SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Werbung
SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
„Weissagung geb ich ...“
Das Orakel von Delphi
Autor: Rolf Beyer
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Maria Ohmer
Sendung: Freitag, 12. Dezember 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula
(Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in
Baden-Baden für 12,50 € erhältlich.
Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030
Entdecken Sie den SWR2 RadioClub!
Lernen Sie das Radioprogramm SWR2 und den SWR2 RadioClub näher kennen!
Fordern Sie unverbindlich und kostenlos das aktuelle SWR2-Programmheft und das
Magazin des SWR2 RadioClubs an.
SWR2 RadioClub-Mitglieder profitieren u.a. von deutlichen Rabatten bei zahlreichen
Kulturpartnern und allen SWR2-Veranstaltungen sowie beim Kauf von Musik- und WortCDs. Selbstverständlich erhalten Sie auch umfassende Programm- und
Hintergrundinformationen zu SWR2. Per E-Mail: [email protected]; per Telefon:
01803/929222 (9 c/Minute); per Post: SWR2 RadioClub, 76522 Baden-Baden
(Stichwort: Gratisvorstellung) oder über das Internet: www.swr2.de/radioclub.
SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2
Webradio unter www.swr2.de
Dieses Manuskript enthält Textpassagen in [Klammern], die aus Zeitgründen in
der ausgestrahlten Sendung gekürzt wurden.
Besetzung:
Sprecherin
Zitator
Zitatorin (Pythia)
Ansagerin
MANUSKRIPT
Regie:
Collage – Mystische Töne kurz stehen lassen; soll von der Regie erarbeitet werden
Zitator:
Ganz wie ein Bollwerk und eine natürliche Zitadelle überragt der Parnass die Stadt, die
sich in die Winkel zu seinen Füßen anschmiegt ..., felsige Stätte, gelegen einem
Theater gleich ..., so gelangtest du ... nach (Delphi) am Fuß des beschneiten Parnass,
wo sich sein Hang nach Westen wendet, aber darüber hängt ein Fels und unten läuft
die Tiefe des Waldtals rauh dahin. ...
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Ansagerin:
„Weissagung geb' ich ...“ – Das Orakel von Delphi. Eine Sendung von Rolf Beyer.
Sprecherin:
Als der französische Dichter Gustav Flaubert nach Delphi kam, war er ergriffen von der
Weite der Landschaft, von der Erhabenheit wilder, schroffer Berghänge, von der durch
Erdbeben und Bergstürze bedrohten und vernarbten Erde, von den zahlreichen,
Fruchtbarkeit spendenden Quellen.
Zitator:
Es ist eine inspirierte Landschaft! Sie ist erregend, begeisternd und lyrisch! Es fehlt ihr
an nichts. Schnee gibt es (und) Berge, das Meer, die Schlucht, die Bäume, grünes
Laub. Und welche Tiefe!
Sprecherin:
Auch die Griechen sahen das so oder so ähnlich. Dort in Delphi, etwa 150 Kilometer
westlich von Athen gelegen, dort, wo sich die Wege kreuzten, die von Norden und
Süden, von Osten und Westen kamen, dort befand sich für sie der „Nabel der Welt“,
griechisch „ómphalos“ genannt.
Regie:
Collage: Mystische Töne kurz stehen lassen
Zitator:
Einst wollte Zeus den Mittelpunkt der Welt festlegen. Also ließ er zwei Adler von den
Enden der Welt aufsteigen, den einen von Westen, den anderen von Osten her. Sie
flogen von weither und trafen in der Mitte zusammen beim Omphalos, (dem
Nabelstein).
2
Sprecherin:
So erzählte es der Mythos, so glaubten es die Griechen und so schufen sie merkwürdig
eiförmig gebildete Steine, die den Nabel der Welt symbolisierten. Hierher pilgerte man,
denn hier, am mythischen Mittelpunkt der Welt, gab es auch jenes geheimnisvolle
Orakelheiligtum, an dem man Rat einholen konnte. Das Orakel selbst war der Erdmutter
Gaia geweiht.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
[Zitator:
Hier tatsächlich ward gebaut ein ehrwürdiges Orakel ..., und es war die Stimme der
Erdmutter Gaia, die weise Worte verkündet. ...
