SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst „Weissagung geb ich ...“ Das Orakel von Delphi Autor: Rolf Beyer Redaktion: Udo Zindel Regie: Maria Ohmer Sendung: Freitag, 12. Dezember 2008, 8.30 Uhr, SWR 2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-6030 Entdecken Sie den SWR2 RadioClub! Lernen Sie das Radioprogramm SWR2 und den SWR2 RadioClub näher kennen! Fordern Sie unverbindlich und kostenlos das aktuelle SWR2-Programmheft und das Magazin des SWR2 RadioClubs an. 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Besetzung: Sprecherin Zitator Zitatorin (Pythia) Ansagerin MANUSKRIPT Regie: Collage – Mystische Töne kurz stehen lassen; soll von der Regie erarbeitet werden Zitator: Ganz wie ein Bollwerk und eine natürliche Zitadelle überragt der Parnass die Stadt, die sich in die Winkel zu seinen Füßen anschmiegt ..., felsige Stätte, gelegen einem Theater gleich ..., so gelangtest du ... nach (Delphi) am Fuß des beschneiten Parnass, wo sich sein Hang nach Westen wendet, aber darüber hängt ein Fels und unten läuft die Tiefe des Waldtals rauh dahin. ... Regie: Collage kurz stehen lassen Ansagerin: „Weissagung geb' ich ...“ – Das Orakel von Delphi. Eine Sendung von Rolf Beyer. Sprecherin: Als der französische Dichter Gustav Flaubert nach Delphi kam, war er ergriffen von der Weite der Landschaft, von der Erhabenheit wilder, schroffer Berghänge, von der durch Erdbeben und Bergstürze bedrohten und vernarbten Erde, von den zahlreichen, Fruchtbarkeit spendenden Quellen. Zitator: Es ist eine inspirierte Landschaft! Sie ist erregend, begeisternd und lyrisch! Es fehlt ihr an nichts. Schnee gibt es (und) Berge, das Meer, die Schlucht, die Bäume, grünes Laub. Und welche Tiefe! Sprecherin: Auch die Griechen sahen das so oder so ähnlich. Dort in Delphi, etwa 150 Kilometer westlich von Athen gelegen, dort, wo sich die Wege kreuzten, die von Norden und Süden, von Osten und Westen kamen, dort befand sich für sie der „Nabel der Welt“, griechisch „ómphalos“ genannt. Regie: Collage: Mystische Töne kurz stehen lassen Zitator: Einst wollte Zeus den Mittelpunkt der Welt festlegen. Also ließ er zwei Adler von den Enden der Welt aufsteigen, den einen von Westen, den anderen von Osten her. Sie flogen von weither und trafen in der Mitte zusammen beim Omphalos, (dem Nabelstein). 2 Sprecherin: So erzählte es der Mythos, so glaubten es die Griechen und so schufen sie merkwürdig eiförmig gebildete Steine, die den Nabel der Welt symbolisierten. Hierher pilgerte man, denn hier, am mythischen Mittelpunkt der Welt, gab es auch jenes geheimnisvolle Orakelheiligtum, an dem man Rat einholen konnte. Das Orakel selbst war der Erdmutter Gaia geweiht. Regie: Collage kurz stehen lassen [Zitator: Hier tatsächlich ward gebaut ein ehrwürdiges Orakel ..., und es war die Stimme der Erdmutter Gaia, die weise Worte verkündet. ... Sprecherin: Ab dem achten Jahrhundert vor Christus war es dann der Lichtgott Apoll, der von Gaia das Orakelheiligtum übernahm. Die Mythen, die alle natürlich viel später entstanden, erklären den Übergang auf ihre – eben mythische – Weise. Aischylos, der große Tragödiendichter, sah die Ablösung friedlich vonstatten gehen, als Folge eines Generationswechsels. Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Zuerst von allen Göttern ehre ich im Gebet Gaia, die Erde, als früheste Seherin. Dann (Tochter) Themis, die nach der Mutter dieses Heiligtum bewohnt(e). So lautet sie Sage. Und als dritter ward es zugeteilt ... der Phoibe, einem anderen Kind der Gaia. Diese schenkt' es – das Heiligtum – als Geburtstagsgabe (ihm, Apollo Phoibos), welcher nun nach ihr den Namen trägt ... Beim Einzug überschüttet' ihn mit Ruhm das Volk ..., und (Gottvater) Zeus begeistert seinen hohen Sinn mit hoher Kunst und setzt' als vierten Seher ihn auf diesen Stuhl. So ist Apollo Stimme seines Vaters Zeus. Sprecherin: Nicht so friedlich, wie Aischylos suggeriert, erzählt es ein anderer Mythos. Danach musste Apoll erst Python, die mächtige Schlange und Bewacherin des Gaia-Orakels, mit Gewalt verjagen. Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Apollo, der Gott, der den Tod von weitem bringt, schoss einen starken Pfeil auf Python, die, gequält von bitteren Schmerzen, nach Atem rang und über die (Erde) kroch. Schrecklicher Lärm schwoll auf, unbeschreiblich, als sie unaufhörlich sich krümmte ..., und so verlor sie Blut spuckend ihr Leben ... Apollo aber beugte sich über sie und sprach: Du wirst nie wieder lebendig, nie wieder wirst du Verderben bringen über Menschen ... Sprecherin: 3 Das hört sich gruselig an, als ob Erdgöttin und Lichtgottheit, weibliche Natur und männlicher Machtanspruch mit und gegeneinander um Vorherrschaft gerungen hätten. Angesichts der sich widersprechenden Mythen stellt sich natürlich die Frage, was tatsächlich gewesen sein könnte. Wie also ist historisch zu erklären, dass Delphi zu jenem panhellenischen Zentrum wurde, das überall in Griechenland anerkannt wurde? Wie war es möglich, dass ausgerechnet das Orakel von Delphi jene Anziehungskraft entwickeln konnte, die dazu führte, dass Delphi reich und reicher wurde, mit Weihgaben und Geldgeschenken überhäuft, mit Schatzhäusern übersät, in denen sich ansonsten rivalisierende und verfeindete Städte ein Denkmal setzten? Antworten auf diese Fragen sucht Kai Trampedach, Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg, ausgewiesener Fachmann für alle Fragen um Orakel und Wahrsagung im antiken Griechenland. Seine Antwort ist ganz neu und deshalb überraschend. O-Ton 1 – Kai Trampedach: Jeder, der mal in Delphi gewesen ist, kennt – salopp gesprochen – die Magie dieses Platzes ..., das ist natürlich eine Szenerie, die auch früheren Menschen aufgefallen ist und die hier offenbar zu der Ansiedlung dieses Kultplatzes geführt hat. Die Frage wäre ..., wie denn dieser Ort beiträgt zum Erfolg von Delphi. Und da ... hat sich herausgestellt – das konnten ja diejenigen, die dort einen Kult etabliert haben noch gar nicht wissen –, da hat sich herausgestellt, dass Delphi eigentlich einen idealen Ort einnahm, weil es keinem Machtblock ... zuzuordnen war, ein Ort, der auch unzugänglich war, in dessen Nähe es nichts zu holen gab, und das war natürlich für die Unabhängigkeit des Orakels von großer Bedeutung. Also nur an einem solchen Ort konnte überhaupt ein Orakel mit derartiger Ausstrahlung entstehen[, nur an einem Ort, der so weit von allen Machtbildungen und auch von nahen, großen Städten entfernt ist, wie Delphi das gewesen ist. ...] Sprecherin: Wenn es denn gerade die Machtlosigkeit Delphis, die marginale Stellung im Mächtekonzert der zahlreichen gegeneinander rivalisierenden Städte war, die Delphis Einfluss begründete, dann muss das Wirkungen auch auf Form und Inhalt der Orakel selbst gehabt haben. [Der Mythos selbst verdeckt diese Zusammenhänge eher, denn er feiert die Orakelstätte auf seine Weise.] So wird in den "Homerischen Hymnen", die zwischen dem achten und vierten Jahrhundert vor Christus entstanden, Apollo gefeiert und erzählt, dass der Gott alle freundlich und selbstbewusst zur Orakelstätte einlädt. Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Stätte der Weissagung sei er fortan den Menschen, die stets mir zuführen hierher vollzählige Hekatombenopfer, sei's aus der Peloponnes, wo sie fruchtbaren Boden besitzen oder auch aus Europa, von Inseln, die von Wasser umrauscht sind, um sich weissagen zu lassen; ich werd' ihnen unfehlbar raten, allen nach Satzung geben Orakel im schatzreichen Tempel. Sprecherin: Die Einladung Apolls wurde vernommen und alle, alle kamen, Griechen aus der Nachbarschaft und aus der Ferne, der kleine Mann mit seinen alltäglichen Sorgen, aber auch Gesandtschaften zahlreicher griechischer Städte in hochpolitischen 4 Angelegenheiten, ebenfalls Ausländer, die aus Kleinasien, aus Afrika, aus Rom herbeieilten, darunter Könige und Potentaten. Sie näherten sich dem Apollotempel, in dem Pythia, die Prophetin und Seherin auf einem Dreifuß saß. Umständliche Vorbereitungen mussten getroffen werden, bis man den Spruch der Pythia vernehmen durfte, erzählt Kai Trampedach: O-Ton 2 – Kai Trampedach: Dazu muss man erstmal wissen, dass das Orakel nur an bestimmten Tagen befragt werden konnte, nämlich ein regelmäßiger Konsultationstag war der 7. eines Monats, weil das als Tag seiner Geburt galt, und nur vom Frühjahr bis in den Herbst, im Winter, da ruhte der Orakelbetrieb.] Wenn man nun dort ankam, wurde ein Befragungsopfer eingeholt, das die Polis Delphi veranstaltete, und dieses Befragungsopfer hatte die Aufgabe zu klären, ob der Gott überhaupt bereit war zu sprechen. Dann gingen nach einer bestimmten Reihenfolge die Leute, die Fragesteller zum Heiligtum hinauf. Sie mussten dann beim Eingang ins Heiligtum den sogenannten „pélanos“, die Orakelsteuer, bezahlen. Sie durften dann ins Adyton hinuntersteigen, wo sie der Pythia ihre Frage stellten, woraufhin dann der Gott durch den Mund der Pythia geantwortet hat. Es ist nicht die Pythia, die antwortet, sondern der Gott antwortet. Er benutzt die Pythia als Sprachrohr. [Nach dieser Antwort des Gottes verließen die Fragesteller das Heiligtum. Sie konnten jetzt diese Antwort verschriften, um sie dann zu Hause in der Volksversammlung wieder vorzutragen.] Sprecherin: Soweit in etwa der Ablauf, der historisch gesichert ist. Wer aber war Pythia? Dass sie in klassischer Zeit eine Jungfrau war, dass sie sexuell enthaltsam leben musste, dass sie im Tempel wohnte, das alles teilt sie mit anderen Orakelprophetinnen; dass sie vor der Befragung auf einem Lager aus Lorbeer ruhte, war dem Gott Apoll geschuldet, dem der Lorbeer heilig war. O-Ton 3 – Kai Trampedach: Sie wird dadurch ... als Braut des Gottes charakterisiert. Das tut sie, indem sie Lorbeerblätter kaut. Da hat man früher mal gedacht – und dafür gibt’s auch schon antike Vorbilder – , dass das irgendeine toxische Wirkung habe, das ist natürlich gar nicht der Fall. Sie können pfundweise Lorbeer essen, und es wird nichts passieren. ... Sprecherin: Doch was bedeutet es dann, wenn es immer wieder heißt, dass sie „entheos – von Gott begeistert“ gewesen sei? Geriet sie in Trance, in Ekstase, in Raserei? Stand sie etwa unter Drogeneinfluss, atmete sie gar berauschende Erddämpfe ein, die einer Erdspalte im Tempel entströmten, wie es ein später Mythos erzählt, wieder ein Gründungsmythos unter vielen? Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Ein Hirte – Koretas soll sein Name gewesen sein – beobachtete, wie seinen Ziegen Seltsames widerfuhr. Näherten sie sich einer Erdspalte, machten sie ungewöhnliche Sprünge, begannen zu zittern und stießen ungewöhnliche Laute aus. Der Hirte näherte sich der Spalte, beugte sich über den Rand derselben – und plötzlich begann er, in fremden Stimmen zu sprechen und die Zukunft vorherzusagen. Auch seinen Nachbarn 5 geschah dergleichen. Einige wurden wahnsinnig, fielen in den Erdschacht und verschwanden für immer. Da beschlossen die Einwohner von Delphi, eine Prophetin für alle auszuwählen. Über die Erdspalte stellten sie einen Dreifuß, auf dem sie thronte. Sprecherin: Der Mythos wurde gerne aufgenommen. Und so wurde die mysteriöse ErdspaltenDampf-Theorie auch von Plutarch diskutiert, einem spätantiken Schriftsteller und zeitweisen Priester in Delphi, der diese Hypothese als eine unter vielen in Umlauf brachte, allerdings erst um 100 nach Christus. Die Hypothese von berauschenden Erddämpfen hat neuerdings wieder Auftrieb erhalten. Zitator: Im Jahr 2001 behauptete der amerikanischer Geologe Jelle de Boer, auf Grund physikalischer Messungen im Tempel zu Delphi sei das Gas Ethen ausgetreten, das Pythia in Trance versetzt habe. Und wenn das heute nicht mehr geschehe, dann deshalb, weil sich die Austrittswege des Gases durch Erdverschiebungen geschlossen hätten. Diese These wurde bestritten von Giuseppe Etiope, der ebenfalls Geologe ist. Seiner Meinung nach seien es Methan, Ethan und Kohlendioxid gewesen, die aus den Gesteinen ausgetreten seien, bei Einatmung zu Sauerstoffmangel geführt und so die Trancezustände der Pythia verursacht hätten. Sprecherin: Man muss aber wohl über die Nüchternheit eines Historikers verfügen, um all diesen abenteuerlichen Thesen und Hypothesen standzuhalten. Und da kommt wieder Kai Trampedach ins Spiel. Er umreißt aus den Quellen der Zeit, was es tatsächlich bedeutet, wenn die Pythia ihre Sprüche „entheos – von Gott begeistert“ kundtat. O-Ton 4a – Kai Trampedach: [Wir haben ja schon festgestellt, dass die Pythia als Sprachrohr des Gottes galt, als Medium. Nun stellt sich zunächst die Frage: Was kennzeichnete sie als Medium? Das wäre in diesem Fall die Ekstase oder Besessenheit oder Trance. Aber nicht jede Ekstase oder Besessenheit oder Trance ist gleichartig. Die der Pythia ist besonders, auch gerade im Vergleich, im anthropologischen Vergleich.] Die Pythia zeigt keine Zuckungen, kein Rasen, sie steht nicht unter Drogeneinfluss, sie brabbelt auch nicht vor sich hin, sondern ihre Besessenheit oder Ekstase wird an ihrer Sprache deutlich, und zwar sowohl an der Art ihres Sprechens als auch an der Form desselben und am Inhalt der Mitteilung. Was nun die Sprache betrifft, so kann man sagen, sie spricht in Hexametern, sie spricht Dichtung, in dichterischer Weise, und der Hexameter galt in Griechenland als die Sprache der Götter. [Also indem sie in Hexametern sprach, hat sie sich auch als Medium legitimiert. Der Hexameter ist also die Form, die der Gott seiner Sprache in der Kommunikation mit den Menschen gibt. Was nun die Art des Sprechens angeht, so wird man annehmen dürfen, dass auch diese nicht alltäglich war. Es war so eine Art Sprechgesang, wie das ja auch mit dem Hexameter zwangsläufig verbunden ist.] Regie: Die folgenden Hexameter müssen auf Griechisch von einer weiblichen Stimme rezitiert werden, und zwar in einer nicht übertrieben singenden Sprechweise; man kann die Stimme auch in etwas dumpfe Hallatmosphäre setzen – Adynaton-Stimmung! Zitatorin: 6 éuda degó psammú tarithmón kai métra thalássas, kai kóphu synjémi kai ú phonéuntos akúo. – Zitator: Weiß ich doch der Sandkörner Zahl und die Masse des Meeres, selbst den Stummen vernehm' ich, und den Nichtsprechenden hör ich. [Sprecherin: Wie sich Pythia nun genau anhörte, kann man heute natürlich nicht mehr sagen, doch es ist auffällig, dass noch Euripides, der letzte große Tragödiendichter, hervorhebt, dass die Phythia nicht einfach in prosaischer Rede sprach, sondern ihre Verse in singender Weise kundgab. So lässt ein gewisser Ion, der als Priester im delphischen Orakel wirkte, seinen Blick schweifen über die Höhen des Parnass-Gebirges, den Aufgang der Sonne der Sonne begrüßend; dann kommt auch die Pythia in den Blick und wie ihr Sprechgesang erklingt. Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: (leicht singend) Da ist der Sonne leuchtendes Viergespann. Schon leuchtet (Gott) Helios über die Erde, die Sterne weichen dem Licht dieses Feuers in die heilige Nacht. Es leuchten die unersteigbaren Gipfel des Parnass und begrüßen die Scheibe der Sonne, die den Sterblichen scheint. Rauch von von trockener Myrrhe steigt auf... (Da) sitzt auf dem heiligen Dreifuß die Frau aus Delphi und singt den Hellenen den Spruch, den Apoll ihr verkündet. Sprecherin: Die eigenartige Bereitschaft, sich zum Medium eines Gottes machen zu lassen, sich dabei einer nicht alltäglichen und irgendwie entrückenden Sprechweise zu bedienen, erklärt dann wohl auch, weshalb die Pythia eine Frau ist. Kai Trampedach: O-Ton 4b Kai Trampedach: Das hat sicherlich mit dem Frauenbild der griechischen Antike zu tun, das davon ausging, dass Frauen stärker emotionale Wesen sind ..., dass ... ihre Vernunft dieser Inbesitznahme durch den Gott keinen Widerstand entgegenbringen würde. (Stimme oben)] Sprecherin: Pythias „gottbegeisterter“, hexametrischer Sprechgesang ist formal kaum noch zu rekonstruieren, wohl aber weiß man Genaueres über den Inhalt ihrer Worte. Ging es um ganz alltägliche Probleme wie Kinderlosigkeit, Erbschaftsangelegenheiten, Reiseunternehmungen, Auswanderung, dann gab es klare Antworten; eindeutige Weisungen erhielt man auch, wenn kultische Fragen geklärt werden sollten, wenn ein Tempelbau geplant wurde. Ganz anders aber lauteten die Orakelsprüche, wenn es um hochpolitische Fragen ging, um Krieg und Frieden, Fliehen oder Standhalten. Dann 7 klangen sie höchst zweideutig, und dieses Merkmal der Zweideutigkeit war typisch für die Pythia von Delphi, war das, was ihre Orakel von Orakeln anderer Heiligtümer unterschied. Ein berühmtes Beispiel dafür war jene Antwort, die Kroisos, der lydische König in Kleinasien erhielt, wovon der Historiker Herodot ausführlich berichtet. Hintergrund dieser oft erzählten Orakelbefragung von 546 vor Christus war die Frage, ob Kroisos in einen risikoreichen Krieg gegen den persischen Großkönig Kyros ziehen sollte. Zitator: Und Kroisos schickte nach Delphi zwei gewaltig große Mischkessel, einen goldenen und einen silbernen, der eine wurde zur Rechten, der andere zur Linken des Tempels aufgestellt. ... Er schickte einen Schild, in allen Teilen gleichmäßig aus Gold und ähnlich eine feste Lanze, in allen Teilen aus Gold, auch den Lanzenschaft samt der Spitze aus Gold. Als die Lyder nach ihrer Ankunft die Weihgeschenke aufgestellt hatten, wandten sie sich an das Orakel mit den Worten: „Kroisos, der Lyder und der anderen Völker König, hat in dem Glauben, dass dies die einzigen (wahren) Orakel auf der Welt sind, euch Geschenke gegeben ..., und er fragt euch nun, ob er gegen die Perser zu Felde ... ziehen soll.“ So also fragten sie, (das Orakel) sagte dem Kroisos voraus, er werde, wenn er gegen die Perser ziehe, ein großes Reich vernichten. ... Regie: Collage kurz stehen lassen Zitatorin: Kroisos halýn diabás megaläń archäń katalýse ... Zitator: Kroisos wird, den Halysfluss überschreitend, zerstören ein großes Reich ... Sprecherin: Es ist bekannt, wie sich Kroisos über diesen Spruch freute, natürlich deshalb, weil er glaubte, er werde das Reich seines Gegners zerstören. In Wirklichkeit lief es anders herum: Kroisos zerstörte sein eigenes Reich. Und so kann man im Hinblick auf die Zweideutigkeit zunächst einmal sagen, dass das Orakel von Delphi immer recht behielt – egal wie die Sache ausging. Heute wird das „Immunisierungsstrategie“ genannt. Sie liegt immer dann vor, wenn man etwas nicht widerlegen kann. Ein anderer Aspekt ist aber noch wichtiger. Er hängt mit jenen Leitsprüchen griechischer Weisheit zusammen, die von Delphi aufgenommen wurden und sogar in die Mauer des Apollotempels eingemeißelt waren. Die berühmtesten lauteten „Mädén ágan – Tu nichts im Übermaß!