12/Evolutionsmedizin (Page 198)

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Wissenschaft
EVOLUTION
Zweibeiner mit wehem Rücken
AKG
Weshalb wird der Mensch krank? Warum hat die Evolution über die Jahrmillionen nicht
alle Gene ausgemustert, die den Menschen quälen oder gar töten? In einem neuen Buch spüren
zwei US-Forscher nach dem evolutionären Hintersinn von Krankheit und Leiden.
Von der Jagd heimkehrende Steinzeitmenschen: Gene aus ferner Zeit bereiten den Menschen Pein
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Aus all diesem Leid zieht der Mensch
augenscheinlich keinen Vorteil im Überlebenskampf – warum also hat die Evolution
diese genetischen Mängel nicht schon vor
Äonen beseitigt?
Zwei amerikanische Forscher wollen diese Rätsel lösen. Der Mediziner Randolph
Nesse und der Evolutionsbiologe George
Williams, die beiden Begründer eines erkenntnisreichen Faches namens darwinistische Medizin, spüren dem evolutionären
Hintersinn der Krankheiten nach. In ihrem
Buch „Warum wir krank werden“, das jetzt
auf deutsch erscheint, rücken die Experten
D. BINDER / IMPACT VISUALS
M
illionen Jahre lang hat die Evolution an seinem Erbgut gebastelt.
Sie schenkte ihm den aufrechten
Gang und eine raffinierte Greifhand und
obendrein das verblüffendste Gehirn weit
und breit: der Homo sapiens, ein Meisterwerk der natürlichen Zuchtwahl der Arten – auf den ersten Blick.
Doch bei Beschau des Serienprodukts
drängt sich ein Verdacht auf: Als die Evolution den Menschen schuf, übte sie bloß.
Denn warum bürdete sie, die zu jedem
Wunder fähig ist, dem Menschen Gene auf,
die ihn anfällig werden lassen für Diabetes
und Gicht, Krebs und Schlaganfälle?
Zucker und Fett machen dick, viele
Dicke erleiden einen Herzinfarkt, dennoch
trägt der Mensch Gene, die ihn geradezu
zwingen, nach solch ungesunder Kost zu
gieren.
Töricht wirkt auch mancher Kampf des
Immunsystems: Oftmals beschränkt sich
die Abwehr nicht auf feindliche Viren und
Bakterien, sondern streitet gegen gesunde
Zellen des eigenen Körpers. Als Folge dieser „friendly fire“-Attacken muß sich der
Mensch mit Autoimmunerkrankungen wie
Arthritis, Rheuma und Multipler Sklerose
quälen.
Hot-dog-Wettessen
Törichte Gier nach ungesunder Kost
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viele Plagen in ein – aus evolutionärer Perspektive – versöhnliches Licht*.
Manche Pein ist demnach keineswegs
überflüssig wie ein Kropf. Wer sie lindere,
könne seiner Gesundheit sogar schaden,
denn: „Die Fähigkeit zu leiden ist eine
nützliche Verteidigung.“
Klassisches Beispiel ist das Fieber. Es
entstand als Abwehr gegen Infektion, denn
viele Bakterien können sich bei hohen Körpertemperaturen nicht mehr vermehren.
Anfang des Jahrhunderts, als Antibiotika noch nicht entdeckt waren, infizierte
der Arzt Julius Wagner von Jauregg Syphiliskranke zusätzlich mit fiebertreibender Malaria. Die Folge: 30 Prozent der Geschlechtskranken überlebten, gegenüber
nur einem Prozent zuvor. Der wagemutige
Experimentator erhielt dafür 1927 den Nobelpreis.
Wenn Ärzte Fieber mit Medikamenten
und Beinwickeln senken, schreiben Nesse
und Williams, dauerten manche Erkrankungen nur um so länger. Ebenso unglückselig sei es manchmal, Husten zu blockie* Randolph M. Nesse, George C. Williams: „Warum wir
krank werden“. Verlag C. H. Beck, München; 320 Seiten;
48 Mark.
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ren. Sein Sinn besteht darin, die Lunge von
Im Körper des Menschen vermuten Neszuviel Schleim und Krankheitserregern zu se und Williams „ein ganzes Bündel solcher
reinigen. „Wenn man ihn unterdrückt“, spe- Kompromisse“. Als Evolutionstheoretiker
kulieren die Autoren, „stirbt der Patient staunen sie vor allem darüber, daß nicht
womöglich an Lungenentzündung.“
alle Menschen an Krebs sterben. Der
Gegen fast alle Bedrohungen hat der menschliche Organismus besteht aus mehr
Feinschliff der Evolution Körper und Psy- als zehn Billionen Zellen, die sich täglich
che des Menschen gewappnet. Einige Arten millionenfach teilen und erneuern. Die
von Durchfall stellen eine ausgeklügelte Qualitätskontrolle bei dieser ZellvermehReinigungsaktion zum Ausschwemmen rung ist eine von der Evolution geschaffeetwa von Shigella-Bakterien dar. Angst und ne Glanzleistung an Komplexität und PräSchmerz schützen vor gefährlichen Verlet- zision, die nur selten versagt.
zungen. Die morgendliche Übelkeit von
Bestimmte Gene signalisieren der Zelle,
Schwangeren soll sie davon abhalten, ihr zum Beispiel bei einer Wundheilung, daß
Ungeborenes mit Giften, die in der Nah- das Gewebe nun wieder ausreichend gerung enthalten sind, zu schädigen.
wachsen ist – die Zellteilung wird gestoppt.