Sprecherin:
Ab dem achten Jahrhundert vor Christus war es dann der Lichtgott Apoll, der von Gaia
das Orakelheiligtum übernahm. Die Mythen, die alle natürlich viel später entstanden,
erklären den Übergang auf ihre – eben mythische – Weise. Aischylos, der große
Tragödiendichter, sah die Ablösung friedlich vonstatten gehen, als Folge eines
Generationswechsels.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Zuerst von allen Göttern ehre ich im Gebet Gaia, die Erde, als früheste Seherin. Dann
(Tochter) Themis, die nach der Mutter dieses Heiligtum bewohnt(e). So lautet sie Sage.
Und als dritter ward es zugeteilt ... der Phoibe, einem anderen Kind der Gaia. Diese
schenkt' es – das Heiligtum – als Geburtstagsgabe (ihm, Apollo Phoibos), welcher nun
nach ihr den Namen trägt ... Beim Einzug überschüttet' ihn mit Ruhm das Volk ..., und
(Gottvater) Zeus begeistert seinen hohen Sinn mit hoher Kunst und setzt' als vierten
Seher ihn auf diesen Stuhl. So ist Apollo Stimme seines Vaters Zeus.
Sprecherin:
Nicht so friedlich, wie Aischylos suggeriert, erzählt es ein anderer Mythos. Danach
musste Apoll erst Python, die mächtige Schlange und Bewacherin des Gaia-Orakels,
mit Gewalt verjagen.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Apollo, der Gott, der den Tod von weitem bringt, schoss einen starken Pfeil auf Python,
die, gequält von bitteren Schmerzen, nach Atem rang und über die (Erde) kroch.
Schrecklicher Lärm schwoll auf, unbeschreiblich, als sie unaufhörlich sich krümmte ...,
und so verlor sie Blut spuckend ihr Leben ... Apollo aber beugte sich über sie und
sprach: Du wirst nie wieder lebendig, nie wieder wirst du Verderben bringen über
Menschen ...
Sprecherin:
3
Das hört sich gruselig an, als ob Erdgöttin und Lichtgottheit, weibliche Natur und
männlicher Machtanspruch mit und gegeneinander um Vorherrschaft gerungen hätten.
Angesichts der sich widersprechenden Mythen stellt sich natürlich die Frage, was
tatsächlich gewesen sein könnte. Wie also ist historisch zu erklären, dass Delphi zu
jenem panhellenischen Zentrum wurde, das überall in Griechenland anerkannt wurde?
Wie war es möglich, dass ausgerechnet das Orakel von Delphi jene Anziehungskraft
entwickeln konnte, die dazu führte, dass Delphi reich und reicher wurde, mit Weihgaben
und Geldgeschenken überhäuft, mit Schatzhäusern übersät, in denen sich ansonsten
rivalisierende und verfeindete Städte ein Denkmal setzten? Antworten auf diese Fragen
sucht Kai Trampedach, Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg,
ausgewiesener Fachmann für alle Fragen um Orakel und Wahrsagung im antiken
Griechenland. Seine Antwort ist ganz neu und deshalb überraschend.
O-Ton 1 – Kai Trampedach:
Jeder, der mal in Delphi gewesen ist, kennt – salopp gesprochen – die Magie dieses
Platzes ..., das ist natürlich eine Szenerie, die auch früheren Menschen aufgefallen ist
und die hier offenbar zu der Ansiedlung dieses Kultplatzes geführt hat. Die Frage wäre
..., wie denn dieser Ort beiträgt zum Erfolg von Delphi. Und da ... hat sich herausgestellt
– das konnten ja diejenigen, die dort einen Kult etabliert haben noch gar nicht wissen –,
da hat sich herausgestellt, dass Delphi eigentlich einen idealen Ort einnahm, weil es
keinem Machtblock ... zuzuordnen war, ein Ort, der auch unzugänglich war, in dessen
Nähe es nichts zu holen gab, und das war natürlich für die Unabhängigkeit des Orakels
von großer Bedeutung. Also nur an einem solchen Ort konnte überhaupt ein Orakel mit
derartiger Ausstrahlung entstehen[, nur an einem Ort, der so weit von allen
Machtbildungen und auch von nahen, großen Städten entfernt ist, wie Delphi das
gewesen ist. ...]
