaganda [wartime communication] zu übernehmen. In dieser Funktion konnte er neue Ansätze, Techniken und Problemlösungen gewinnen und rasch bleibende Anerkennung erzielen. 1941 kann als Geburtsjahr der Inhaltsanalyse bezeichnet werden. Im August des Jahres fand an der Universität von Chicago eine Konferenz über Massenmedien statt. Lasswell, Waples, Berelson und Lazersfeld nahmen unter anderen daran teil. Berelson/Waples legten (1941) eine Studie zur Anwendung der Inhaltsanalyse auf das Wahlverhalten vor; Lazersfeld referierte zur Inhaltsanalyse von Radiosendungen. Im Jahr 1948 veröffentlichte er zusammen mit Berelson eine Anleitung zur Inhaltsanalyse. Dieses Werk gilt als Grundlage für das erste Lehrbuch zur Inhaltsanalyse (Berelson 1952). Die breite Verwendung des Begriffes ‘content analysis’ erfolgte ab dem Jahr 1941. Arbeiten von Osgood (1954) zeichnen sich durch ein verschärftes Methodenbewußtsein und neue Anwendungsgebiete und Verfahren der Inhaltsanalyse aus. Mit der Analyse verbaler und nichtverbaler Inhalte wird der Geltungsbereich der Inhaltsanalyse erheblich erweitert, vor allem um den Bereich der psychologischen Fragestellungen. Nachfolgende wissenschaftliche Arbeiten beschäftigeten sich mit der Frage, was mit Methoden der Inhaltsanalyse analysiert werden könne bzw. wo die Grenzen der Inhaltsanalyse liegen. Krippendorff (1969) lieferte hierzu einen wichtigen Beitrag. In der Beantwortung der Frage, was die Inhaltsanalyse nicht sei, betonte er aus theoretischer Sicht, daß Ergebnisse von 119 Inhaltsanalysen ambivalent seien, solange es nicht gelingt, den selektiven Zugriff, der durch den Kontext des Inhalts und durch das Ziel der Analyse aufgezwungen wird, explizit zu machen. Hier geht es hauptsächlich um das Inferenzproblem, die Notation von Texten verbaler und nonverbaler Inhalte - und schließlich um die weitere elektronische Datenverarbeitung für Zwecke der Inhaltsanalyse. Diese Schwerpunkte werden auch in gegenwärtigen Diskussionen gesetzt, wobei die theoretischen Anstrengungen vor allem der Erforschung der Struktur von Kommunikationsprozessen und dabei insbesondere der Selektivität aller Kommunikation gelten (vgl. Merten 1995, 46). • Ziel und Aufgabe der Inhaltsanalyse Die Aufgabe der Inhaltsanalyse ist es, Rückschlüsse von sprachlichem Material auf nichtsprachliche Phänomene zu ziehen (vgl. Lamnek Bd.2 1995, 172) oder, wie es Langridge (1994, 15) formulierte, vorliegende Texte hinsichtlich ihrer inhaltlichen Prioritäten zu ordnen. Dazu ist es notwendig, das im Text befindliche Wissen zu sichten. Um diesen Schritt zu vollziehen, müssen signifikante Merkmale eines Dokumentes ermittelt werden. Dieser Vorgang wird als Inhaltsanalyse bezeichnet. Inhaltsanalysen beschäftigen sich längst nicht nur mit der Analyse des Inhalts von Kommunikation (vgl. Mayring 1995, 11). In der Sozialforschung ist die Inhaltsanalyse eine Methode mit der Intention, alltägliche Wissensverarbeitung in einen wissenschaftlichen Kontext zu bringen. „Der intuitive Vorgang des Sprachverstehens wird zum Zweck einer wissenschaftlichen Analyse explizit gemacht, systematisiert und objektiviert“ (Lamnek Bd.2 1995, 172). Menschen drücken mit dem, was sie sprechen und schreiben Absichten, Einstellungen und Situationsdeutungen, ihr Wissen und ihre stillschweigenden Annahmen über ihre Umwelt aus. Diese Ausdrucksweisen sind von dem sozio - kulturellen System, dem sie angehören, geprägt. Die Äußerungen spiegeln nicht nur die Persönlichkeit des Menschen wider, sondern auch Merkmale der ihn umgebenden Gesellschaft: institutionalisierte Werte, Normen, sozial vermittelte Situationen usw. Die Analyse von sprachlichem Material erlaubt aus diesem Grund, Rückschlüsse auf die betreffenden individuellen und gesellschaftlichen nichtsprachlichen Phänomene zu ziehen (vgl. Lamnek, 1995, 172). Die Methoden der Inhaltsanalyse können einem quantitativen oder einem qualitativen Ansatz Folge leisten. Die qualitative Form der Inhaltsanalyse ist am interpretativen Paradigma orientiert. 120 „Die Inhaltsanalyse dient im qualitativen Paradigma der Auswertung bereits erhobenen Materials, und das heißt, sie dient der Interpretation symbolisch - kommunikativ vermittelter Interaktion in einem wissenschaftlichen Diskurs“ (Lamnek Bd.2 1995, S.173). Mayring, an dessen Methode der qualitativen Inhaltsanalyse sich die Auswertung der Interviews orientiert, kommt anhand der Herausarbeitung der Spezifika der Inhaltsanalyse als sozialwissenschaftliche Methode zu einer Zielformulierung: „Zusammenfassend will also Inhaltsanalyse Kommunikation analysieren; fixierte Kommunikation analysieren; dabei systematisch vorgehen; das heißt regelgeleitet vorgehen; das heißt auch theoriegeleitet vorgehen; mit dem Ziel, Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunitkation zu ziehen“ (Mayring 1995, 13). 6.2. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring Den theoretisch - methodischen Hintergrund der Auswertungsstrategie bildete die qualitative Inhaltsanalyse. Dabei lehnt sich das Verständnis von qualitativer Inhaltsanalyse nicht an die strengen Kriterien der qualitativen Sozialforschung an, in der die „qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsstrategie von zum Zweck der Analyse erstellter oder zufällig entstandener Dokumente ohne a priori formulierter theoretischer Analysekriterien“ verstanden wird (Lamnek Bd.2 1995, 197). Die Form der Auswertung beruht in weitestgehendem Maße auf dem von Mayring getragenen Verständnis der qualitativen Inhaltsanalyse. „Die qualitative Inhaltsanalyse unterscheidet sich von der quantitativen Inhaltsanalyse nur dadurch, daß sie nicht oder in Teilbereichen nicht quantifiziert. Ansonsten ist sie wie die quantitative Datenerhebung: vorher theoretisch entwickelte Analyseeinheiten, - dimensionen und -kategorien werden auf zufällig entstandene und ausgewählte Dokumente angewandt“ (Lamnek Bd.2 1995, 197). Mayring geht es nicht um die Konzeptionierung einer Alternative zur quantitativen Inhaltsanalyse. Das Anliegen seines Ansatzes ist, eine Methodik systematischer Interpretation zu entwickeln, die an den in jeder Inhaltsanalyse notwendig enthaltenen qualitativen Bestandteilen ansetzt. Diese Bestandteile werden durch Analyseschritte und Analyseregeln systematisiert und überprüfbar gemacht. Quantitative Schritte lassen sich hier einbauen, haben aber einen geringeren Stellenwert als in quantitativen Analysemethoden. Das Verfahren von Mayring untersucht die manifesten Kommunikationsinhalte, also Aussagen von Befragten, die diese bewußt und explizit von sich geben. Die qualitative Inhaltsanalyse wird oftmals gleichgesetzt mit der Hermeneutik, wie sie bspw. in der 121 Literaturwissenschaft verwendet wird. Zweifelsohne läßt sich die qualitative Inhaltsanalyse methodologisch von der Hermeneutik her begründen: die Behauptung, sie sei eher intuitiv, wenig systematisch und nachvollziehbar, ist nicht unbedingt zulässig (vgl. Lamnek Bd. 1 1995,71f.). 6.2.1. Die Technik der qualitativen Auswertung nach Mayring Die qualitative Inhaltsanalyse nach P. Mayring wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes ‘Kognitive Kontrolle in Krisensituationen: Arbeitslosigkeit bei Lehrern’ (vgl. Mayring 1995, 42f.) anhand übertragener Protokolle offener Interviews erarbeitet und in ihrem Ablauf durch eine detaillierte Beschreibung verfestigt. • Ablauf der Analyse von Texten nach Mayring 1. Festlegung des Materials. In diesem Schritt erfolgt die Auswahl der Interviews bzw. der für die Fragestellung interessanten Teile des Textes. 2. Analyse der Erhebungssituation - Wie ist das Material zustande gekommen? Welche wesentlichen Faktoren haben die Interviewsituation geprägt? (vgl. Abschnitt .5.2.) 3. Formale Charakterisierung des Materials - Wie wurde das Material erhoben? Wie wurde es aufbereitet? Auf welche Weise wurden die aufgezeichneten Protokolle in eine schriftliche Form umgewandelt? Die Interviews wurden mit einem Tonbandgerät aufgenommen und in eine einheitliche maschinegeschriebene Form transkripiert. Die Interviews wurden nicht im Dialekt verschriftlicht. Neben einer rein sprachlichen Wiedergabe wurde im Transkript lediglich auf Sprechpausen oder Unterbrechungen des Sprechverlaufes Rücksicht genommen. 4. Festlegung der Analyserichtung anhand der Texte - Was möchte man eigentlich herausinterpretieren? 5. Theoriegeleitete Differenzierung der Fragestellung. Dabei ist es wichtig, die Fragestellung der Analyse im voraus genau zu klären. Theoretisch muß die Fragestellung an den bisherigen Forschungsgegenstand gebunden sein und in Unterfragestellungen differenziert werden können. Daraus ergibt sich die Festlegung auf eine der drei, von Mayring vorgeschlagenen Analysetechniken: 1. Zusammenfassende 2. Explizierende 3. Strukturierende Inhaltsanalyse. 4. Festlegung der Analyseeinheiten - In dieser Phase werden entsprechend der Auswahl der Analysetechnik die Textteile des Interviewprotokolls bestimmt, die ausgewertet werden 122 sollen. Ebenso werden in dieser Phase die Analyseeinheiten festgelegt. Mayring unterscheidet hier in: Kodiereinheit - sie ist der kleinste Materialbestandteil, der ausgewertet werden darf, d.h., der minimale Textteil, der unter eine Kategorie fallen kann. Als wesentlichstes Kennzeichen gilt die Verwendung von Kategorien, die häufig aus theoretischen Modellen abgeleitet sind: Kategorien (vgl. Kapitel 5.3.1. i. d. A.) werden an das Material herangetragen, überprüft und gegebenenfalls verändert. Ziel ist dabei die Reduktion des vorhandenen Textmaterials (vgl. Flick 1996, 212). Kontexteinheit - sie ist der größte Textbestandteil, der unter eine Kategorie fallen kann. Auswertungseinheit - sie bestimmt, welche Textteile jeweils nacheinander ausgewertet werden sollen. 7. Eigentliche Durchführung der Analyse des Materials mittels eines der qualitativen inhaltsanalytischen Verfahren. 8. Interpretation der Ergebnisse hinsichtlich der Fragestellungen. Die Ergebnisse werden in Richtung der Hauptfragestellung interpretiert (vgl. Flick 1996, 212). • Validierung Maryring (1995, 103) übt an den klassischen Gütekriterien (Reliabilität, Validität), wie sie im Kontext der quantitativen Sozialforschung verwendet werden, bezüglich ihrer Tauglichkeit für die inhaltsanalytische Forschung Kritik. Er empfiehlt sechs andere Gütekriterien für die qualitative Sozialforschung, nämlich: ‘Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung, Regelgeleitetheit, Nähe zum Gegenstand, kommunikative Validierung und Triangulation’ (Lamnek Bd.1. 1995, 156). 1. Bei qualitativem Vorgehen bedarf es einer weitergehenden Verfahrensdokumentation, d.h. einer detaillierten Darstellung des Vorgehens, damit der Forschungsprozeß intersubjektiv nachprüfbar wird. 2. Da bei qualitativer Sozialforschung die Analyse eher explikativ und nicht reduktiv erfolgt, müssen die z.T. sehr umfangreichen Interpretationen so dokumentiert werden, daß ein intersubjektiver Nachvollzug gewährleister ist. Eine argumentative Interpretationsabsicherung ist als Gütekriterium schon deshalb wichtig, weil qualitative Sozialforschung aus quantitativer Perspektive häufig Willkür oder Beliebigkeit unterstellt wird. 3. Regelgeleitetheit ist Mayring wichtig. Qualitative Forschung muß sich an bestimmte Verfahrensregeln halten, weshalb es notwendig ist, das Material systematisch zu 123 bearbeiten. Mayring beschreibt den Abkauf der Analyse von Texten (vgl. Abschnitt 6.2.1. i. d. A.). 4. Die Nähe zum Gegenstand ist in der qualitativen Forschung ein methodologisches Grundprinzip. Es muß daher überprüft werden, ob sich die Forschung auf die natürliche Lebenswelt der Betroffenen ausrichtet und ob deren Interessen und Relevanzsysteme einbezogen sind. 5. Mit dem Kriterium der kommunikativen Validierung wird die Rückkopplung der Interpretationen an die Befragten verlangt. Durch die Konfrontation der Befragten mit den Deutungen des Forschers können, ‘vor allem was die Absicherung der Rekonstruktion subjektiver Bedeutungen angeht, aus dem Dialog wichtige Argumente zur Relevanz der Ergebnisse’ gewonnen werden. 6. Die Triangulation als Gütekriterium ist weit gefaßt und meint verschiedene Methoden, Theorieansätze, Interpreten und Datenquellen, die dazu herangezogen werden, Phänomene umfassender, abgesicherter und gründlicher zu erfassen (vgl. Lamnek Bd.1. 1995, 156f.). Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Interpretationen in erster Linie nach dem Kriterium der kommunikativen Validierung auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Allen InterviewpartnerInnen wurde in einem ersten Schritt ein Transkript des Interviews mit meinen Vorannahmen bezüglich der Interpretation zugesandt. Es bestand für alle die Möglichkei, die Transkription und die Vorinterpretation zu beurteilen, bzw. die eigene Meinung offen darzulegen. In einem weiteren Schritt wurde mit einigen InterviewpartnerInnen die endgültige Interpretation der Auswertung diskutiert. 124 • Zusammenfassende Inhaltsanalyse „In der zusammenfassenden Inhaltsanalyse wird das Material paraphrasiert, wobei weniger relevante Passagen und bedeutungsgleiche Paraphrasen gestrichen (erste Reduktion), ähnliche Paraphrasen gebündelt und zusammengefaßt werden (zweite Reduktion). Dies stellt eine Kombination der Reduktion des Materials durch Streichungen mit einer Generalisierung im Sinne der Zusammenfassung auf einem höheren Abstraktionsniveau dar“ (Flick1996, 213). „Ziel der Inhaltsanalyse ist es, das Material so zu reduzieren, daß die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben, durch Abstraktion einen überschaubaren Corpus zu schaffen, der immer noch Abbild des Grundmaterials ist“ (Mayring 1995, 54). Die Methode der zusammenfassenden Inhaltsanalyse läßt sich gut auf Vorarbeiten stützen. Die jeweiligen Abstraktionsebenen der Zusammenfassung werden genau festgelegt und im Anschluß daran schrittweise verallgemeinert, wobei durch die Zusammenfassung ein immer höherer Abstraktionsgrad erreicht wird. • Arbeitsschritte der zusammenfassenden Inhaltsanalyse 1. Paraphrasierung - Wenig inhaltstragende Textstellen werden gestrichen, bestehende Textstellen werden auf eine einheitliche Sprachformel gebracht, grammatikalische Kurzformeln werden herangezogen. 2. Generalisierung auf das Abstaraktionsniveau - Paraphrasierte Textstellen werden auf ein Abstraktionsniveau gebracht, wobei aber die ursprünglichen Inhalte in den neu formulierten enthalten sein müssen. Liegen Paraphrasen bereits über dem Abstarkationsniveau, sind diese so zu belassen. 3. Erste Reduktion - Bedeutungsgleiche Paraphrasen werden gestrichen, wenig inhaltstragende Textstellen nicht weiter beachtet. Einzelne inhaltstragende Paraphrasen können übernommen werden. 4. Zweite Reduktion - Paraphrasen mit ähnlichem Gegenstand und ähnlichen Aussagen werden zu einer Paraphrase gebündelt. Paraphrasen mit verschiedenen Aussagen werden zu einem Gegenstand zusammengefaßt (vgl. Mayring 1994, 57). Während der Arbeitsschritte der Reduktion und Paraphrasierung lohnt es sich, in Zweifelsfällen theoretische Vorannahmen zuhilfe zu nehmen (vgl. Mayring 1994, 58). 125 Anhand des Fragebereiches ‘Jugend’ möchte ich eine Demonstration der Arbeitsschritte vornehmen. Der folgende Ausschnitt bezieht sich auf das Interview N. N ist ein 19-jähriger BORG Schüler. Das Interview findet in der elterlichen Wohnung von N im März 1997 statt. Die Atmosphäre während des Interviews ist sehr entspannt. Rasch erhält das Interview einen anregenden, spannenden Gesprächscharakter. Das offensichtliche Interesse und die Aufmerksamkeit des Interviewpartners lassen die Interviewdauer von ca. 1 Stunde in der Retrospektive relativ kurz erscheinen. Von N bekomme ich im Zuge eines Validierungsgespräches die Rückmeldung, daß er sehr zum Nachdenken angeregt wurde, weil er sich das erstemal ‘mit der Situation befaßt hat, in der er da lebt’: ‘Da hab’ ich ja echt nachdenken müssen bevor ich geredet habe’. N erzählt mir noch, daß er im Zuge des Interviews mit anderen SchulkollegInnen ins Gespräch gekommen sei. Die Neugier auf das, was andere gesagt haben könnten, habe einige Gespräche ausgelöst. Mit einigen sei er so zum erstenmal richtig ins Gespräch gekommen. ‘Ich habe vorher gar nicht gewußt, daß es Leute in meiner Klasse gibt, die auch ähnlich empfinden wie ich. Schade, daß man erst vor der Matura so was merkt’. • Interviewausschnitt Datum: 30.03.1997 Ort: Elterliche Wohnung Interviewpartner Zeit: 14.00 -15.10 Interviewerin: Maria-Elisabeth Weber Interviewpartner: Schüler, Borg, 19 Jahre Index: [-]: Kurze Sprechpause [---]: Kurze Verzögerung durch störende Intervieweinflüsse [...]: Kurze Verzögerungen im Sprechverlauf (Denkpausen, ect. ) N: Interviewpartner I: Interviewerin (...) I: Vielleicht hier zum Bereich Jugend. Was hast Du für eine persönliche Definition von Jugend? Wie definierst Du diesen Lebensabschnitt? N: Jugend? Also das hat irgendwie so einen romantischen Anklang, also wenn man einmal davon ausgeht, daß das so der Zeitabschnitt des Teenagers ist, dann glaube ich, daß die Jugend der Zeitabschnitt ist, wo man mehr Halt braucht als in einer anderen Zeit. Also in der Kindheit hat man ein gewisses Selbstbewußtsein, man ist emotional nicht so verwirrt wie in der Jugend. In der Jugend ist man doch mit so vielen neuen Sachen konfrontiert, es kommen so viele Problem hinzu, die man eigentlich schwer bewältigen kann und gerade da braucht 126 man eigentlich den gewissen Halt, den man andererseits von den Eltern beziehen könnte, der aber andererseits auch abgelehnt wird, weil man einfach erwachsen wird und weil man das spürt, weil man dann die als Autoritätsperson sieht und sich dann grundsätzlich von den Eltern fernhält, emotional. So gesehen ist für mich die Jugend eine extrem problematische Zeit, finde ich. Gerade da sollte von anderen Leuten ein Feingefühl der Jugend gegenüber gezeigt werden. I: In Zeitschriften, Artikeln heißt es immer wieder, die Jugend, besonders jetzt in der Gegenwart, am Ende der 90er, ist haltlos, exponiert, zynisch, hedonistisch, konsumorientiert usw. Die Jugend ist die Generation der Widersprüche, was sagst Du zu diesen Kriterien? Wie weit kannst Du Dich mit solchen identifizieren? M: Man kann sagen, also wenn man die Jugendlichen rein äußerlich betrachtet, also so die Jugendkulturen, kann man eigentlich auf dieses Resultat hinkommen, aber sonst klingt das viel zu radikal und zwar deswegen, weil man vieles vergißt dabei. Da man einfach vergißt, daß man einfach in der Jugend viel weniger Halt hat und viel orientierungsloser ist, gerade da einfach das Verständnis bräuchte und so grobe Zuschreibungen stimmen einfach nicht. [---] I: Du hast vorhin ‘Widersprüche’ innerhalb der Jugendlichen angedeutet. Kann es nicht auch so sein, daß diese Widersprüche nicht auch Ausdruck der Gesellschaft an sich sind? M: Ja, sicher spiegelt sich einiges bei den Jugendlichen wider, das von den Erwachsenen gelebt wird. Ich könnte jetzt kein Beispiel geben, aber ich glaube es ist einfach die Konfrontation mit dem Erwachsenwerden, das heute problematisch ist (...) 127 • Demonstration der Arbeitsschritte Fall N * Seite * 108 N 108 N 108 N 108 N 108 Nr. Paraphrase Generalisierung Reduktion 313 Jugend hat so einen romantischen Anklang, vor allem so der Zeitabschnitt des Teenagers, es ist ein Zeitabschnitt wo man mehr Halt braucht, man hat nicht mehr das Selbstbewußtsein wie in der Kindheit, man ist emotional verwirrt, man ist mit vielen neuen Sachen konfrontiert, es kommen so viele Probleme die man eigentlich nur schwer bewältigen kann, gerade da braucht man den Halt, den könnt man von den Eltern beziehen, lehnt es aber ab, weil man einfach Erwachsen wird und die als Autoritätsperson sieht, sich dann grundsätzlich emotional von den Eltern fernhält, Jugend romantischen Anklang wenn man Jugend als Zeitabschnitt des Teenagers sieht, • Jugend:romanti sch‘Teenager’ 314 ist eine extrem problematische Zeit, gerade da sollte von anderen Leuten ein Feingefühl gegenüber der Jugend gezeigt werden 315 wenn man Jugendliche rein äußerlich betrachtet, also die Jugendkulturen, ist es zu radikal, weil man vieles vergißt, extrem problematische Zeit, Feingefühl von anderen Leuten sollte gezeigt werden, Zeitabschnitt wo man mehr Halt braucht, Selbstbewußtsein der Kindheit ist nicht vorhanden, emotional verwirrt, Konfrontation mit neuen Eindrücken, Problemen, schwer zu bewältigen, • Jugend: braucht mehr Halt emotional verwirrt, weniger Selbstbewußtsein, • Konfrontation mit Vielzahl von Neuem und Problemen, • Halt von Halt von den Eltern könnte Autoritätsperso man brauchen, wird aber nen wird abgelehnt, weil einerseits Erwachsenen als gebraucht, Autoritätsperson gesehen andererseits werden, abgelehnt, grundsätzliche emotionale • emotionale Fernhaltung von Eltern, Fernhaltung von Eltern als Grundsatz, 316 man hat einfach weniger weniger Halt, ist Halt, ist orientierungsorientierungslos und loser, man braucht braucht Verständnis, Verständnis 317 Gesellschaft spiegelt sich in Jugendlichen wider, Konfrontationen • Jugend:extrem problematische Zeit • Feingefühl anderer Leuten fehlt, • Reduzierung auf äußerliches Erscheinungsbi ld erfaßt Jugend nicht vollständig, • Jugend:orientie r-ungslos, braucht Verständnis, • Jugend:spiegelt Gesellschaft • Erwachsenwer den schwierig Seitenangaben und Nummerierungen beziehen sich auf die Reihenfolge in der Gesamtauswertung 128 Auf Grund der erfolgten Reduzierung lassen sich die Aussagen des Jugendlichen folgenderweise zusammenfassen: ‘Jugend wird vom Interviewpartner als schwieriger Lebensabschnitt gesehen. Das in der Kindheit aufgebaute Selbstbewußtsein verschwindet im Jugendalter. Die Konfrontation mit einer Vielzahl von neuen Eindrücken und die Bewältigung dieser löst Verwirrung und Orientierungslosigkeit aus. Emotionale Verwirrung und Unsicherheit verlangen nach mehr Halt und Unterstützung. Die Möglichkeit, den nötigen Rückhalt durch die Eltern zu erhalten, wird aber abgelehnt, weil Eltern- wie andere Erwachsene auch - als Autoritätspersonen gesehen werden. Man versucht sich einerseits von Erwachsenen emotional fernzuhalten, erwartet aber auch ihr Feingefühl und Verständnis für die Schwierigkeiten in diesem Lebensabschnitt. Die Reduktion Jugendlicher auf die vorgetragenen Schlagwörter und auf das äußere Erscheinungsbild wird vom Interviewpartner abgelehnt, weil diese nicht dazu ausreichen, den Lebensabschnitt Jugend als Ganzes zu erfassen. Das Erwachsenwerden ist in der gegenwärtigen Gesellschaft schwierig.’ In einem ersten Auswertungsdurchgang wurden alle transkribierten Interviews nach diesem Schema ausgewertet. D.h. jedes Interview wurde hinsichtlich inhaltstragender Textstellen durchgearbeitet, diese Textstellen wurden in den Raster Paraphrasierung übertragen, darauf folgten Generalisierung und Reduktion. Das so gewonnene reduzierte Textmaterial konnte nun zusammengefaßt und interpretiert werden. 6.3. Interpretation des reduzierten Textmaterials nach Mayring Wertet man die Aussagen der Jugendlichen bezüglich der Eingangsfrage ‘Was ist für Dich Land - ländlicher Raum?’ aus, kommt man auf nachstehende Ergebnisse: In einer ersten, undifferenzierten Stellungnahme zur Frage antworten fast alle Jugendlichen aus dem Blickwinkel des ‘alten Dorfes’. Ländlicher Raum wird mit kleinen, abgelegenen Dörfern und einer Überzahl von in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen gleichgesetzt. Daß dieses Bild aber keineswegs mehr gültig ist, machen erst anschließende Betrachtungsweisen klar, als es darum ging, das eigene Dorf die eigene Familie als Beispiel für die Beschreibung ländlicher Regionen heranzuziehen. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte ergab sich ein Bild des ländlichen Raumes, das sich wie folgt beschreiben läßt: ‘Land’ wird als Raum mit schlechten infrastrukturellen Bedingungen wahrgenommen. Dieser Aspekt bezieht sich nicht nur auf mangelnde oder fehlende Verkehrsverbindungen und Einkaufsmöglichkeiten, sondern vor allem auf die fehlenden Möglichkeiten der Berufsausübung in einer näheren Umgebung. Viele Elternteile, hier vor allem die Väter, pendeln über weite Strecken, um ihren Beruf auszuüben. Auch die Jugendlichen selbst pendeln zum Teil erhebliche Strecken, um in die Schule zu kommen. Pendeln wird auch als 129 die Notwendigkeit gesehen, weite Distanzen in Kauf zu nehmen, um Bedürfnisse stillen zu können. E, eine 20-jährige Interviewpartnerin, antwortet auf die Frage, wie sie ‘Land’ definieren würde mit: ‘Langweilig, ja langweilig, mehr fällt mir dazu nicht ein’. Langeweile bezieht sich hier in erster Linie auf die fehlenden Angebote im Freizeit- und Kulturbereich und auf die geringe Möglichkeit, ‘Neues, Anderes’ kennenzulernen - weil im Dorf ‘immer das gleiche Traditionelle passiert’. In dieser Erst- oder Einstiegsfrage erhalte ich immer wieder die Antwort, Land sei mit geringer Anonymität gleichzusetzen, mit dem negativen Phänomen ‘Jeder kennt jeden’. Dieser Punkt läßt sich allerdings auch in ein positives Licht rücken, wenn man sich die dadurch möglichen ‘gemütlichen’ Zusammenkünfte bei Dorffesten oder Nachbarschaftstreffen ins Bewußtsein ruft. In diesem ersten Zugang ging es allerdings noch nicht um eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, sondern lediglich um eine erste persönliche Definition von ‘Land’. Dabei werden kritische Anmerkungen häufig: ‘die Leute sind konservativ, die Leute sind einfacher und haben auch ein einfaches Denken, die Leute wollen keinen Fortschritt’ oder wie es M, ein 19-jähriger Interviewpartner formuliert hat: ‘ ... es ist halt ziemlich öd das Leben, ... Landleben ist mehr altertümlich kann man sagen’. Positiv bewertet wird von allen InterviewpartnerInnen ‘Land’ als Lebensraum mit viel Natur. Das Leben in und mit der Natur wird als Möglichkeit gesehen, Streß und Hektik auszugleichen. In diesem Zusammenhang heißt es bei J, einem 20-jährigen HTL- Schüler auch: ‘Land ist, wo einfach nicht so viele Leute sind, wo das Leben ein bißchen langsamer ist. Es ist gemütlicher und es ist ein besserer Kontakt zur Umwelt, zu Tieren, zu Menschen, das ist für mich total wichtig’. Mit einer Auswertung der Antworten unter Berücksichtigung der gewählten Kategorien ist bei den Jugendlichen eine differenzierte Sichtweise dessen, was ländlicher Raum ist, festzustellen. • Kategorie a: ‘Wie nehmen die Jugendlichen das dörfliche Leben wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) Das in der Dorfgemeinschaft organisierte dörfliche Leben vermittelt einerseits gesellschaftlichen Rückhalt und Sicherheit, andrerseits kontrolliert und reglementiert es das Leben der Jugendlichen. Neben den gewachsenen und vertrauten Strukturen wie freundschaftlichen Nachbarschaftsverhältnissen sind es Bereiche der existierenden sozialen Kontrolle, des Dorftratsches, des Mißtrauens (Jugendlichen gegenüber), des Neides (SchülerInnen gegenüber), der räumlichen und geistigen Enge (die sich in geringer Mobilität bzw. fehlender Toleranz ausdrückt), die von den Jugendlichen thematisiert werden. Um in einem Dorf leben zu können ist es notwendig, ‘so zu leben wie es das jeweilige Dorf verlangt’: 130 Die Integration in die Dorfgemeinschaft ist wichtig und kann nur dann stattfinden, wenn man den Kontakt zu den Dorfbewohnern nicht ablehnt und sich aktiv an den Veranstaltungen und am Dorfleben beteiligt. Aktive Beteiligung heißt, daß man bei ortsüblichen Festen in irgendeiner Form in der Organisation mithilft. Frauen werden dazu eingeteilt, für das ‘leibliche Wohl’ (Kuchenbacken, Arbeit in den Küchen) zu sorgen, während Männer die ‘körperlich anstrengenderen’ Arbeiten übernehmen. Beteiligung am Dorfleben bedeutet Integration. Das eigene Verhalten muß dem der Dorfgemeinschaft angeglichen werden, wobei die Verhaltensregeln zwar nicht ausformuliert sind, aber implizit für jeden im Dorf Bedeutung haben. Diese Verhaltensregeln und Normen ergeben sich aus langen, gewachsenen Traditionen. ‘Die Dorfgemeinschaft ist einfach ein langzeitig gewachsener sehr enger Gesellschaftsbereich, das kann man nicht nur negativ sehen’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Bestimmte politische und religiöse Denkrichtungen prägen die jeweilige Gemeinschaft in ihrer spezifischen Erscheinungsform. ‘Im Dorf bildet sich eine allgemeine Vorstellung, Regel, Moral und Ethikvorstellung bezüglich des Zusammenlebens aus’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Vor allem Bereiche wie Religion - Kirche, Familie - Partnerschaft - Kinder, Arbeit - Beruf rühren an eine erhöhte Sensibilität der Dorfbewohner. Von den dörflichen Sanktionierungsmitteln wie Dorftratsch oder Vereinsausschluß wird bei Verstoß gegen diese Regeln Gebrauch gemacht. ‘Mein Onkel hat sich scheiden lassen, der hat dann wegziehen müssen, also es ist viel über ihn geredet worden. Es ist wichtig, keine Skandale zu verursachen, halt so ganz normal zu leben, normal eben. Immer schön brav den Lebensrhythmus einhalten ...’ (Interviewpartnerin A, 15 Jahre), ‘ ... es gibt eben selten Scheidungen, das gibt es auf dem Land selten oder es wird vertuscht. Daß jeder glücklich ist, ist eher unwahrscheinlich ...’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Vor allem die weiblichen Interviewpartner sprechen den Bereich der Partnerschaft und des Zusammenlebens, der stark von traditionellen Vorstellungen geprägt ist, verstärkt an. Häufig erwähnen die Mädchen, daß sie mit Meinungen konfrontiert werden wie: ‘Männer sollen die höhere Bildung und Stellung erhalten’ oder ‘Frauen sind den Stellungen des Mannes zugeordnet’. ‘Töchter sollen gute Hausfrauen werden, Burschen sind immer bevorzugt, da wird akzeptiert, daß die in die Schule gehen. Mädchen müssen arbeiten, Kinder kriegen, einen Mann finden, Hausbauen, gute Hausfrauen sein. Es gibt unterschiedliche Verhaltenserwartungen an Männer und Frauen’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre). Frauen sind noch stärker von den traditionellen Klischees ‘Ehe - Kinder - Haushalt’ belastet. Für Frauen gibt es weniger Möglichkeiten, sich mit Freundinnen zu treffen, während Männer ihre Gemeinschaftlichkeit in Vereinen, politischen Vertretungen und Gasthäusern haben können. Männer dominieren den öffentlichen ländlichen Raum:’ ... für die erwachsenen Männer ist es sicher normal, man muß da einfach mitgehen. Die Männer sind da wirklich 131 jeden Tag im Buschenschank, jeden Tag haben die zuviel getrunken, wenn du da mitmachst ist man integriert, man muß eben mitmachen, was da gemacht wird’ (Interviewpartner H, 15 Jahre) ‘Echt typisch ist, mir ist aufgefallen, es gibt echt wenige Familien wo Vater und Mutter getrennt so richtige Freunde haben, mit denen sie über alles echt reden können. Es gibt viel zu wenige Frauen am Land, die Freundinnen haben, es gibt auch weniges, wo die sich treffen können, um so zu reden, so was gibt’s nicht’ ( Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Familien mit Kindern haben einen hohen Stellenwert in der Dorfgemeinschaft, wobei Familie die traditionelle Form der Ehe meint und voreheliches Zusammenleben von der Dorfgemeinschaft kaum wohlwollend aufgenommen wird. Ebensowenig akzeptiert bzw. Grund genug, von den dörflichen Gerüchten vereinnahmt zu werden, sind ‘Probleme mit unehelichen Kindern’. ‘Bei unehelichen Kindern ist das so, das wird eher unter den Teppich gekehrt, da sagt man, das könnte eine blöde Nachrede geben im Dorf, also tu’ ich mich ruhig verhalten, damit es keiner weiß, weiß es wer, muß ich eben heiraten ...’ (Interviewpartner L, 18 Jahre). Heirat geht traditionellterweise Hand in Hand mit ‘der richtigen Arbeit’ und dem ‘netten Eigenheim’. Die Akzeptanz im Dorf ist ungleich höher, wenn man neben der Familie mit Kindern ein schönes - selbst geschaffenes - Haus vorweisen kann. Daß sich gerade Jungfamilien mit dieser Verpflichtung der‘Normalität’ in finanzielle Engpässe begeben, wird im allgemeinen nicht diskutiert, weshalb sich die meisten dem Druck der öffentlichen Meinung unterwerfen. ‘Haus, Familie, Arbeit ist typisch für das Leben da’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Wenn man diese ‘Hürden’ überwunden hat, ist man auch in das dörfliche Erwachsenenleben integriert. Im Bereich der Religion und Kirche sind Abweichungen ebenso starken Sanktionen ausgesetzt. ‘Ich meine Firmung und so, es würde niemanden einfallen zu sagen - ich gehe nicht zur Firmung - das ist eben Tradition’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes hat einen hohen Stellenwert im dörflichen Normalitätsgefüge. Gerade hier ergeben sich für Jugendliche immer wieder Konflikt- und Streitpunkte mit den Eltern. In die Kirche zu gehen, nur weil es ‘ungeschriebenes Gesetz’ ist, wird von den Jugendlichen nicht akzeptiert. Der ‘ritualisierte’ Gottesdienstbesuch ist ‘langweilig’ und der Pfarrer als ‘nicht hinterfragte Autorität’ wird von den Jugendlichen nicht mehr ohne weiters akzeptiert. Zu den traditionellen religiösen Aktivitäten der Kirchengemeinde wie z.B. dem Maibeten (Marienanbetung im Mai) oder dem Feldbeten (Beten für eine gute Ernte) fehlt den Jugendlichen weitestgehend der für ihr Leben relevante Zugang. Die religiöse Weltanschauung nur im ‘richtigen Glauben, dem Katholizismus’ auszudrücken, wird abgelehnt. ‘ ... der Katholizismus, wenn man die Kirche meidet, sich irgendwelchen anderen religiösen Vorstellungen hingibt, kriegt man das auf jeden Fall zu spüren im Dorf’ (Interviewpartner N, 19 Jahre), ‘Kirche und so, wenn man nicht in die Kirche geht, kommt 132 schon eine Vermutung auf, die glauben nicht an Gott oder so. Es ist ein Muß in einem kleinen Ort, daß man in die Kirche geht’ (Interviewpartnerin K, 15 Jahre). Andererseits unterliegen die Kirchenbesuche einer strengen Kontrolle. Die Gruppe der ‘ständigen’ Besucher kennt sich besonders gut und schenkt den ‘neuen Gesichten’ die gelegentlich dazu kommen, die entsprechende Aufmerksamkeit. ‘ ... die Kirche eben, wo man am Sonntag hingeht oder eben nicht hingeht ist so ein Bereich. Die Leute kennen sich, die da immer sind, die sind wie eine eingeschworene Gemeinde, da fällt es sofort auf, wenn da Leute hingehen, die da nie hingehen’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Verbindliche religiöse Traditionen gibt es auch im Bereich von Tod und Sterben. Die ‘Tradition sagt’, daß man im Trauerjahr ‘schwarz zu gehen hat’ und sich nicht am geselligen Leben beteiligen darf. Der bereits erwähnte Dorftratsch ist zum einen das gefürchtetste Mittel der Sanktionierung, zum anderen aber auch Bereichen der Verbundenheit. Wer sich daran beteiligen kann, ist in das Dorf integriert, wer über das dörfliche Geschehen mitreden kann, ist ‘aktiv am Leben’ beteiligt. Schließlich: ‘ ... mit dem Dorftratsch bleibt man zusammen, über irgend etwas muß man ja reden ...’ (Interviewpartnerin A, 15 Jahre). Am Dorftratsch sind Frauen und Männer beteiligt. Während Frauen Gelegenheiten des Alltags wahrnehmen und dabei über allfällige Vorkommnisse reden, haben Männer viel eher die Möglichkeit, sich am Abend oder in der Freizeit zu treffen. ‘Der Alltag ist sehr regelhaft, Frauen gehen in der Früh einkaufen, reden und schimpfen über die, die nicht dabei sind ...’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre), ‘ ... da gibt’s eben die Schnapsabende (Kartenspiel) der Männer, da wird eben alles getratscht. Es wird getratscht bis zum geht nicht mehr ...’ (Interviewpartner H, 15 Jahre). Wichtig ist die Beteiligung an der ‘Gerüchteküche’, eine Nichtbeteiligung deutet darauf hin, selbst etwas zu verbergen. ‘ ... vor allem das Tratschen, es ist unglaublich, was getratscht wird, welche Gerüchte in die Welt gesetzt werden, wenn du da mitmachst bist du sofort eingehaut, wenn du da nicht mitmachst, wird sofort über dich geredet. Meine Mutter ist nicht so, daß sie immer mit den Dorffrauen mitmacht. Am Anfang war das so, daß da wirklich herumgetratscht wurde, jetzt ist es besser. Meine Mutter ist froh, wenn sie von der Arbeit kommt, niemanden sieht, möchte abschalten, .... die hat keine Zeit zum Tratschen’ (Interviewpartnerin G, 15 Jahre). Gerede und Gerüchte sind permanent vorhanden. ‘Es wird immer über Leute geredet, man ist nicht anonym. Es ist schon super, wenn so die Geschichten rennen, das ist wie stille Post’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Auslöser für das Einsetzen der Kontrollmechanismen sind bereits geringe Anlässe: ‘Es klingt vielleicht böse, aber man kann nicht einmal Luft holen, ohne daß es nicht der ganze Ort weiß. Es darf dich zwar nicht stören, weil so verdammt viel getratscht wird ...’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre). ‘In meinem Dorf ist es so, wenn man raus geht und auf die Straße spukt, weiß das am nächsten Tag jeder. Wenn das einer sieht, wird getratscht ...’ (Interviewpartner H, 15 Jahre). Um Konflikte weitgehend zu vermeiden, wird 133 man sich entweder den Meinungen des Dorfes anschließen, oder eigene Verhaltensmuster der Konflikt- und Problemlösung entwickeln, um dem Gerede zu entgehen. Die Strategie dabei lautet: ‘Nichts nach außen dringen, zu lassen’: Sobald bspw. familiäre Konflikte nach außen dringen liefert man sich der Gerüchteküche aus. Hier die Wogen wieder zu glätten bedarf besonders langer Geduld. ‘ ... wenn was aufbricht, kommt man sofort ins Gerede. Bei mir zu Hause ist ein ziemliches Durcheinander, da wird eben ziemlich viel über uns geredet, das merkst du extrem stark ...bei Konflikten innerhalb der Familie wird geschaut, daß die nicht an die Öffentlichkeit kommen, obwohl jeder darüber Bescheid weiß, wird sicher nie direkt darüber geredet ... es wird nie richtig über Probleme oder so etwas geredet, nur immer so unwesentlich, die trauen sich nicht, das ist typisch’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). ‘Bei Problemen wird versucht, alles zu vertuschen und so. Streit - wenn’s der Nachbar hört ist es das Schlimmste, nach außen darf nichts dringen und trotzdem wissen alle alles ...’ (Interviewpartnerin A, 15 Jahre). Der Umgang mit Konflikten erfolgt gewissermaßen nach der ‘Vogel-Strauß-Methode’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). ‘ ... so dieses Wegsehen, ich meine, es wissen zwar alle, aber keiner tut etwas irgendwie, bis dann eben wirklich einer kommt, der dann auszuckt oder sonst irgend etwas, bevor irgendwie nichts passiert ist, wird auch nichts gemacht, bis dahin schaut man eben weg, sagt nichts ... wenn aber was nach außen kommt, brodelt es in der Gerüchteküche ... ’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Die kleinräumige Struktur der Dörfer bietet genug Möglichkeiten, andere zu beobachten und somit über jede Veränderung Bescheid zu wissen. ‘Etwas zu verheimlichen ist schwierig, weil man die Leute öfter trifft und weil sich die Leute mehr mit den anderen beschäftigen ...’ (Interviewpartner J; 20 Jahre). Um zu vermeiden, daß andere etwas erfahren könnten ist man ‘gezwungen’, die heile Familienidylle vorzuspielen. ‘.. es wird ziemlich vermieden, daß andere Leute etwas erfahren. Wenn man das auf die Familie bezieht, wird die heile Familie vorgespielt, allen geht’s gut, es ist nicht so, daß man es verheimlichen kann, eben weil man die selben Leute einfach viel öfter trifft, weil die Leute eben viel mehr wissen über den anderen, weil man sich am Land viel mehr mit dem anderen beschäftigt ...’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Differenzen im dörflichen Leben sind deswegen so stark, weil keine Anonymität gewährleistet werden kann. ‘Natürlich gibt es in einem Dorf Haß und Streit, da kommt es eben viel stärker zum Vorschein, weil einfach keine Anonymität ist, man sieht sich ständig und da ist es auch schwerer, die Verhältnisse zu wahren’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Dieses ‘sich mit anderen beschäftigen’ und das ‘Wissen über die anderen’ beinhaltet aber auch positive Aspekte. Allerdings vertreten die Jugendlichen auch die Meinung, daß es abseits von traditionellen Lebensmustern möglich ist, Konflikte wirklich zu lösen und nicht nur ‘Gerüchte hinter dem Rücken der anderen zu verbreiten, nicht nur anstehende Probleme unter den Tisch zu kehren’. ‘ ... in einem freundschaftlichen Rahmen eines Gespräches kann man das 134 aber schon durchsetzen. Der Nachbar von nebenan, der äußerlich so primitiv erscheint, ist ein Mensch, mit dem man gut reden kann. Man muß sich nur die Zeit nehmen und mehr auf die Leute eingehen. Konflikte sind eben eher verdeckt. Es gibt Leute, die das vielleicht gar nie einsehen werden, die darauf beharren, auf ihre Meinung; die zu überzeugen, daß es auch anders gehen kann, ist nicht leicht. Wenn man mit jemandem redet, wo kein gesellschaftlicher Druck des Dorfes vorhanden ist, kann man leichter Sachen besprechen’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Die geringe Anonymität bietet auch die nötigen Voraussetzungen für Nachbarschaftshilfe und Freundschaftsdienste. Gerne wird anderen Mithilfe angeboten oder von ihnen in Anspruch genommen, dennoch lautet das Motto auch hier: ‘... sei schön ruhig, sei aber trotzdem schön freundlich, aber sei nicht zu freundlich. Man ist eben hilfsbereit. Die Freundlichkeit darf aber ein gewisses Maß nicht überschreiten, man darf sich nirgends zu viel einmischen, da ist dann schon mehr die Anonymität, man will eben keine Nachrede in der Gemeinde’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Die hier beschriebenen, im Dorf wirksamen eigenwilligen Kontrollstrukturen beruhen nach Meinung der Jugendlichen auf der Tatsache, daß ein Großteil der Dorfbewohner der ‘älteren Generation’ angehört. ‘In meinem Dorf sind sicher über 50% der Bewohner über 50 oder 60 Jahre alt, die wollen keine Konflikte, die wollen sich nicht mehr verändern’ (Interviewpartnerin B, 15 Jahre) oder ‘Es ist eben traditionsmäßig, daß die Älteren im Dorf das Sagen haben .. die haben ganz andere Vorstellungen, die haben so das ‘Scheuklappendenken’, alles so wie immer ...’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Aber: ‘Die Regeln sind sicher vorhanden, unausgesprochen. Ich glaube aber, man kann sie durchbrechen. Man wird akzeptiert, wenn man das gemacht hat. Es geht aber nicht so schnell’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Es scheint so, als seien Verhaltensweisen und Werte, die natürlich auf ein jahrzehntelanges Zusammenleben hindeuten, im ländlichen Raum noch immer von Gültigkeit. Die Jugendlichen sind mit zu schützenden Traditionen und Lebensformen einerseits und mit neuen innovativen Lebensmustern und urbanen Einflüssen andererseits konfrontiert. Der Umgang mit diesen Eindrücken soll im folgenden ausgewertet werden. • Kategorie b: ‘Wie nehmen Jugendliche Widersprüche und Brüche im ländlichen Alltag wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) Die kritisch reflexive Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ‘ihrem ländlichen Alltag’ im Hinblick auf die Transformierung ländlicher Lebenswelten war erstaunlich. Die dem Landleben zugeschriebenen Klischees und die untrennbar damit verbundenen Werte wie Konservatismus, Traditionalismus, Brauchtum, Glaube und Bauernstolz (vgl. Bockhorn 1993, 13) wurden einer sensiblen und sorgfältigen Prüfung auf Gültigkeit unterzogen. Einheitlich 135 wurde festgestellt, daß diese Klischees dazu dienen, sich hinter ihnen zu verstecken, sie zu einer Scheinrealität hochzustilisieren und im Zusammenhang mit dem Tourismus gekonnt zu vermarkten. ‘Ruhig ist es nicht mehr. Ich wohne direkt im Weinviertel der Steiermark, da sind viele Touristen, ruhig ist es da nicht mehr. Die Leute tun Dinge nur mehr, um die Touristen zu unterhalten, und da kommt eigentlich der Bürger, der da wohnt, zu kurz’ (Interviewpartnerin A, 15 Jahre). Letztendlich aber stellen die Klischees eine Möglichkeit dar, sich der Realität nicht stellen zu müssen, sich der Eigenverantwortung und dem eigenständigen Nachdenken über regionale Probleme und Defizite zu entziehen. Mangel an Kritikfähigkeit, Manipulation durch unreflektierte Konsumströmungen, Bewahrung überkommener Hierarchien waren und sind die Folge (vgl. Bockhorn 1993, 13). Einheitlich wurde bemerkt, daß ‘Modernes’ in der Definition des ländlichen Alltagslebens vorwiegend materielle Güter und den Zugang zu materiellen Ressourcen meint. Statussymbole des Wohlstandes gestalten das moderne Bild des Landes. Der Lebensstil jedoch ist ein anderer. Traditionelles, soziale Kontrolle, Regeln wirken aber unbewußt weiter. ‘Das Traditionelle wird unbewußt ausgeübt, die Landmenschen wollen Stadtmenschen sein, aber die schaffen das nicht. Man kann zwar materielle Dinge dem Stadtmenschen nachmachen, aber die anderen Leute in Ruhe lassen, das gibt’s nicht. Nur das Materielle macht den Menschen nicht modern’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre). ‘Das Moderne wird mit dem Auto, dem Computer, dem Handy, dem Materiellen ausgedrückt. Mit so was ist man wer, damit rennt man herum’ (Interviewpartnerin M, 15 Jahre). ‘Das Moderne wird über das Materielle ausgedrückt, man geht halt einkaufen in die Stadt aber eigentlich ist alles wie es war’ (Interviewpartner H, 16 Jahre). J, 20 Jahre meint: ‘ Ich würde das Land nicht als total rückständig hinstellen, so ist es nämlich nicht. Ich weiß nicht, ob es jetzt noch so total arg ist, aber in den 70er und 80er Jahren war es noch total so. Jetzt hat man den Fernseher, die SatSchüssel, das größere Auto, also so Statussymbole. Man sieht nicht mehr nur den Bauern in der Lederhose oder sonst irgend etwas, sondern man verfügt auch über die Technik, über Strom. Obwohl es natürlich vom Lebensstil her ein kompletter Unterschied ist. Also es sind vielleicht die gleichen Zeichen da, aber es funktioniert irgendwie anders. Es wird der Unterschied kleiner glaube ich’. ‘... man richtet sich auf einem gehobenen Level ein. Zwei Autos, Luxusgüter, jeder kann sich alles leisten und die Ansprüche erfüllen’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). ‘Modern’ ist der ländliche Raum auch dann, wenn sich Industriebetriebe und Produktionsstätten in den Regionen ansiedeln. Vielfach wird dabei aber ein Faktum übersehen, wie Interviewpartner L zu Recht bemerkt, daß ‘ die merken (Industriebetriebe) da krieg’ ich billige Arbeiter, da spar ich Geld, die arbeiten für jeden Preis, daß sie eben Arbeit haben, weil die keinen Beruf gelernt haben’. Wird das Dorf zum Lieferanten billiger und williger 136 Arbeitskräfte, tauchen schnell Probleme räumlicher, ökonomischer und sozialer Natur auf. Unter dem Druck, Arbeitsplätze in den Regionen zu schaffen, wird häufig zu wenig auf spezifische regionale Bedingungen geachtet. Hier wäre eine Kultur der Widerständigkeit angebracht, die sich an den regionalen Strukturen orientiert, sich auf demokratische Werte besinnt, sich den Mechanismen des politischen Mißbrauchs entzieht und somit an der Gestaltung des eigenen Lebensraumes mitwirkt (vgl. Bockhorn 1993, 13). Wie von den Jugendlichen treffend beobachtet, bleiben moderne Ausdrucksformen dieser Art nur an der Oberfläche des Zusammenlebens wirksam, während tiefgreifende Veränderungsvorstellungen und Erneuerungsideen, wie sie gerade von jungen Menschen gewünscht und ausformuliert werden, wenig Anklang finden. ‘ Veränderungen machen sich vor allem im emotionalen Bereich bemerkbar, wenn man spezielle Interessen hat, stößt man auf Widerstand, wird verlacht, nicht ernst genommen. Dann sieht man die Leute mit ihrem Konsumverhalten, das kann einen emotional bedrücken da kann man eine richtige Wut bekommen’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). ‘ Man kann nicht mehr sagen, es ‘funktioniert’ am Land, weil man ‘eh modern ist. Ich treffe immer wieder Leute, die komplett fertig sind, die nur weg wollen, weil sie es nicht aushalten, eben weil es arg ist, weil man gleich alles zurück bekommt, wenn man etwas ein bißchen anders macht’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Der gesellschaftliche Druck, den eine Dorfgemeinschaft auf den einzelnen ausüben kann, ist auch durch ‘moderne Weichenstellungen’ nicht aus der Welt zu schaffen. Durch subjektive Aufwertungsstrategien versucht man , mit den Brüchen der Zeit umzugehen. ‘Wir sind nicht rückständig, wir sind modern’ lautet die Parole. ‘Es sind zwar keine großen Risse mehr da, aber da ist einmal sehr viel ein Bessermachen, daß man sich selbst als besser fühlt, wenn man am Land wohnt. Man sagt zwar, wir sind gleichwertig wie ihr in der Stadt, was aber überhaupt nicht stimmt’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Die Umstrukturierung im Bereich der Landwirtschaft, der Produktions- und Wirtschaftsform ländlicher Regionen, wurde in dieser Arbeit bereits mehrmals angesprochen. Nun soll es darum gehen, diese Aspekte in der Wahrnehmung der Jugendlichen zu untersuchen. Die Landwirtschaft ist längst nicht mehr die primäre Einnahmequelle ländlicher Regionen. Für viele der Interviewpartner ist der Bezug dazu nur über Großeltern oder Verwandte herzustellen. ‘Überhaupt nicht jeder arbeitet in der Landwirtschaft. Ich komme zwar von einer, habe aber überhaupt keine Ahnung davon. Die meisten haben Verwandte, Großeltern oder so mit einem Bauernhof, also von irgendeiner Seite hast du immer noch Verbindungen’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Für das Zusammenleben im Dorf hat die landwirtschaftliche Vergangenheit dennoch eine Bedeutung. ‘ ... es gibt einmal das Bauerndorf, das ist ganz was eigenes. Die creme de la creme, die Oberschicht, die führen sich auf, ... das ist Tradition, das war schon immer so, das ändert sich nicht so schnell, das 137 sind die, die politisch mitreden.’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Dieses ‘Bauerndorf’ bildet auch den Kern ländlicher Gemeinden, an deren Rändern die Zugezogenen, Jüngeren wohnen Der Dorfkern ist gewöhnlich Familien mit traditionellem langen Bezug zum Dorf vorbehalten. ‘Es gibt ein Dorf und das ist eben schon länger, dann ist da die Hauptstraße. Wenn man an der Hauptstraße wohnt, ist man schon was Besseres, da sind eben die Jüngeren, die Nachkommen, von denen zum Teil die meisten auch auswärts arbeiten. Ich meine, da sieht man sich auch nicht mehr so als die Leute im Dorf. Im Dorf wohnen eben die Älteren und an der Straße ist die Neubausiedlung’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Die Bewohner der Neubausiedlungen stehen teilweise in einer losen Verbindung zum Dorfkern und weisen auch untereinander eine geringere Kontaktdichte als die Bewohner des Dorfkerns auf. Die Orientierung richtet sich hier vermutlich - nicht nur bezüglich der Arbeit - eher nach außen. Die InterviewpartnerInnen bewerten diese Tendenzen auf folgende Weise: ‘ Die traditionelle Dorfstruktur ist so nicht mehr gegeben. Alles ist irgendwie vermischt. Die meisten sind ja weg aus der Landwirtschaft und haben eine Arbeit gesucht. Im Dorf (Dorfkern) haben die Älteren den Bauernhof aufgelöst und leben jetzt von der Pension’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Interviewpartnerin B, 16 Jahre, formuliert diesen Umstand aus ihrer subjektiven Wahrnehmung heraus so: ‘ Da gibt es eben die Bauern und da gibt es die normalen Leute, die nur am Wochenende da sind die unter der Woche arbeiten, die Pendler sind. Die sind da nicht so richtig drinnen, die sind so mehr mit der Familie und so’. Durch das Pendlerwesen gehen auch gewisse soziale Bezüge wie das Zusammensitzen im Dorf verloren. ‘Bei den Pendlern stelle ich mir das so vor, wenn die heimkommen, wollen sie was anderes nicht mehr tun, die sind müde und wollen ausrasten. Da geht schon ein bißchen verloren, was früher war, was gemütlich macht, zusammensitzen, so tratschen. Wo zusammenkommen, daß ist in unserem Dorf nicht mehr so, da geht schon was verloren’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). Häufig kompensieren aber gerade Pendler diesen ‘Dorfentzug’ durch überdurchschnittliches Engagement in Vereinen und Organisationen. Männer und Väter widmen häufig einen Großteil der anfallenden Freizeit dem Fußballverein, der Feuerwehr oder ähnlichem. Frauen, denen weitgehend die Möglichkeit der Vereinsmitgliedschaft fehlt, bringen in dieser Zeit das Eigenheim auf Hochglanz oder versorgen den Hausgarten. Die häufig als typisch für ländliche Gemeinschaften beschriebene Hierarchisierung des Dorfes ist für die befragten Jugendlichen nicht mehr von zwingender Gültigkeit. Vormals angesehene Bürger wie der Arzt, der Lehrer, der Pfarrer, der Feuerwehrhauptmann, der Bürgermeister, der größte Bauer haben keinen unangefochtenen Anspruch auf Autorität mehr. ‘ Früher war das so, wie ich klein war, da war im Dorf der große Bauer, der hatte das Sagen. Jetzt ist das Geld das Wichtige.’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Dennoch befinden sich 138 Repräsentanten einer öffentlichen Funktion ungleich mehr im Licht der Dorföffentlichkeit, was ihren Verhaltensspielraum gleichzeitig kleiner und größermacht. ‘Mein Vater hat so kleine Ämter, jetzt gefällt das den Leuten nicht mehr so, weil bei uns zu Hause so ein Durcheinander ist, die hätten schon gerne, daß er abgesetzt wird, weil er einfach nicht mehr dem entspricht, also er fällt irgendwie aus der Reihe. Er entspricht einfach nicht mehr dem, also eben so der normalen Familie’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Fremdem und Neuem wird zu Beginn meist mit Skepsis und Mißtrauen begegnet. ‘ Meine Mutter hat wieder mit der Arbeit begonnen, hat eine Ausbildung gemacht, sich total verändert, so flippig und so. Von der Seite der Älteren ist gekommen, ‘die spinnt komplett, die armen Kinder’ usw. Sie läßt sich aber nichts sagen von den anderen. Sonst wird man ja verrückt wenn man versucht, nichts falsch zu machen unter dem Motto: Was könnten die anderen denken oder sagen?’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist in zaghafter Veränderung begriffen, vor allem Frauen der jüngeren Generation wollen sich aus den traditionellen Erwartungen des Dorfes bezüglich Familie, Haus und Hof lösen. Trotzdem akzeptieren ‘alte Generationen die neuen Generationen überhaupt nicht, zeitweise. Andere stellen sich aber auch locker darauf ein, sagen es ist einfach was Neues, das ist einfach so. Die meisten sagen aber was soll’s. Es wird schon besser’ (Interviewpartnerin G, 15 Jahre). ‘ Die Leute haben eben Angst vor Neuem’ (Interviewpartner H, 16 Jahre). ‘ Es ist halt für die Leute nicht so einfach, sich da umzustellen, wenn da neue Einflüsse sind, wenn da was Fremdes kommt. Es erinnert irgendwie an eine Familie, wenn da jemand neuer dazu kommt. ... Es ist schwierig, mit neuen Sachen zu kommen, weil es ein so gewachsenes Gefüge ist’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Für die Jugendlichen ergeben sich aus diesen Punkten einige Schwierigkeiten. Traditionelle und Moderne Aspekte sind oft ineinander verflochten. Diese Relation bleibt häufiger unartikuliert, während noch immer von der inneren Kohärenz und Schlüssigkeit der traditionellen Bezugssystems ausgegangen und das Wissen darüber vorausgesetzt wird. ‘Die Jugend ist deswegen erschwert, weil Traditionelles mit Modernem vermischt und nicht richtig ausgesprochen wird. Es gibt Sachen, die traditionell sind, die werden nie ausgesprochen, werden einfach vorausgesetzt. Wenn du aber merkst, daß es eigentlich nicht mehr so ist, dann Donnerwetter, dann ist es schwierig’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). • Kategorie c: ‘Wie nehmen Jugendliche Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung und -bewältigung wahr?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage läßt sich gut mit der Aussage einer Interviewpartnerin (F, 18 Jahre) einleiten. ‘... Jugendliche müssen einige Kompromisse 139 eingehen, wenn man am Land leben will ...’