“, „métron áriston- Maßvoll ist das Beste“ und dann das berühmte „Gnóthi teautón - Erkenne dich selbst!“, bis heute Leitspruch aller kritischen Geister. Doch genau gegen die delphischen Leitsprüche verstieß Kroisos. Statt den Orakelspruch kritisch zu reflektieren, erlag er der Selbstüberschätzung, der „Hybris“, wie es die Griechen nannten. Und nicht nur er, erzählt Kai Trampedach: O-Ton 5 – Kai Trampedach: [Das Maßhalten war genau das Problem, das „mäden agan – nicht zu viel“, das war ein Problem. Wenn man sich die Rachezyklen in den Bürgerkriegen des 6. bis 4. Jahrhunderts anschaut, dann kann man doch nur sagen, daran hat es gefehlt.] Ich gaube, man wäre ganz falsch beraten, wenn man annähme, dass diese Normen, die wir etwa in Delphi propagiert finden, dass die nun besonders stark in der griechischen 8 Gesellschaft, in der Praxis der griechischen Gesellschaft verwurzelt gewesen wären. Ich glaube, genau das Gegenteil trifft zu. Und das kann man auch für das berühmte „Gnothi teauton“ sagen, für das „Erkenne dich selbst!“. Denn ganz viele Geschichten handeln ja vom „Sich-Verkennen“, also ganz viele Geschichten – denken Sie an Kroisos, aber auch darüber hinaus, ganz viele andere Geschichten, die haben mit dem Verkennen, dem „Sich-selbst-Verkennen“ zu tun. Denn es gibt ja viele Verlierer, viele Fragesteller, die nicht die richtige Reaktion, nicht die richtige Deutung gefunden haben, und da ist genau das Hauptproblem ein Erkenntnisproblem. [Diese Leute scheitern, die scheitern deswegen, weil sie ihre eigene Lage nicht richtig einschätzen, weil sie genau am „Gnothi teauton“ versagen.] Sprecherin: Die Zweideutigkeit der delphischen Orakelsprüche offenbart also etwas ganz Spannendes. Die Fragesteller durften nicht von einem „Orakelautomatismus“ ausgehen, also frei nach dem Schema: Rauf nach Delphi, Eintrittsgeld rüberreichen, einige Reinigungsriten vollziehen, ein Opfer darbringen, Orakelspruch abholen und fertig! So einfach kam man in Delphi nicht davon: Die Zweideutigkeit der Orakel forderte vom Empfänger eigenes Nachdenken, deutende Reflexion, kritische Selbstbesinnung. Und das vor allem bei politischen Angelegenheiten, wie auch der berühmteste Fall zeigt, als im fünften Jahrhundert vor Christus die übermächtigen Perserheere des Darius und Xerxes ganz Griechenland, ganz Europa in Angst und Schrecken versetzten. [Natürlich machte sich eine Gesandtschaft aus Athen nach Delphi auf, von tiefer Sorge um die Zukunft erfüllt, durchdrungen von den Bewusstsein, dass das Freiheitsmodell der griechischen Städte tödlich bedroht sei. Wie sollte man sich also verhalten: Stillhalten, Flucht oder Widerstand? Delphi verhielt sich alles andere als eindeutig, wie Herodot berichtet.] Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Die Athener hatten Boten nach Delphi geschickt und waren bereit, sich einen Spruch geben zu lassen. Furchterregendes hörten sie von jener Pythia, die Aristonike hieß: Zitatorin: Unglückselige ihr, was sitzt ihr noch? Fliehet von hinnen, fort zu den Enden der Erde und fort von den Höhen der Stadt! Denn es bleibt nicht bestehen das Haupt noch der übrige Körper ..., sondern dahin wird es gehen, denn Feuer wird es zerstören ... Darum verlasst das heilge Gemach, fasst (aber) Mut bei dem Unheil. Zitator: Als das die Boten hörten, waren sie aufs Tiefste betrübt. Ihnen aber riet Timon, ein unter den Delphern hoch angesehener Mann, Ölzweige zu nehmen und ein zweites Mal wieder zu kommen und das Orakel als Schutzflehende zu befragen. Und so verkündete die Pythia beim zweiten Mal folgendes: Regie: Collage kurz stehen lassen Zitatorin: 9 (Nichts) vermag Zeus, den olympischen (Gott) zu erweichen, wenn (man) auch bittet und fleht mit Worten und kluger Beratung. Dir aber sag ich zum andern ein Wort, das fest ist wie Diamant: Alles ... erliegt wohl dem Feind ... Nur die hölzerne Mauer schenkt unverwüstet (Gottvater) Zeus ..., für dich und die Kinder zum Nutzen ... Zitator: Als die Boten nach ihrer Heimkehr diese Worte der athenischen Volksversammlung vorlegten, da gab es viele verschiedene Meinungen, die den Sinn des Orakels zu deuten suchten, so dass man gegeneinander stritt im Austausch der Argumente. Was etwa war gemeint mit den „hölzernen Mauern“, die zu errichten Rettung versprach? War es jene Dornenhecke, die den Burgberg umgab? Sollte man die verteidigen? Oder waren mit den „hölzernen Mauern“ nicht vielmehr Schiffe gemeint, die man in offener Seeschlacht einzusetzen habe? Sprecherin: Fragen also über Fragen! Man weiß heute, dass sich die Athener zur Seeschlacht im benachbarten Salamis entschlossen, die 480 vor Christus für sie überraschend siegreich verlief. Was aber hatte das Orakel von Delphi dazu beigetragen? Kai Trampedach: O-Ton 6 – Kai Trampedach: Gerade durch die Rätselhaftigkeit – oder Vieldeutigkeit besser gesagt – der Antworten wurden ja diese Antworten faktisch an die Fragesteller zurück verwiesen, aber auf einer anderen Ebene. Da wird also die Frage der Athener an die Volksversammlung zurück verwiesen, und dann sehen wir, dass in der Volksversammlung nun über die Antworten diskutiert wird. Es werden Vorschläge gemacht, von denen sich der durchsetzt, dem es am besten gelingt, die politische Situation mit dem Orakelspruch in Übereinstimmung zu bringen, d. h. die Antwort der Pythia setzt einen Reflexionsprozess in Gang, der die politische Rationalität fördert, der nämlich eine öffentliche Debatte sozusagen stimuliert über ganz zentrale Fragen der griechischen Polis. Insofern glaube ich, dass kein Widerspruch besteht zwischen Mantik und Rationalität, sondern im Gegenteil, dass die Mantik der Rationalität auf die Sprünge hilft. Sprecherin: Das sind nun überraschende Perspektiven, die Delphi in ganz neuem Licht erscheinen lassen. Keine mysteriösen Irrationalitäten also prägten Pythia und Orakel, sondern eine zutiefst rationale Beziehung von Prophetie und Politik, von Religion und Vernunft, wie sie sonst niemals und nirgends in der altorientalischen oder antiken Welt beobachtet werden konnte. Die rationale Komponente in den Orakeln von Delphi zeigt sich auch in einer anderen Überlieferung, die Aischylos, der große Tragödiendichter, gestaltet hat, und zwar in der Dramentrilogie, die man "Orestie" nennt. Im Mittelpunkt steht Orest, der seine Mutter Klytaimnestra ermordet hatte, ein grausiges Verbrechen, in das er tragisch verstrickt war. Zum Muttermörder wurde er nämlich deshalb, weil er das Gesetz der Blutrache zu exekutieren hatte, denn seine Mutter hatte seinen Vater Agamemnon hinterhältig ermordet. Jetzt ist der von Blut besudelte Orest auf der Flucht, verfolgt von den gorgonenhaften Erinnyen, den Fluchgeistern der ermorderten Mutter, die ihn in den Wahnsinn treiben. So gelangt er schließlich