Sprecherin:
Wenn es denn gerade die Machtlosigkeit Delphis, die marginale Stellung im
Mächtekonzert der zahlreichen gegeneinander rivalisierenden Städte war, die Delphis
Einfluss begründete, dann muss das Wirkungen auch auf Form und Inhalt der Orakel
selbst gehabt haben. [Der Mythos selbst verdeckt diese Zusammenhänge eher, denn er
feiert die Orakelstätte auf seine Weise.] So wird in den "Homerischen Hymnen", die
zwischen dem achten und vierten Jahrhundert vor Christus entstanden, Apollo gefeiert
und erzählt, dass der Gott alle freundlich und selbstbewusst zur Orakelstätte einlädt.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Stätte der Weissagung sei er fortan den Menschen,
die stets mir zuführen hierher vollzählige Hekatombenopfer,
sei's aus der Peloponnes, wo sie fruchtbaren Boden besitzen
oder auch aus Europa, von Inseln, die von Wasser umrauscht sind,
um sich weissagen zu lassen; ich werd' ihnen unfehlbar raten,
allen nach Satzung geben Orakel im schatzreichen Tempel.
Sprecherin:
Die Einladung Apolls wurde vernommen und alle, alle kamen, Griechen aus der
Nachbarschaft und aus der Ferne, der kleine Mann mit seinen alltäglichen Sorgen, aber
auch Gesandtschaften zahlreicher griechischer Städte in hochpolitischen
4
Angelegenheiten, ebenfalls Ausländer, die aus Kleinasien, aus Afrika, aus Rom
herbeieilten, darunter Könige und Potentaten. Sie näherten sich dem Apollotempel, in
dem Pythia, die Prophetin und Seherin auf einem Dreifuß saß. Umständliche
Vorbereitungen mussten getroffen werden, bis man den Spruch der Pythia vernehmen
durfte, erzählt Kai Trampedach:
O-Ton 2 – Kai Trampedach:
Dazu muss man erstmal wissen, dass das Orakel nur an bestimmten Tagen befragt
werden konnte, nämlich ein regelmäßiger Konsultationstag war der 7. eines Monats,
weil das als Tag seiner Geburt galt, und nur vom Frühjahr bis in den Herbst, im Winter,
da ruhte der Orakelbetrieb.] Wenn man nun dort ankam, wurde ein Befragungsopfer
eingeholt, das die Polis Delphi veranstaltete, und dieses Befragungsopfer hatte die
Aufgabe zu klären, ob der Gott überhaupt bereit war zu sprechen. Dann gingen nach
einer bestimmten Reihenfolge die Leute, die Fragesteller zum Heiligtum hinauf. Sie
mussten dann beim Eingang ins Heiligtum den sogenannten „pélanos“, die
Orakelsteuer, bezahlen. Sie durften dann ins Adyton hinuntersteigen, wo sie der Pythia
ihre Frage stellten, woraufhin dann der Gott durch den Mund der Pythia geantwortet
hat. Es ist nicht die Pythia, die antwortet, sondern der Gott antwortet. Er benutzt die
Pythia als Sprachrohr. [Nach dieser Antwort des Gottes verließen die Fragesteller das
Heiligtum. Sie konnten jetzt diese Antwort verschriften, um sie dann zu Hause in der
Volksversammlung wieder vorzutragen.]
Sprecherin:
Soweit in etwa der Ablauf, der historisch gesichert ist. Wer aber war Pythia? Dass sie in
klassischer Zeit eine Jungfrau war, dass sie sexuell enthaltsam leben musste, dass sie
im Tempel wohnte, das alles teilt sie mit anderen Orakelprophetinnen; dass sie vor der
Befragung auf einem Lager aus Lorbeer ruhte, war dem Gott Apoll geschuldet, dem der
Lorbeer heilig war.
O-Ton 3 – Kai Trampedach:
Sie wird dadurch ... als Braut des Gottes charakterisiert. Das tut sie, indem sie
Lorbeerblätter kaut. Da hat man früher mal gedacht – und dafür gibt’s auch schon
antike Vorbilder – , dass das irgendeine toxische Wirkung habe, das ist natürlich gar
nicht der Fall. Sie können pfundweise Lorbeer essen, und es wird nichts passieren. ...
Sprecherin:
Doch was bedeutet es dann, wenn es immer wieder heißt, dass sie „entheos – von Gott
begeistert“ gewesen sei? Geriet sie in Trance, in Ekstase, in Raserei? Stand sie etwa
unter Drogeneinfluss, atmete sie gar berauschende Erddämpfe ein, die einer Erdspalte
im Tempel entströmten, wie es ein später Mythos erzählt, wieder ein Gründungsmythos
unter vielen?