. Auf welche Kompromisse, Anforderungen und Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung lassen sich aus den Aussagen der Jugendlichen schließen? Wie gehen sie mit ihrer jeweiligen Lebenssituation um? Um sich mit diesen Punkten auseinanderzusetzen, lohnt es sich, den Bereich der Schul/Berufsausbildung vom Freizeitbereich zu trennen, wobei es natürlich immer wieder Überschneidungen gibt. Im Bereich der Ausbildung, im konkreten Fall der Schulausbildung mit Matura bewegen sich die InterviewpartnerInnen im Spannungsverhältnis zwischen ländlich - traditioneller und moderner Berufsorientierung (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 241). Die InterviewpartnerInnen werden in ihren Rollen als SchülerInnen immer wieder mit einem traditionell ländlichen Arbeitsethos konfrontiert. Dieses Arbeitsethos hat seine Wurzeln in der Vorstellung, ‘Arbeit’ beziehe sich auf körperliche Anstrengung und nicht auf geistige, körperlich wenig beanspruchende Tätigkeit. ‘ Viele sagen noch immer, wer nicht arbeiten will, geht Lernen (in die Schule), die spinnen, die sind faul, die sind jahrelang von den Eltern abhängig. Dann erreichen die doch nichts, wissen nicht, was sie arbeiten sollen’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre) oder ‘Die, die lernen, hören, ‘was tun die blöd am Schreibtisch sitzen, blöd schreiben oder rechnen, das ist ja keine Arbeit’. Ich glaube, das Handwerk ist bei uns mehr angesehen als das Studium’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Die SchülerInnen sind demzufolge in ihrer subjektiven Wahrnehmung auch mit Vorurteilen konfrontiert, die aus ihrem ‘nur - Schüler Sein’ resultieren. ‘Wenn man eine höhere Schule besucht, erzeugt man viele Vorurteile. Die sagen alle, wir bilden uns ein sowieso was Besseres zu sein als die Lehrlingskinder. Die, die in eine höhere Schule gehen, mögen die hier nicht’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre), ‘Lehrlinge sind schon ziemlich skeptisch den Schülern gegenüber’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre), ‘Wenn man in die Schule geht, ist man sowieso faul, dann will man nicht arbeiten. Schüler und Studenten lösen auch noch Vorurteile aus, weil sie sich komisch anziehen, die Haare färben und eben die bösen Kinder. Die wohnen einfach daheim, essen gratis. In der Früh in die Schule, sitzen dort oder nicht, eher locker eben. Man muß selber schauen, daß man was macht, selbst bestimmen, wie schnell man etwas tut, daß man fertig wird, man kalkuliert eben herum, als Lehrling kann man das so nicht’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Die befragten SchülerInnen nehmen bewußt wahr, daß Lehrlinge ‘besser in die dörfliche’ Erwachsenenwelt passen. Sie arbeiten und verdienen ihr eigenes Geld. Die ‘verlängerte Jugendphase’ der SchülerInnen ist für viele - vor allem für die ältere Generation -noch nicht vertraut genug, was vorgefertigte und wenig reflektierte Vorurteile zur Folge hat. Wenn Lehrlinge eine Lehrstelle in der näheren Umgebung bekommen, zeigen sie, so meinen die Jugendlichen, einen höheren Bezug zur Region. ‘Natürlich wird man, allein weil man Geld verdient, schon erwachsener hingestellt. Die Leute sagen ‘jetzt kennst du dich aus, weißt, wie man Geld verdient, weißt, daß nicht mehr alles so einfach ist. Aber wenn man eine Lehre 140 macht, kommt man nicht mehr so leicht weg, auch wenn man es nicht aushält ist man froh, eine Stelle zu haben’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Lehrlinge entsprechen dem traditionellen Erwachsenenbild. Das ist irgendwie ein Vorwand, um Gleichgesinnung zu propagieren. Wenn einer Lehrling ist, tanzt er nicht mehr aus der Reihe, von dem ist nichts zu befürchten, daß der sich einmischen könnte, der kann den eigenen Vorstellungen nicht im Wege sein. Deswegen fassen Lehrlinge in der Dorfgemeinschaft leichter Wurzeln’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Trotzdem bleibt festzuhalten: ‘Es besteht eine gewisse Abneigung gegen Leute, die durch ihre geistigen Fähigkeiten, durch ihre Interessen dazu berufen sind z.B. Akademiker zu werden oder einen höheren Beruf anzugehen. Es besteht sicher eine Abneigung, ein Mißtrauen, übertölpelt zu werden aus dem Gefühl heraus ‘der hat studiert, der kann das sicher besser, der will mir das klar machen’, das ist irgendwie ein Mangel an Selbstbewußtsein’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Abgesehen von diesen Vorurteilen sind die SchülerInnen aber vor allem mit den bestehenden oder fehlenden ‘regionalen Optionen’ konfrontiert, die der angestrebte Maturaabschluß mit sich bringen wird. Wie weit ermöglicht also die regionalspezifische Berufspalette den Jugendlichen die Aussicht auf eine chancenreiche berufliche Lebensverwirklichung in der Region bzw. muß diese Frage nicht ohnehin außerhalb der Region beantwortet werden? Die im Bezirk bestehenden ‘regionalen Optionen’ werden von allen Jugendlichen als irrelevant bezeichnet. Die einzig verwirklichbare Möglichkeit liegt für einen Großteil der SchülerInnen darin, die Schule gut zu bewältigen, um dann die Region verlassen zu können, weil keine adäquaten beruflichen Möglichkeiten vorhanden sind. ‘Es ist sowieso so, daß wir dann, wenn wir fertig sind mit der Schule - ich kenne keinen Schüler der sagen würde, daß er dableiben will nach der Schule, es wollen alle nur weggehen, schauen, daß wir die Jahre irgendwie runterdrehen bis zur Matura und dann weg. Matura ist so ‘endlich raus und weg’. Das ist einmal gut, und in der Stadt ein neues Leben aufbauen, weg vom Dorf’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Eine Berufsausbildung im Bezirk scheint für die meisten nicht vorstellbar, nicht nur weil ein Großteil angibt, nach der Matura studieren zu wollen, sondern weil die Arbeitsmarktsituation generell als schwierig eingestuft wird. Mobilität und der Mut, die Region zu verlassen, ist für die befragten Jugendlichen deshalb selbstverständlich. ‘Man muß flexibel sein, weil vor der Haustüre, da gibt’s keine Arbeit, da muß man schauen wo man was kriegt, man muß eben bereit sein, wenn man eine Arbeit will, dann muß man weggehen und mobil sein’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). ‘Es gibt begrenzte Möglichkeiten da im Bezirk, da gibt’s eben keine Möglichkeiten, schade, und wenn man nicht bereit ist zu pendeln dann ist es schwierig. Für viele ist es schwierig, aus dem Kaff herauszukommen, weil die denken ‘ich bin da geboren, jetzt soll ich da weg, da muß ich alles hinter mir lassen’. Heute ist es aber überall schwierig’ (Interviewpartnerin M, 15 Jahre). Für Mädchen hat der bildungsspezifische 141 Aspekte eine darüber hinausgehende Tragweite. Mädchen betonen, daß der Schulbesuch für sie eine Möglichkeiten darstellt, die traditionellen Geschlechtsrollenzuschreibungen zu überwinden. Berufliche Eigenständigkeit und die Ausübung eines ‘interessanten und abwechslungsreichen Berufes’ gehören zu den Zielvorstellungen der meisten. ‘Für Mädchen war es früher schwieriger, weil da hat man weiter weg müssen (um zur Schule zu gehen), die Geldmittel haben gefehlt. Mädchen, das war eher so die Frau hinter dem Herd und kochen und so. Heute kenne ich auch Beispiele, wo das noch so ist, wo der Vater bestimmt hat, was die Tochter tun muß. Ein Mädchen, die ist jünger als ich, deren Vater hat gesagt ‘du mußt in die Haushaltungsschule gehen’, die war echt gescheit, lauter Einser, die hat das tun müssen’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). ‘Ich meine, jetzt haben die Mädels überhaupt schon ein bißchen die Möglichkeit, in die Schule zu gehen, früher, da hat man mit achtzehn Kinder gekriegt und hat geheiratet’ (Interviewpartnerin F, 18 Jahre) oder ‘In meinem Freundeskreis ist es normal, daß man das macht, was man machen will. Es ist egal auch Mechanikerin oder so was. Generell ist es schon noch eher so Hausfrau, Kinderkriegen, hinter den Herd oder eben Verkäuferin, Friseuse oder so was, eher die leichten nicht anstrengenden Berufe, also Werkzeug, das ist prinzipiell nichts für Mädchen, nur für Männer. Kinder, Haushalt, das ist für die Frauen. Das ist echt arg’ (Interviewpartnerin M, 15 Jahre). Der Schulbesuch wird dannach als Schritt gesehen, sich aus der gesellschaftlich determinierten und schwer auflösbaren Rolle der Hausfrau und Mutter leichter lösen zu können und einen eigenständigen beruflichen Weg einzuschlagen. Der Bereich der Freizeitgestaltung eröffnet für Jugendliche eine weitere Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung. Die spontane Antwort lautet fast einstimmig: ‘Es ist fad, es ist nichts los, es ist so wenig Angebot, wir können nichts machen in der Freizeit’. Durch konkretes Nachfragen entsteht dann aber doch ein etwas weiter gefaßtes Bild der Freizeitmöglichkeiten. Skizziert die erste spontane Antwort den Eindruck vollkommener Eintönigkeit des jugendlichen Freizeitlebens, wird mit einer zweiten Kollektivaussage der Eindruck erweckt, es handle sich um eine Gruppe extrem sportlicher Jugendlicher. ‘In der Freizeit kann man nichts machen, na ja, man kann sporteln’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Sport scheint die einzige Möglichkeit zu sein, die Freizeit sinnvoll zu verbringen, wobei Sport in diesem Zusammenhang als sportliche Betätigung im Vereinsumfeld verstanden wird. Hinter ‘Sportverein’ verbirgt sich im ländlichen Umfeld in erster Linie aber der Fußballverein, womit für Mädchen zumindest diese Variante der sportlichen Freizeitbetätigung nicht relevant ist. Sport als Freizeitaktivität ist für viele Jugendliche aber auch mit Aktivitäten im Sommer und Frühjahr verbunden. Radfahren, Schwimmen, Tennisspielen - Sportarten, die nicht unbedingt im Verein ausgeübt werden müssen und vor allem in jedem noch so kleinen Ort praktiziert werden können. ‘Im Sommer ist es toll hier, sonst ist es echt fad. Da kann man 142 echt nichts unternehmen. Sport kann man viel machen im Sommer und Frühling, wenn man draußen was unternehmen kann’ (Interviewpartnerin G, 15 Jahre). ‘Banale Sachen wie Tennis kann man überall machen, ausgefallene Dinge gibt’s nicht so da’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Im Sommer ist es einfach. Da geht man ins Bad eben oder Fußballspielen. Im Winter ist es trostlos, da können wir überhaupt nichts machen. Man kann ins Gasthaus gehen, aber das geht ins Geld’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Grundsätzlich, so lautet der Tenor vor allem der älteren InterviewpartnerInnen, kann man in der Freizeit alles machen, was man machen möchte. Denn die Gegenfrage auf ‘Was machst Du in Deiner Freizeit?’, lautet: ‘Was macht man in der Stadt mit seiner Freizeit, außer daß einem fad ist?’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Natürlich ist Freizeitangebot in Form von Kino, Theater ect. in weit geringerem Ausmaß vorhanden, aber für die Gestaltung der persönlichen Freiräume ist auch ein spezielles Interesse für etwas und die Gabe, herauszufinden wo und wie man dieses Interesse umsetzten kann, erforderlich. ‘Interessen sind das Wichtigste, und am Land mußt du erst schauen, wo die Möglichkeiten sind, wo irgend etwas ist, das du machen kannst, wo Leute sind die dich interessieren, dort mußt du dann hinkommen. Es wird schon in Kauf genommen, für speziellere Sachen in der Freizeit auch weiter zu fahren. Natürlich geht bei vielem eben Zeit verloren, weil man wohin fahren muß, weil man abhängig ist davon, wohin zu kommen. Unmobile sind auf Unterstützung angewiesen. Da ist man extrem abhängig, man ist angewiesen auf Eltern, auf Freunde mit einem Auto’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Attraktive Freizeitangebote (bspw. Kinobesuch in der nächsten Stadt) sind in ihrer Durchführung daran gebunden, ob man mobil ist, ein Auto hat oder gute Verkehrsverbindungen vorhanden sind. Für die meisten älteren InterviewpartnerInnen ist Mobilität kaum mehr ein Problem, fast alle besitzen den Führerschein und sind somit nicht mehr unweigerlich auf die örtlichen Freizeitangebote angewiesen. Die jüngeren sind zumeist darauf angewiesen, die Angebote vor Ort anzunehmen, auch wenn ‘schon alles fad ist, auch wenn nie etwas passiert, weil immer das Gleiche ist, weil man immer wieder die gleichen Leute trifft’. ‘Als Vierzehnjähriger kommt man nirgendwo hin, man sitzt den ganzen Tag daheim, jammert, das hält kein Mensch mehr aus ...’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Vorher haben wir uns gedacht, jetzt haben wir noch kein Auto, es ist egal, wir bleiben eben noch da, nehmen wir das, was die Stadt (Radkersburg) uns bietet, aber dann so schnell wir möglich weg’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). ‘Die Jüngeren sind noch eher fröhlich haben noch mehr Lebensgeist, so daß sie es noch leichter aushalten daheim, sich mit irgendwelchen Leuten unterhalten und so, wenn man achtzehn ist, wo es realer wird, daß man weiter wohin fahren kann, braucht man das dringend’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Herumfahren, Unterwegssein ist ein wichtiger Lebens- und Freizeitaspekt in ländlichen Regionen, dieses Ergebnis der Literaturstudie läßt sich auch 143 eindeutig auf die Situation der Jugendlichen in der Untersuchungsregion übertragen. ‘... in der Freizeit fahren wir herum im Bezirk, sonst irgendwohin, aber Hauptsache dorthin, wo mehr geboten wird als da, alles ist besser ...’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Die Mobilität ist nicht nur im Zusammenhang mit der Freizeitgestaltung wichtig, sondern dient auch dazu, Freundschaften zu pflegen. Alle Jugendlichen geben an, den Freundeskreis über die Schule zu bilden. Diese Schulkameraden sind wiederum aus der ganzen Region. Häufig werden die Freizeitaktivitäten direkt im Anschluß an den Schultag durchgeführt. ‘Meistens gehen wir irgendwo in ein Lokal Kaffee trinken, sonst sitzen wir einfach zu Hause herum und sehen fern. Wir haben keine Bekannten mit einem Führerschein oder Auto, können uns nur auf die Eltern verlassen, daß die uns wohin bringen’ (Interviewparterinnen C&D, 16 Jahre). Generell fehlen Bereiche der Freizeitgestaltung, die es den Jugendlichen ermöglichen würden, sich im Rahmen ihrer Interessen wirklich zu engagieren und sich aber nicht gleichzeitig in Vereinen (Jugendvereinen) organisieren zu müssen. ‘Ich kann mich nicht engagieren für Dinge, die mich interessieren, daß ist echt ein Problem. Ich schreibe gerne, da geht nichts weiter, solange ich als Jugendliche hier bin, ist es absolut nicht möglich. Es gibt einfach nichts, es gibt nichts, wenn jemand etwas gerne tut, sozial sich engagieren mit irgendwelchen Jugendlichen irgend etwas tun. Es ist alles schwierig oder ‘entweder man ist bei der Landjugend (Verein) oder man ist gar nichts’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Die Frage nach der Möglichkeit der Freizeitgestaltung im Rahmen eines Vereines vorwiegend der traditionellen Jugendvereine ‘Katholische Jugend’, ‘Landjugend’ - hat interessante Ergebnisse gezeigt. Keiner der interviewten Jugendlichen gab an, in einem dieser Jugendvereine zu sein. Die Gründe, die angegeben wurden, waren argumentativ sehr vielschichtig. Vereine sind Institutionen, die der Integration in den dörflichen Alltag dienlich sind und daher vorwiegend von Lehrlingen in Anspruch genommen werden, da diese eher als SchülerInnen im Ort bleiben. ‘Der Verein ist irgendwie Eintritt ins Dorf, wenn du da nicht dabei bist, heißt es, daß du weggehen willst. Ich kenne keinen Schüler, der drinnen ist und weggehen will. Die anderen festigen sich da, weil sie da bleiben werden, weil sie da ein Leben aufbauen werden’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). ‘Ich könnte zur Landjugend, da sind aber nur Lehrlinge drinnen, da ist dann der Konflikt Lehrlinge und Schüler. Da sind eben keine Schüler drinnen, dann ist das auch nichts für mich’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). Nicht nur diese Gründe sind ausschlaggebend für das Fernbleiben vom Vereinsleben, sondern auch der Mangel an engagierten Führungskräften und interessantem Angebot. ‘Es hat einmal eine Jugendgruppe gegeben mit einem Kaplan, der hat echt viel gemacht. Jetzt ist eben überhaupt nichts mehr da. Der Kaplan war super, der war mit uns Snowboarden, Pizza essen, der hat echt viel gemacht’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). ‘Die Landjugend organisiert zwar immer irgendein Fest oder so Aktionen, das deckt sich aber nicht wirklich mit meinen 144 Wünschen. Wenn man in so einem Verein ist, hat man immer Leute, lernt das Leben in der Gemeinschaft. In der Landjugend sind aber eher Lehrlinge, die besuchen keine weiterführende Schule’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). ‘Vereine, wirklich so für Jugendliche, gibt’s wenig. Junge ÖVP, Landjugend, die sind aber eher am Sterben, denke ich mir, weil die sind eher so parteiisch’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Vereine spielen für mich persönlich keine Rolle, die interessieren mich einfach nicht. Die ganzen Vereine sind irgendwie so geprägt, wenn sie unter dem Titel Jugendvereine laufen, daß sie mich nicht interessieren. Ich habe mich immer dagegen gestellt. Die zeigen einmal äußerlich Verständnis, also zu den Sachen, individuelleren Gedanken und so, aber die katholischen Vereine haben offensichtlich einen Erziehungsgedanken dahinter, der kann so nicht akzeptiert werden von einem Jugendlichen’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Die Hauptkritik richtet sich also auf das Angebot, den ‘Konflikt Lehrlinge/Schüler’, die parteipolitische Prägung und das nicht wirklich vorhandene Verständnis für gegenwärtige jugendkulturelle Interessen. Auch das Vereinsleben abseits der Jugendvereine ist für die interviewten Jugendlichen von relativ geringem Interesse, weil hier vorwiegend das Erwachsenenpublikum angesprochen wird. Die am häufigsten genannten Vereine wie Feuerwehr, Eisstockschützenverein, Kameradschaftsbund und Jagdverein wecken kaum Interesse bei den Jugendlichen. Von den Mädchen wird aber im Zusammenhang mit Vereinen auch die ‘traditionell männliche Ausrichtung’ kritisiert. Vereine sind - bis auf einige politische oder kirchliche Frauenvereine - traditionelle Männerwelten. ‘Vereine sind eher nur für Männer oder Burschen, wie eben der Fußballverein. Für Frauen gibt es weniger Angebote, wenn, dann stricken’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). Zugeständnisse von Seiten der Männer exsitieren nach Aussage einer Jugendlichen nur pro forma: ‘Ja, da gibt’s auch die Möglichkeit, nur macht das keiner. Ich habe da einmal mit einem gestritten, das ist so ein alteingesessener Feuerwehrschriftführer, der hat gemeint, wenn Mädchen zur Feuerwehr dazu gehen würden, würden die eher so den Verwaltungskram übernehmen. Das Tun und Wirken ist eher den Burschen überlassen. Ich hab’ gefragt, warum? Ich meine der war wirklich so null-acht-fünfzehn eingestellt, der hat gesagt, die sind eben stärker, die halten mehr aus’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Vereine sind offensichtlich nicht mehr jene sozio - kulturellen Milieus, in denen Möglichkeiten der individuellen Entfaltung gesucht werden. Während in der Jugendforschung vielfach darüber diskutiert wird, daß an die Stelle der Vereinsmitgliedschaft die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ‘Szenen’ getreten ist, kann dies für die befragten Jugendlichen nicht ohne weiteres geltend gemacht werden. Wohl ist das Wissen über unterschiedliche ‘Szenen’ und über das Entstehen diverser Lifestyls und Trends über Konsum-, Medien- und Musikmärkte vorhanden, dennoch ist die aktive Mitgestaltung vor Ort nicht so leicht. Die Vorstellung, daß sich in kleinen ländlichen Dörfern eine Vielzahl unterschiedlicher ‘Szenen’, wie sie uns aus 145 Städten bekannt ist, bewegt, entspricht nicht der Realität. ‘Im Dorf, da gibt’s keine so richtigen Szenen, da gibt’s keine Gruppen, aber wir treffen uns in der Schule meistens nachher’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). ‘Man ist immer eine Einmann - Gruppe, es gibt zu wenige Jugendliche in einem passenden Alter. Es ist eher vermischt und es gibt nicht so die Möglichkeiten, daß man es sich so richtet, könnte wie in der Stadt’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). ‘Jugendszenen gibt’s da nicht, weil nicht so viele Jugendliche da sind, in Leibnitz ist das schon möglich, da ist schon mehr los’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Ungeachtet, weil es in den Wohndörfern zu wenig Jugendliche der selben Altersgruppe gibt, um das, was die Jugendlichen mit ‘Szene’ meinen, zu bilden, ergibt sich für sie aus den Kontakten und Freundschaften durch die Schulen so etwas wie eine ‘überregionale Szene’. Hier schafft man sich die idealisierte Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Man hört dieselbe Musik, trägt daßelbe Outfit, findet eine ähnliche Orientierung, wohingegen im dörflichen Kontext wenig davon stattfindet. Die Bedeutung dieser Zugehörigkeit wird durch die Aussage eines Jugendlichen unterstrichen: ‘Wenn man sich irgendwo einordnet, kann man sich mit der Gruppe identifizieren, da ist man von einer anderen Gruppe total weit weg. Jeder möchte einfach irgendwo dazugehören, man hat dann einen Bereich mit seinen Leuten, macht was zusammen und hat einen Rückhalt, das geht so in die Richtung Familie, man ist nicht irgendwo allein’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Freunde mit gleichen Interessen findet man dort, wo man viel Zeit verbringt. ‘Freunde sind dort wo man sich am meisten aufhält, das ist bei mir eben die Schule’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Die Nichtachtung jugendkultureller Interessen - abseits von organisierten Vereinsaktivitäten - ist für die befragten Jugendlichen spürbar und wird auch ausformuliert. Die Jugendlichen würden sich mehr alternative Möglichkeiten wünschen, die Freizeit zu gestalten, etwa in Form von Räumen oder Jugendzentren, die in ihrer Benutzung nicht an Vereine oder Institutionen gebunden sind. Diese Treffpunkte und Gelegenheitsstrukturen sollten vor allem auch für jene offenstehen, die nicht so mobil sind und die Möglichkeit bieten, ‘jugendkulturelle Trends’ (Inlineskaten, Basketball zu spielen) zu leben oder einfach nur Freunde zu treffen. Allerdings ist den Jugendlichen klar, daß gerade im Ausbleiben von infrastrukturellen Besserungen ein gewisses Potential zu jugendlicher Freisetzung und Rebellion liegt: ‘Was macht man in seiner Freizeit? Mhm? Man kann, es gibt ein paar Gleichgesinnte mit denen man etwas macht, mit denen kann man dann Musik hören oder sich einfach ein bißchen herumtreiben, kann man sagen. Es ist irgendwie ein gewisser Reiz dabei sich mit denen gegen alles ein bißchen aufzulehnen, das ist das Positive dabei, also das jugendliche Erleben das da dabei ist, also das Lebensgefühl an sich, das ist es irgendwie, das dann ein bißchen 146 verstärkt wird, in dem man rebelliert sozusagen. Das ist der positive Aspekt der Freizeit im ländlichen Raum’ (Interview N, 19 Jahre). • Kategorie d: ‘ Wie gelingt die Wahrnehmung der Jugendlichen als eigene Sozialgruppe mit Ansprüchen und Problemen ?’ (vgl.Abschnitt 5.5.) Wenn in einigen Ausführungen dieses Kapitels auch Überschneidungen mit vorangegangenen entstehen können, ist es dennoch notwendig, die Aussagen der Jugendlichen bezüglich ihrer Wahrnehmung als ‘Sozialgruppe’ zu untersuchen. Die Definition als eigenständige Sozialgruppe zeigt Verbindungen mit dem System dörflicher Integrations- und Segregationsmuster in die jeweilige Erwachsenenwelt. Vor allem aber geht es hier um den Umgang mit den vorhandenen Lebensbedingungen und den Mechanismen der ‘Welt - und Selbstwahrnehmung’ (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 203). Unter Berücksichtigung der in unterschiedlicher Art und Weise getätigten Aussagen der Jugendlichen läßt sich die Behauptung vertreten, daß sich die befragten Jugendlichen eindeutig als ‘Sozialgruppe SchülerInnen’ wahrnehmen. Es gilt nun, gezielt die spezifische Rolle jugendlicher SchülerInnen im ländlichen Kontext zu analysieren. Diese Einschränkung ist insofern wichtig, weil sich für SchülerInnen im Vergleich zu Lehrlingen unterschiedliche Möglichkeiten von Integration in die dörfliche Erwachsenenwelt auftun, die letztendlich auch einen Einfluß auf die Selbstbestimmung haben. Es scheint, als verlaufe die Konstituierung als eigenständige Sozialgruppe in einem kontinuierlichen Prozeß der Konfrontation der eigenen Rolle als SchülerIn mit der dörflichen Gesellschaft. SchülerInnen entsprechen durch die Verlängerung der Jugendphase nicht den vertrauten Statuspassagen ländlichen Erwachsenwerdens. Das Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt durchläuft traditionellerweise die Stationen Berufsausbildung - Verein - Heirat - Familie. Der verlängerte Schulbesuch verzögert diese Abfolge nicht nur, sondern setzt auch gänzlich neue Impulse für die Jugendlichen. Die Integrationsträger Vereinszugehörigkeit und Verbindlichkeit traditioneller Lebensbezüge spielen für die interviewten Jugendlichen, wie bereits in Ausführungen der vorherigen Kategorien gezeigt worden ist, keine verbindliche Rolle mehr. Welche Ansprüche stellen nun Jugendliche an die Erwachsenenwelt? Welche Probleme werden von den Jugendlichen ausformuliert? Die Aussage einer Interviewpartnerin skizziert ein negatives Bild dieser Wechselbeziehung: ‘Jugendliche werden als Minderheit gesehen, die man halt nicht ändern kann. Da muß man auch nichts ändern, da ist auch nichts geplant’ (Interviewpartnerin B, 16 Jahre). Es ist vor allem das geringe Interesse und Engagement Erwachsener für die Vorlieben Jugendlicher, das von den InterviewpartnerInnen beklagt wird. Die Jugendlichen bemerken zwar, daß sie bedingt durch die verlängerte Schulausbildung - mehr Freiraum haben, sich zu entfalten - (die 147 Haare bunt färben, verrückte Kleidung tragen, sich zumindest äußerlich von den Erwachsenen abgrenzen) - als vergleichsweise gleichaltrige Lehrlinge, daß sich deshalb aber auch mehr Reibeflächen mit der dörflichen Öffentlichkeit bilden. Die durch Äußerlichkeiten formal zur Schau getragene Demonstration des Jungseins ist nämlich der sicherste Weg, in die Mühle der dörflichen Kontrolle zu geraten. Gerade dieses Unverständnis, warum Jugendliche ‘anders’ aussehen möchten, erschwert den Weg zur Definition einer eigenständigen Sozialgruppe. ‘Wenn man immer nur hört von irgendwelchen Leuten, was man falsch macht, wie man ausschaut, was man tut; daß man einfach nicht leben kann wie man will, sondern irgendwer weist dich immer zurecht, ... dann will man weg’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Die Leute sind eher schockiert über die Jugend. Wenn jemand so ausgeflippt ist, wird der schon abgestempelt, die kannst du schon vergessen. Man versteht einfach nicht, warum wir so sind; die sagen alle, wir sind alle so verblödet von den Drogen, vom Fernsehen, die haben wenig Verständnis’ (Interviewpartnerin M, 15 Jahre). ‘Es ist zwar vieles schon toleranter. Man braucht aber noch ziemlich gute Nerven, denn wenn irgendwer aus der Reihe fällt, wird arg geredet. Die können dich fertig machen. Es muß einem vieles egal sein, dann geht vieles’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Die Repression das ‘Anders-Seins’ durch die Dorfbewohner führt manchmal zur bewußten Provokation derselben: ‘Ich habe eine Zeit gehabt, echt, da hab’ ich immer das Gegenteil gemacht von dem, was erwartet wird, damit sie über mich reden. Ich habe mich ganz verrückt angezogen, dann ist es schon umgegangen ...’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Die Jugendlichen merken auch an, daß ihre Bereitschaft zu konstruktiver Mitarbeit im dörflichen Alltag auf wenig Anerkennung gestoßen ist. ‘Wir haben z.B. die Idee gehabt, eine aus dem Dorf und ich, daß wir eine Gemeindezeitung machen und andere Gedanken rein bringen und so, alles ein bißchen bunter zu machen und ja ich muß sagen, wir sind auf Widerstand gestoßen, massivsten’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). ‘Viele Erwachsene denken, die werden schon erwachsen werden, da brauchen wir nichts machen’ (Interviewpartnerin K, 15 Jahre) oder ‘Mein Großvater war lange Bürgermeister, der hat extrem wenig getan für die Jugend, das hat sich halt fortgesetzt bis jetzt. Wir wollen z.B. ein Jugendzentrum, so was ist bei uns schon einmal strikt abgelehnt worden. Es ist eben eine Frage des Geldes, da baut man lieber was anderes als was Sinnvolles für die Jugendlichen. Die (Gemeinde) sagt, da fehlt das Geld, das können wir uns nicht leisten und das wird ja nicht angenommen. Ich glaube aber, das stimmt eher nicht, angenommen wird es sicher. Die Palette von Jugendlichen reicht von 14 bis 22, 23 Jahre’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). ‘... Bürgermeister in ländlichen Regionen interessieren sich einfach nur für das Althergebrachte und wollen das auch konservieren. ... die wollen da sicher nichts riskieren, einfach aus dem Grund, weil sie keinen persönlichen Nutzen in den Veränderungen sehen. .. Es kommt aber immer darauf an, ob der mehr auf die 148 Gesellschaft Wert legt, auf seine Stellung oder mehr auf die weite Sicht, also auch an die Zukunft denkt, oder tiefer denkt einfach’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). Diese Äußerungen lassen die Vermutung zu, daß die Wahrnehmung als eigene Sozialgruppe im dörflichen Kontext von den Jugendlichen viel eher durch ‘Segregation’ als durch ‘Integration’ erlebt wird. Das Ignorieren von Ideen und Wünschen Jugendlicher und die ständige Kritik an ihrem Äußeren deuten darauf hin, daß die von den Jugendlichen gestellten Ansprüche und Forderungen als eigenständige Sozialgruppe weitgehend ignoriert werden. ‘... nicht akzeptiert würde ich schon sagen, .... wenn man merkt, daß man respektiert wird, hat man eigentlich eine größere Verbundenheit, wir kommen uns eher vernachlässigt vor ...’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). ‘Schuld’ daran sind die ‘konservativen Gedanken’, die vor allem ältere Generationen gegenüber Jugendlichen vertreten. Jugendliches Aufbegehren und dementsprechende Ausdrucksformen finden wenig Verständnis. ‘... als Jugendlicher soll man sich ruhig verhalten, arbeiten, Schule gehen, sonst ruhig sein ...’