Manche Krankheitsgene schützen sogar Zusätzlich sind Tumorsuppressorgene akvor anderen Seuchen, zumindest wenn der tiv, die übertriebenes Wachstum unterTräger nur eines der betreffenden Gene drücken. Das System ist mehrfach gesivon Mutter oder Vater geerbt hat. Wer die chert bis hin zu einem genetisch verankerMutation für Sichelzellenanämie besitzt, ten Notfallbefehl, daß sich eine Zelle lieber
ist fast immun gegen Malaria, eine Anlage umbringen soll als zu entarten.
für Mukoviszidose bewahrt vielleicht vor
Verschleiß, natürliche Gifte und früher
manchen Durchfällen. Doch krank wird unbekannte Schadstoffe wie Tabakrauch
der Mensch trotzdem, denn zum Nachteil oder Chemieprodukte machen diesem
der heute Lebenden stammen
ausgeklügelten Mechanismus
seine Gene aus ferner Zeit.
jedoch zu schaffen. Daß die
Niemals
Viele zehntausend Jahre lebte
Menschen ihren Krebs nun in
werden die
Homo sapiens als umherstreihöherem Lebensalter erleben,
fender Jäger und Sammler in
Menschen den ist auch der Preis dafür, daß
den Savannen Afrikas. Sein
mit Hilfe der Medizin die
Kampf gegen
Überlebenskampf gegen LöLebenserwartung gesteigert
Viren und
wen, Parasiten und Hunger
wurde.
hat seine genetische AusstatNach wie vor aber bleiben
Bakterien
tung geprägt.
die
meisten Menschen in jungewinnen
Bis auf 0,005 Prozent stimgen Jahren davon verschont:
men die Erbanlagen der UrZumindest über die gesamte
zeitler mit denen der heutigen Menschen Lebensspanne eines Steinzeitmenschen
überein – und damit beginnt das Elend funktioniert die Krebsabwehr blendend.
der Zivilisationskrankheiten: „Aus der
Wenn Nesse und Williams auch einKluft zwischen unserer Anlage und unse- räumen, daß ihre darwinistische Medizin
rer Umwelt“, sagen Nesse und Williams, zum Teil ein Wucherfeld der Spekulation
„entsteht ein Großteil moderner Erkran- darstellt, in einem Punkt sind sie sich sikungen.“
cher: Niemals werden die Menschen den
Nach Fett, Zucker und Salz zu lechzen Kampf gegen die Mikroorganismen gemachte einst im kargen Afrika Sinn: winnen.
Als Kalorien knapp waren, hatten IndiSie sind den Viren und Bakterien unterviduen, die mehr davon aßen, als sie legen, weil diese sich viel rascher vermehbrauchten, einen klaren Überlebensvorteil. ren. „Die Bakterien-Evolution erreicht inAuch Bewegungsfaulheit war einst eine op- nerhalb eines Tages Entwicklungen, für die
timale Strategie, mit knapper Energie spar- wir tausend Jahre benötigen.“
sam umzugehen. Daß diese archaischen
Wann immer sich das Immunsystem auf
Anlagen, als Mitauslöser von Herzkrank- einen dieser winzigen Erreger eingeschosheiten und Diabetes, mittlerweile lebens- sen hat, kommt er in getarnter Gestalt
gefährlich werden können, ist evolutionä- zurück und beginnt den Kampf von neures Pech.
em. Das Immunsystem wurde von der
Andere augenscheinliche Fehler der natürlichen Selektion daher zu paranoider
Evolution sind Nesse und Williams zufolge Wachsamkeit getrimmt. Davon profitiert
keine Designschwächen, sondern notwen- jeder Mensch, mancher jedoch büßt mit
dige Kompromisse. „Jeder Vorteil hat sei- Autoimmunkrankheiten.
nen Preis, und auch der wertvollste Vorteil
Auch menschlicher Erfindungsgeist hilft
kann auf Kosten der Gesundheit gehen.“ gegen die mikroskopisch kleinen Killer auf
Der aufrechte Gang zum Beispiel hat Dauer nicht weiter. Immer häufiger überden Aufstieg der Hominiden zum Homo winden Bakterien die für sie einst tödlisapiens erst möglich gemacht – doch dafür chen Antibiotika. Auch das HI-Virus rüstet
muß er nun mit Rückenschmerzen zahlen: wieder auf: Über die natürliche Selektion
Der schwachgerüstete untere Teil der Wir- drohen sich einige Stämme dem Zugriff
belsäule ist eben ein Originalbaustein für der brandneuen Aidsmedikamente schon
Vierbeiner.
wieder zu entziehen.
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