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Ein Hirte – Koretas soll sein Name gewesen sein – beobachtete, wie seinen Ziegen
Seltsames widerfuhr. Näherten sie sich einer Erdspalte, machten sie ungewöhnliche
Sprünge, begannen zu zittern und stießen ungewöhnliche Laute aus. Der Hirte näherte
sich der Spalte, beugte sich über den Rand derselben – und plötzlich begann er, in
fremden Stimmen zu sprechen und die Zukunft vorherzusagen. Auch seinen Nachbarn
5
geschah dergleichen. Einige wurden wahnsinnig, fielen in den Erdschacht und
verschwanden für immer. Da beschlossen die Einwohner von Delphi, eine Prophetin für
alle auszuwählen. Über die Erdspalte stellten sie einen Dreifuß, auf dem sie thronte.
Sprecherin:
Der Mythos wurde gerne aufgenommen. Und so wurde die mysteriöse ErdspaltenDampf-Theorie auch von Plutarch diskutiert, einem spätantiken Schriftsteller und
zeitweisen Priester in Delphi, der diese Hypothese als eine unter vielen in Umlauf
brachte, allerdings erst um 100 nach Christus. Die Hypothese von berauschenden
Erddämpfen hat neuerdings wieder Auftrieb erhalten.
Zitator:
Im Jahr 2001 behauptete der amerikanischer Geologe Jelle de Boer, auf Grund
physikalischer Messungen im Tempel zu Delphi sei das Gas Ethen ausgetreten, das
Pythia in Trance versetzt habe. Und wenn das heute nicht mehr geschehe, dann
deshalb, weil sich die Austrittswege des Gases durch Erdverschiebungen geschlossen
hätten. Diese These wurde bestritten von Giuseppe Etiope, der ebenfalls Geologe ist.
Seiner Meinung nach seien es Methan, Ethan und Kohlendioxid gewesen, die aus den
Gesteinen ausgetreten seien, bei Einatmung zu Sauerstoffmangel geführt und so die
Trancezustände der Pythia verursacht hätten.
Sprecherin:
Man muss aber wohl über die Nüchternheit eines Historikers verfügen, um all diesen
abenteuerlichen Thesen und Hypothesen standzuhalten. Und da kommt wieder Kai
Trampedach ins Spiel. Er umreißt aus den Quellen der Zeit, was es tatsächlich
bedeutet, wenn die Pythia ihre Sprüche „entheos – von Gott begeistert“ kundtat.
O-Ton 4a – Kai Trampedach:
[Wir haben ja schon festgestellt, dass die Pythia als Sprachrohr des Gottes galt, als
Medium. Nun stellt sich zunächst die Frage: Was kennzeichnete sie als Medium? Das
wäre in diesem Fall die Ekstase oder Besessenheit oder Trance. Aber nicht jede
Ekstase oder Besessenheit oder Trance ist gleichartig. Die der Pythia ist besonders,
auch gerade im Vergleich, im anthropologischen Vergleich.] Die Pythia zeigt keine
Zuckungen, kein Rasen, sie steht nicht unter Drogeneinfluss, sie brabbelt auch nicht vor
sich hin, sondern ihre Besessenheit oder Ekstase wird an ihrer Sprache deutlich, und
zwar sowohl an der Art ihres Sprechens als auch an der Form desselben und am Inhalt
der Mitteilung. Was nun die Sprache betrifft, so kann man sagen, sie spricht in
Hexametern, sie spricht Dichtung, in dichterischer Weise, und der Hexameter galt in
Griechenland als die Sprache der Götter. [Also indem sie in Hexametern sprach, hat sie
sich auch als Medium legitimiert. Der Hexameter ist also die Form, die der Gott seiner
Sprache in der Kommunikation mit den Menschen gibt. Was nun die Art des Sprechens
angeht, so wird man annehmen dürfen, dass auch diese nicht alltäglich war. Es war so
eine Art Sprechgesang, wie das ja auch mit dem Hexameter zwangsläufig verbunden
ist.]
Regie:
Die folgenden Hexameter müssen auf Griechisch von einer weiblichen Stimme rezitiert
werden, und zwar in einer nicht übertrieben singenden Sprechweise; man kann die
Stimme auch in etwas dumpfe Hallatmosphäre setzen – Adynaton-Stimmung!
Zitatorin:
6
éuda degó psammú tarithmón kai métra thalássas,
kai kóphu synjémi kai ú phonéuntos akúo. –
Zitator:
Weiß ich doch der Sandkörner Zahl und die Masse des Meeres,
selbst den Stummen vernehm' ich, und den Nichtsprechenden hör ich.