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). Viele Konflikte sind ‘Generationskonflikte’, ‘ ... die Älteren, die Nachkriegsgeneration ist eben der Meinung, daß die Jugend so die Zeit ist, wo man sich ausspinnt, dann beginnt der Ernst des Lebens ... Der ist eben Lehre, gescheiter Beruf, Heirat, Kinderkriegen, Hausbauen, das war’s dann. Wenn man das nicht hat, ist man ein Spinner. Ja, die haben eben die Meinung von uns, wenn man in die Schule geht, dann ist man sowieso faul ... ‘ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Im Spannungsverhältnis dieser fast schon traditionellen Vorwürfe und der Erkenntnis, daß gerade der Schulbesuch ein Weg der individuellen sozialen Freisetzung sein kann, gilt es, sich einen Platz im dörflichen Milieu zu schaffen. Das sozialisatorische Element des dörflichen Milieus hat für die Jugendlichen einen hohen Stellenwert, auch wenn es zusehends von ‘überregionalen’ ‘globaleren’ Sozialisationselementen - vermittelt durch Bildung, Berufsfindung und Freizeitinteressen - überlagert wird. Das dörfliche Sozialerleben in seiner sozio - kulturellen Dimension der sozialen Verortung und Statusfindung ist im ländlichen Raum noch immer von Bedeutung, wenn für Jugendliche auch spürbare Schwierigkeiten daraus entstehen können (vgl. Böhnisch/Funk 1989, 205). Interviewpartner N, 19 Jahre, formuliert diese folgendermaßen: ‘ ... sehr früh ist man eigentlich noch gewillt, eher das Gleichgewicht zu finden zwischen der Sympathie zu den Menschen im ländlichen Raum, Bereich und zwischen der Einbringung der eigenen Ideen, irgendwann ist es dann schon anders, wenn man auf Unwillen stößt, auf Taubheit irgendwie, auf Scheuklappen. Daß man dann irgendwann, ganz brutal, also einfach heraus schreit was einen bedrückt irgendwie ... Der Widerstand in einem selbst gegen das Rundherum wächst einfach auch immer mehr und ich glaube das Beste ist einfach, wenn man das wirklich durchsetzt, man kommt irgendwann drauf, daß es auch Leute gibt, die einen verstehen wollen und irgendwann ist man dann auch erwachsen genug, daß man sagt, gut, die verstehen das einfach nicht, ...’. 149 Nicht nur die in den vorangegangen Kategorien angesprochene ‘realistische Einschätzung’ der nicht vorhandenen Arbeits- und Berufsmöglichkeiten, sondern auch die Nicht - Akzeptanz ihrer Interessen läßt die Jugendlichen also dazu übergehen, ihre Orientierungspunkte außerhalb des dörflichen Milieus anzusiedeln. Die Wahrnehmung als eigenständige Sozialgruppe ist durchzogen mit Brüchen in der Welt- und Selbstwahrnehmung geprägt. Jugendliche schätzen sich selbst ein und lokalisieren sich in der Auseinandersetzung mit Einschätzungen ihrer Umwelt: Die Beurteilung ihrer Leistungsfähigkeit, wie Akzeptanz und Zuneigung von Seiten der Dorfbewohner sind dabei wichtige Bezugspunkte. Die Jugendlichen verfügen über eine realistische Einschätzung ihres Bewegungspielraumes zwischen sozialen Chancen und sozialer Kontrolle. ‘Wir wollen anerkannt werden, daß man eben akzeptiert wird, daß wir etwas anderes machen wollen als die älteren Generationen, wir probieren das aus, machen was anderes, geht es gut, o.k., geht es nicht gut, macht es auch nichts. Aber die Anerkennung fehlt uns eben, dafür gibt’s das Dorfgetratsche ....’ (Interviewpartnerin K, 15 Jahre). Vor allem sollte in diesem Zusammenhang eines nicht übersehen werden: ‘Es gibt eine ziemliche Landflucht von Jugendlichen. Es wird sicher verschwiegen, man will eben den Anschein erwecken, für die Jugend wird ‘eh was getan, die fühlen sich ‘eh wohl, was aber so sicher nicht stimmt ...’ (Interviewpartner L. 19 Jahre). An dieser Stelle soll zur letzten Kategorie übergeleitet werden, in der es abschließend um die persönliche Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihren spezifischen Lebensbedingungen geht. • Kategorie e: ‘Welche persönlichen Konsequenzen werden gezogen? Findet eine kreative oder resignative Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen des Jungseins im ländlichen Raum statt?’ (vgl. Abschnitt 5.5.) Das im Rahmen der bisherigen Kategorien skizzierte Bild legt den Schluß nahe, die Zukunft der Jugendlichen könne nur abseits des dörflichen Umfeldes liegen. Hier muß allerdings beachtet werden, daß die Orientierung ‘zu oder weg’ vom Lebensraum sehr stark damit zusammenhängt, welchen Status die Jugendlichen auf dem Land innehaben. Obwohl alle InterviewpartnerInnen der Meinung waren, ihr Status als SchülerInnen trage nicht gerade zur allgemeinen Wertschätzung bei, wird die häufig zu Beginn der Interviews getätigte Aussage, ‘nach der Matura so schnell als möglich weg zu wollen’, in der abschließenden ‘Wunschfrage’ von vielen relativiert und nur von einigen wenigen verstärkt. Die Abschwächung der ‘Weggeh - Option’ durch eine ‘Zurückkomm - Option’ ist vor allem auf die hohe Bewertung der Lebensqualität zurückzuführen. Nach einer Ausbildung in der Stadt, einem Auslandsaufenthalt oder ähnlichem wollen viele wieder auf das Land zurückziehen vor 150 allem im Zusammenhang mit einer Familiengründung. ‘Nach dem Studium möchte ich wieder hier leben, weil ich am Land aufgewachsen bin. Ich bin nicht für die Stadt geboren’ (Interviewpartnerin A, 16 Jahre). ‘Ich kann mir vorstellen, wenn ich einmal Karriere gemacht habe, daß ich dann zurück aufs Land ziehe, aber ich weiß nicht, ob ich direkt hierher zurück komme ...’ (Interviewpartnerin C, 16 Jahre). Von den vielen, die zurück ‘aufs Land ziehen wollen’, möchte niemand ‘zurück in das heimatliche Dorf’. Interviewpartnerin F, 19 Jahre meint dazu: ‘Ich möchte gerne auf dem Land wohnen, wegen der Natur, aber nicht wegen der Leute, ich weiß wie die sind. Ich möchte gerne ganz abgeschieden irgendwo alleine in einem Haus leben und nichts mit den anderen zu tun haben’. Das Wissen um die Kontrollmechanismen und die Enge, die dörfliche Lebenswelten mit sich bringen, läßt bei den Jugendlichen eine alternative Definition von ‘Leben auf dem Land entstehen’: Sie möchten auf dem Land leben, wenn ‘ich trotzdem schnell in der Stadt bin’ (Interviewpartnerin C&D, 16 Jahre), wenn ‘ich einen großen Garten habe und ein Auto, damit ich einfach leichter in die Stadt kommen kann’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre), wenn ‘ich in einer Großstadt arbeiten kann, aber noch eine Zuflucht ins ruhige Leben habe’ (Interviewpartner L, 19 Jahre). In einem funktionsräumlichen Definitionszusammenhang bedeuten diese Aussagen, daß der Stellenwert des ländlichen Raumes für die Jugendlichen in seiner Funktion als Erholungsraum liegt. Die Jugendlichen möchten in der Stadt arbeiten und am Land, in ländlichen Regionen leben. ‘Ich meine, es wird sicher so sein, daß ich schon eher in der Stadt wohnen werde und so und ab und zu meine Eltern am Wochenende besuche, um mich zu erholen und so’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre) oder ‘Am Wochenende wenn ich von allem genug habe, komme ich her und gehe spazieren und mache was, zu dem ich in der Stadt nicht kommen würde’ (Interviewpartnerin C&D, 16 Jahre), ‘... es ist für mich kein Abschied, ich möchte am Land leben, da muß ich eben in Kauf nehmen, daß ich pendle ... ‘ (Interviewpartner J, 20 Jahre). ‘Land’ hat als Natur- und Erholungsraum für die Zukunft einen hohen Stellenwert für die Jugendlichen. Der Wunsch wegzugehen beinhaltet in erster Linie die Suche ‘nach städtischen Orientierungen’: einmal anders leben zu können und das nachzuholen, was bis dahin verwehrt blieb. Der Wunsch, ‘später einmal wieder am Land zu leben - also nach Studium oder Berufsausbildung wieder in den ländlichen Raum zurückzukehren, beinhaltet unbewußt die Hoffnung, die ländliche Normalität durch den beruflichen Status umgehen zu können, mit dem das Beibehalten städtischer Lebens- und Orientierungsformen legitimiert werden soll. Die auf die Gegenwart bezogenen Wünsche und Vorstellungen sind dagegen sehr resignativ und eindeutig dorfabgewandt. Die Jugendlichen beklagen durchwegs, daß es zu wenig Angebote gibt, um die Freizeit zu gestalten, zu wenig Möglichkeiten, sich abseits von Vereinsstrukturen zu treffen. Vor allem für jüngere, noch nicht ‘mobile Jugendliche’ seien zu 151 wenig Treffpunkte vorhanden, die ohne große organisatorische Anstrengungen zu erreichen sind. Diese Äußerungen müssen mit großer Sorgfalt untersucht werden, denn, wie bereits in der dritten Kategorie festgestellt, unterscheiden sich die jüngeren und älteren InterviewpartnerInnen in der Formulierung von Wünschen entscheidend: Gerade die ‘unmobilen Jüngeren’ beklagen das mangelnde Freizeitangebot, weil sie auf die Aktivitäten vor Ort angewiesen sind und noch nicht im gewünschten Ausmaß an der ‘Erkundigung’ der Region teilnehmen können. Der vor allem von der jüngeren Gruppe formulierte Wunsch nach einem ‘Raum’, den man selbst nach eigenen Interessen gestalten kann, ist deswegen sehr ernst zu nehmen. Dieser Raum soll dazu dienen, irgendwo ungestört Kaffee trinken zu können - ohne wie im Dorfgasthaus dafür vielleicht vorhaltende Blicke zu ernten - oder um ‘einen ordentlichen Proberaum für die Band’ zu haben, wie Interviewpartner H, 16 Jahre meint. Es soll ein Raum sein, den die Jugendlichen selbst gestalten können. Sie wünschen sich Bürgermeister, zu denen sie gehen können, und ‘daß die Sachen auch verwirklicht werden, wenn sie was versprechen und nicht immer nur sagen, ja wir werden schauen, wir werden was tun, bis die was tun, sind schon alle wieder weg’ (Interviewpartnerin K, 15 Jahre). Einzelne Jugendliche haben die Erfahrung gemacht, daß ihre Vorschläge von den zuständigen Erwachsenen nicht ernst genommen werden. Eindrücke dieser Art schüren das Bedürfnis, so schnell wie möglich ‘weg zu wollen’ . ‘Ich weiß nicht mehr genau, aber wir haben ganz fleißig Unterschriften gesammelt und dann zur Gemeinde gebracht, die haben das so lächerlich gefunden, daß wir irgendwas haben wollen, die haben das dann nie erwähnt. Wir haben sogar einen Gemeinderat, der für die Jugend zuständig ist, der kümmert sich überhaupt um nichts, wenn da Vorschläge kommen, fällt das gleich wieder unter den Tisch, keinen interessiert, was wir wollen’ (Interviewpartnerinnen C&D, 16 Jahre). Daraus entstehen tendenziell pessimistische Haltungen wie die einer 16 jährigen Interviewpartnerin: ‘... ja, es gibt eben zwei Möglichkeiten für die Jugendlichen, entweder weggehen oder dableiben, ... als Schüler hat man sowieso nur die Möglichkeit, daß man weggeht, ... es wird sich nicht viel ändern und ich hab’ einfach nicht so die Kraft, das ich sage, ich bleibe da, ich will da etwas ändern. Ich will das einfach nicht, ich will einfach nur weg, das ist bei den meisten so, die wollen nichts ändern, wir wollen nur weg, deswegen wird sich auch nie etwas ändern, so wird das bleiben’ (Interviewpartnerin B). Der Ansatz zur kreativen Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensraum liegt darin, daß die Jugendlichen versuchen, ihr Mitspracherecht einzufordern und die Vor- und Nachteile des ländlichen Lebensraumes sehr differenziert gegeneinander abwägen. Viele schließen nicht aus, ‘später einmal wieder in einer ländlichen Region’ leben zu wollen, wenn auch gleichzeitig nicht auf die Vorteile des städtischen Lebens verzichtet werden soll. Die Resignationen in der Auseinandersetzung mit der Dorfwelt resultiert vor allem aus der Vielzahl von Vorurteilen, mit 152 denen gerade SchülerInnen konfrontiert werden und aus der Unmöglichkeit, sich im Gemeinschaftsverband der ländlichen Lebenswelt als eigenständige Sozialgruppe erleben und ausleben zu können. Allerdings sehen manche diese schwierige Ausgangsposition auch als konstruktiven Reibebaum: ‘..., ich glaube, daß es grundsätzlich schwierig ist für Jugendliche, sich zurechtzufinden im ländlichen Raum oder sich gegen diese konservativen Strömungen zu behaupten, und ich glaube, daß es das Wichtigste ist, die Jugend mit allen Nuancen zu durchleben - auch im ländlichen Bereich. Erfahrungen zu sammeln und irgendwann zu versuchen, sich geistig auf eine gewisse Ebene hin zu entwickeln und dann, wenn man stabil genug ist, dann wirklich versuchen, Harmonie zu schaffen da zwischen den Menschen, weil geistig verstehen sich die wenigsten, kann man sagen’ (interviewpartner N, 19 Jahre). 153 7. Exkurs: Qualitative Inhaltsanalyse mit dem Computer Die Inhaltsanalyse eignet sich mit ihrem systematischen Vorgehen besonders für eine Umsetzung am Computer, schreibt Mayring (1994, 94). Dieser Satz, dazu auch das Angebot einer Lehrveranstaltung am Institut mit dem Titel ‘Das Interview in der sozialpädagogischen Forschung’ haben mich neugierig gemacht, mich zusätzlich, nach dem mehr oder weniger abgeschlossenen ‘manuellen’ Auswerten des Interviewmaterials noch auf die Anwendung einer computerunterstützten Methode der Auswertung zu versuchen. Dabei wurde ein bestimmtes Textverarbeitungsprogramm zur Gewinnung von ‘spezifischen Daten’ aus der Menge des Textmaterials, verwendet. In den letzten Jahren hat bei der Analyse von Daten ein technischer Wandel begonnen, der auch mit dem Einzug des Computers in die qualitative Forschung zusammenhängt. Spezielle Entwicklungen in der qualitativen Forschung und generell auch Veränderungen sozialwissenschaftlicher Arbeit durch PCs und Textverarbeitungsprogramme haben zu diesem Trend geführt. Flick (1996, 273) meint, daß sich dadurch auch gravierende Veränderungen der qualitativen Forschungspraxis ergeben werden. Diese ‘gravierenden Veränderungen’ können aber nur für die Forschungspraxis spezieller Softwareprogramme zutreffen, die die üblichen, mittlerweile unzureichenden Textverarbeitungsprogramme (z.B. WORD, WORD PERFECT ect.) ersetzen sollen. In meinem Fall wurde für die Transkription der Interviews und für die ‘manuelle Auswertung’ ebenfalls der PC verwendet. Die üblichen Textverarbeitungsprogramme mit ihren hilfreichen Funktionen wie dem Ausschneiden, dem Verschieben einzelner Textpassagen, dem Schreiben von Anmerkungen mit geteiltem Bildschirm, der Verwendung von Tabellenfunktionen usw. reichen dazu aus, um bspw. eine zusammenfassende Inhaltsanalyse durchzuführen. Dennoch können spezielle Programme die Auswertungsschritte bei der Analyse qualitativer Daten erleichtern, vereinfachen und beschleunigen oder andere Möglichkeiten der Darstellung eröffnen. Zudem lohnt es sich immer, sich mit neuen Methoden der Datenverarbeitung vertraut zu machen. Flick (1996, 276) hat eine Reihe von Schlüsselfragen gesammelt, die vor der Entscheidung für die Verwendung eines Programmes wesentlich sein können: - Um welchen Typ von Computerbenützer handelt es sich? Anfänger oder Hacker? Für Anfänger können anspruchsvolle Programme in ihrer Anwendung eine Überforderung darstellen. - Für welches Projekt der Forschung soll ein bestimmtes Programm verwendet werden? Steht das Verhältnis von Aufwand für die Einarbeitung in das Programm, den sonstigen Vorbereitungen und dem Gewinn an Zeit und Daten in einer angemessenen Relation? 154 - Welche Art der Analyse ist geplant? Welche Ansprüche werden an die Präsentation der Daten gestellt? Wie ist das Interesse am Kontext der Daten? - Wie umfangreich ist das Datenmaterial? - Reicht der vorhandene PC in seiner Kapazität für das jeweilige Programm aus oder muß ein neues Gerät angeschafft werden? Wenn man diese Fragen auf den ‘Forschungsbereich der Diplomarbeit’ umlegt, wird man sicherlich eher zum Schluß kommen, sich nicht für die Anwendung eines speziellen Programmes zu entscheiden, zumindest dann nicht, wenn man den Umfang des Datenmaterials beachtet und auch nicht, wenn kein geeigneter PC zur Verfügung steht und dieser erst angeschafft werden müßte. Im Rahmen der Diplomarbeit ist es mir vor allem darum gegangen, Erfahrungen im Umgang mit einem speziellen Programm zu gewinnen, auch wenn dafür vielleicht ein gewisser zeitlicher Aufwand in Kauf genommen werden mußte. 7.1. ATLAS/ti Dieses Programm wurde an der TU/Berlin im Rahmen eines interdisziplinären Arbeitskreises (Psychologie, Informatik, Linguistik) entwickelt. ATLAS/ti steht für ‘Archiv für Technik, Lebenswelt und Alltagssprache’. Die Arbeitsgruppe um Muhr nahm eine Bedarfsanalyse für PC-unterstützte Textinterpretation bei deutschen Forschungsinstituten vor und konstruierte danach ein Programm für die Bedürfnisse des Verfahrens des theoretischen Kodierens nach Strauss und Glaser, der Globalauswertung nach Leggewie und der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 1994, 97). Das Programm fügt sich nach seinen inhaltlichen Möglichkeiten in die Gruppe der ‘Programme mit kodebasierter Theoriebildung’. Diese Programme unterstützen zusätzlich die Theoriebildung dadurch, daß sie nicht nur Schritte und Operationen auf der Ebene des Textes (Zuordnung einer oder mehrerer Textstellen zu einem Kode), sondern auch auf einer zweiten, der konzeptuellen Ebene (Beziehung zwischen Kodes, Ober- und Unterkategorien, Kategoriennetze) unterstützen (Flick 1996, 277). Die Netzwerk - Bildung ist in dieser Programmgruppe durch die Darstellung von Begriffsnetzen, Kategorienetzen und unterschiedlichen Möglichkeiten der Visualisierung von Relationen zwischen den Bestandteilen gewährleistet. Die erste Version von ATLAS/ti war im DOS-Format konzipiert und 1993 für den öffentlichen Gebrauch fertiggestellt. Die Forschergruppe hat seitdem viele Anstrengungen in die Weiterentwicklungen des Programms gesteckt, um die Anwendung zu erleichtern. Die neueste und aktuellste Version ist nicht mehr im DOS-Format. Das ‘neue’ ATLAS/ti für WINDOWS zeichnet sich im Vergleich zum vorhergehenden durch eine wesentlich benutzerfreundlichere Anwendung aus, wenn auch alle Hilfsangaben und abrufbaren Begleittexte in Englisch verfaßt sind. 155 • Der Arbeitsprozeß mit ATLAS/ti Aus einem Primärtext (Primary Documents) - den transkribierten und im ASCII-Format gespeicherten Interviews und den dazugehörigen Interpretationen bzw. Kodierungen - wird am Bildschirm eine hermeneutischen Einheit (Hermeneutic Unit) gebildet. Im Begleittext des Programmes heißt es: ‘ATLAS/ti can be sketched as creating a project, an idea container, which is meant to enclose your data, all your findings, codes, memos, structurs under a single name. We call this project object a Hermeneutic Unit’ (Introducing ATLAS/ti for WINDOWS 1997). Die Primärtexte mit allen Kodes und Kommentaren können mittels verschiedener Fenster auf dem Bildschirm abgerufen werden. Das Programm bietet eine Reihe von Funktionen an, die in Form von Symbolen auf dem Bildschirm abrufbar sind (Suchen, Kopieren, Ausschneiden, Kodevergabe, Vernetzungsfunktionen ect.). Neben der Suche nach Wortfolgen im Text und der Zuordnung von Kodes ist vor allem die Darstellung von Kodes, Kategorien und Kodefamilien in Begriffsnetzwerken (Network Editor) hilfreich. Kodierungen, gebildete Kodefamilien ect. lassen sich über Schnittstellen, die im Programm eingebaut sind, einfach zu SPSS und anderen Programmen weiterleiten (Flick 1996, 278). ‘ATLAS/ti is comparing data segments differently or equally codes, assigning more files to the project. It’s organising primary documents, codes and memos using families. Building semantic, propositional or terminological networks from codes you created in the first phase. This networks together with your codes, super codes, and memos, are cornerstones of the emerging theory. The ATLAS/ti workbench offers a multitude of tools to accomplish all of the tasks above - except the finding of relevant text passages!’ (vgl. Introducing ATLAS/ti for WINDOWS 1997). • Arbeitsprotokoll Nach der Auswertung mit ATLAS/ti sollte es möglich sein, Antworten auf spezifische Fragen zu erhalten. Ich wollte herausfinden, inwieweit sich bspw. Mädchen von Burschen in ihrer Wahrnehmung der ‘sozialen Kontrolle’ unterscheiden, welche Unterschiede es in Aspekten der Mobiltät zwischen den jüngeren und älteren InterviewpartnerInnen gibt, ob es Unterschiede in der Wahrnehmung der jugendkulturellen Freisetzung zwischen Mädchen und Burschen gibt usw. Die Ergebnisse sind in Abschnitt 7.2 zusammengefaßt. Für die Benutzung der Interviewtexte im ATLAS/ti mußten alle - jedes der Interviews ergab einen eigenen - Primärtexte auf ein bestimmtes Format zurecht gerichtet werden (rechter Rand auf 5.5 cm einstellen, eine Schriftgröße zwischen 12 und 14) und schließlich im ASCII-Code unter dem Dateityp ‘Nur Text mit Zeilenwechsel’ gespeichert werden. Im Programm ATLAS/ti ( im Geisteswissenschaftlichen Rechenzentrum ‘gewilab’ unter: Programme - ScientificSoftware - Atlas\ti für windows 95 zu finden) wurden die Primärtexte als 156 hermeneutische Einheit unter einem bestimmten Namen gespeichert (HE: kernöl). Nach diesen Arbeitsschritten konnte mit der ‘eigentlichen’ Arbeit fortgefahren werden. Alle ‘Primary Documents’ (insgesamt 12 ) wurden mit Kodes versehen, was insgesamt eine Anzahl von 40 Kodes ergab. Die gewählten Kodenamen stellten evidente Kürzel dar. Eine wesentliche Bedeutung erhielten diese Kodes in der Bildung von Kodefamilien. Als Kodes fungierten bspw. Kürzel wie: ‘motischule’ = Motivation für den Schulbesuch oder ‘tradbruch’ = Traditionsbruch bzw. Auflösung und Veränderung des ländlichen Alltags. Neben der Kodierung (codes) und dem Erstellen von Kodefamilien (code families) wurden in einem weiteren Arbeitsschritt relevante Variablen (Geschlecht, Alter, Region) für die Auswertung erstellt. Die Variablen erhält man über die Funktion ‘Textbase Selection’: ‘Choosing TextbaseSelection opens another window which shows primary documents in the lower left pane and primary text families in the upper left. A primary text familie can be used like nominal variables, it is easy to preselect all interviews with male interviewees aged between twenty and thirty from small towns’ (vgl. Introducing ATLAS/ti for Windows 1997). Für die Gewinnung von neuem Datenmaterial konnten im ATLAS/ti die Variablen mit den Kodefamilien verknüpft und in der Folge zur weiteren deskriptiven Bearbeitung verwendet werden. Während in der ersten Auswertung das Datenmaterial mehr oder minder im Ganzen vorlag, konnte nun eine differenzierte Betrachtung vorgenommen werden. Zur illustrativen Darstellung war es möglich, allfällige Verknüpfungen von Kodes, Kodefamilien ect. mittels des ‘Network Editor’ aufzuzeigen. Das so gewonnene Material kann zur weiteren Verarbeitung entweder in ein Texverarbeitungsprogramm (WORD) oder in ein Statistikprogramm (SPSS) geleitet werden. Aufgrund der geringen Anzahl der Interviews wurde auf eine weitere Verarbeitung mittels SPSS verzichtet. • Kodes In alphabetischer Reihenfolge: ‘arbeit’ - ‘bildungsmob’ - ‘bräuchekirchect.’ - ‘dorfgem’ - ‘dorftratsch’ - ‘eltunt’ - ‘erwachswelt’ ‘freizeit’ - ‘fremdes’ - ‘freundregion’ - ‘freundeskreis’ - ‘führerschein’ - ‘geschlunt’ - ‘integrdorf’ ‘jugall’ - ‘jugverein’ - ‘klischee’ - ‘konfliktlös’ - ‘konfjugdorf’ - ‘landall’ - ‘landjug’ - ‘lehrlinge’ ‘lehrschülunt’ - ‘mitsprache’ - ‘mobilität’ - ‘motischul’ - ‘nachteilall’ - ‘normkodex’ ‘privates/öffentl’ - ‘raum’ - ‘region’ - ‘schüler’ - ‘stadtjug’ - ‘szenen’ - ‘tradbruch’ - ‘vereine’ ‘verhakodex’ - ‘wünsche’ - ‘zukudorf’ - ‘zukunft’ . Zugegebenerweise erscheinen 40 Kodes vielleicht etwas zu viel, aber die intensive Beschäftigung mit den Interviews und deren Inhalten hat letztendlich diese Anzahl erforderlich gemacht. Beispielsweise mögen ‘raum’ und ‘region’ für Außenstehende die selbe Bedeutung haben. Der Kode ‘raum’ wurde bei konkreten Äußerungen, z.B. für die 157 Formulierung des Wunsches nach einem eigenen Raum als Treffpunkt für Jugendliche abseits von Vereinsverbindungen verwendet. ‘raum’ steht für Treffpunkt, Bude, Jugendzentrum und der gleichen. ‘region’ steht als Kode für Wahrnehmungen, die sich auf ‘über das Dorf hinausgehende’ Inhalte beziehen. e ‘ ltunt’ bezieht sich auf Aussagen, die Unterschiede in der Erziehung durch die Eltern betrafen, ‘erwachsenenwelt’ hingegen kodiert die Wahrnehmung der ‘gesamten Erwachsenenwelt’. n ‘ ormkodex’ steht für Normen und Regeln, die nicht expliziet vorgeschrieben sind, aber das Verhalten und das Zusammenleben unbewußt beeinflussen. v‘ erhaltenskodex’ beschreibt die bewußten Verhaltensmuster, die das Alltagsleben regeln. Es erscheint mir als wichtig; mit den gewählte Kodes ein logisch nachvollziehbares Gerüst zu bilden. In einer Zusammenarbeit mit einer zweiten Person wäre es sicher nötig gewesen, strikte Kriterien für die Bildung der Kodes hinzuzufügen. • Kodefamilien Nach abgeschlossener Kodierung der Primärtexte (primary text) wurden Kodefamilien gebildet. Insgesamt wurden 9 Kodefamilien erstellt und für die weitere Bearbeitung verwendet. Die Kodefamilien ergaben sich aus Zusammensetzungen der einzelnen Kodes. Über einen Ausdruck der Datenliste erhält man folgende Erklärungen: ‘Represent code families as computed variables: compute KF1 = K2 + K13 + K22 + K23 + K32 ...’ (vgl. SPSS Syntax file generated by ATLAS/ti HE: kernöl). In alphabetischer Reihenfolge heißen die Kodefamilien: ‘bildung’ - ‘dorf’ - ‘freisetzung’ - ‘mobilität’ - ‘modernisierung’ - ‘perspektive’ - ‘richtlinien’ - ‘situation’ - ‘soziale kontrolle’. KF1 ‘bildung’ setzt sich aus folgenden Kodes zusammen: ‘bildungsmob’ (Bildungsmobilität), ‘gschlunt’ (Geschlechtsunterschied), ‘lehrlinge’, ‘lehrschülunt’ (Lehrling - Schülerunterschied), ‘schüler’. KF2 ‘dorf’: ‘arbeit’, ‘dorfgem’, ‘dorftratsch’, ‘fremdes’, ‘geschlunt’, ‘integradorf’ (Mechanismen und Strukturen der Integration in die Dorfgemeinschaft), ‘konfliktlös’. KF3 ‘freisetzung’: ‘freizeit’, ‘jugendverein’, ‘raum’, ‘verein’. KF4 ‘mobilität’: ‘führerschein’, ‘mobilität’. 158 KF5 ‘modernisierung’: ‘klischee’, ‘nachteilall’, ‘tradbruch’. KF6 ‘perspektive’: ‘wünsche’, ‘zukunftdorf’, ‘zukunft’. KF7 ‘richtlinien’: ‘bräuchekircheect.’, ‘normkodex’, ‘verhakodex’. KF8 ‘situation’: ‘freundeskreis’, ‘jugall’, ‘konfjugdorf’, ‘landjug’, ‘region’, ‘schüler’. KF9 ‘soziale kontrolle’: ‘dorftratsch’, ‘geschlunt’, ‘integrdorf’, ‘konfliktlös’, ‘normkodex’, ‘privates/öffentl’, ‘verhkodex’, ‘schüler’. Die so gewonnen Kodefamilien sind in Anlehnung an die (Abschnitt 5.5.) in dieser Arbeit gebildeten Kategorien der Auswertung erstellt worden. • ‘Primary document families’ als Variablen Mittels der Funktion ‘Textbase Selection’ wurden aus den ‘primary text families’ sogenannte Variablen (primary document families) ausgewählt. ‘Represent primary document families as IF variables: IF (PD = 2 or PD = 3 or PD = 4 or PD = 7 or PD = 8 or PD = 10 or PD = 11) PF = 1. Variable Labels PF1 ‘PF alter<18’ ...’ (vgl. SPSS Syntax file generated by ATLAS/ti HE: kernöl). PF1 ‘alter < 18’ IntrviewpartnerInnen: A, B, C&D, G, H, K, M. PF2 ‘alter > 18’ InterviewpartnerInnen: E, F, J, L, N. PF3 ‘männlich’ Interviewpartner: H, J, L, N. PF4 ‘weiblich’ Interviewpartnerinnen: A, B, C&D, E, F, G, M, K. PF5 ‘region < mureck’ InterviewpartnerInnen: A, B, F, G, H, L. PF6 ‘region > mureck’ InterviewpartnerInnen: C&D, E, J, K, M, N. 159 Diese Variablen wurden für die Auswertungen herangezogen. Weitere Unterteilungen z.B. in ‘männlich >/< 18’ oder ‘weiblich >/< 18’ wurden nicht mehr berücksichtigt, weil die Stichprobe dafür zu klein gewesen wäre. Grundsätzlich ermöglicht das ATLAS/ti aber fast alle möglichen Varianten, was vor allem für größere Stichproben interessante Ergebnisse bringen kann. • Verknüpfungen ‘PF * KF’ In diesem Arbeitsschritt wurden einige Verknüpfungen vorgenommen. Das so erhaltene Material wurde im Anschluß einer Interpretation unterzogen. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Herausarbeitung geschlechtsspezifischer Unterschiede. Die einzelnen Verknüpfungen lassen sich im wesentlichen den beschriebenen Kategorien der Auswertung zuordnen. Unter Berücksichtigung der Kategorien ‘a’ und ‘b’ (vgl. Abschnitt 5.5.) lassen sich nachstehende Verknüpfungen interpretieren: 1:PF*KF: ‘dorf * männlich’ 2:PF*KF: ‘dorf * weiblich’ 3:PF*KF: ‘richtlinien * alter > 18’ 4:PF*KF: ‘richtlinien * alter < 18’ 5:PF*KF: ‘soziale kontrolle * männlich’ 6:PF*KF: ‘soziale kontrolle* weiblich’ 7:PF*KF: ‘modernisierung 8:PF*KF: ‘modernisierung * region < mureck’ Beispiel einer Verknüpfung: * region > mureck’ 1:PF*KF: ‘dorf * männlich’ = ‘arbeit’, ‘dorfgemeinschaft’, ‘dorftratsch’, ‘fremdes’, ‘geschlunt’ (Geschlechtsunterschied), ‘lehrlinge’, ‘lehrschülunt’ (Lehrling - Schülerunterschied), ‘schüler’ * Interviewpartner: H, J, L, N. (Die Aufschlüsselung der PF (primary document families) und KF (kodefamilien) sind in den vorhergehenden Arbeitsschritten dokumentiert). Es soll also festgestellt werden, ob es in der Wahrnehmung des dörflichen Lebens (Mustern sozialer Kontrolle, Normen, Regeln ect.) und in der Wahrnehmung von Brüchen und Widersprüchen im ländlichen Alltag Unterschiede zwischen weiblichen, männlichen, älteren und jüngeren InterviewpartnerInnen bzw. zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen Teilen der Untersuchungsregion gibt. Weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Kategorien ‘c’, ‘d’ und ‘e’ (vgl.Abschnitt 5.5.) lassen sich folgende Verknüpfungen interpretieren: 9:PF*KF: ‘bildung * männlich’ 160 10:PF*KF: ‘bildung * weiblich’ 11:PF*KF: ‘situation * männlich’ 12:PF*KF: ‘situation * weiblich’ 13:PF*KF: ‘freisetzung * männlich’ 14:PF*KF: ‘freisetzung * weiblich’ 15:PF*KF: ‘mobilität * alter > 18’ 16:PF*KF: ‘mobilität * alter < 18’ 17:PF*KF: ‘perspektive * alter > 18’ 18:PF*KF: ‘perspektive * alter < 18’ Hier richtet sich die Auswertung auf Unterschiede hinsichtlich der Geschlechtsunterschiede in den Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung und der Freisetzung als Sozialgruppe. Ebenso werden die Formulierungen von Zukunftsperspektiven der Jugendlichen bezüglich der unterschiedlichen Alterszugehörigkeit herausgearbeitet. 7.2. Beschreibung des durch ATLAS/ti gewonnenen Textmaterials • PF*KF: ‘dorf * männlich’ vs. PF*KF: ‘dorf * weiblich’ In der Wahrnehmung der ländlichen Lebenswelt ‘Dorf’ zeigen sich kaum Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Interviewpartnern. Möglicherweise haben sie in ihrer Rolle als SchülerInnen eine ähnliche Wahrnehmung des Dorflebens ausgebildet. Dorftratsch, Konfliktlösungsmuster oder das Wesen der Dorfgemeinschaft werden von den Jugendlichen in ähnlicher Weise interpretiert, wenn auch die Emotionalität weiblicher Interviewpartnerinnen etwa im Bereich der Konfliktlösung und des Dorftratsches wesentlich höher ist. Burschen sind hier pragmatischer: Den Dorftratsch ‘gibt es eben’ und Konflikte werden einfach ‘nicht gelöst’. Auf Probleme wird ‘irgendwie’ reagiert und Konfliktlösungen sind für ‘Außenstehende eher nicht zu verstehen’; wenn es Probleme gibt, werden die ‘halt vertuscht und unter den Tisch gekehrt’. Obwohl die weiblichen Aussagen einen ähnlich pragmatischen Ansatz haben, wird häufig angesprochen, daß gerade dieses latente Vorhandensein von Konflikten und Widersprüchen, gepaart mit dem Fehlen einer adäquaten Öffentlichkeit zu Anspannungen, und Leidensdruck führen kann. Irgendwann ‘hält man es einfach nicht mehr aus’ und man möchte ‘ausbrechen’. Die omnipräsente soziale Kontrolle, die Tabuisierung von Problemen, und der ständige Normalitätsdruck werden von Mädchen nicht so selbstverständlich hingenommen. Mechanismen des Dorftratsches werden von den weiblichen Interviewpartnern viel sensibler wahrgenommen als von den Burschen: Daß etwa nie direkt über jemanden gesprochen wird, daß Informationen immer nur über Dritte weitergeleitet werden, daß es typische Gesprächsformen gibt wie z.B.: ‘Ich sage nur ..., ich habe gehört, aber ich würde es nie sagen ..., ich weiß es nicht genau, aber ich glaube der/die hat das gesagt ... usw. Vor allem aber spüren Mädchen Geschlechtsunterschiede und deren Konsequenzen im dörflichen Leben viel stärker als Burschen, die keine Angaben darüber machen. Mädchen erleben, daß die ‘Stellung der Frau noch irgendwo unter dem Mann’ liegen 161 soll. Die Konfrontation mit ‘gestandenen Einstellungen und traditionellen Meinungen’ ist für Mädchen nach wie vor aktuell. Frauen sind ‘so für hinter den Herd, Kinder und so’, während die Männer die höheren Ausbildungen machen können. Der Prozeß der Integration in die Dorföffentlichkeit wird interessanterweise geschlechtsspezifisch unterschiedlich erfaßt: Während die Mädchen die scheinbar ‘orthodoxen’ Stationen der Integration aufzählen wie z.B. ‘richtigen Beruf, Versorgung einer Familie, eines Haushaltes, etwas für die Gemeinschaft tun, ...’, sind die Burschen der Meinung, es sei notwendig, sich so zu verhalten, wie die erwachsenen Männer leben’. Man muß mit ‘denen einfach mitgehen’ - nämlich zum ‘Buschenschank’ und ‘dort mitmachen’. Wenn man mit der Männerwelt mithalten kann, ist man integriert, - vorausgesetzt, man kann daneben auch ‘Familienleben vorzeigen, das funktioniert’. Das eigene Verhalten wird demnach an das kollektive ‘Lebensritual’ angepaßt. Diese Darstellung jugendlich - männlicher Sozialisation läßt vorsichtig die These formulieren, daß die ‘Frage des Aufwachsens und Lebens von Burschen in ländlichen Regionen die Frage nach ihrem Standort in den dörflichen Männerwelten ist’ (vgl. Wahl 1991, 255) und zwar auch dann, wenn sie nicht direkt an den dominiert männlichen Dorföffentlichkeiten teilnehmen, was auf alle Interviewpartner zutrifft. Die Dorföffentlichkeit, die einerseits in den formellen und informellen Arbeitszusammenhängen (Handwerker, handwerkliche Schwarzarbeit) und andererseits in der traditionellen Männerwelt (Vereine, Stammtische) besteht, ist vorwiegend der männlichen Integration dienlich (vgl. Wahl 1991, 256). Die Einbindung in das informelle Netzwerk über Väter und männliche Bekannte ist wahrscheinlich so groß, daß zumindest ein partielles Hineinwachsen in die traditionelle Männerwelt gewährleistet ist. Für Mädchen fehlen diese informellen Gelegenheitsstrukturen weitgehend. Unverbindliche und offene Treffpunkte für Frauen gibt es in ländlichen Gemeinden vielfach nicht, weil Frauen in Vereinen zahlenmäßig unterlegen oder meistens nur über ihre Ehemänner integriert sind, um für ‘das leibliche Wohl zu sorgen’ und um Putz- und Bedienungstätigkeiten zu übernehmen (vgl. Wahl 1991, 257). • PF*KF: ‘richtlinien * alter > 18’ vs. PF*KF: ‘richtlinien * alter < 18’ Generell ist beobachtbar, daß die älteren InterviewpartnerInnen einen differenzierten Zugang zu Problemen dörflichen Zusammenlebens finden: Sie haben eine sehr klare Vorstellung darüber entwickelt, was es heißt, mit unterschiedlichen Normvorstellungen und Verhaltensrichtlinien zu leben. Sie sind in der Lage, einzelne Punkte kritisch zu reflektieren und diesen Gültigkeit für ihr Verhalten und ihre Vorstellungen abzuwiegen. Die jüngeren InterviewpartnerInnen zeigen eine noch eher undifferenzierte Zugangsweise, was aber nicht heißt, daß sie keine kritische Reflektion über Notwendigkeit einzelner Verhaltensmuster und Normen aufbringen. Für sie geht es wahrscheinlich noch eher darum, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren bzw. sich auf offene Konfrontationen einzulassen, wenn 162 Verhaltensrichtlinien übertreten werden. Die Wahrnehmung von Normen, Regeln und Tradtionen - vor allem in religiösen Bereichen -, die entweder ‘offenen oder geschlossenen Charakter’ haben, ist bei beiden Gruppen gegeben. Bei den jüngeren InterviewpartnerInnen geht es allerdings verstärkt darum, Möglichkeiten des ‘Sich - Widersetzens’, zu entwerfen. ‘ ... normal heißt einfach unauffällig sein. Bei jedem Menschen in dem Dorf einschleimen und immer höflich und nett, wie es nur geht, sein ...’ (Interviewpartnerin M, 15 Jahre). Man gewinnt den Eindruck, daß Normen, Verhaltensmuster und Traditionen nur als ‘Spaßverderber’ wahrgenommen werden. ‘Nichts darf man ..., immer muß man ...’ an irgend etwas denken, sich an irgend etwas halten oder an kirchlichen Bräuchen teilnehmen, die man nicht mehr versteht, weil der Bezug zum eigenen Leben fehlt (bspw. Maibeten, Feldbeten). Demgegenüber glauben die älteren Jugendlichen, daß kirchliche Bräuche trotz ihrer unreflektierten Ritualisierung und Normen und Regelsysteme trotz ihres starren Charakters doch auch positive Effekte mit sich bringen. Traditionelle Strukturen werden als bedeutungsvoll erkannt: Das Wissen um die Unmöglichkeit menschlichen Zusammenlebens ohne ein wie auch immer ausgerichtetes Ordnungssystem ist vorhanden. Man weiß, daß das Leben in der Gemeinschaft einfach angenehm sein kann, wenn man den Verhaltensmustern entspricht. Gleichzeitig bedeutet ein Verstoßen dagegen, daß man mit Schwierigkeiten zu rechnen hat. ‘Gewisse Normen, Regeln sind festgesetzt, wie man sich eben verhalten darf. Für den einzelnen ist das gar nicht so schlecht, weil da weiß man ja, wie man sich verhalten soll. Es ist ja so was wie eine Verhaltensrichtlinie, dann lebe ich auch einfach so. Ich komme nicht ins Gerede und das kann ja auch recht angenehm sein’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Ganz ähnlich äußert sich dazu auch Interviewpartner J, 20 Jahre und Interviewpartner N, 19 Jahre: ‘Aber irgendwie sind diese Vorschreibungen, Normen, Traditionen ja auch so etwas wie Orientierungshilfen. Ich weiß, daß ich ganz ruhig leben kann, wenn ich keine grünen Haare habe, ..., wenn ich grüne Haare habe, muß ich eben 163 damit rechnen, daß ich von jedem daraufhin angesprochen werde. Dann wird es einfach schwieriger für mich’, ‘Ja, es gibt gewisse politische, politische ist jetzt vielleicht übertrieben, aber ideologische und religiöse Denkrichtungen, die eben total vorherrschen in einem Dorf, und da aus der Reihe zu tanzen ist eben, wenn man ein ruhiges Leben führen will, dann sollte man das vermeiden’. Das Erkennen des normativen Regelwerkes bewirkt aber nicht, daß sich die Jugendlichen sich mit den vorhandenen Regeln zufrieden geben. Viele der bestehenden Normen, Verhaltensmuster, Bräuche müßten ihre Meinung nach auf ihre aktuelle Bedeutung und Gültigkeit für die Gemeinschaft überprüft werden. • PF*KF: ‘soziale kontrolle * männlich’ vs. PF*KF: ‘soziale kontrolle* weiblich’ Mechanismen der sozialen Kontrolle haben unumstrittenerweise auf den Verhaltensspielraum aller interviewten Jugendlichen einen großen Einfluß, dem es nur schwer zu entkommen gelingt. Der geschlechterspezifische Unterschied besteht darin, daß Mädchen in einem höheren Ausmaß von sozialer Überwachung betroffen sind als Burschen. Burschen können schon allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit leichter dem Druck der Öffentlichkeit entkommen. Männern wird unverkennbar ein weiterer Verhaltensspielraum zugesprochen als Frauen: So werden etwa Kavaliersdelikte ( bspw. Alkoholisiertsein in der Öffentlichkeit, zuspät nach Hause kommen ect.) bei Burschen schulterklopfend und vielleicht sogar mit heimlicher Anerkennung verziehen, während Mädchen bei gleichem Vergehen schwer in Verruf geraden würden. Als Mädchen sollte man sich am besten ‘nichts erlauben, weil das dann zum größten Getratsche wird’. In ihrer Rolle als SchülerInnen treffen sich die Ansprüche, die vom Dorf an die Jugendlichen gestellt werden, allerdings wieder, denn mit dieser Einschränkung darf oder soll man sich weder als Mädchen noch als Bursche zu auffällig verhalten. Schließlich ‘kann man noch nichts (man arbeitet nicht) und ist noch nichts (abhängig von den Eltern)’. Erlaubt man sich zudem als Schülerin, mittels ‘jugendkultureller Trends’ (Piercing, Tätowierung, bunten Haaren ect.) Aufmerksamkeit zu erregen, setzen die definierten Ausschlußmechanismen ein: Man widersetzt sich trotzdem den ‘Verboten’: ‘Ein Schock, nein also meine Eltern, die waren ziemlich geschockt. Ganz am Anfang, weil jetzt habe ich wirklich schon viele Haarfarben hinter mich gebracht, jetzt ist es schon normal. Es ist wirklich so, daß ich ganz lange Haare gehabt habe und so ausgesehen habe wie ein braves Landmäderl, ich kann das nicht anders sagen, mich hat dieses Klischee schon so angezipft. Ich wollte einfach eine Veränderung. Ich meine, ich habe es meinen Eltern ‘eh nicht gesagt, ich habe sie vor das vollendete Resultat gestellt. Sie waren ziemlich, ich weiß nicht wie ich sagen soll, ich meine, meine Eltern sind ‘eh ziemlich locker, aber trotzdem waren sie ein bißchen ‘erstaunt’ und 164 haben gemeint, was werden die Verwandten sagen, die Oma, da darfst du so nicht hin! Bei meiner Oma kommt noch immer: mein Gott, wie du aussiehst, was werden die Leute denken!’ (Interviewpartnerin C, 15 Jahre). • PF*KF: ‘modernisierung vs. PF*KF: ‘modernisierung * region < mureck’ * region > mureck’ Der spezifische regionale Aspekt ist im weitesten Sinne schon mit der Behandlung der Kategorie ‘b’ abgedeckt worden; dennoch ist es aufschlußreich, einen Blick auf die unterschiedlichen Wohnregionen der Jugendlichen zu werfen. Eine Unterteilung nach Regionen läßt sich in zwei Gruppen einteilen: Jene Jugendlichen, die mit der Variable ‘region < mureck’ abgedeckt sind, kommern aus abgelegenen Gemeinden, aus dem südöstlichsten Teil des Bezirkes oder aus kleinen Gemeinden im Umland der Bezirkshauptstadt Bad Radkersburg. Die der Variablen ‘region > mureck’ zugeordneten Jugendlichen kommen aus der Stadt Mureck oder aus Gemeinden, die direkt an der Bahnlinie ‘Spielfeld/Straß Radkersburg liegen. Die zuletzt genannte Region verfügt über eine günstigere Anbindung an den infrastrukturell besser organisierten Bezirk Leibnitz. Vor allem aber ist die Verbindung zur Landeshauptstadt Graz viel greifbarer. Für Jugendliche aus dieser Region ist das Gefühl des ‘abgeschnitten-Seins’ auch weniger stark ausgeprägt. Wenn es im eigenen Dorf eng wird, besteht immerhin die Möglichkeit, nach Leibnitz oder Graz auszuweichen. Darüber hinaus sind diese Gemeinden viel stärker von ‘außerlandwirtschaftlichen Einflüssen’ geprägt. Ein Großteil der Erwachsenen arbeitet nicht in der Landwirtschaft, sondern pendelt täglich mit dem Zug oder mit dem Auto nach Graz oder Leibnitz. Die Jugendlichen nehmen die offensichtliche Zweiteilung der Bevölkerung wahr: Im Dorfkern wohnen die ‘Alteingesessenen’, während sich am Dorfrand - an der Hauptstraße - eine Neubausiedlung gebildet hat. Hier wohnen vorwiegend jüngere Familien, Zugezogene, die wenig Kontakt mit dem eigentlichen Dorf haben. Daraus ergibt sich zum einen eine geringere Verbindlichkeit dem ‘typisch Ländlichen’ gegenüber, andererseits aber auch eine sehr kritische Betrachtung der Folgen dieser ‘Vermischung’ und ‘Überlappung’ des ländlichen Raumes. Der ‘Ausdruck des Modernen über Materielles’ wird von den Jugendlichen immer wieder zur Sprache gebracht. Es ist dennoch bezeichnend, daß viele der Jugendlichen aus dieser Region für sich in Erwägung ziehen, nach Abschluß einer Ausbildung wieder am Land zu wohnen, weil in dieser Region an den Annehmlichkeiten sowohl des Lebens in der Stadt als auch des Lebens am Land teilgenommen werden kann. Jugendliche aus der ‘region < mureck’ erleben demgegenüber eher negativen Austausch mit dem ‘Modernen’. Im Vordergrund steht für sie das Erleben einer Defizitärsituation, die es 165 durch demonstratives ‘Mithalten-Können’ wettzumachen gilt. Jugendkulturelle Interessen, so betonen die Jugendlichen, werden trotzdem ausgelebt, auch wenn es sich um ein ‘eher verstecktes Leben’ handelt und man ständigen Konfrontationen mit traditionellen Vorstellungen ausweichen möchte. Zwischen Modernisierungstendenzen und traditionellen Strukturen scheint ein noch tiefer Abgrund zu klaffen: Folgen der Veränderungen des ländlichen Raumes z.B. der eigene Vater als Wochenpendler werden einerseits beklagt: ‘durch die Pendler geht ein bißchen was verloren von dem, was früher war, so daß man was gemütlich macht, zusammensitzt ... so irgend etwas’. Gleichzeitig stellen die Jugendlichen aber fest, daß Traditionelles auch nur mehr für die Touristen’ gemacht wird und ‘der eigene Bürger hier ein bißchen zu kurz kommt’. Aus den Aussagen der Jugendlichen läßt sich auf eine leichte Unsicherheit im ‘richtigen’ Umgang mit dem Moderenen schließen. Für einen Großteil der Jugendlichen steht allerdings fest, daß sie sowieso weggehen und in der Stadt das ‘richtige Leben beginnen’. • PF*KF: ‘bildung * männlich’ PF*KF: ‘bildung * weiblich’ Abgesehen von der ‘geschlechterübergreifenden’ Gemeinsamkeit, die sowohl Burschen als auch Mädchen in ihrer Rolle als Schüler in einem anscheinend ständigen Legitimationszwang gegenüber der etablierten, traditionellen Dorföffentlichkeit stehen läßt, muß darauf geachtet werden, daß für Mädchen der Besuch einer höheren Schule einen anderen Stellenwert hat als für Burschen. Für letztere besteht zumindest über einen handwerklichen Beruf (‘wenn man betoniert wie ein Einser’) die Möglichkeit, im dörflichen Milieu Ansehen und Selbstverwirklichung zu erlangen, und das um einiges leichter als für Mädchen. Die Schulausbildung und das eventuell nachfolgende Studium sollen einen ‘Beruf bringen, in dem ich mich verwirklichen kann, in dem ich viel Neues kennenlerne und das wird nicht sein, wenn ich hier nicht rauskomme’ (Interviewpartnerin G, 15 Jahre). ‘Die Matura ist die Möglichkeit, den ‘Töchter sollen gute Hausfrauen werden’ - Denken zu entkommen’ (Interviewpartnerin F, 19 Jahre). Die Verankerung im Bildungsprozeß erlaubt es den Mädchen, Einblick in die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen auf dem Land zu gewinnen. Für Mädchen geht es aber nicht nur darum, ‘die traditionellen verfestigten Rollenerwartungen’ zu überwinden, sondern auch darum, die nötige ‘Flexibilität zu erlangen, weil vor der Haustüre bekommt man ja sowieso keinen Beruf mehr, man muß bereit sein, weiter weg zu gehen’ (Interviewpartnerin E, 20 Jahre). Damit treffen sich ihre Erwartungen an die eigene berufliche Zukunft mit jenen der Burschen. Die Ausbildung soll ein gewisses Maß an Flexibilität bringen, um gerüstet dafür zu sein, daß man ‘sowieso lange Wege in Anspruch nehmen muß, bis man was findet’. 166 • PF*KF: ‘freisetzung * männlich’ PF*KF: ‘freisetzung * weiblich’ Die Variable ‘freisetzung’ meint in diesem Zusammenhang primär die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Zwar wurde dieser Aspekt schon in der Auswertung der Kategorien ‘c’ und ‘e’ hinlänglich behandelt: die geschlechtsspezifische Perspektive gilt es aber noch einzunehmen, meinen doch einige Burschen selbst, daß es für Mädchen schwieriger sein müsse, ‘etwas in der Freizeit’ zu machen als für sie selbst. Der Sportsektor und die damit verknüpfte Vereinstätigkeit in ländlichen Regionen läßt sich zumeist auf den Fußballverein reduzieren. Den Mädchen ist hierbei der ‘aktiv - sportliche Zugang’ verwehrt: bleibt nur die ‘passive Anteilnahme’ als Zuschauerinnen diverser Austragungen. Wie bereits erwähnt ist die Gestaltung der Freizeit sehr stark an Möglichkeiten der Mobilität und der damit verbundenen Erkundung des regionalen Umfeldes gebunden. Auch dies bezüglich scheinen Burschen eher im Vorteil zu sein als Mädchen. Burschen verfügen generell schneller über ein eigenes Fahrzeug bzw. können eher das Auto der Eltern benützen. Mädchen sind häufiger auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen und können ihre Freizeitaktivitäten weniger ‘spontan’ gestalten. Es überrascht daher nicht, daß es vor allem Mädchen sind, die sich einen eigenen Raum, zur Freizeitgestaltung wünschen. Dieser Raum soll vor allem so gelegen sein, daß man ihn unabhängig von notwendigen Mitfahrgelegenheiten jederzeit erreichen kann. Mädchen interessieren sich auch stärker für kulturelles und soziales Engagement in ihrer Freizeit, wenn dieses auch nicht unbedingt an traditionelle Vereinsstrukturen gebunden sein soll. Daß mit einer Verbesserung des Angebotes noch nicht alles getan ist, wissen die Jugendlichen: Wenn man persönliche Interessen hat, ist es auch möglich, im ländlichen Bereich sinnvoll die Freizeit zu gestalten. Man darf sich eben nur nicht erwarten, daß ‘alles gleich um die Ecke ist’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). • PF*KF: ‘mobilität * alter > 18’ vs. PF*KF: ‘mobilität * alter < 18’ Mobilität ist zweifelsohne das ‘Zauberwort’ für Jugendliche in ländlichen Regionen. Während der Umstand der eigenen Mobilität - erreicht durch den Führerschein und die Möglichkeit, von den Eltern ein Auto auszuborgen für die älteren Interviewpartner - bereits fixer Bestandteil ihrer Lebensgestaltung ist, warten die jüngeren sehnsüchtig auf das begehrte Symbol der ‘Freiheit’. Die älteren Jugendlichen betonen die mit dem Führerschein verbundenen Vorteile: Endlich hat man die ‘Perspektive, auf die man schon mit fünfzehn hin lebt’, erreicht (Interviewpartner L, 19 Jahre). Die erlangte Mobilität gewährt den Jugendlichen für einige Stunden, oder für einen Abend, aus der Enge des dörflichen Lebens auszubrechen. Wenn man jünger ist, meinen viele der älteren Jugendlichen, halte man es noch leichter aus im Dorf, sei noch eher zufrieden mit dem, was geboten wird. Sobald aber 167 mit vorschreitendem Alter die Chance auf den Führerschien reeller wird, steigt auch das Bedürfnis, auszubrechen. • PF*KF: ‘perspektive * alter > 18’ vs. PF*KF: ‘perspektive * alter < 18’ Bezüglich ihrer Zukunftsperspektiven tendieren die Jugendlichen beider Altersgruppen, wenn auch mit einigen Einschränkungen, wie bereits in Kategorie ‘e’ dargestellt wurde, generell weg vom ländlichen Raum. Die älteren Jugendlichen haben bereits konkretere Vorstellungen über diesen ‘Abschied’; für sie stehen der ‘notwendige Ortswechsel’ nach der Matura und konkrete Pläne wie ein Studium in der Stadt oder ein Aufenthalt im Ausland im Vordergrund. In der Gruppe der jüngeren Jugendlichen ist die Perspektive des Weggehens noch wesentlich vager, wird deshalb allerdings nicht weniger vehement verfochten. ‘... bei jüngeren ist der Wunsch, wirklich vom Land weg zu gehen, teilweise ganz stark ausgebildet, für viele ist das ‘weg’ einfach ein Lebensmotto ...’ (Interviewpartner J, 20 Jahre). Die Möglichkeit, später ‘wieder am Land zu leben’ wird von ihnen fast kategorisch ausgeschlossen, während in der Gruppe der Älteren eine mögliche Rückkehr zumindest vorstellbar ist - wenn auch nicht unbedingt in denselben Ort, aus dem sie kommen. Auch hinsichtlich der von ihnen ausformulierten Wünsche lassen sich Differenzierungen zwischen den älteren und jüngeren Jugendlichen treffen. Wünschen sich die jüngeren Jugendlichen - ohne konkrete Angaben darüber machen zu können - unisono, daß einfach ‘mehr los ist’, es ‘einfach mehr Möglichkeiten gibt, etwas zu machen’, formulieren die älteren Jugendlichen sehr präzise ihre Wunschvorstellungen aus. Sie wünschen sich, daß es möglich wird, ein individuelles Leben in ländlichen Regionen zu führen, daß den Jugendlichen mehr Aufmerksamkeit und Mitsprache geboten wird, daß Jugendliche in ihren Bedürfnissen ernst genommen werden. ‘... Man muß vor allem die Regungen fördern, die Gemeinschaft zum Ziel haben, also auch Gedanken, die sich einfach über berufliche und gesellschaftliche Gedanken hinwegsetzen und die einfach emotional verbinden, das muß man fördern, glaube ich’ (Interviewpartner N, 19 Jahre). 168 8. Résumé Ausgehend von theoretischen Überlegungen zur Lebenslage Jugendlicher in ländlichen Regionen wurde mit dem empirisch - praktischen Teil der Versuch unternommen, sich ‘vor Ort’ mit ausgewählten Themenbereichen der leitenden Fragestellung anzunähern. Mit der Fragestellung sollte ein Zusammenhang zwischen den geänderten Lebens- und Produktionsbedingungen in ländlichen Regionen und dem Strukturwandel der ‘Lebensphase Jugend’ erfaßt werden. Der Umgestaltungsprozeß in ländlichen Regionen, der durch zunehmende Veränderungen im Erwerbssektor ‘Land- und Forstwirtschaft’ und regionalpolitische Maßnahmen (Gemeindezusammenlegungen, Schaffung regionaler Versorgungs- und Behördenzentren) in den letzten 40 Jahren forciert wurde, konnte dörfliche Traditionen des Zusammenlebens, der Geselligkeit, der sozialen Kontrolle und Normengebung im wesentlichen nicht verändern. Eine der Konsequenzen dieser Entwicklung ist das Bestehen von traditionellen und modernen Lebensformen und -inhalten in unzusammenhängenden Verbindungen. Traditionelles und Modernes sind in einem losen Nebeneinander, in formlosen Überlappungen existent, wobei sich lediglich indirekte Wechselbeziehungen ausmachen lassen. Ein Beispiel dafür ist das Festhalten an Vereins- und Dorfritualen statt des Versuchs, dörfliche Traditionen des Zusammenlebens und der Geselligkeit neu zu interpretieren und in ihrer eigenen Qualität zu modernisieren (vgl. Stein, 1991, 15). Jugend ist gegenwärtig durch eine Vielfalt von Lebenslagen, Lebensformen und Lebensstilen gekennzeichnet. Jugendliche leben gleichzeitig in der Familie, in der Schule, in der Gleichaltrigengruppe; sie leben im feinmaschigen Netz einer erweiterten Sozialrealität, in einer symbolischen Bedeutungswelt und in einer Konsum- und Medienwelt. In den letzten Jahren hat sich die Eindeutigkeit eines sinnstiftenden Mittelpunkts, der einst durch Familie, Schule oder Freundeskreis hierarchisierbar war, aufgelöst. Der frühere normativ geregelte Bedeutungshintergrund jugendlicher Lebensbedingungen ist in der Pluralisierung und der damit gekoppelten Auflösung traditioneller Sozialformen und Lebenswelten abhanden gekommen (vgl. Ferchoff, 1995, 7). Jugendliche in ländlichen Regionen, in dieser Arbeit die Gruppe jugendlicher Gymnasiasten, leben in einer zweigeteilten Welt der Wahrnehmung. Einerseits sind sie Partizipienten der erweiterten Möglichkeiten und Gestaltungsräume ihrer Umwelt, die durch die Einbeziehung der gesamten Region als Lebensraum entstanden sind, andrerseits bleiben sie an die Verbindlichkeiten dörflicher Muster des Zusammenlebens gebunden. Als Jugendliche sind sie interessiert an neuen Formen des jugendkulturell inszenierten Umgangs mit Medien, Mode 169 und Konsum. Als BewohnerInnen eines bestimmten Dorfes sind sie an die Möglichkeiten der Umsetzung ihrer jugendkulturellen Interessen und Neigungen im konkreten dörflich ländlichen Milieu gebunden. In ihrer Rolle als SchülerInnen repräsentieren sie neue Formen des Aufwachsens im ländlichen Gefüge. Die Installierung regionaler Schulzentren hat dazu geführt, daß eine größere Zahl junger Menschen den Besuch weiterführender schulischer Einrichtungen in Anspruch nimmt als vielleicht noch 10 bis 20 Jahre zuvor. Bis dahin war der Besuch weiterführender Schulen eher der Ausnahmefall und in erster Linie männlichen Jugendlichen vorbehalten (HTL, kirchliche Gymnasien). Durch das Pendeln zwischen ‘zwei Welten’ - der Schule und dem Dorf - entsteht eine gesteigerte Sensibilität für die Brüchigkeit ländlicher Lebenswelten, zumal ihre eigene Jugendphase eine Lebensform darstellt, wie sie im durchschnittlichen Dorfmilieu lange Zeit nicht erfahrbar war und für die es noch wenig Möglichkeiten der Interpretation gibt. Die durch schulische Ausbildung verlängerte Statuspassage ‘Jugend’hat im traditionell ländlichen Verständnis von Jugend noch keinen gefestigten Stellenwert erlangt. Der daran gekoppelt Weg der moderne Berufsorientierung muß sich im Gegensatz zur ländlich - traditionellen Arbeitsorientierung erst durchsetzen. Mechanismen der Integration in die dörfliche Erwachsenenwelt orientieren sich an ländlich traditionellen Formen der Aufwachsbedingungen (Schule - Lehre - Verein - Heirat). Ähnlich verhält es sich im Bereich der jugendkulturell inizierten Freizeitgestaltung abseits vereinsgebundener Gegebenheiten. Die Chance, neue jugendkulturelle Umgangsformen vor Ort umzusetzen sind zum Großteil nicht gegeben. Das bedeutet für die Jugendlichen konkret, daß sie einer ständigen Konfrontation von traditionellen mit innovativen Lebensmustern und Formen ausgesetzt sind. Für die Jugendlichen geht es vor allem darum, in der dörflichen Lebenswelt, wie in den eigenen Vorstellungen kompromißfähig zu werden und damit die bestmöglichen Bedingungen für das Aufwachsen im dörflichen Milieu zu schaffen. Bei den interviewten Jugendlichen liegt dieser Kompromiß in einer starken ‘Außenorientierung’: für die Umsetzung jugendkultureller Interessen und Vorstellungen wird weniger das eigene Dorf in Anspruch genommen, sondern vielmehr das gesamte regionale Nahfeld. Damit wird zumindest die zwingende Enge des dörflichen Milieus kurzfristig überwunden. Darüber hinaus schließt der Begriff ‘Außenorientierung’ mit ein, daß die Verwirklichung beruflicher Ziele, Wünsche und Vorstellungen eindeutig außerhalb der ländlichen Region positioniert wird und das nicht nur deshalb, weil die eigene Region keine Möglichkeiten bietet, diese umzusetzen. Allerdings wird der Grad der Außenorientierung von einer Vielzahl von Faktoren beeinflußt. Zum einen spielt die Geschlechtszugehörigkeit der Jugendlichen eine wesentliche Rolle, zum anderen werden die häufig fehlenden Möglichkeiten einer Mitbeteiligung am öffentlichen Leben in den Gemeinden und die infrastrukturelle Situation des dörflichen Lebensmilieus als Gründe angeführt. Für Mädchen geht es primär darum, durch den Bildungsweg aus dem gängigen 170 weiblichen Rollenbild des ländlichen Raumes auszubrechen. Jugendliche, denen Gelegenheit zur Mitsprache geboten wird und die die Anteilnahme der Erwachsenen an jugendkulturellen Ausdrucksformen spüren, wenden sich deutlich weniger stark vom ländlichen Raum ab. Ähnlich verhält es sich bei Jugendlichen, die aus Regionen mit besserer infrastrukturellen Anbindung an den Verdichtungsraum kommen. Die Forderung der Jugendlichen geht eindeutig in Richtung mehr Möglichkeiten zur Mitsprache und Mitgestaltung des Lebensmilieus und in Richtung zielführender Auseinandersetzung mit nach wie vor vorhandenen Normen, Tradition und Verhaltensrichtlinien. Abschließend muß betont werden, daß sich ein erwarteter Zusammenhang zwischen dem allgemeinen Strukturwandel der Jugendphase und den jeweiligen Lebensbedingungen ländlicher Regionen mit darin enthaltenen Veränderungs- oder Beharrungsmustern (und den daraus entstehenden Schwierigkeiten für Jugendliche) bestätigt hat. Es ließen sich einige direkte Verbindungen zu den in der Literaturarbeit gefundenen Thesen (Böhnisch, Kárás/Rögl ect.) herstellen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema - im vorliegenden Fall vor allem in Form von Literaturarbeit aber auch in direktem Austausch mit den Jugendlichen - hat gezeigt, daß es einen großen Nachholbedarf im Bereich der Jugendforschung gibt. Das primäre Interesse an urbanen Jugendkulturen vernachlässigt den Blick auf die spezifische Situation Jugendlicher in ländlichen Regionen, die keineswegs mit der Situation Jugendlicher in urbanen Regionen gleichzusetzen ist. 171 9. Anhang • Begleitfragebogen Hallo! Vor Dir liegt ein Fragebogen in dem ich Dir einige allgemeine Fragen zu Deiner Person stellen möchte. Deine Antworten bleiben völlig anonym. Dein Name wird auf dem Fragebogen nicht aufscheinen. Er dient lediglich dazu, das nachfolgende Interview zu ergänzen. Ich möchte mit Dir ein Gespräch über Deinen Alltag, Deine Freizeit, Deine Interessen und die Möglichkeiten, das in Deinem Lebensumfeld auch umzusetzen, führen. Danke im voraus! 