2 Gewöhnliche Differentialgleichungen 2.1 Einleitung 2.1.1 Einführendes Beispiel: Die Traktrix Wir leiten dieses Kapitel durch ein Beispiel ein. Das eine Ende eines gestreckten Fadens der Länge L werde auf einer horizontalen Tischplatte entlang einer Geraden (x-Achse) gezogen. Auf welcher Kurve y = y(x) (“Schleppkurve” oder “Traktrix”) wird ein am anderen Fadenende befestigtes Gewichtstück nachgezogen, wenn dieses sich zu Beginn an einer gegebenen Position (x, y) = (0, a), mit |a| ≤ L, befindet ? y(x) a y(x1 ) x1 x x2 Zu einem beliebigen Punkt (x1 , y(x1)) auf der Kurve, mit x1 > 0 liegt das ziehende Fadenende auf der x-Achse bei x = x2 > x1 , wobei nach Pythagoras gilt p y(x1 )2 + (x2 − x1 )2 = L2 ⇒ x2 − x1 = L2 − y(x1 )2 . (94) Andererseits bildet der ziehende Faden gerade die Tangente an die Kurve im Punkt (x1 , y(x1 )). Die entsprechende Tangentensteigung ist daher gegeben durch y ′(x1 ) = − y(x1 ) , x2 − x1 (95) worin y ′ (x) die Ableitung der gesuchten Funktion y(x) bezeichnet. Es folgt also y ′ (x) = − p y(x) , − y(x)2 L2 (96) worin wir x1 durch x ersetzt haben. Diese Beziehung muß für alle x > 0 erfüllt sein. Sie stellt aber auch, wie wir in Abschnitt 2.2.1 sehen werden, eine hinreichende Bedingung zur eindeutigen Bestimmung der unbekannten Funktion y(x) dar, sofern die Anfangsbedingung y(0) = a, mit einer fest vorgegebenen Zahl a mit |a| < L, bekannt ist. 16 2.1.2 Allgemeine Definition Gl. (96) ist eine sog. Differentialgleichung, da sie eine Beziehung zwischen einer gesuchten Funktion y(x) und deren Ableitung y ′ (x) herstellt. Aus eben diesem Grund kann man die gesuchte Funktion y(x) nicht einfach durch algebraisches “Auflösen nach y” finden. Ehe wir Lösungsverfahren besprechen werden, wollen wir zunächst Grundbegriffe klären. Während gewöhnliche Gleichungen, wie etwa die quadratischen Gleichung x2 + 4x + 13 = 0, (97) Zahlen als Lösungen haben (hier: x1,2 = −2 ± 3 i ), wird eine Differentialgleichung (DGl) durch Funktionen gelöst. Unter einer DGl versteht man allgemein eine Beziehung zwischen einer unbekannten (gesuchten) Funktion und einer oder mehrerer ihrer Ableitungen. Bsp.: Hier ist eine DGl für die unbekannte Funktion y(x), y ′′(x) + 4y ′(x) + 13y(x) = 0. Ihre Lösungsmenge ist eine Funktionenschar (mit zwei Scharparametern a und b), n o L = y(x) = a cos(3x) + b sin(3x) e−2x a, b ∈ R . (98) (99) Da in dieser DGl neben der gesuchten Funktion y(x) auch deren Ableitungen y ′ (x) und y ′′ (x) auftreten, kann sie nicht einfach nach der Unbekannten y(x) “aufgelöst” werden, sondern erfordert ein besonderes Lösungsverfahren. Def.: Eine DGl heißt gewöhnlich, wenn die Unbekannte eine Funktion y(x) von nur einer Variable x ist. Eine gewöhnliche DGl heißt von n-ter Ordnung, wenn y (n) (x) die höchste in ihr auftretende Ableitung von y(x) ist. Gl. (98) ist also eine DGl zweiter Ordnung. Dagegen ist die Gleichung der Traktrix von erster Ordnung. Bem.: Ist die Unbekannte einer DGl eine Funktion von mehreren Variablen, so spricht man von einer partiellen DGl. Ein Beispiel ist die Wellengleichung 1 ∂ 2 y(x, t) ∂ 2 y(x, t) = . c2 ∂t2 ∂x2 17 (100) 2.2 DGlen erster Ordnung: Trennung der Variablen Viele DGlen erster Ordnung lassen sich durch “Trennung der Variablen” lösen. Dieses Verfahren wird hier am Beispiel der Traktrix-Gleichung erläutert. Zwei weitere Anwendungsbeispiele folgen. (Als Gegenbeispiel, das diesem Verfahren nicht zugänglich ist, erwähnen wir die inhomogenen linearen DGlen erster Ordnung aus Abschnitt 2.4.2.) 2.2.1 Lösung der Traktrix-Gleichung Die spezielle DGl der Traktrix besitzt die allgemeine Form f y(x) y ′(x) = g(x), (101) mit zwei vorgegebenen Funktionen f (y) und g(x), hier p a2 − y 2 f (y) = , g(x) ≡ −1. y (102) Gl. (101) heißt eine DGl mit getrennten Variablen. Sei nämlich f (y) = F ′ (y) und g(x) = G′ (x). Dann ist y(x) offenbar eine Lösung der DGl (101), wenn gilt F y(x) = G(x) + C (C ∈ R, beliebig). (103) Ist F (y) zudem explizit invertierbar, so folgt direkt y(x) = F −1 G(x) + C (C ∈ R). (104) Dies ist eine ganze Schar (mit C als Parameter) von Lösungen der DGl (101)! Bsp. 1: Für die DGl der Traktrix haben wir die Stammfunktionen p a + a2 − y 2 p 2 − a − y 2, G(x) = −x. F (y) = a ln y (105) Die Funktion F (y) ist zwar nicht explizit invertierbar, aber die inverse Funktion existiert, und man kann die exakte Lösung graphisch darstellen. Merkregel (Trennung der Variablen): Läßt sich eine DGl auf die Form f (y) dy = g(x) dx (106) dy bringen [wobei y ′(x) = dx formal als Quotient behandelt wird], dann erhält man durch formale Integration beider Seiten (107) F (y) + C1 = G(x) + C2 ⇒ y = F −1 G(x) + C1 + C2 | {z } C 18