[Sprecherin:
Wie sich Pythia nun genau anhörte, kann man heute natürlich nicht mehr sagen, doch
es ist auffällig, dass noch Euripides, der letzte große Tragödiendichter, hervorhebt, dass
die Phythia nicht einfach in prosaischer Rede sprach, sondern ihre Verse in singender
Weise kundgab. So lässt ein gewisser Ion, der als Priester im delphischen Orakel
wirkte, seinen Blick schweifen über die Höhen des Parnass-Gebirges, den Aufgang der
Sonne der Sonne begrüßend; dann kommt auch die Pythia in den Blick und wie ihr
Sprechgesang erklingt.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator: (leicht singend)
Da ist der Sonne leuchtendes Viergespann.
Schon leuchtet (Gott) Helios über die Erde,
die Sterne weichen dem Licht dieses Feuers
in die heilige Nacht.
Es leuchten die unersteigbaren Gipfel
des Parnass und begrüßen die Scheibe der Sonne,
die den Sterblichen scheint.
Rauch von von trockener Myrrhe steigt auf...
(Da) sitzt auf dem heiligen Dreifuß die Frau
aus Delphi und singt den Hellenen den Spruch,
den Apoll ihr verkündet.
Sprecherin:
Die eigenartige Bereitschaft, sich zum Medium eines Gottes machen zu lassen, sich
dabei einer nicht alltäglichen und irgendwie entrückenden Sprechweise zu bedienen,
erklärt dann wohl auch, weshalb die Pythia eine Frau ist. Kai Trampedach:
O-Ton 4b Kai Trampedach:
Das hat sicherlich mit dem Frauenbild der griechischen Antike zu tun, das davon
ausging, dass Frauen stärker emotionale Wesen sind ..., dass ... ihre Vernunft dieser
Inbesitznahme durch den Gott keinen Widerstand entgegenbringen würde. (Stimme
oben)]
Sprecherin:
Pythias „gottbegeisterter“, hexametrischer Sprechgesang ist formal kaum noch zu
rekonstruieren, wohl aber weiß man Genaueres über den Inhalt ihrer Worte. Ging es um
ganz alltägliche Probleme wie Kinderlosigkeit, Erbschaftsangelegenheiten,
Reiseunternehmungen, Auswanderung, dann gab es klare Antworten; eindeutige
Weisungen erhielt man auch, wenn kultische Fragen geklärt werden sollten, wenn ein
Tempelbau geplant wurde. Ganz anders aber lauteten die Orakelsprüche, wenn es um
hochpolitische Fragen ging, um Krieg und Frieden, Fliehen oder Standhalten. Dann
7
klangen sie höchst zweideutig, und dieses Merkmal der Zweideutigkeit war typisch für
die Pythia von Delphi, war das, was ihre Orakel von Orakeln anderer Heiligtümer
unterschied. Ein berühmtes Beispiel dafür war jene Antwort, die Kroisos, der lydische
König in Kleinasien erhielt, wovon der Historiker Herodot ausführlich berichtet.
Hintergrund dieser oft erzählten Orakelbefragung von 546 vor Christus war die Frage,
ob Kroisos in einen risikoreichen Krieg gegen den persischen Großkönig Kyros ziehen
sollte.
Zitator:
Und Kroisos schickte nach Delphi zwei gewaltig große Mischkessel, einen goldenen
und einen silbernen, der eine wurde zur Rechten, der andere zur Linken des Tempels
aufgestellt. ... Er schickte einen Schild, in allen Teilen gleichmäßig aus Gold und ähnlich
eine feste Lanze, in allen Teilen aus Gold, auch den Lanzenschaft samt der Spitze aus
Gold. Als die Lyder nach ihrer Ankunft die Weihgeschenke aufgestellt hatten, wandten
sie sich an das Orakel mit den Worten: „Kroisos, der Lyder und der anderen Völker
König, hat in dem Glauben, dass dies die einzigen (wahren) Orakel auf der Welt sind,
euch Geschenke gegeben ..., und er fragt euch nun, ob er gegen die Perser zu Felde ...
ziehen soll.“ So also fragten sie, (das Orakel) sagte dem Kroisos voraus, er werde,
wenn er gegen die Perser ziehe, ein großes Reich vernichten. ...
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitatorin:
Kroisos halýn diabás megaläń archäń katalýse ...
Zitator:
Kroisos wird, den Halysfluss überschreitend, zerstören ein großes Reich ...