1.] Wie alt bist Du? 13 2.] Bist Du ...? ¨ ¨ männlich weiblich 3.] Wie wohnst Du derzeit? 4.] Du hast Geschwister ...? o ständig bei Deiner Familie Bruder o ja 13 o nein o ständig mit anderen [Wohngemeinschaft] Schwester o ja 13 o nein o ständig im Heim 5.] Deine Geschwister sind ...? o unter der Woche mit anderen, am Wochenende o älter zu Hause o unter der Woche im Heim, am Wochenende zu o jünger Hause 6.] Welche Schulen und Ausbildungen hast Du abgeschlossen, Du abgebrochen? (Bitte nur Zutreffendes ankreuzen) o a.) Volksschule abgeschlossen o b.) Hauptschule abgeschlossen o c.) Polytechnischer Lehrgang abgeschlossen o d.) Lehre abgeschlossen o e.) Fachschule abgeschlossen o g.) Allgemeinbildende Höhere Schule abgeschlossen o f.) Berufsbildende Höhere Schule abgeschlossen o h.) Universität abgeschlossen 7.] Welche Personen gehören zu Deiner Familie? Hast Du ...? a.) Vater o ja o nein b.) Mutter o ja o nein 172 Bruder 13 Bruder 13 Schwester 13 Schwester 13 besuchst Du derzeit oder hast o derzeit o derzeit o derzeit o derzeit o derzeit o derzeit o derzeit o derzeit o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen o abgebrochen Wohnt bei Dir...? o ja o nein o ja o nein c.) Stiefvater d.) Stiefmutter e.) Bruder o ja o nein o ja o nein o ja 13 o nein f.) Schwester o ja 13 o nein g.) Großmutter o ja 13 o nein h.) Großvater o ja 13 o nein i.) Verwandte l o ja o ja o ja nein o ja nein o ja nein o ja nein o ja nein o nein o nein 13 o 13 o 13 o 13 o 13 o 8.] Welche höchste abgeschlossene 9.] Welche höchste abgeschlossene Schulbildung hat Deine Mutter? Schulbildung hat Dein Vater? o Volksschule o Hauptschule o Fachschule o Lehre o Höhere Schule mit Matura o Berufsbildendes Studium (z.B. PÄDAK) o Universitätsstudium 10.] Welchen Beruf hat Deine Mutter? o Volksschule o Hauptschule o Fachschule o Lehre o Höhere Schule mit Matura o Berufsbildendes Studium (z.B. PÄDAK) o Universitätsstudium 11.] Welchen Beruf hat Dein Vater? o Arbeiterin o Facharbeiterin o Angestellte/Beamtin o Leitende Angestellte/Beamtin o Selbständig/Freiberuflich/Unternehmerin o Landwirtin o keinen 12.] Ist Deine Mutter derzeit ...? o Arbeiter o Facharbeiter o Angestellter/Beamter o Leitender Angestellter/Beamter o Selbständig/Freiberuflich/Unternehmer o Landwirt o keinen 13.] Ist Dein Vater derzeit ...? o in Ausbildung o in Karenz o halbtägig berufstätig o ganztägig berufstätig o Hausfrau o Pensionistin/Rentnerin o arbeitslos 14.] Deine Geschwister ...? o o o o o o o in Ausbildung in Karenz halbtägig berufstätig ganztägig berufstätig Hausmann Pensionist/Rentner arbeitslos Bruder o sind noch in einer Schulausbildung o ja o (Pflichtschule...) o besuchen eine höhere/berufsbildende Schule o ja o o besuchen eine mittlere/berufsbildende Schule o ja o o sind in einer Lehre o ja o o arbeiten bereits in einem Beruf o ja o o absolvieren ein Universitätsstudium/FHS oder o ja o dgl. 15.] Um zur Schule/Lehrstelle ... zu kommen, mußt Du täglich, o 0-10km nein Schwester o ja o nein nein nein nein nein nein o o o o o ja ja ja ja ja o o o o o nein nein nein nein nein wöchentlich .... fahren? [ Mit der täglichen/wöchentlichen Fahrstrecke ist jeweils eine Stecke gemeint, wöchentlich meint z.B. Montag Anreise, Freitag Abreise...] o o wöchentlich 173 o 10-30km o 30-50km o 50-70km o 70-100km o mehr als 100km täglich o täglich o täglich o täglich o täglich o täglich o wöchentlich o wöchentlich o wöchentlich o wöchentlich o wöchentlich 16.] Wohnst Du in einem Dorf ...? o in einem Dorf? o in einem Markt? o in einer Kleinstadt? Die Ergebnisse des Fragebogens sind unter Punkt ‘5.1. Die Untersuchungsgruppe’ zu finden. • Transkription der Interviews B und N Im folgenden sollen zwei der durchgeführten Gespräche vorgestellt werden. Interviewpartner N gehört zur Gruppe der ‘älteren’ Interviewpartner, Interviewpartnerin B zur Gruppe der ‘jüngeren’. N wohnt in der ‘region > mureck’, B in der ‘region < mureck’. Die beiden Interviews sind in der Unterschiedlichkeit der eingenommenen Positionen exemplarisch und veranschaulichen die in den Auswertungen dargestellten Problemfelder. Transkription Interview B: Datum: 13.02. 1997 Ort: Bundesoberstufenrealgymnasium Zeit: 8.55- 9:40 Interviewer: Maria - Elisabeth Weber Interviewpartnerin: Schülerin, BORG, 16 Jahre Index: [-]: [---]: [...]: B: I: Kurze Sprechpause Kurze Verzögerung durch störende Intervieweinflüsse Kurze Verzögerungen im Sprachverlauf (Nachdenkpausen ect.) Interviewpartnerin Interviewer Interviewverlauf: I: Für die Diplomarbeit, das Thema kennst Du, habe ich drei Fragenbereiche vorbereitet. Im ersten geht es darum zur, `Jugend´ allgemein etwas zu erfahren, der zweite ist eher `landspezifisch´ aufgebaut und der dritte Teil ist der konkrete Teil `Jugend am Land ´. Zum ersten Bereich, habe ich mir gedacht, werde ich einfach einmal ein paar Schlagwörter vorlesen, mittels welcher versucht wird, Jugend zu `beschreiben´, und die auch im Unterricht vorher gefallen sind. Vielleicht kannst Du dann dazu kurz Deine Gedanken sagen. Gut, immer wieder wird, vor allem wenn es darum geht `die Jugend der 90er´ zu definieren, behauptet, sie sei zynisch, rauschhaft, radikal, exponiert, hedonistisch, konsumorientiert, verwirrt, ruhelos [...]. Wie ist Deine persönliche Sicht der Jugend, wie definierst Du Jugend? B: Ja, also einmal schnell leben, alles schnell irgendwie, also Freundschaften und so sind schwierig, finde ich, und kompliziert. Überhaupt Jugend ist sowieso kompliziert, wir werden komplizierter, ja so. 174 I: Könntest Du mit den Schlagwörtern, die vielleicht überspitzt sind, etwas anfangen ? B: Ja, also eher nicht, na ja ich meine, zwischendurch schon. Ich meine es stimmt schon, daß sich die Jugend nicht mehr so gerne berühren läßt mit Sachen, also überhaupt, persönlich nicht mehr so gerne berühren läßt, so überhaupt von allen Bereichen, Familie, Freund, Freundinnen, es ist alles so, eben so wenig wie möglich sich berühren lassen und so. I: Glaubst Du, daß Jugendkulturen, die Jugend der Gegenwart, vollsteckt mit Widersprüchen? B: Also, das glaube ich schon. I: Und daß, das vielleicht auch Reaktionen auf Widersprüchlichkeiten in der Gesellschaft sein könnten? B: [...] Mhm, ja, schon. Ich meine, es gibt eigentlich in der Erwachsenengesellschaft alle Widersprüche, also dann spiegelt, dann ist das bei der Jugend auch so. Das ist dann eine Gegenreaktion oder so. I: Wenn Du jetzt versuchen könntest, so wesentliche Unterschiede zwischen Deiner Jugend und der Jugend Deiner Eltern herauszufinden, was fällt Dir dann ein? B: Mhm, so ganz spekulativ? Mmh, ja wir haben einmal mehr Rechte, also überhaupt können wir uns mehr erlauben und haben mehr Konsumgüter. Ja, und einfach mehr Chancen überhaupt im Leben. I: Im Vergleich zu Deinen Eltern? B: Ja schon, weil, wenn man die Berufsausichten ansieht. Meine Eltern sind von ihren Eltern noch beeinflußt worden und so, die haben gesagt, das und das mußt du machen und so. Das ist heute ja überhaupt nicht mehr. I: Mmh, mmh, ja - ich glaub so im Hinblick auf die Zeit, vielleicht sollten wir auf den zweiten Bereich übergehen, auch wenn das jetzt ein großer Sprung sein kann. Mich würde interessieren: Was ist für Dich `ländlicher Raum´ oder wie beschreibst Du ‘das Land’? B: Ja ich meine, [lacht], das ist so 2000 Einwohner oder so irgendwas, kleine Dörfer eben. Ich meine der ganze Bezirk ist für mich `Land´, ich meine Radkersburg, die Stadt, ist ja auch Land. I: Der Bezirk Radkersburg zählt zu den ‘ländlichsten Regionen’ Österreichs. B: [lacht] Also das kann ich mir ja echt vorstellten, [lacht]. I: Was ist so - das typische Ländliche? B: Ja, ich meine, daß die Leute ziemlich einfach sind, einfach denken, also nicht, keine Veränderungen wollen, und das ist für mich irgendwie die Definition von Land. Na ja, eben nichts verändern wollen in ihrem Leben da, alles soll so bleiben wie es war und das die Jugend so ziemlich keine Chancen hat. I: Gut, wenn so von Land die Rede ist, da gibt es auf der einen Seite sofort Bilder wie - Ruhe, Idylle, Erholung usw., und auf der anderen Seite gibt’s so Feststellungen wie - Leben am Land ist Inflexibilität, Konfliktunfähigkeit, Unfähigkeit im Umgang mit Fremdem und Neuem. Typische Zuschreibungen sind auch: Am Land zu leben bedeutet in der Landwirtschaft zu arbeiten, eine große Familie zu haben, vor allem eine gute Dorfgemeinschaft, keine Anonymität [...]. Also, durchaus sehr konträre Stellungnahmen was sagst Du zu diesen Gegenüberstellungen? B: Ja, ich meine es ist alles ein bißchen. Weder das eine stimmt ganz noch das andere stimmt ganz. Also, die ältere Generation die ist halt schon so. Ich meine, wenn man so denkt, in meinem Dorf, da sind sicher über 50%, 50 oder 60 Jahre oder so, da stimmt das schon so, die wollen keine Konflikte haben und wollen sich nicht mehr verändern, aber die brauchen das nicht mehr oder so. Mit der Dorfgemeinschaft ist das was anderes. Ich meine ich selber bin da überhaupt nicht drinnen, es interessiert mich einfach nicht. Ich meine es ist alles so scheinheilig irgendwie. 175 I: Scheinheilig? B: Ich meine, es heißt zwar , daß die sich gegenseitig immer helfen wollen, aber die ganze Zeit gehen die auf irgend jemanden los. Ich meine, es heißt zwar, es ist so schön, wenn man keine Anonymität hat, aber manchmal ist es dann schon so, wenn man jemanden nur nicht grüßt, weiß das am nächsten Tag schon das ganze Dorf. Mha, das ist so [...] I: Gibt’s da so einen Verhaltenskodex, welchen man einhalten muß? B: Eindeutig ja, ich meine [...]. I: Wie nimmst Du den wahr oder wo legst Du den fest? B: Ja, ich meine, so von mir - es ist sehr schwierig einmal wenn man in eine höhere Schule geht, weil man damit schon einmal sehr viele Vorurteile erzeugt. Ich habe das schon bemerkt, so was sollte man gar nicht glauben. Also, es wissen sowieso alle, daß die, die in höhere Schulen gehen, daß wir uns alle etwas ein bilden, daß wir was viel besseres als die Lehrlingskinder sind und also, ja das ist, nein, ah. Es heißt immer, wenn Du in eine höhere Schule gehst, bildest Du Dir ein, daß Du etwas besseres bist, und das haben die mir auch schon öfters gesagt. I: Warum kommen solche Sätze [...]? B: Ja, nein, ich glaube teilweise wollen die eben nicht, daß die Leute rauskommen. Ich meine, die wollen das gar nicht so genau sehen. Sie wissen zwar, daß sie nicht so, daß es die große weite Welt da draußen gibt und das ist ein bißchen schwierig. Die haben auch Angst davor, daß da jemand kommen könnte, sie vor den Kopf stoßen könnte, sagt es gibt noch etwas anderes als hier. Es ist wirklich irgendwie Angst. Es ist so mit den höheren Schülern, die mögen die einfach nicht mehr sehen. I: Also, könnte man sagen, es gibt wirklich so etwas wie Rivalität zwischen Schülern und anderen Jugendlichen? B: Ja sowieso, unter Lehrlingen und Schülern ist das ‘eh so. I: Dazu hätte ich ein Frage. Da gibt’s jetzt anscheinend gegensätzliche Haltungen, Interessen zwischen Lehrlingen, Schülern. Gibt’s da einen Unterschied in der Wahrnehmung von Lehrlingen und in der Wahrnehmung von Schülern durch die Erwachsenen im Dorf? B: Also, die sind schon höher angesehen bei den Erwachsenen. Ja, weil die eben schon Geld verdienen, niemandem mehr auf die Nerven fallen, weil sie nicht so, nein weil sie sich selber schon mehr in die Gesellschaft eingliedern im ländlichen Bereich, weil wir sind mehr so, ja nicht so. I: In die Erwachsenengesellschaft? Mmh, wie schaut die aus - oder was muß man da haben, um dabei zu sein? Was glaubst Du ist so das Typische dafür, daß man von den Erwachsenen als erwachsen angesehen wird, welche Punkte muß man da erreichen - oder was ist so das typisch normale Erwachsene. Was ist da wichtig um am Land leben zu können? B: Arbeit, vielleicht eine Wohnung, ein bestimmtes Alter muß man sowieso haben, unter 16 wirst du sowieso noch als Kind angesehen, das ist sowieso schwierig alles, da in die Gesellschaft reinzukommen. Die akzeptieren, also wenn du so nur daherkommst, und so neue Ansichten, akzeptieren die dich sicher nie, also dann wenn du uralt bist mit 30 Jahren oder so. Ja, und einmal Geld, das ist einmal wichtig und etwas tun. I: `Etwas tun´ heißt, arbeiten? B: Ja, Beruf einmal. Wir sind, wir wissen nicht, ob wir überhaupt einmal einen Beruf kriegen, und wenn dann sicher einmal mit 25 oder so, das ist dann auch nicht sicher [...]. I: Das heißt, Geld und ein Beruf ist schon einmal was Wichtiges, um am Land zu leben? 176 B: Ja, und es muß einfach alles stimmen. Die Wellenlänge zwischen den Leuten. Ich meine, man kann nicht daher kommen und [-] und über politische Themen, kann man nur so, eben nicht anfangen, nur so über irgend etwas reden. Es ist eine ziemlich schwarze Gesellschaft da, irgendwie, ich meine in meinem Dorf sind z.B. 60% Schwarze. I: Mit ‘Schwarze’ meinst Du die Partei? B: Mhm, ja, da muß man politisch auch erst richtig sein. I: In ländlichen Lebenswelten, in einem Dorf - wann glaubst Du ist man da ‘normal’, also so, daß man nicht auffällt? B: Ja, einmal der Beruf, dann ein Freund, ein normales Aussehen, normal anziehen, keine ausgeflippten Haare, so irgendwie. Dann vielleicht später einmal die eigene Wohnung, und Kinder und so irgendwie. I: Das ist wichtig? B: Ja, das ist wichtig und die Stellung der Frau ist irgendwo unter dem Mann, vor allem die alten Leute sehen das so. Bei den jüngeren ist es nicht mehr so kraß, aber es wird sich so ganz nicht so schnell ändern. I: Also, eine eigene Wohnung, ein Beruf ist wichtig. Wenn man keine Arbeit hat, wie ist man dann angesehen? B: Ja, also es gibt total verschiedene Leute, es gibt Leute in meinem Dorf, die haben keine Arbeit und sind da trotzdem angenommen. I: Warum ist das so? B: Ja, ich weiß es nicht. Das ist, weil sie am Land da drinnen sind, im Dorf. Und weil sie, also wenn man nämlich nicht, ich weiß nur von verschiedenen Familien, die nicht im Dorf drinnen sind, also sich von der Gesellschaft da irgendwie abwenden, also über die wird dann halt viel geredet. Es ist eben wichtig, daß man da drinnen ist. Wenn man nämlich nicht drinnen ist, ist man sowieso schon einmal unten durch. I: Drinnen sein - Kannst Du das vielleicht konkretisieren? B: Ja, daß man mit den Leuten fortgeht und also sich treffen und ich meine, da sind immer so Dorffeste und Veranstaltungen, wenn man da hingeht und mit den Leuten redet, und nicht in irgendeiner Ecke sitzen oder so, teilnehmen an dem, was da passiert. I: Also sich beteiligen an dem, was das Dorfleben bietet. Heißt das dann auch, daß man irgendwie auch den Einblick ins Privatleben der Familie geben soll? B: Ja, das schon. I: Gibt’s dann überhaupt so eine Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen im Dorf oder ist das nicht ‘eh schon das Gleiche? B: Mmh, nein, nicht ganz - aber es ist sicher ein bißchen verschwommen, total. Ich meine, die Leute mischen sich überall ein, das ist [lacht], das geht mir so auf die Nerven. Eben wenn man z.B. jemanden nicht grüßt oder so irgend etwas. Ich meine, das geht ja niemanden etwas an, oder? I: Aber man läuft damit gleich Gefahr, zum Dorfgespräch zu werden? B: Ja, genau - oder wenn sich einer von den Jugendlichen die Haare färbt, dann ist man am nächsten Tag, dann heißt es gleich `totaler Asozialer´. Das ist echt schlimm irgendwie. 177 I: Vielleicht sollten wir da gleich übergehen zum Teil `Jugend am Land´. Was heißt jetzt dann Jungsein am Land für Dich? B: Ja, genau da ist es jetzt so: Man muß zwischen zwei Gruppen unterscheiden - eben Lehrlinge und Schüler. Da ist schon ein großer Unterschied: I: Gut, dann denke ich mir, machen wir zuerst so Deine Situation durch, Du bist Schülerin - dann vielleicht kurz auch auf die Situation der Lehrlinge bezogen. B: Ja, ich meine, [-]. I: Vielleicht so: Was heißt es für Dich konkret: `Jungsein´ - Du sagst es gibt Unterscheidungen, aber wenn Du so den ländlichen Alltag als Rahmen für Dein Leben, Deine Interessen hast, wo kannst Du Dein Jungsein hingeben? B: Also für Schüler ist es da sowieso nur schwer, so mit der Zukunft da und so. Es ist so, daß wir dann weggehen, wenn wir fertig sind mit der Schule. Ich kenne eigentlich gar keinen Schüler, der sagen würde, daß er dableiben will nach der Schule. Ich meine, es wollen alle weggehen, eigentlich, schauen, daß wir die Jahre da irgendwie runterdrehen, bis zur Matura, runter und dann weg. I: Ist das für Dich schon so der Weg, das Jungsein hier, Matura, endlich, raus und weg? B: Ja, schon - ich meine es ist so. I: Ist das mit einer Wehmütigkeit verbunden? B: Also nein, wehmütig bin ich ehrlich gesagt nicht. Ich meine, ich sehe das eher nüchtern, vielleicht meine Freunde, aber die gehen ‘eh alle auch weg. Das ist nicht das Problem - ja, vielleicht für die Familie, aber die sehe ich ‘eh am Wochenende und für das Dorf - mit denen hab’ ich sowieso nie etwas zu tun. I: Ist so unter der Perspektive Land für Dein Jungsein ein Defizit oder vielleicht auch Ressource? B: Ich kann mich da nicht engagieren für Dinge, die mich interessieren, also das ist schon einmal echt ein Problem. Ich meine, ich schreibe gerne und daß da irgend etwas weitergehen würde, solange ich da Jugendliche bin, ist absolut nicht möglich. Es gibt einfach nichts, es gibt nichts. Wenn ich in Graz wäre, wäre das ganz anders. Oder wenn z.B. irgendwer gerne irgend etwas tut, sozial sich engagieren oder mit irgendwelchen Jugendlichen irgendeine Gruppe, oder so, das ist alles ein bißchen schwierig. I: Mhm, [--] Gut, jetzt sind wir ein bißchen unterbrochen worden - also für Deine Interessen, für Dein Engagement gibt’s hier nichts? B: Nein und ich meine, es ist auch, also meine beste Freundin, die ist eine ganz gute Malerin, die kann ganz gut malen, die hat ein Talent, aber die will eben nicht aus dem Dorf raus. Das ist ihr Problem, weil die geht in einer Stadt zu Grunde, ja und ‘halt ihr Talent ist ‘halt verschwendet, weil sie wird da nie etwas weiterbringen. I: Kann man sagen, daß für Deine Wahrnehmung Land eher `Defizit´ ist, weil Du Deine Interessen hier nicht entwickeln kannst? B: Ja, weil man kann sich nicht, ich meine, man kann, wenn man ein Familienmensch ist, kann man da schon aufgehen auf dem Land. Aber ich meine, es ist, wenn man ein bißchen ‘was weiterbringen will, Karriere machen, dann ist da ‘halt nichts. Wenn man Familienmensch ist, ist es super, wenn man auf so etwas steht dann geht’s irgendwie, aber [...]. I: Mhm, bei Dir ist das nicht so der Fall? B: Nein. 178 I: Vielleicht, ganz konkret ein paar Fragen zum Freizeitbereich: Was machst Du, was kannst Du in Deiner Freizeit machen? Bist Du da in einem Verein [...]? B: Nichts, na ja [...] I: Frage zu den Vereinen: Wenn Du Dich interessieren `würdest´, gibt’s - außer den Jugendvereinen gibt’s Vereine, wo Jugendliche sich beteiligen können? B: Nein, eigentlich nicht. Ich meine, man kann irgend etwas sporteln oder so. I: Wer kann `sporteln´ ? B: Ja, es gibt schon manchmal so Vereine, wo man könnte, aber die kümmern sich auch nicht so um Jugendliche, deswegen sind auch nicht viele Jugendliche dort. I: Was gibt’s da in Deinem Ort konkret? B: Also, bei uns ‘eh nichts, außer vielleicht den Turnverein für die Frauen, sonst muß man nach Mureck oder Deutsch Goritz. Es ginge dann schon, aber ich bin ‘eh nicht sportlich. I: Gibt’s überhaupt neben den Fußballvereinen Sportvereine, wo Frauen, Mädchen auch sportlich sein können? B: Ja, sicher schon, Tennis. I: Wenn Jugendliche jetzt in so ‘Erwachsenenvereinen’ sind, ist es dann leichter, in die Erwachsenenwelt zu kommen? B: Ja, schon, kann sein, irgendwie. [lacht] - Nein, ich meine, ich könnte zur Landjugend gehen, aber da ist eben das Problem, daß da nur die Lehrlinge drinnen sind und da ist wieder der Konflikt Lehrlinge Schüler. Da sind eben keine Schüler drinnen, dann ist das nichts für mich. I: In der Landjugendgruppe in Deinem Ort? B: Mhm, ja, und sonst in der Freizeit? Treffe ich Freunde, wir gehen ein bißchen fort. I: Und wenn ihr fort geht - Wo geht ihr da hin, gibt’s da so ums Eck irgendein Lokal? B: [lacht] - Ja, entweder in Radkersburg nach der Schule oder so, aber sonst? Ja, so, jetzt ist z.B. Ballzeit, da gehen wir so auf irgendwelche Bälle, da gibt’s solche für Jugendliche auch. Es ist ziemlich ein geringes Angebot, aber dort sind immer viele Leute. I: Wenn ihr euch so am Wochenende trefft - und ihr wollt ganz spontan etwas unternehmen, was könnt ihr dann da machen? B: [lacht] - Also spontan geht da sowieso nie etwas! I: Warum nicht? B: Na ja, eben wegen dem Fahren. Ich meine, es haben schon manche den Mopedführerschein und so, aber den Führerschein haben die wenigsten und auch nicht das Geld dazu, also, da müssen wir uns immer irgendwohin bringen lassen und das ist dann das Problem. I: Mhm, ist dann so das Ziel der `eigene Führerschein´ , ein Auto zu haben das Zauberwort für Dich, weil Du dadurch mobiler wirst. Bedeutet das etwas für Dich? 179 B: Ja, schon, aber bei uns ist das auch nicht so, weil wir gehen dann ‘eh fort, wenn wir achtzehn sind. Ich meine, machen werden wir ihn schon, aber es ist nicht mehr so, also wenn man ihn mit sechzehn machen könnte, wäre das schon besser. I: Und sonst, was gibt’s sonst noch so in Deiner Freizeit? B: Ja, [lacht], die Katholische Jugend gäbe es noch, aber sonst? Na ja, in Mureck gibt’s jetzt auch so ein Freizeitdings, so ein Jugendzentrum, aber dort war ich noch nie, na ja. Ich meine, unter der Wochen geht bei den Schülern sowieso nichts, da ist ‘eh der Lernstreß und das alles. I: Und das Wochenende, in den Ferien [...] ? B: Ja, ich meine, es gibt sonst ja nichts, ein bißchen weggehen, es gibt ja nichts. I: Du hast schon angesprochen, daß diese Jugendvereine, die es da gibt, mit Lehrlingen ‘besetzt’ sind, da ist kein Platz für euch, für die Schüler. Wir haben schon gesagt, die verdienen ihr eigenes Geld usw.. und passen die besser in die Erwachsenengesellschaft, so wie Erwachsene Jugendliche sehen? Was ist das ‘Andere’ an dieser Gruppe? B: Also, die tun sich schon leichter, weil die sehen, daß sie dort bleiben werden, also und wir werden weggehen und deswegen haben die, glaube ich, doch schon einmal Probleme damit uns dort aufzunehmen, weil die wissen: Die sind ‘eh bald weg. I: Ist das Neid - oder so was? B: Ja, teilweise schon. Ich meine, die wollen ja auch gar nicht weg. Ich meine, die haben eben Angst, weil sie glauben, wir denken schlecht über die, dann tun die als Trotzreaktion sowieso nur schlecht über uns herfahren und so. I: Und Freundschaften, gibt’s die überhaupt nicht zwischen euch? Oder ist in jedem Bereich strikte Trennung? B: Ja, vielleicht vereinzelt schon. Aber es ist so, Schüler treffen sich mit Schülern, dann machen wir etwas, die Lehrlinge sind auch untereinander. Ich meine, meine beste Freundin ist früher in die Schule gegangen, jetzt ist sie Lehrling und die sehe ich eigentlich nie mehr. I: Ist der Kontakt abgebrochen? B: Ja, ich meine, ich wollte zwar nicht. Aber sie hat selber gesagt, es geht jetzt nicht mehr, ich meine [...]. L: Liegt das jetzt an den Interessen, ich denke es entwickeln sich vielleicht konträre Interessen, oder ist das eher so ein mit Vorurteilen behaftetes ‘nicht - zusammen - kommen’ Dürfen? B: Ja, ich meine, es ist automatisch so, weil wir Schüler reden immer über die Schule und so, haben dadurch einen ganz anderen Freundschaftskreis [--]. I: Entschuldige die Unterbrechung, ich habe, glaube ich gefragt, ob da nicht auch so Vorurteile eine Rolle spielen? Ich meine, so im Hinblick auf die Kontakte der Erwachsenen im Dorf. Ich meine, da wird es ja auch nicht nur Arbeiter geben, da gibt’s auch Arbeiter und andere im Dorf - wie treffen sich die, haben die auch keinen Kontakt? B: Vorurteile? Ja, ich meine, bei uns da gibt’s einmal das `Bauerndorf´, daß ist ganz was eigenes, da ist die `crème de la crème , die Oberschicht, so führen die sich auch auf. I: Die bestimmen, was im Dorf passiert, sind die zahlenmäßig noch in der Mehrheit? B: [lacht] Nein. Nein, ich glaube, das ist Tradition, das war glaube ich schon immer so und es ändert sich, glaube ich, nicht so schnell. Ja ich meine, es sind halt die, die politisch so mitreden im Dorf. Die in 180 der Gemeinde sind und so ein sch...., ok [lacht]. Und dann gibt’s eben die normalen Leute, ich meine, die nur am Wochenende, ich meine, die unter der Woche arbeiten und nur am Wochenende nach Hause kommen. I: Also, Pendler? B: Ja, die sind aber nicht so richtig drinnen. Ich meine, die sind manchmal drinnen, manchmal eben nicht, die sind eben so die Familienmenschen, die sind so mehr mit der Familie. I: Spürt man unter den Jugendlichen auch die traditionellen Vorhaltungen Pendler, Arbeiter, Landwirte? B: Ja, man merkt, ich meine, das ist jetzt sicher ein Vorurteil, aber, also die Bauernkinder haben am wenigsten Durchblick. Ich mein, die kriegen wohl einen ‘Sitz’ zu Hause. Aber mit denen komme ich am wenigsten klar, die sind also total überheblich, und wollen wirklich absolut nichts mit den Schülern zu tun haben, weil wir gehen weg, das ist für die echt nicht richtig. I: Vielleicht fasse ich jetzt so einiges zusammen. Für Dich ist also das Erlangen der Matura der Weg in die Stadt? B: Weg von da, ja, das ist einmal gut. Dann vielleicht studieren oder so [...]. Mir einmal ein anderes Leben aufbauen, weg von dem Dorf. I: Dann, das zu machen, was Dich interessiert? B: Ja, auf jeden Fall. I: Wenn Du jetzt die Möglichkeit hättest, drei Wünsche zu äußern, die Dein Jungsein am Land betreffen, was würde Dir dazu einfallen? Was sind für Dich wirklich wichtige Anliegen? B: Ja, also, daß die Leute uns Schüler mehr akzeptieren, dann, daß es mehr Möglichkeiten zum Weggehen gibt. I: Was müßte es da geben? B: Ja, ich weiß nicht, wenn wir z.B. weggehen, gibt es das `XY´, da muß man so 40 Minuten oder so fahren, also alles ist weit von da entfernt. Ich meine, mehr Treffpunkte für Schüler und Lehrlinge überhaupt. Dann, daß da nicht mehr so viele Konflikte wären zwischen Schülern und Lehrlingen, das wäre schon ein Ziel. I: Mhm, daß so dieses ‘ausgrenzende’ Denken überwunden wird? B: Mhm. I: Gibt’s Berührungspunkte zwischen euch - noch einmal gefragt? B: Ja, ich meine, wir gehen zu den gleichen Veranstaltungen, aber da sind dann die Schülergruppen, da die Lehrlingsgruppen, wir können untereinander nichts tun miteinander. Das ist, weil’s so wenige Möglichkeiten gibt, laufen einem die Lehrlinge auch über den Weg. I: Glaubst Du, gibt es so die Möglichkeit, daß sich so Szenen herausbilden [-] B: [lacht] I: Also, ich meine so Jugendszenen [-] ? B: Nein, eher nicht. Ich meine, da ist so ein Haufen, der zusammen weggeht, der sich trifft, normale Schüler und so. Ich meine in Leibnitz ist es schon was anderes, da gibt’s alles mögliche. Punks, Skins und alles. 