nach Delphi, getrieben von der Hoffnung, sich von der lastenden Blutschuld zu reinigen. So sieht ihn Pythia, wie er abgerissen, verzweifelt, mit Schuld beladen am Nabelstein im Tempelinneren kauert, den Zweig 10 eines Ölbaums in seinen flehenden Händen haltend. Pythia ist entsetzt, kann sie helfen? Zitatorin: Ich trete in das reichbekränzte Innre ein, und an der Erde Nabel, wo Verfolgte flehn, erblick ich einen fluchbetroffnen Mann, von Blut die Hände triefend, der ein frisch gezücktes Schwert und einen hochgewachsnen Zweig des Ölbaums hält ... Vor diesem Manne, zum Erstaunen, eine Schar von Weibern, schlummernd auf ihren Sitzen hingestreckt, nein Weiber nicht, Gorgonen eher nenn ich sie ..., aber sie ungeflügelt anzuschaun sind diese, schwarz, und Ekel nur erregen sie. Von ihrem Schnarchen strömt ein unnahbarer Hauch, und aus den Augen quillt ein widerwärtges Nass. Sprecherin: Man ahnt es schon, auch die Pythia ist hilflos. Den Fluch kann sie nicht lösen. Und so ruft sie den Tempelgott Apoll herbei, der aber auch nicht helfen kann. Zwar wird ein Reinigungsopfer veranstaltet, um Orest zu entsühnen. Doch kultische Rituale sind nicht mehr stark genug, moralische Schuldenlast, mag sie auch tragischer Verstrickung entstammen, zu tilgen. [So ist auch Apoll ebenso hilflos wie die Pythia.] Eine Lösung wird erst gefunden, als Apoll den Orest nach Athen begleitet, wo beide vor den Areopag treten, ein weltliches Gericht, in dem in rationaler Rede und Gegenrede, im Austausch belastender und entlastender Argumente die Schuldfrage verhandelt wird. Zwar wird Orest nicht eindeutig freigesprochen, aber das weltliche Gericht ist in der Lage, das alte, menschenmordende Rachedenken abzulösen, so dass endlich Rechtsfrieden eintritt. Die archaischen Rachegeister der Erinnyen wandeln sich in wohlmeinende Eumeniden, den Geist des bürgerlichen Friedens gewährend. Zitator: Schreitet zur Wohnstatt, ihr großen, ihr hochgepriesenden, greisen Töchter der Nacht; mit ehrfurchtsvollem Geleite. Volk! Verharre in heiligem Schweigen ... Gewogen dem Lande, gnädig zieht ihr Hocherhabenen, euren Pfad, ergötzt durch glühende Fackeln. [Jauchzt nun auf zu Feiergesängen!] Friede für immer besiegelt... Jauchzt nun auf zu Feiergesängen! Sprecherin: Das ganze Geschehen kann als Meilenstein in der Entwicklung von Humanität und Sittlichkeit gewertet werden. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Orakelstätte von Delphi, dass Pythia und Apoll dazu beigetragen haben. Die zweideutigen Orakelsprüche beförderten den politischen Diskurs, die rituelle Kultfrömmigkeit wurde in bürgerliches Rechtsdenken überführt. Geheimnisvolles Wahrsagen verband sich mit politischer Rationalität, religiöse Entsühnung wurde 11 ergänzt durch weltliche Rechtsfindung. Sicher, nicht immer gab es solche Sternstunden wie angesichts der Persergefahr, nicht immer konnte sich die delphische Religion auf jener Höhe halten, die von Aischylos dramatisiert wurde. Aber immerhin funktionierte der Orakelbetrieb in Delphi über ein Jahrtausend. Entmächtigt wurde Delphi erst durch das Christentum. Als der spätrömische Kaiser Julian noch einmal versuchte, das Orakel prominent zu beleben, erhielt er im Jahre 362 nach Christus einen diesmal eindeutigen Spruch. Und einmalig ist dieser Spruch auch, denn niemals vorher oder nachher verkündete ein Gott seine Selbstabdankung. Regie: Collage kurz stehen lassen Zitator: Künde dem Herrscher, zerstört liegt die kunstgesegnete Stätte, Phoibos (Apoll) besitzt kein Dach mehr und keinen prophetischen Lorbeer; verstummt ist der sprechende Quell, es schweigt das murmelnde Wasser. ***** 12