Sprecherin:
Es ist bekannt, wie sich Kroisos über diesen Spruch freute, natürlich deshalb, weil er
glaubte, er werde das Reich seines Gegners zerstören. In Wirklichkeit lief es anders
herum: Kroisos zerstörte sein eigenes Reich. Und so kann man im Hinblick auf die
Zweideutigkeit zunächst einmal sagen, dass das Orakel von Delphi immer recht behielt
– egal wie die Sache ausging. Heute wird das „Immunisierungsstrategie“ genannt. Sie
liegt immer dann vor, wenn man etwas nicht widerlegen kann. Ein anderer Aspekt ist
aber noch wichtiger. Er hängt mit jenen Leitsprüchen griechischer Weisheit zusammen,
die von Delphi aufgenommen wurden und sogar in die Mauer des Apollotempels
eingemeißelt waren. Die berühmtesten lauteten „Mädén ágan – Tu nichts im
Übermaß!“, „métron áriston- Maßvoll ist das Beste“ und dann das berühmte „Gnóthi
teautón - Erkenne dich selbst!“, bis heute Leitspruch aller kritischen Geister. Doch
genau gegen die delphischen Leitsprüche verstieß Kroisos. Statt den Orakelspruch
kritisch zu reflektieren, erlag er der Selbstüberschätzung, der „Hybris“, wie es die
Griechen nannten. Und nicht nur er, erzählt Kai Trampedach:
O-Ton 5 – Kai Trampedach:
[Das Maßhalten war genau das Problem, das „mäden agan – nicht zu viel“, das war ein
Problem. Wenn man sich die Rachezyklen in den Bürgerkriegen des 6. bis 4.
Jahrhunderts anschaut, dann kann man doch nur sagen, daran hat es gefehlt.] Ich
gaube, man wäre ganz falsch beraten, wenn man annähme, dass diese Normen, die wir
etwa in Delphi propagiert finden, dass die nun besonders stark in der griechischen
8
Gesellschaft, in der Praxis der griechischen Gesellschaft verwurzelt gewesen wären.
Ich glaube, genau das Gegenteil trifft zu. Und das kann man auch für das berühmte
„Gnothi teauton“ sagen, für das „Erkenne dich selbst!“. Denn ganz viele Geschichten
handeln ja vom „Sich-Verkennen“, also ganz viele Geschichten – denken Sie an
Kroisos, aber auch darüber hinaus, ganz viele andere Geschichten, die haben mit dem
Verkennen, dem „Sich-selbst-Verkennen“ zu tun. Denn es gibt ja viele Verlierer, viele
Fragesteller, die nicht die richtige Reaktion, nicht die richtige Deutung gefunden haben,
und da ist genau das Hauptproblem ein Erkenntnisproblem. [Diese Leute scheitern, die
scheitern deswegen, weil sie ihre eigene Lage nicht richtig einschätzen, weil sie genau
am „Gnothi teauton“ versagen.]
Sprecherin:
Die Zweideutigkeit der delphischen Orakelsprüche offenbart also etwas ganz
Spannendes. Die Fragesteller durften nicht von einem „Orakelautomatismus“ ausgehen,
also frei nach dem Schema: Rauf nach Delphi, Eintrittsgeld rüberreichen, einige
Reinigungsriten vollziehen, ein Opfer darbringen, Orakelspruch abholen und fertig! So
einfach kam man in Delphi nicht davon: Die Zweideutigkeit der Orakel forderte vom
Empfänger eigenes Nachdenken, deutende Reflexion, kritische Selbstbesinnung. Und
das vor allem bei politischen Angelegenheiten, wie auch der berühmteste Fall zeigt, als
im fünften Jahrhundert vor Christus die übermächtigen Perserheere des Darius und
Xerxes ganz Griechenland, ganz Europa in Angst und Schrecken versetzten. [Natürlich
machte sich eine Gesandtschaft aus Athen nach Delphi auf, von tiefer Sorge um die
Zukunft erfüllt, durchdrungen von den Bewusstsein, dass das Freiheitsmodell der
griechischen Städte tödlich bedroht sei. Wie sollte man sich also verhalten: Stillhalten,
Flucht oder Widerstand? Delphi verhielt sich alles andere als eindeutig, wie Herodot
berichtet.]
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Die Athener hatten Boten nach Delphi geschickt und waren bereit, sich einen Spruch
geben zu lassen. Furchterregendes hörten sie von jener Pythia, die Aristonike hieß:
Zitatorin:
Unglückselige ihr, was sitzt ihr noch? Fliehet von hinnen,
fort zu den Enden der Erde und fort von den Höhen der Stadt!