181 I: Warum ist das in Leibnitz so? B: Na ja, weil Leibnitz schon ein bißchen größer ist, nicht mehr ‘Kleinstadt’ , schon ein bißchen größer. Da ist einfach schon mehr, ich meine, es ist in Mureck auch schon mehr, da gibt’s auch schon ein paar so radikale Gruppen, aber da in Radkersburg eben nicht. I: Und - Radkersburg ist ja auch eine Stadt? B: Na ja, es gibt eben nur das Borg, von der Berufsschule hört man sowieso nie was. In Mureck sind ja auch schon mehr Schulen, Berufsschule, Kindergartenschule [...] unter dem Jahr ist da mehr los. I: Glaubst Du, wird dort auch von den Erwachsenen mehr auf die Bedürfnisse der Jugendlichen reagiert als hier in Radkersburg, in Deiner Schulstadt? B: Ja, das auch. In Radkersburg ist das so, die machen das meiste Geld mit der Therme und mit den Touristen. Das sind eben nur Leute über 40 und 50 Jahre, mit den Jugendlichen machen die kein Geschäft. Deswegen gibt es da einfach nichts! Wenn man z.B. in die Stadt geht, wo geht man da hin? Ja, gut, man setzt sich in ein Café, da gibt’s vielleicht zwei wo man hingehen kann, dann kann man noch zum Libro gehen, dann ist man fertig. Ich meine, mehr gibt’s da einfach nicht. I: Wie müßte das Angebot dann aussehen? Ich meine, abgesehen von mehr Lokalen, das alleine ist auch nicht alles. Ich meine so, daß es Angebote gibt, wo Du als Jugendliche das Gefühl bekommst - die nehmen mich auch als eigenständige Person wahr, und denken sich nicht nur, irgendwann werden die schon erwachsen, da brauchen wir uns nichts überlegen? B: Ja, in Radkersburg, also eher nicht. Da werden die Jugendlichen, da sind die sowieso eine Minderheit, die sind ‘halt da und das kann man nicht ändern, da muß man nichts machen, da ist auch nichts geplant. Ja, jetzt vielleicht wegen der Landesausstellung 1998. Ich meine, daß die da gerade das Thema Jugendkultur haben, ist irgendwie ein blöder Witz, wenn die das nach Radkersburg bringen, also nach Radkersburg, also dann schon, wenn man so denkt jeder 10. ist da vielleicht Jugendlicher, wenn überhaupt, also ist dann schon ein bißchen witzig. Und eben, es gibt überhaupt nichts und die bringen eine Landesausstellung zu dem Thema, also es ist schon komisch irgendwie. Aber ich meine, wenn es wenigstens ein bißchen was geben würde. In Leibnitz wäre das schon was anderes, da ist das irgendwie blöd. Die könnten da irgend etwas mit der Grenze machen, das wäre dann nicht so, also echt blöd. I: Also, das Thema ‘Jugendkulturen’ ist für Dich nicht ganz o.k., so im Bezug auf das , was jugendkulturell da möglich ist? B: Ja, ich meine, vielleicht wollen die da ja irgend etwas machen, während der Dings, aber dann soll vorher auch schon was sein [...]. I: Mhm, die Forderungen nach Mitsprache, wenn ihr jetzt in, sagen wir, Deinem Dorf zum Bürgermeister geht und Ideen, die ihr habt, z.B. ihr wollt einen Treffpunkt haben, für eure Interessen, um euch treffen zu können - was glaubst Du würde der Bürgermeister tun? B: [lacht] Einen Lachkrampf würde der kriegen, nein, ich meine, es wäre gar nichts. Das wäre nie möglich, es ist eben entweder Landjugend oder stirb, auf gut deutsch. Also entweder man ist bei der Landjugend dabei oder man ist gar nichts. Landjugend, das ist bei uns so was wie Eintritt, irgendwie wird man berechtigt im Dorf. Wenn du da nicht dabei bist, heißt das ‘eh, daß du weggehen wirst, weil ich kenne keinen einzigen Schüler der da drinnen ist, der nicht weggehen will. Ich meine, die anderen festigen sich da, weil sie da bleiben werden, weil sie da ein Leben aufbauen und deswegen einfach. Ich meine das ist in meinem Dorf sicher ganz radikal, meine Freundin wohnt woanders, die haben eine Landjugend die ist eher offen, das ist einfacher. I: Also, Dein Dorf ist da ein Härtefall im Bezirk? B: Ja, es ist so, wenn du in einem Kaff wohnst wo nichts ist, ist es eben schwieriger [...]. 182 I: Dein Abschlußsatz zur Jugend am Land, Deine Zusammenfassung? B: Ja, mmh, ja es gibt eben zwei Möglichkeiten für die Jugendlichen, entweder weggehen oder dableiben, und das entscheidet dann, wie man sich entwickelt, also wenn man sagt man bleibt da als Lehrling, dann ist man gleich anders, also von dem Sozialen, vom dem Rundherum, dann wächst man anders auf auch irgendwie. Das legt sich schon früh fest, das merkt man auch schon in der Hauptschule, wenn man da schon ein bißchen besser ist, ist man da schon ein bißchen am Rand, eine Randgruppe irgendwie, das ist einfach so, automatisch. I: Überspitzt: ‘Intellektuelle als Randgruppe’ - oder wie? B: Ja, schon so, man hat da nur die Möglichkeit, daß man weggeht. I: Wirkt sich das, glaubst Du, auch auf die Dörfer aus, wenn alle weggehen, die anstreben, etwas Höheres, was auch immer das bedeutet, zu machen? Also, wenn die weggehen, die höhere Ausbildungen machen? B: Ja, mmh, es wird sich nicht viel ändern und aber ich hab’ nicht so die Kraft, daß ich sage, ich bleibe da, ich will da etwas ändern. Ich will das einfach nicht, ich will einfach nur weg, das ist bei den meisten so - die wollen nichts ändern, wir wollen nur weg, deswegen wird sich auch nie etwas ändern, so wird das bleiben. I: Gut, danke für das Gespräch, leider müssen wir ja aufhören, weil die nächste Stunde anfängt! 183 Transkription Interview N: Datum:30.03 1997 Ort: Wohnzimmer der Elternwohnung des Interviewpartners Zeit: 14.00 - 15.10 Interviewer: Maria - Elisabeth Weber Interviewpartnerin: Schüler BORG, 19 Jahre Index: [-]: [---]: [...]: N: I: Kurze Sprechpause Kurze Verzögerung durch störende Intervieweinflüsse Kurze Verzögerungen im Sprachverlauf (Denkpausen ect.) Interviewpartner Interviewer Interviewverlauf: I: Gut, das Thema der Diplomarbeit, der Inhalt ist Dir so ungefähr bekannt. Vielleicht sollten wir dann gleich einmal zu den Fragen übergehen. Du wächst hier im Bezirk Radkersburg auf, ein Bezirk, der nach seinen Strukturen ein sehr ländlicher ist. Von dem Aspekt her, würde mich einmal interessieren, was für Dich Land bedeutet, Land als Lebensraum, wie Du das definierst? N: Ja, Land als Lebensraum ist für mich vor allem einmal in erster Linie Natur, weil ich ein sehr ‘natürlicher’ Mensch bin, irgendwie, von dem her auch einen starken Bezug habe zur Natur. Ich halte mich auch oft im Freien auf und genieße es, durch einen Wald zu gehen oder so, das ist für mich hauptsächlich Land. Was so gesellschaftliche Kriterien betrifft, ist für mich eher nebensächlich, ich meine, ich versuche mit allen auszukommen und von irgendwelchen Klischeegedanken einfach abzusehen, weil ich mir denke die Leute sind einfach irgendwie alle gleich, ob das am Land ist oder in der Stadt. Im Grunde zumindest. I: Dein Definitionszugang ist so die sagen wir ‘Naturdefintition’ . Ich lese Dir jetzt einige Schlagwörter vor, mittels welcher ländliche Regionen immer wieder beschrieben werden. Land ist Ruhe, Idylle, Erholung. Auf der anderen Seite heißt es, Land bedeutet in der Landwirtschaft zu arbeiten, Familienbetriebe, intensive Familienbindungen, Harmonie, Dorfgemeinschaft, keine Anonymität usw. Aber es gibt auch Zuschreibungen wie bspw. Inflexibilität, Konfliktunfähigkeit, Schwierigkeiten im Umgang mit Fremdem, mangelnde Kenntnis der Individualität ect. Mich interessiert hinsichtlich dieser Kriterien, wie Du den ländlichen Alltag beschreibst? N: Also, ich fang einmal mit der Dorfgemeinschaft an, weil das ‘eh das Hauptsächliche ist. In der Dorfgemeinschaft ist, was die Individualität betrifft gibt’s da sicher einen Mangel, es gibt da sicher eine gewisse Inflexibilität, könnte man sagen, aber man sollte das auch nicht nur so negativ sehen, sondern es ist einfach ein langzeitig gewachsener, sehr enger Gesellschaftsbereich, das Dorfleben, und es ist ‘halt für die Leute nicht so einfach, sich da umzustellen, wenn da neue Einflüsse sind, wenn da was Fremdes kommt, daß heißt, es erinnert fast irgendwie an eine Familie, wenn da jemand dazu kommt oder so. Natürlich gibt’s in einem Dorf auch Haß und Streit, das ist ganz logisch und das kommt da eben viel stärker zum Vorschein, deshalb, weil einfach die Anonymität nicht so da ist wie in der Stadt. Wenn man in eine Stadt kommt als Fremder oder so, spielt das im Grunde keine Rolle, weil mit dem redet man nicht viel, oder? Und, sagen wir einmal so, da sieht man sich nicht täglich und kann einfach das gute Verhältnis ‘wahren’ , leichter als im ländlichen Bereich, glaube ich. I: Es wird immer behauptet, daß so Dorfgemeinschaften oder ländliche Lebensbereiche bestimmt sind durch mehr oder weniger nicht ausformulierte, aber doch strikt vorhandene Verhaltensregeln, so Normen, Regeln, Kontrollen, die nicht ausgesprochen sind, die aber jeder weiß. N: Ja eben, es ist sicher sehr schwer, etwas Neues hineinzubringen in eine Dorfgemeinschaft, etwas Ungewohntes. Es sind eben sicher solche Regeln vorhanden, unausgesprochen, und ich glaube aber, man kann das durchbrechen, man wird auch akzeptiert, wenn man das gemacht hat, man muß das eben im Laufe der Jahre durchsetzen, es geht eben sicher nicht so schnell. 184 I: Welche Lebensbereiche sind da stärker betroffen als andere? Also Bereiche, wo solche Normen und Regeln einfach ganz stark sind? N: Also, in unserem Bereich ist es eben hauptsächlich die Religiosität der Menschen. Das heißt, wenn man irgendwie andersgläubig ist, geistig irgendwie eine andere Gesinnung hat, kann es so schwer akzeptiert werden von den Leuten. Irgendwie kann man das aber in einem freundschaftlichen Rahmen, im Rahmen eines Gespräches, kann man das aber schon durchsetzen. Irgendwie ist auch der Nachbar von neben, der äußerlich so als primitiv vielleicht sogar erscheint, ein Mensch, und man kann auch mit dem reden im Grunde, also man muß nur mehr eingehen auf die Leute und das irgendwie durchsetzen mit der Zeit. I: Kann es auch sein, daß gerade so diese Normen, Regeln verstärkt im Religiösen und dem Herum zu finden sind, also Bereiche, die sehr durch Tradition geprägt sind, daß dort eben einfach so traditionelle Werte und Grundhaltungen in ländlichen Regionen noch ganz verstärkt vorhanden sind, zumindest auf einer Seite, obwohl man auf der anderen Seite im Zuge der Modernisierungen usw. ja doch vorgibt, und es auch tatsächlich so ist, daß man auch am Land ein modernes und aufgeschlossenes Leben führt, dieses auch demonstriert. N: Ja, es ist sicher so, daß im ländlichen Bereich es viel schwieriger ist, mit neuen Vorstellungen zu kommen, und ich glaube, daß es das gewachsene Gefüge so schwer macht. In der Stadt ist das einfach ganz anders, weil im ländlichen Bereich werden kleinere Reibereien, können kleinere Reibereien noch irgendwie ausgelebt werden. In der Stadt muß es gewissen Regeln geben, gesellschaftliche Regeln, die, wo eben solche Sachen verhindert werden, größere Streitereien und so etwas. Also, das ist auch ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung der Anonymität in der Stadt, irgendwie. Ich glaube, daß Konflikte am Land schon ausgetragen werden, eben auf einer anderen Ebene, daß es nicht so emotional abläuft, einfach als Schutz der Gesellschaft irgendwie, damit das Ganze nicht zusammenbrechen kann. I: Aber wie schauen dann in so einem Dorf, wenn Probleme vorhanden sind, wie schauen da dann so typische Konfliktlösungen aus? Wie werden die dann gelöst, ich denke, da ist es doch eher so, nur nicht reden darüber usw., also eher eine verdeckte Konfliktlösung als eine offene. N: Ja, es läßt sich sicher nicht abstreiten, daß es in einem Dorf immer wieder Situationen gibt, also Leute gibt, die das vielleicht gar nie einsehen werden, die darauf beharren auf ihren Meinungen, die zu überzeugen, daß es auch anders geht, ist, natürlich ganz klar, nicht leicht. Nur, es stimmt schon, aber man könnte auch sagen, es gibt auch andere Menschen mit denen man redet, also alleine, nicht unter dem gesellschaftlichen Druck, der doch auch in einem Dorf vorhanden ist, daß man da dann auch solche Sachen besprechen kann. I: Was ist in einem ländlichen Lebensmilieu so ganz wichtig, um als ‘normal’ angesehen zu werden? Ich denke mir, es gibt eben Richtlinien, die eingehalten werden müssen? N: Ja, das stimmt schon. Es bildet sich eben so eine allgemeine Vorstellung in einem Dorf, die bildet sich wie eine Regel, wie eine Vorschrift, eine allgemeine Moral und Ethikvorstellung. So was hat in einem Dorf sicher einmal einen eher einfachen Charakter und das, ist auch das was man dann Inflexibilität nennen würde. I: Wie würde das dann konkret aussehen? Vielleicht an einem Beispiel? N: Ein Beispiel? Was ist ganz konkret wichtig? Ja, ah? Ja, es gibt gewisse politische, vielleicht politische ist jetzt vielleicht übertrieben, aber ideologische und religiöse Denkrichtungen, die eben total vorherrschen in einem Dorf, und da aus der Reihe zu tanzen ist eben, wenn man ein ruhiges Leben führen will, dann sollte man das vermeiden. D.h. z.B. bei uns ist der Katholizismus, ja und wenn man z.B. die Kirche meidet und irgendwelche andere religiöse Vorstellungen hat, sich dem hingibt, oder sich in der Hinsicht irgendwie von der katholischen Kirche abspaltet, dann kriegt man das auf jeden Fall zu spüren im Dorf. I: Wobei die Kirche aber auch allgemein, also so die Formen des Zusammenlebens prägt, also so im Sinne von traditionellen Einstellungen [-] 185 N: Ja, das ist in unserem Bereich sogar sehr so. I: Ich habe zu dem Punkt eine Studie gelesen, von Ilien und Jeggle, die in einem schwäbischen Dorf so verschiedene Punkte gefunden haben, nach denen sich Hierarchien, Machtstrukturen herausbilden. Ganz angesehen ist man, wenn man im traditionellen Erwerbssektor tätig ist, wenn man verheiratet ist, wenn man katholisch ist, wenn man Kinder hat. Ganz weit unten waren geschiedene, alleinstehende Frauen, Frauen mit Kindern, arbeitslose Männer, Protestanten usw. Wobei das religiöse Bekenntnis eben auch vertauscht hätte sein können. Wenn Du diese Gedanken auf Dein Dorf umlegst, glaubst Du, daß es da auch so Bewertungsmuster gibt? N: Da bin ich mir ziemlich sicher, ganz sicher, das klingt auch ziemlich einleuchtend irgendwie, da sind sicher Ähnlichkeiten zu dem Dorf hier vorhanden, man könnte eigentlich sagen ziemlich gleich sogar. I: Aber das sind dann doch so Bereiche, wo es doch für Jugendliche recht schwierig werden kann? N: Ja, auf jeden Fall. I: Ich denke mir, daß die ja gerade auf Grund ihrer Einstellungen, Interessen, solche Muster leichter durchschauen und auch in Frage stellen, weil es ja teilweise auch recht unehrlich ist: weil es kaum Bereiche gibt, die, wie so ländliche Regionen, ‘Modernisierungswellen’ nicht ausformuliert haben, aber doch demonstrieren - z.B. mit der vorhandenen Konsumbereitschaft - also wenn man kaufen kann, ist man modern. Also Symbole der Modernität werden sehr demonstrativ hergezeigt, Häuser sind in den 70ern gleich gebaut worden, gleicher Stil, gleiche Resopal - Einbauküche, trotzdem sind aber traditionelle Werte und Normen vorhanden. Wie wird so dieser Bereich von Jugendlichen durchschaut aufgrund der anderen Erfahrungen? Das ist jetzt sicher sehr überspitzt formuliert. N: Da stimmt sicher einiges. Ich kann aber nur für mich persönlich sagen, daß sich das bei mir so im emotionalen Bereich abgespielt hat, das Ganze. Ich habe z.B. eben ganz spezielle Interessen, da bin ich von Anfang an auf Widerstand gestoßen, es ist verlacht worden, nicht ernst genommen worden. Andererseits habe ich so das offensichtlich charakterlose Verhalten der Menschen gesehen, eben so das Konsumverhalten, und es gibt sicher noch einige andere Sachen, die einem auffallen können. Nur, ich kann nur von mir persönlich sagen, daß mich das vor allem emotional bedrückt hat, daß man da eine richtige Wut kriegen kann gegen solche Menschen, und ich finde aber, es ist aber eines von den Problemen, die es auf der Welt gibt, und die man überwinden muß können. Natürlich wäre das der Idealzustand wenn man etwas verändern könnte, aber das ist einfach verdammt schwer in dem Bereich. Das ist in der Stadt, wo sich alles mehr verläuft, eben eher egal, was man macht, hier ist das nicht so einfach. I: Vielleicht hier so zum Bereich Jugend. Was hast Du so für eine persönliche Definition von Jugend? Wie definierst Du diesen Lebensabschnitt? N: Jugend? Also das hat irgendwie so einen romantischen Anklang, also wenn man einmal davon ausgeht, daß das so der Zeitabschnitt des Teenagers ist, dann glaube ich, daß die Jugend der Zeitabschnitt ist, wo man mehr Halt braucht als in einer anderen Zeit. Also in der Kindheit hat man ein gewisses Selbstbewußtsein, man ist emotional nicht so verwirrt wie in der Jugend. In der Jugend ist man doch mit so vielen neuen Sachen konfrontiert, es kommen so viele Probleme hinzu, die man eigentlich schwer bewältigen kann und gerade da braucht man eigentlich den gewissen Halt, den man andererseits von den Eltern beziehen könnte, der aber andererseits auch abgelehnt wird, weil man einfach erwachsen wird und weil man das spürt, weil man dann die als Autoritätsperson sieht und sich dann grundsätzlich von den Eltern fernhält, emotional. So gesehen ist für mich die Jugend eine extrem problematische Zeit, finde ich, da gerade da, sollte von anderen Leuten ein Feingefühl der Jugend gegenüber gezeigt werden. I: In Zeitschriften, Artikeln heißt es immer wieder die Jugend, besonders jetzt in der Gegenwart, am Ende der 90er, ist haltlos, exponiert, zynisch, hedonistisch, konsumorientiert usw. Die Jugend ist die Generation der Widersprüche, was sagst Du zu diesen Kriterien? Wie weit kannst Du Dich mit solchen Identifizieren? 186 N: Man kann sagen, also wenn man Jugendliche rein äußerlich betrachtet, also so die Jugendkulturen, kann man eigentlich auf dieses Resultat hinkommen, aber sonst klingt das viel zu radikal und zwar deswegen, weil man vieles vergißt dabei. Da man einfach vergißt, daß man einfach in der Jugend viel weniger Halt hat und viel orientierungsloser ist, gerade da einfach das Verständnis bräuchte, und so grobe Zuschreibungen einfach nicht stimmen. [---] I: Du hast vorhin ‘Widersprüche’ innerhalb der Jugendlichen angedeutet. Kann es nicht auch so sein, daß diese Widersprüche nicht auch Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände sind? N: Ja, sicher spiegelt sich einiges bei den Jugendlichen wider, das von den Erwachsenen gelebt wird. Ich könnte jetzt kein Beispiel geben, aber ich glaube, es ist einfach die Konfrontation mit dem Erwachsenwerden, die heute problematisch ist. I: Wenn Du das jetzt überträgst auf Deine Jugendsituation im ländlichen Bereich: Wie erlebst Du so Dein Jungsein im ländlichen Raum, was gibt’s da für Möglichkeiten? Du hast gemeint, es gibt viele jugendkulturelle Ausformungen, wie weit kann man da seine Interessen verwirklichen? N: Ja, es ist natürlich so, was die Jugendgemeinschaft betrifft, ist es natürlich etwas problematischer, eigene Ideen oder andere Ideen zu verwirklichen. Aber man muß eben, wenn man im ländlichen Bereich aufwächst und eigene Ideen hat, individueller denkt, wenn man die eigene Jugend ausleben will, daß man dann einfach irgendwie sicherer wird wenn man das durchlebt hat. Es muß eine gewisse Selbstbehauptung da sein, ich glaube, im ländlichen Bereich erreicht man in der Hinsicht ein besseres Selbstbewußtsein, glaube ich. I: Wenn man das durchlebt? N: Wenn man das richtig durchgemacht hat, kann man fast sagen. I: Und was sind dann die Schwierigkeiten, gerade im ländlichen Raum, also wenn Du so den ländlichen Alltag im Hintergrund hast, mit seinen Normen und Regeln, die man einhalten sollte. Es ist ja so, daß gerade das Hinterfragen von Normen und Regeln den Lebensabschnitt Jugend prägt. N: Man kann eigentlich, also sehr früh ist man eigentlich noch gewillt, eher das Gleichgewicht zu finden zwischen der Sympathie zu den Menschen im ländlichen Bereich und zwischen der Einbringung der eigenen Ideen, irgendwann ist es dann schon anders, wenn man auf Unwillen stoßt, auf Taubheit irgendwie, auf Scheuklappen. Daß man dann irgendwann, ganz brutal, also einfach heraus schreit, was einen bedrückt irgendwie, das kann auch sein. Der Widerstand in einem selbst gegen das Rundherum wächst einfach auch immer mehr und ich glaube, das Beste ist einfach, wenn man das wirklich durchsetzt , man kommt irgendwann drauf, daß es auch Leute gibt, die einen verstehen wollen und irgendwann ist man dann auch erwachsen genug, und man sagt, gut, die verstehen es einfach nicht, die sind einfach zu blöd teilweise. I: Und was sind es dann für Leute die da eher mehr Verständnis zeigen für das, was ihr macht? Zeichnet die irgendwas aus, haben die selbst andere Erfahrungen gemacht? N: Es gibt sicher Menschen, eigentlich sind es eher noch jüngere Frauen, kann man sagen, die ein größeres Verständnis aufbringen, von der männlichen Seite ist es eigentlich am ärgsten, da irgendwie durchzukommen. I: Also, so in der etablierten ländlichen Männerwelt ist das schwerer? N: Ja, das kann man sagen. I: Wenn Du jetzt so anschaust, Möglichkeiten der Lebensgestaltung, vielleicht so im Freizeitbereich, welche Möglichkeiten hat man da, Freizeitinteressen auszuleben? Was macht man in seiner Freizeit? 187 N: Was macht man in seiner Freizeit? Mhm? Man kann, es gibt ein paar Gleichgesinnte, mit denen man etwas macht, mit denen kann man dann Musik hören oder sich einfach ein bißchen herumtreiben, kann man sagen und es ist dann irgendwie ein gewisser Reiz dabei, sich mit denen gegen das alles ein bißchen aufzulehnen. Das ist das Positive dabei, also das jugendliche Erleben, das da dabei ist, also das Lebensgefühl an sich, das ist es irgendwie, das wird dann noch ein bißchen verstärkt, indem man rebelliert sozusagen. Das ist der positive Aspekt der Freizeit im ländlichen Raum. I: Und gegen was rebelliert man dann? N: Man rebelliert eigentlich hauptsächlich gegen die alten und eingefahrenen Vorstellungen der Leute. Das wird eben sehr in die Freizeit eingebunden. I: Was gibt’s dann so an Angeboten, wo man die Freizeit verbringen kann? N: Na ja, man kann Sport betreiben auf jeden Fall. Es gibt in jedem Dorf einen Fußballplatz, in jedem dritten Dorf gibt es einen Tennisplatz kann man sagen, daß ist eigentlich ganz praktisch. Man kann da hauptsächlich auf Sport bezogen was machen, so geistige Sachen muß man eben zu Hause machen, im Freundeskreis oder so. I: Mhm, so die Möglichkeiten hinsichtlich eines Vereinsangebotes für die Freizeit? Wie sieht es da aus, welche Vereine gibt’s da dann konkret? N: Die Vereine im ländlichen Bereich, so für mich persönlich, spielen keine Rolle, weil sie mich einfach nicht interessieren. Es gibt da die katholischen Jugend und die Feuerwehr, also die ganzen Vereine sind irgendwie so geprägt, wenn sie unter dem Titel Jugendverein laufen, daß sie mich nicht interessieren, ich habe mich immer dagegen gestellt. I: Wie sind die geprägt? N: Ja, die zeigen einmal äußerlich Verständnis, die Feuerwehr sicher nicht, also zu den Sachen individuelleren Gedanken und so. Aber so die katholischen Vereine, da ist es offensichtlich, daß die einen Erziehungsgedanken dahinter haben, und der kann da nicht so akzeptiert werden von einem Jugendlichen. Da ist es schwer für einen Jugendlichen, weil der mit seinen Gedanken immer gegen eine Wand rennt oder eben oft. I: Vereinsmöglichkeiten sind für Dich überhaupt nicht relevant? N: Nein, überhaupt nicht. Für jemanden, der anders denkt, vielleicht. I: Wenn Du Dich mit Deinen Freunden triffst, irgendwann am Wochenende, und dann irgendwas spontan machen wollt, ist es dann möglich, das dann auch so vor Ort zu tun oder muß man da dann auch in Kauf nehmen, dafür weiter zu fahren? N: Ja, es ist eben so, daß es wirklich sehr wenige Treffpunkte gibt, wo man wirklich die interessanten Leute trifft, mit denen man über alles reden könnte zum Beispiel. So kann man sich, wenn im Dorf eine Veranstaltung ist, mit den Leuten im Dorf treffen, man kann da auch versuchen, Spaß zu haben, einfach sich zu amüsieren, das ist aber dann auch das Höchste. I: Ein wesentliches Kennzeichen Jugendlicher im ländlichen Raum ist ihre Mobilität, z.B. ein Teil der Freizeit geht dabei schon verloren, weil man irgendwo hinfährt, ständig auf der Suche ist, daß irgend etwas los ist. N: Ja, das stimmt sicher, also bei mir ist es auch so, ich muß auch wohin fahren am Wochenende. Ich muß wohin fahren, daß ich irgendjemanden treffe, mit dem ich mich gut unterhalten kann, also mit dem ich einen Spaß haben kann, da fahr ich auch so zehn, zwölf Kilometer. I: Also, es ist ja dann leichter, wenn man einen Führerschein hat und etwas machen kann? Für die, die jünger sind, heißt es sich was zu organisieren oder zu Hause vor Langeweile sterben? 