Denn es bleibt nicht bestehen das Haupt noch der übrige Körper ...,
sondern dahin wird es gehen, denn Feuer wird es zerstören ...
Darum verlasst das heilge Gemach, fasst (aber) Mut bei dem Unheil.
Zitator:
Als das die Boten hörten, waren sie aufs Tiefste betrübt. Ihnen aber riet Timon, ein
unter den Delphern hoch angesehener Mann, Ölzweige zu nehmen und ein zweites Mal
wieder zu kommen und das Orakel als Schutzflehende zu befragen. Und so verkündete
die Pythia beim zweiten Mal folgendes:
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitatorin:
9
(Nichts) vermag Zeus, den olympischen (Gott) zu erweichen,
wenn (man) auch bittet und fleht mit Worten und kluger Beratung.
Dir aber sag ich zum andern ein Wort, das fest ist wie Diamant:
Alles ... erliegt wohl dem Feind ...
Nur die hölzerne Mauer schenkt unverwüstet (Gottvater) Zeus ...,
für dich und die Kinder zum Nutzen ...
Zitator:
Als die Boten nach ihrer Heimkehr diese Worte der athenischen Volksversammlung
vorlegten, da gab es viele verschiedene Meinungen, die den Sinn des Orakels zu
deuten suchten, so dass man gegeneinander stritt im Austausch der Argumente. Was
etwa war gemeint mit den „hölzernen Mauern“, die zu errichten Rettung versprach? War
es jene Dornenhecke, die den Burgberg umgab? Sollte man die verteidigen? Oder
waren mit den „hölzernen Mauern“ nicht vielmehr Schiffe gemeint, die man in offener
Seeschlacht einzusetzen habe?
Sprecherin:
Fragen also über Fragen! Man weiß heute, dass sich die Athener zur Seeschlacht im
benachbarten Salamis entschlossen, die 480 vor Christus für sie überraschend
siegreich verlief. Was aber hatte das Orakel von Delphi dazu beigetragen? Kai
Trampedach:
O-Ton 6 – Kai Trampedach:
Gerade durch die Rätselhaftigkeit – oder Vieldeutigkeit besser gesagt – der Antworten
wurden ja diese Antworten faktisch an die Fragesteller zurück verwiesen, aber auf einer
anderen Ebene. Da wird also die Frage der Athener an die Volksversammlung zurück
verwiesen, und dann sehen wir, dass in der Volksversammlung nun über die Antworten
diskutiert wird. Es werden Vorschläge gemacht, von denen sich der durchsetzt, dem es
am besten gelingt, die politische Situation mit dem Orakelspruch in Übereinstimmung zu
bringen, d. h. die Antwort der Pythia setzt einen Reflexionsprozess in Gang, der die
politische Rationalität fördert, der nämlich eine öffentliche Debatte sozusagen stimuliert
über ganz zentrale Fragen der griechischen Polis. Insofern glaube ich, dass kein
Widerspruch besteht zwischen Mantik und Rationalität, sondern im Gegenteil, dass die
Mantik der Rationalität auf die Sprünge hilft.
Sprecherin:
Das sind nun überraschende Perspektiven, die Delphi in ganz neuem Licht erscheinen
lassen. Keine mysteriösen Irrationalitäten also prägten Pythia und Orakel, sondern eine
zutiefst rationale Beziehung von Prophetie und Politik, von Religion und Vernunft, wie
sie sonst niemals und nirgends in der altorientalischen oder antiken Welt beobachtet
werden konnte. Die rationale Komponente in den Orakeln von Delphi zeigt sich auch in
einer anderen Überlieferung, die Aischylos, der große Tragödiendichter, gestaltet hat,
und zwar in der Dramentrilogie, die man "Orestie" nennt. Im Mittelpunkt steht Orest, der
seine Mutter Klytaimnestra ermordet hatte, ein grausiges Verbrechen, in das er tragisch
verstrickt war. Zum Muttermörder wurde er nämlich deshalb, weil er das Gesetz der
Blutrache zu exekutieren hatte, denn seine Mutter hatte seinen Vater Agamemnon
hinterhältig ermordet. Jetzt ist der von Blut besudelte Orest auf der Flucht, verfolgt von
den gorgonenhaften Erinnyen, den Fluchgeistern der ermorderten Mutter, die ihn in den
Wahnsinn treiben. So gelangt er schließlich nach Delphi, getrieben von der Hoffnung,
sich von der lastenden Blutschuld zu reinigen. So sieht ihn Pythia, wie er abgerissen,
verzweifelt, mit Schuld beladen am Nabelstein im Tempelinneren kauert, den Zweig
10
eines Ölbaums in seinen flehenden Händen haltend. Pythia ist entsetzt, kann sie
helfen?
Zitatorin:
Ich trete in das reichbekränzte Innre ein,
und an der Erde Nabel, wo Verfolgte flehn,
erblick ich einen fluchbetroffnen Mann,
von Blut die Hände triefend,
der ein frisch gezücktes Schwert
und einen hochgewachsnen Zweig des Ölbaums hält ...
Vor diesem Manne, zum Erstaunen, eine Schar von Weibern,
schlummernd auf ihren Sitzen hingestreckt,
nein Weiber nicht, Gorgonen eher nenn ich sie ...,
aber sie ungeflügelt anzuschaun sind diese, schwarz,
und Ekel nur erregen sie.
Von ihrem Schnarchen strömt ein unnahbarer Hauch,
und aus den Augen quillt ein widerwärtges Nass.
Sprecherin:
Man ahnt es schon, auch die Pythia ist hilflos. Den Fluch kann sie nicht lösen. Und so
ruft sie den Tempelgott Apoll herbei, der aber auch nicht helfen kann. Zwar wird ein
Reinigungsopfer veranstaltet, um Orest zu entsühnen. Doch kultische Rituale sind nicht
mehr stark genug, moralische Schuldenlast, mag sie auch tragischer Verstrickung
entstammen, zu tilgen. [So ist auch Apoll ebenso hilflos wie die Pythia.] Eine Lösung
wird erst gefunden, als Apoll den Orest nach Athen begleitet, wo beide vor den Areopag
treten, ein weltliches Gericht, in dem in rationaler Rede und Gegenrede, im Austausch
belastender und entlastender Argumente die Schuldfrage verhandelt wird. Zwar wird
Orest nicht eindeutig freigesprochen, aber das weltliche Gericht ist in der Lage, das
alte, menschenmordende Rachedenken abzulösen, so dass endlich Rechtsfrieden
eintritt. Die archaischen Rachegeister der Erinnyen wandeln sich in wohlmeinende
Eumeniden, den Geist des bürgerlichen Friedens gewährend.
Zitator:
Schreitet zur Wohnstatt, ihr großen,
ihr hochgepriesenden, greisen Töchter der Nacht;
mit ehrfurchtsvollem Geleite.
Volk! Verharre in heiligem Schweigen ...
Gewogen dem Lande, gnädig zieht
ihr Hocherhabenen, euren Pfad,
ergötzt durch glühende Fackeln.
[Jauchzt nun auf zu Feiergesängen!]
Friede für immer besiegelt...
Jauchzt nun auf zu Feiergesängen!
Sprecherin:
Das ganze Geschehen kann als Meilenstein in der Entwicklung von Humanität und
Sittlichkeit gewertet werden. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die
Orakelstätte von Delphi, dass Pythia und Apoll dazu beigetragen haben. Die
zweideutigen Orakelsprüche beförderten den politischen Diskurs, die rituelle
Kultfrömmigkeit wurde in bürgerliches Rechtsdenken überführt. Geheimnisvolles
Wahrsagen verband sich mit politischer Rationalität, religiöse Entsühnung wurde
11
ergänzt durch weltliche Rechtsfindung. Sicher, nicht immer gab es solche Sternstunden
wie angesichts der Persergefahr, nicht immer konnte sich die delphische Religion auf
jener Höhe halten, die von Aischylos dramatisiert wurde. Aber immerhin funktionierte
der Orakelbetrieb in Delphi über ein Jahrtausend. Entmächtigt wurde Delphi erst durch
das Christentum. Als der spätrömische Kaiser Julian noch einmal versuchte, das Orakel
prominent zu beleben, erhielt er im Jahre 362 nach Christus einen diesmal eindeutigen
Spruch. Und einmalig ist dieser Spruch auch, denn niemals vorher oder nachher
verkündete ein Gott seine Selbstabdankung.
Regie:
Collage kurz stehen lassen
Zitator:
Künde dem Herrscher, zerstört liegt die kunstgesegnete Stätte,
Phoibos (Apoll) besitzt kein Dach mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
verstummt ist der sprechende Quell, es schweigt das murmelnde Wasser.
*****
12
Herunterladen