188 N: Mhm, es ist ja so, daß die, die jünger sind, noch eher fröhlicher sind, noch mehr Lebensgeist haben, daß die das noch leichter aushalten daheim, sich mit irgendwelchen Leuten unterhalten oder so. Für die ist es noch leichter, ich glaube wenn man achtzehn ist, den Führerschein hat, wo es eben reeller wird, daß man weiter wohin fahren kann, daß man das dann auch dringender braucht. I: So der Bereich Berufe, Schule? N: Da muß man einfach in Kauf nehmen, daß man weiter fahren muß. I: Du machst jetzt dann die Matura, was heißt das für Dich? N: Es wäre so, daß ich irgendwas arbeite, Geld verdiene, dann geht das schon leichter, daß ich irgendwohin komme, so von wegen Benzin und so, das wäre die eine Möglichkeit, oder ich gehe eben nach Graz. In einer größeren Stadt kann man sein Leben eben leichter verwirklichen, wenn man Gleichgesinnte trifft. I: Glaubst Du, ist es für Schüler und Studenten schwieriger im ländlichen Raum so die Jugendphase zu durchleben bzw. wie sieht es für Lehrlinge aus, haben die andere Perspektiven und Erwartungen? N: Lehrlinge? Haben sicher andere Perspektiven, für die meisten, die ich kenne zählt eigentlich das Geldverdienen und es gibt eher wenige, die eigentlich wirklich was vorhaben für ihre Zukunft. Diejenigen versuchen eben einen gewissen Status zu erreichen und sich von dort weg eben zu entfalten, die sind aber eher die Minderheit. I: Kann es auch sein, das die Lehrlinge in der Wahrnehmung der Erwachsenen ganz anders gesehen werden als Schüler? N: Es kann vorkommen. Es besteht so eine gewisse Abneigung gegen Leute, die durch ihre geistigen Fähigkeiten, durch ihre Interessen dazu prädisponiert sind, z.B. Akademiker zu werden oder einen höheren Beruf anzugehen. Da besteht sicher eine gewisse Abneigung, einfach vielleicht aus einem gewissen Mißtrauen heraus, übertölpelt zu werden, aus dem Gefühl heraus, der hat studiert, der weiß das sicher besser, der will mir das jetzt klar machen, irgendwie. Das ist aber irgendwie ein Mangel an Selbstbewußtsein. I: Entsprechen Lehrlinge eher dem Erwachsenen - Image, von dem her vielleicht weniger Konflikte haben, eben weil sie schon Geld verdienen, so dem traditionelleren Bild entsprechen. N: Ja, genauso ist es eigentlich. Ich glaube, das traditionelle Bild ist irgendwie ein Vorwand, um die Gleichgesinnung zu propagieren irgendwie. Es heißt, wenn einer Lehrling ist, dann tanzt der nicht aus der Reihe, von dem hat man nichts zu befürchten. Man hat nicht zu befürchten, daß der sich einmischen könnte oder so, der kann den eigenen Vorstellungen nicht im Wege sein. I: So gesehen ist es für Lehrlinge dann leichter, Wurzeln zu fassen in der Dorfgemeinschaft? N: Das glaube ich schon. I: So zwischen Schülern und Lehrlingen, gibt’s da Kontakt zwischen den beiden Gruppen? Oder sind das eher zwei Gruppen? N: Auf jeder Seite ist es so, daß es einen Teil gibt, der einfach dumm ist, das muß man sagen, sowohl auf Seiten der Schüler als auch auf Seiten der Lehrlinge. Es gibt eben wenige, die zueinander Kontakt suchen, diesen auch aufrecht halten. Da gehöre ich auch dazu, ich verstehe mich prächtig mit vielen Lehrlingen, die sind auch total super. I: Da spielen aber auch sicher viele Vorurteile eine Rolle [-] N: Sicher, aber für mich und einige andere spielt das eben keine Rolle. Weil es mir egal ist, was der ist, wenn ich einen emotionalen Bezug dazu habe. 189 I: Für Schüler und Studenten kann es sein, nicht nur weil sie ein geringes Berufsangebot vorfinden, sondern auch weil dieses Mißtrauen ‘Schüler leisten nichts’ dazu führt, daß man leichter weggeht [-] N: Auf jeden Fall ist ein gewisses Unverständnis da, ein Unwille, eben die Leute so zu nehmen, wie sie sind, auch solche, die studieren, die andere Ideen haben, da wird es natürlich auch leichter, dorthin zu gehen, wo man Gleichgesinnte hat. I: Die Veränderung ländlicher Lebensregionen hat auch damit zu tun, daß die Leute vermehrt höhere Schulen in Anspruch nehmen, von dem her dann auch Jugendliche da sind die den Lebensraum einfach kritischer sehen. Gerade Jugendliche die eben in der Stadt zur Schule gehen, im Dorf am Wochenende sind, daß die eben in einer Zwischenwelt aufwachsen, daß die ganz verstärkt das Lebensmilieu durchdringen, es auch leichter durchschauen. N: Mhm, auf jeden Fall glaube ich, daß Leute, die eine akademische Zukunft von sich erwarten und es auch machen wollen, daß sie, wenn sie am Land aufwachsen, auf jeden Fall einen starken Bezug zum Land haben, sie sehen aber beide Seiten dann, irgendwo erkennen sie aber die gesellschaftliche Atmosphäre, die Wärme, die im ländlichen Bereich vorhanden ist, der Bezug zur Natur, zu ihren ländlichen Wurzeln ist stark da, daß sie dann auch irgendwann zurückkommen, daß sie sich auch durchsetzen gegen andere, primitivere Gedanken, daß sie es dann auch schaffen Harmonie einzubringen, weil sie erwachsener sind, Harmonie schaffen zwischen solchen die andere Ideen schwer akzeptieren können und solchen, die andere Ideen haben, so was muß langsam den ländlichen Raum durchdringen, das ist ganz gut. I: Wenn Du jetzt so die Möglichkeit hättest, das Jungsein im ländlichen Raum zu verändern, zu verbessern, was wäre für Dich da so ganz wichtig? N: Wichtig wäre vor allem, das Augenmerk weniger auf die berufliche Situation zu verlegen, auf das Geld verdienen, auf die berufliche Zukunft. Ich glaube, man muß viel mehr Wert legen auf das Zusammenleben, auf das Verständnis. Man muß vor allem die Regungen fördern, die Gemeinschaft zum Ziel haben, also solche Gedanken, die sich einfach über berufliche und gesellschaftliche Gedanken hinwegsetzen und die einfach emotional verbinden, die muß man fördern glaube ich. I: Und so die Situation für Jugendliche, es ist eventuell sehr schwierig, in einem ländlichen Bereich als Jugendlicher etwas durchzusetzen. Müßten da vielleicht die Erwachsenen den Jugendlichen, dem Verhältnis mehr Augenmerk schenken? Es ist so, daß es in vielen Gemeinden nicht gelingt, der Jugend das richtige Augenmerk zu verleihen, wenn, dann erst dann, wenn es darum geht, Wohnbaukredite zu bekommen, um junge Familien zu bekommen. Es gibt Gebiete, wo nichts geboten wird für Jugendliche. N: Ja, das ist schon so. Also ich muß aber sagen, eigentlich ist es fast ein Ding der Unmöglichkeit, sich als Jugendlicher da durchzusetzen. Wir haben z.B. die Idee gehabt, eine aus dem Dorf und ich, daß wir eine Gemeindezeitung machen und andere Gedanken rein bringen und so, alles ein bißchen bunter zu machen, und ja, ich muß sagen, wir sind auf Widerstand gestoßen, massivsten. I: Wer war das? Wer hat den Widerstand hervorgebracht? N: Das sind einfach die Leute, ja es sind einfach die gesellschaftlichen Spitzen, es sind die, die im Establishment an oberster Stelle stehen. Natürlich wenn man das so betrachtet, wie jetzt, sieht man wo da der Wurm drinnen ist und von der Seite her müßte man eben einen Kleinkrieg riskieren. I: Aber es müßte doch interessant sein, so wenn ich Bürgermeister bin, daß es Jugendliche gibt, die sich engagieren? N: Ja, ich glaube aber, die Bürgermeister in ländlichen Regionen interessieren sich einfach nur für das Althergebrachte und die wollen das konservieren. Die schauen auf sich selbst auf das, was die Leute sagen, die wollen da sicher nichts riskieren, einfach aus dem Grund, weil sie keinen persönlichen Nutzen in den Veränderungen sehen. Die denken ich möchte Bürgermeister sein und eben der große Macher in dem Dorf. 190 I: Aber die Regionen kämpfen damit, daß die Jugend reihenweise davon geht. N: Ja, das ist eben ein Beweis dafür, daß eben die Verantwortlichen vieles nicht bedenken. Ich meine, wenn ich Bürgermeister wäre, was nicht so leicht ist, weil ich dem Gesellschaftsbild nicht entspreche, wenn ich es wäre, würde ich versuchen, die Jungen einzubinden. Es kommt aber immer darauf an, ob der (Bürgermeister) mehr auf die Gesellschaft Wert legt, auf seine Stellung oder mehr auf die weite Sicht, also auch an die Zukunft denkt, oder tiefer denkt einfach. I: Für Dich so nach der Matura? Hast Du vor, dann wegzugehen? N: Ja, eigentlich schon. Es ist so, daß ich schon lange einen Ortswechsel bräuchte, das ist aber eher eine persönliche Angelegenheit, daß ich einfach schon, daß mich eben andere Länder interessieren. Wenn ich wohin gehe, ins Ausland gehe werde ich, weil ich schon mehrere Male im Ausland war, nach Skandinavien gehen. Aber eben woanders hin in Europa, ich muß das einfach auch sehen, ich kann nicht ewig da bleiben. I: Hast Du vielleicht einen Abschlußsatz? Zum Thema etwas das ich vergessen habe? N: Ja, ich glaube, daß es grundsätzlich schwierig ist für Jugendliche, sich zurechtzufinden im ländlichen Raum, oder sich gegen diese konservativen Strömungen zu behaupten und ich glaube, daß es das wichtigste ist, die Jugend mit allen ihren Nuancen zu durchleben, auch im ländlichen Bereich. Erfahrungen zu sammeln, irgendwann zu versuchen, sich geistig auf eine gewisse Ebene hin zu entwickeln und dann, wenn man selbst stabil genug ist, dann wirklich zu versuchen, Harmonie zu schaffen da zwischen den Menschen, weil geistig verstehen sich die wenigsten kann man sagen und [-] I: Was ist das Geistige? N: Eben das Individuelle, das Politische eben. Auf der emotionalen Ebene ist es aber möglich, Harmonie zu schaffen zwischen den Leuten. I: Ist Land jetzt für Dich Ressource oder Defizit für Dein Jungsein? N: Für mich persönlich? Also ich muß sagen ich möchte keine Minute missen von der Zeit da, in der ich Jugendlicher bin, keine Minute und keine Sekunde. Allgemein sehe ich das eher positiv. I: Danke für das Interview! 191 • Exemplarische Darstellung der Auswertung nach Mayring Fall B N 105 Nr. 3 20 Paraphrase so 2000 Einwohner oder so irgend etwas, kleine Dörfer, der ganze Bezirk ist für mich Land, die Leute sind ziemlich einfach, denken einfach, und wollen keine Veränderungen in ihrem Leben, alles soll so bleiben wie es war, die Jugend hat so ziemlich keine Chancen Land als Lebensraum ist in erster Linie Natur, ich bin ein sehr natürlicher Mensch, habe starken Bezug zur Natur, bin oft im Freien, genieße es, durch den Wald zu gehen Generalisierung kleine Dörfer mit wenigen Einwohnern, einfache Leute, einfaches Denken, wenig Veränderungen, keine Chancen für die Jugend, Land als Lebensraum ist Natur, Reduktion Allgemeine Wahrnehmung des ländlichen Raumes hinsichtlich der Eingangsfrage: • • • • 11 256 also einmal schnell leben, alles schnell irgendwie, also Freundschaften und so sind schwierig und kompliziert, B 11 258 meine es stimmt schon, daß die Jugend sich nicht mehr so gerne berühren läßt mit Sachen, überhaupt Persönliches so von allen Bereichen, Familie, Freund, Freundinnen, so wenig als möglich berühren lassen Jugend läßt sich nicht gerne von persönlichen Sachen berühren, in der Erwachsenengesellschaft gibt es alle Widersprüche, dann spiegelt das bei der Jugend auch so, eine Gegenreaktion oder so Widersprüche der Erwachsenengesellschaft spiegeln sich in der Jugend, • Jugendkulturen als Gegenreaktion, • Berufsaussichten sind von Eltern noch beeinflußt worden, das ist heute überhaupt nicht so, Elterngeneration in Entscheidungen noch von Eltern beeinflußt worden, Gegenwart Jugend freier, • Jugend hat so einen Jugend hat romantischen • B N 11 12 108 259 260 313 kleine Dörfer, Kleinstädte, wenig Veränderungen, Jugend keine Chancen Lebensraum Natur habe sehr starken Bezug zur Natur, B B * Seite 12* Begriffsdefinition Jugend: • Jugend: schnellebig, kompliziert, schwierig, • Jugend: läßt sich nicht gerne von Persönlichem berühren, sich vom Freundes- und Familienkreis so wenig als möglich berühren lassen, • Gesellschaft: Widersprüche zeigen sich in Jugend Jugendkultur Gegenreaktion, Eltern: noch Beeinflussung in Jugend Jetzt ist Jugend freier Jugend: Seitenzahlen und Zeilennummern beziehen sich auf die Angaben in der Gesamtauswertung 192 romantischen Anklang, vor allem so der Zeitabschnitt, des Teenagers, es ist ein Zeitabschnitt wo man mehr Halt braucht, man hat nicht mehr das Selbstbewußtsein wie in der Kindheit, man ist emotional verwirrt, man ist mit vielen neuen Sachen konfrontiert, es kommen so viele Probleme, die man eigentlich nur schwer bewältigen kann, gerade da braucht man den Halt, den könnte man von den Eltern beziehen, lehnt es aber ab, weil man einfache erwachsen wird und die als Autoritätsperson sieht, sich dann grundsätzlich emotional von den Eltern fernhält, Anklang, wenn man Jugend als Zeitabschnitt des Teenagers sieht, romantisch ‘Teenager’ Zeitabschnitt, wo man mehr Halt braucht, Selbstbewußtsein der Kindheit ist nicht vorhanden, emotional verwirrt, • Jugend: mehr Halt emotional verwirrt, weniger Selbstbewußtsein Konfrontation mit neuen Eindrücken, Problemen, schwer zu bewältigen kann, • Halt von den Eltern könnte man brauchen, wird aber abgelehnt, weil Erwachsene als Autoritätsperson gesehen werden, • grundsätzliche emotionale Fernhaltung von Eltern, • N 108 314 N 108 315 N 108 316 N 108 317 ist eine extrem problematische Zeit, gerade da sollte von anderen Leuten ein Feingefühl gegenüber der Jugend gezeigt werden wenn man Jugendliche rein äußerlich betrachtet, also die Jugendkulturen, ist es zu radikal, weil man vieles vergißt, man hat einfach weniger Halt, ist orientierungsloser , man braucht Verständnis Gesellschaft spiegelt sich in Jugendlichen wider, Konfrontation mit dem Erwachsen werden, das ist heute problematischer extrem problematische Zeit, • Feingefühl von anderen Leuten sollte gezeigt werden, • • weniger Halt, orientierungsloser und braucht Verständnis, • • • Konfrontation mit Vielzahl von Neuem und Problemen, Halt von Autoritätspersonen wird einerseits abgelehnt und andererseits gebraucht, emotionale Fernhaltung von Eltern als Grundsatz, Jugend: extrem problematische Zeit, Feingefühl von anderen Leuten fehlt, Reduzierung auf äußerliches Erscheinungsbild erfaßt Jugend nicht vollständig, Jugend: orientierungslos braucht Verständnis, Jugend: spiegelt Gesellschaft Erwachsen werden schwierig 193 K1: Wahrnehmung des dörflichen Alltages mit spezifischen Mustern ländlicher Lebenswelten: B B B B B 194 12 12 12 14 14 34 35 36 37 38 die ältere Generation ist halt schon so, in meinem Dorf sind sicher über 50% 50 oder 60 Jahre alt, die wollen keine Konflikte, die wollen sich nicht mehr verändern, die brauchen das nicht mehr so, Großteil der Bewohner über • 50 Jahre alt, wollen Traditionelles erhalten, Konflikte und Veränderungen sind zu vermeiden, • ich bin selber nicht in der Dorfgemeinschaft da drinnen, es interessiert mich einfach nicht, es ist alles so scheinheilig, nicht integriert in Dorfgemeinschaft, kein Interesse, empfinde sie als sehr unehrlich, • die helfen sich zwar die ganze Zeit immer, aber die gehen immer auf irgend jemanden los, es heißt zwar immer, es ist so schön, wenn man keine Anonymität hat, manchmal ist es dann schon so, wenn man jemanden nicht grüßt, weiß das am nächsten Tag das ganze Dorf, Hilfe ist zwar gegenseitig immer vorhanden, • Hilfe gegenseitig vorhanden, trotzdem sind Konflikte vorhanden, • jemanden nicht grüßen kann als Verstoß gegen die Dorfregeln gelten, • Konflikte permanent vorhanden aber nicht ausgesprochen keine Anonymität • Sanktion: jemand grüßt nicht, am Land muß man drinnen sein, wenn man sich von der Gesellschaft irgendwie abwendet, über die wird dann halt viel geredet, es ist wichtig, daß man drinnen ist, wer nicht drinnen ist, ist sowieso irgendwie unten durch, Integration, „drinnen sein“ ist am Land wichtig, um zu vermeiden, daß über einen geredet wird, • Integriert zu sein ist notwendig, um im Dorf leben zu können, man muß mit den Leuten fortgehen, also sich treffen, da sind so Dorffeste und Veranstaltungen, wenn man da hingeht und mit den Leuten redet, und nicht in irgendeiner Ecke sitzt, oder so teilnehmen an dem, was da passiert, mit den Leuten Kontakt halten, an Veranstaltungen teilnehmen, mit den Leuten reden, aktiv teilnehmen, sich nicht abwenden ist wichtig für die Integration, • wichtig für Integration: Kontakt zu Leuten, Aktive Teilnahme am Dorfgeschehen, • Anonymität nicht vorhanden, viele Bewohner sind über 50 Jahre alt Konflikte und Veränderungen vermeiden DG nicht integriert, DG wird als unehrlich empfunden nicht „drinnen sein“ bedeutet unten durch zu sein, • • B 14 39 B 14 41 B 14 42 B 14 42 B 13 43 B 13 44 B 14 45 B B 13 18 47 48 auch den Einblick ins Privatleben geben, es muß einfach alles stimmen zwischen den Leuten, man kann nicht einfach daherkommen und einfach irgend etwas meinen, man muß politisch richtig sein, wichtig ist die Stellung der Frau irgendwo unter dem Mann, vor allem die alten Leute sehen das so, bei den jüngeren ist das nicht mehr so kraß, aber so ganz wird es sich nicht ändern Einblick ins Privatleben wichtig Basis zwischen den Leuten muß stimmen, • • Meinungen, [politisch ect.] müssen abgestimmt sein,[auf dörflichen Kontext] Stellung der Frau der des • Mannes zugeordnet, vor allem die Älteren sehen • den Status der Frau noch so, für Jüngere nicht mehr so von Bedeutung, • Normalität Erwachsenenwelt - richtet sich nach: Beruf Freund [Beziehung ] Aussehen [nicht zu ausgeflippt und auffällig] Normal ist eine Wohnung, Wohnung [Eigenheim] ein bestimmtes Alter haben, Alter unter 16 wirst du sowieso als Kind angesehen, in die Erwachsenenwelt Erwachsenenwelt lebt mit hineinzukommen ist eigenen Ansichten, sowieso schwierig, so mit Akzeptanz erst mit den Ansichten akzeptieren bestimmtem Alter die sich sicher nie, wenn du neue Ansichten schwer uralt bist, so mit 30, dann akzeptiert schon, Geld zu haben ist einmal Geld - materielle Werte sind wichtig, später einmal eine wichtig, eigene Wohnung und Kinder Eigenheim und Kinder und so irgendwie, [Akzeptanz] ein Beruf einmal, wir Berufsausübung höher Schüler wissen nicht bewertet als der Status des einmal, ob wir überhaupt Schülers, einmal einen Beruf kriegen, Schüler ungewisse Zukunft wenn, sicher einmal mit 25 Berufsausübung ist nicht klar oder so, daß ist dann auch ersichtlich , vor allem erst nicht sicher, spät erwartbar, • es gibt einmal das Bauerndorf, ganz was eigenes, die creme de la creme, die Oberschicht, die führen sich auf, das ist Tradition, das war schon immer so, ändert sich nicht so schnell, das sind die, die • Normal ist, wenn man einen Beruf hat, dann einen Freund, dann ein normales Aussehen, normal anziehen, keine ausgeflippten Haare, traditionelles Bauerndorf [Landwirtschaftliche Produktion] ist die Oberschicht des Dorfes, wird sich nicht so schnell ändern, bestimmen das politische Geschehen • • • • • • • • • • Privatleben nicht verschließen Basis ‘politische Meinungen, religiöse Haltungen ect.’ auf dörflichen Kontext abstimmen Bereich Partnerschaft: Frauen sind den Männern zugeordnet, Sichtweise von jüngeren teilweise durchbrochen Status richtet sich nach: Beruf Beziehungen Aussehen Eigenheim bestimmtes Alter Familie respektive Kinder Erwachsenenwelt eigene Strukturen und Richtlinien materieller Status ist von Bedeutung, Berufsausübung höheren Stellenwert als Tätigkeit von Schüler Schülern ungewisse Zukunft traditionelles Bauerndorf stellt Oberschicht, bestimmt das politische Geschehen der Dörfer, 195 B 18 50 politisch auch mitreden da gibt es die normalen Leute, die nur am Wochenende da sind, die unter der Woche arbeiten, die Pendler, die sind da nicht richtig drinnen, die sind so mehr mit der Familie, Dorfgemeinschaft ist einfach ein langzeitig gewachsener, sehr enger Gesellschaftsbereich, kann man nicht nur negativ sehen, was die Individualität betrifft, gibt es sicher einen Mangel, eine gewisse Inflexibilität könnte man sagen, natürlich gibt es in einem Dorf Haß und Streit, da kommt es eben viel stärker zum Vorschein, weil einfach keine Anonymität ist, ‘normalen Leute’, die nur am Wochenende im Dorf sind, also Pendler nicht so im Dorf integriert, stärkere Familienorientierung als das andere Dorf, • DG langzeitig gewachsener Gemeinschaftsbereich, • DG: langzeitig gewachsener Gemeinschaftsbe reich, Individualität ist mangelhaft, wenig flexibel gehandhabt, • Individualität hat wenig Platz Differenzen der Bewohner kommen stärker zum Vorschein, weil es keine Anonymität gibt, • Differenzen sind deswegen so stark, weil keine Anonymität gewährleistet werden kann, Kontaktdichte löst Konfrontationen aus N 105 183 N 105 184 N 105 185 N 105 186 man sieht sich ständig und ständiger Kontakt ruft da ist es auch schwerer, die ständige Konfrontationen Verhältnisse zu wahren, hervor, N 106 187 in einem freundschaftlichen Rahmen eines Gespräches kann man das aber schon durchsetzen, der Nachbar von nebenan, der äußerlich so primitiv erscheint ist ein Mensch, mit dem man gut reden kann, man muß mehr eingehen auf die Leute, Konfliktlösung ist eher verdeckt, gibt Leute, die es vielleicht gar nie einsehen werden, die darauf beharren, auf ihre Meinung, die zu überzeugen, daß es auch anders gehen kann ist nicht leicht, wenn man mit jemandem redet, wo kein gesellschaftlicher Druck des Dorfes vorhanden ist, kann man leichter Sachen besprechen, Regeln sind sicher vorhanden, unausgesprochen, glaube aber man kann sie N 106 188 N 106 189 N 106 190 N 105 191 196 freundschaftlicher Rahmen läßt es zu, auch mit dem Nachbarn Probleme zu diskutieren, man muß sich Zeit nehmen um die Leute zu verstehen, • • Pendler - sind nicht so sehr in DG integriert, Familienorientierung • Konfliktlösung im freundschaftliche n Rahmen, abseits des gesellschaftliche n Drucks, Konfliktlösung ist eher versteckt, • verdeckte Konfliktlösung es gibt Leute, die am Traditionellen verharren und ihre Meinungen nicht so schnell ändern, • Verharren in traditionellen Meinungen verhindert Veränderungen, • werden Regeln durchbrochen, ist Akzeptanz möglich in Gesprächen abseits des gesellschaftlichen Drucks ist es möglich, Probleme zu diskutieren, Regeln sind unausgesprochenerweise vorhanden, durchbricht man sie einmal, N 107 192 N 107 193 durchbrechen, man wird akzeptiert wenn man das gemacht hat, geht aber nicht so schnell, wenn man spezielle Interessen hat, stößt man auf Widerstand, wird verlacht, nicht ernst genommen, dann sieht man Leute mit ihrem Konsumverhalten, wie sie das Traditionelle damit umgehen, das charakterlose Verhalten der Menschen und einige andere Sachen die einem auffallen können, hat man die Möglichkeit, akzeptiert zu werden, mit speziellen, abweichenden • Interessen stößt man auf Widerstand, Desinteresse, mit dem Konsumverhalten wird versucht, das Traditionelle zu umgehen, • das charakterlose Verhalten der Menschen und andere Sachen fallen einem aber trotzdem auf, emotional kann das bedrücken, empfinde Wut dabei, • • • • • spezielle Interessen lösen Widerstand und Desinteresse aus, Konsumverhalten soll das Traditionelle umgehen, Verhalten bleibt gleich, N 108 194 das kann emotional bedrücken, da kann man eine richtige Wut bekommen N 106 195 Tradition häufig im Bereich Religion und Familie, N 107 196 N 105 197 Tradition ist hauptsächlich die Religiosität der Menschen, die Kirche prägt das Zusammenleben der Menschen, wenn man irgendwie andersgläubig ist, irgendwie anderer Gesinnung ist, wird man schwer akzeptiert von den Menschen, anderer Glauben oder Meinung wird schwer akzeptiert, • bestimmte politische, religiöse Denkrichtungen sind vorherrschend es gibt politische, ideologische und religiöse Denkrichtungen, die eben total vorherrschen in einem Dorf, wenn man ein ruhiges Leben führen will, darf man da nicht aus der Reihe tanzen, das sollte man vermeiden, bei uns der Katholizismus, wenn man die Kirche meidet, sich irgendwelchen anderen religiösen Vorstellungen hingibt, kriegt man das auf jeden Fall zu spüren im Dorf, eine allgemeine Vorstellung wie eine Regel, wie eine Vorschrift, eine allgemeine Moral und Ethikvorstellung, sowas hat einfachen Charakter und ist das, was bestimmte politische, religiöse Denkrichtungen herrschen vor, • Leben ohne Konflikte heißt sich den Meinungen anschließen, Katholizismus ist wichtig, • andere religiöse Vorstellungen werden im Dorf nicht ohne weiteres akzeptiert, Region: Katholizismus, N 107 198 N 107 199 N 107 200 Verhalten kann Wut und emotionale Bedrückung hervorrufen, Tradition Familie Religion Kirche prägt das Zusammenleben, will man ein ruhiges Leben führen, sollte man nicht aus der Reihe tanzen. im Dorf bildet sich eine allgemeine Vorstellung, Regel, Moral und Ethikvorstellung bezüglich des Zusammenlebens heraus, • Dorf: allgemeine Vorstellung, Regel, Moral und Ethikvorstellung bezüglich des Zusammenlebens 197 man dann Inflexibilität nennt das bildet den Charakter, der Inflexibilität des Dorfes, N N 107 105 201 248 N 106 250 N 108 251 N 108 252 198 wichtig ist, wenn man in einem traditionellen Erwerbssektor arbeitet, ein gewisses Alter hat, katholisch ist, Kinder hat, ist man normal, verdächtig ist jemand der ledig ist, ein Kind hat, wo nicht genau klar ist was der macht, nicht katholisch ist, es ist halt für die Leute nicht so einfach, sich da umzustellen, wenn da neue Einflüsse sind, wenn da was Fremdes kommt, es erinnert irgendwie an eine Familie, wenn da jemand dazu kommt, es ist schwierig, mit neuen Sachen zu kommen, weil es ein so gewachsenes Gefüge ist, es wäre der Idealzustand, wenn man etwas verändern könnte, aber es ist schwer in dem Bereich, hier ist es nicht so einfach, Veränderungen machen sich vor allem im emotionalen Bereich bemerkbar, wenn man spezielle Interessen hat, stößt man auf Widerstand, wird verlacht, nicht ernst genommen, dann sieht man Leute mit ihrem Konsumverhalten, das kann einen emotional bedrücken, da kann man eine richtige Wut bekommen. wichtig ist in der Landwirtschaft zu arbeiten, ein bestimmtes Alter zu haben, katholisch zu sein, Kinder zu haben, negativ: ledig, Kinder, unklarer Beruf, nicht Katholisch, Umstellung auf neue Einflüsse geschieht langsamer, • • • • • • , prägend für das Dorfes Arbeit in der Landwirtschaft, bestimmtes Alter Religion Familie Kinder K2: Wahrnehmung von Brüchen und Widersprüchen im ländlichen Alltag: Neues ist ungewohnt, • Neues muß erst in ein gewachsenes Gefüge integriert werden • Langsame Umstellung auf Neues Neues muß erst in gewachsenes Gefüge integriert werden Veränderungen wären wünschenswert, aber sehr schwer durchzuführen, Veränderungen machen sich im emotionalen Bereich bemerkbar, • spezielle Interessen stoßen auf Widerstand, man wird nicht ernst genommen, • Konsumverhalten drückt die Veränderung aus, kann emotional bedrücken, Wut kann entstehen • Veränderungen im emotionalen Bereich bemerkbar spezielle Interessen stoßen auf Widerstand Konsumverhalten drückt Veränderungen aus K3: Möglichkeiten der individuellen Lebenslage und bewältigung: B 20 326 B 21 327 B 16 328 B 17 329 B 17 330 B 17 331 B 17 332 B 15 333 B 16 334 wenn du in einem Kaff wohnst, wo nichts ist, ist es eben schwieriger, es gibt eben zwei Möglichkeiten für Jugendliche, entweder weggehen oder dableiben, das entscheidet, wie man sich entwickelt, wenn man sagt, man bleibt da als Lehrling, ist man gleich anders, also vom Sozialen, vom Rundherum irgendwie, man wächst irgendwie auch anders auf, in der Freizeit kann man nichts machen, na ja man kann sporteln, ich treffe Freunde und wir gehen ein bißchen fort , kleine Dörfer bieten wenig für Jugendliche, • wenig Angebot für Jugendliche, Jugendliche haben die Möglichkeit, zu bleiben oder zu gehen, Entscheidung fällt sehr früh, • Möglichkeit zu bleiben oder zu gehen, Entscheidung fällt nach Pflichtschule, Lebensbedingungen verändern sich, Lehrlinge bleiben eher, • Lehrlinge bleiben eher, Aufwachsbedingungen verändern sich, • Freizeit bietet im sportlichen Bereich mehr Möglichkeiten, • Freunde treffen und weggehen, • wir treffen uns nach der Schule, gehen in der Ballzeit auf Bälle, es gibt solche für Jugendliche, aber es ist ein ziemlich geringes Angebot, aber da sind immer Leute Treffpunkt nach der Schule, Ballzeit bietet Möglichkeiten, • spontan kann man nie was machen, wir müssen immer organisieren wegen dem Fahren, unter der Woche haben die Schüler einen Lernstreß, da geht sowieso nichts, es ist sowieso so, daß wir dann fertig sind mit der Schule, ich kenne keinen Schüler, der sagen würde, daß er dableiben will nach der Schule, wollen alle nur weggehen, schauen, daß wir die Jahre irgendwie runterdrehen bis zur Matura runter und dann weg, Matura ist so, endlich raus und weg, kaum spontane Unternehmungen Freizeitaktivitäten müssen organisiert werden Schüler sind unter der Woche mit der Schule beschäftigt, Schüler tendieren eher dazu, nach der Schule die Region zu verlassen, wenn man Karriere machen will, etwas weiterbringen Karrierewünsche können in der Umgebung aus der Sicht • Angebot generell gering, man trifft immer die selben Leute, • • • • Sport als Freizeitmöglichke it, mit Freunden Freizeit verbringen, Schule Treffpunkt, Winter Ballzeit Möglichkeit FZ zu gestalten, geringes Angebot, immer selben Leute spontane Unternehmungen selten FZ organisieren, Schule dominiert Woche, • Weggehen nach Schule • Matura Möglichkeit Region zu verlassen, • berufliche Wünsche in der Jahre bis zur Matura werden ‘irgendwie runtergedreht’ Matura ist eine Möglichkeit, die Region zu verlassen, 199 will, ist da nichts, B 19 335 B 17 336 B 17 337 N 108 435 N 109 436 N 110 440 N 110 441 N 200 111 442 der Schülerin kaum umgesetzt werden, Matura und dann weg, das Matura als Möglichkeit, die ist einmal gut, in der Stadt Region zu verlassen, ein neues Leben aufbauen, in der Stadt ein neues Leben weg vom Dorf, aufzubauen, manche haben schon den ohne Führerschein (= Mopedführerschein, den Mobilität) ist man sehr Führerschein haben aber die abgängig, wenigsten, nicht so das Geld dazu, müssen uns immer irgendwohin bringen mangelnde Mobilität ist ein lasse, das ist dann ein Problem, Problem Führerschein ist schon wichtig, obwohl wir gehen dann ‘eh fort mit achtzehn, machen werden wir ihn schon, aber es ist nicht mehr so, wie wenn man ihn mit sechzehn machen könnte, das wäre es besser was die Jugendgemeinschaft betrifft, ist es natürlich etwas problematischer, eigene Ideen oder andere Ideen zu verwirklichen, wenn man im ländlichen Bereich aufwächst und eigene Ideen hat, individueller denkt, muß man das ausleben, man wird dann einfach irgendwie sicherer, wenn man das durchlebt hat, aber eine gewisse Selbstbehauptung ist wichtig um das zu schaffen, wenn man jemanden treffen, will muß man am Wochenende wohin fahren, ich fahr sicher so zehn, zwölf Kilometer, die Jüngeren sind noch eher fröhlich, haben noch mehr Lebensgeist, sie halten es noch leichter aus daheim, unterhalten sich mit irgendwelchen Leuten und so, wenn man achtzehn ist, wo es realer wird, daß man weiter wohin fahren kann, braucht man das dringend, man muß in Kauf nehmen, • Region nicht erfüllbar, nach Matura in der Stadt neues Leben aufbauen, • Führerschein Symbol für Mobilität, • Problem mangelnde Mobilität, • mit sechzehn wäre Führerschein schon optimal, problematischer, eigene Ideen und Interessen zu verwirklichen, • schwierig eigene Ideen/Interessen zu verwirklichen, wenn man eigene Ideen durchlebt, erlangt man Selbstsicherheit, • Ausleben der Ideen schafft Selbstsicherheit • Selbstvertrauen ist notwendig (Ausleben der Konflikte) wenn man jemanden treffen, will muß man fahren, • Mobilität in der Freizeit, Jüngere halten es noch leichter aus, können sich noch leichter mit den Leuten verstehen, • Jüngere arrangieren sich leichter mit Bedingungen im Ort, • Ältere: regionale Ausrichtung, Mobilität Führerschein ist wichtig, werden ihn machen, obwohl Schüler mit achtzehn weggehen werden, mit sechzehn wäre Führerschein wichtiger, wenn man älter ist, muß man wohin fahren, • daß man weiter fahren muß, notwendig 201 N N 202 113 113 438 439 grundsätzlich ist es für Jugendliche schwierig, sich zurecht zu finden im ländlichen Raum, sich gegen die konservativen Strömungen zu behaupten und ich glaube, daß es das Wichtigste ist, die Jugend mit allen Nuancen zu durchleben, auch im ländlichen Bereich, Erfahrungen zu sammeln, sich geistig zu entwickeln, wenn man stabil genug ist, kann man versuchen Harmonie zu schaffen da zwischen den Menschen, geistig verstehen sich die wenigsten, kann man sagen, für Jugendliche ist es am Land schwieriger, weil viele ‘konservative Strömungen’ vorhanden sind, möchte keine Minute missen von der Zeit, in der ich Jugendlicher bin, keine Minute und keine Sekunde, allgemein sehe ich das positiv, sehe es im allgemeinen positiv, möchte keine Minute missen, • Jungsein vs. konservative Strömungen • Jungseins mit allen Nuancen durchleben Erfahrungen sammel, sich entwickeln und versuchen, Veränderungen zu erwirken, Jugend mit alles Nuancen durchleben, • man muß auch im ländlichen Bereich Erfahrungen sammeln, sich geistig entwickeln, wenn man stabil ist, soll man versuchen, zwischen den Menschen Harmonie zu schaffen, • Jungsein am Land im allgemeinen positiv, 10. 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