SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer Swiss Medical Forum 34 24. 8. 2016 681 B. de Kalbermatten, S. Malacarne, C. Tran, et al. Hypoglykämie bei Patienten ohne Diabetes 687 M. Triantafyllidou, M. Paul, G. Müllner, C. Hess Wenn die medikamentöse Therapie zur System­ erkrankung führt 690 Z. Ivanova, S. Morf, G. Stuckmann, P. E. Ballmer Thoraxschmerz nach lautstarkem Singen With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly” 676 S. A. Dietler-Shaw, E. Lemmenmeier, M. Schlegel, et al. Tollwutrisiken in der Schweiz Offizielles Fortbildungsorgan der FMH Organe officiel de la FMH pour la formation continue Bollettino ufficiale per la formazione della FMH Organ da perfecziunament uffizial da la FMH www.medicalforum.ch INHALTSVERZEICHNIS 673 Redaktion Beratende Redaktoren Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel; Basel (Managing editor); Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern; Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-deFonds; Prof. Dr. Gérard Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern Advisory Board Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich; Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds; Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne; Dr. Sven Streit, Bern Und anderswo …? A. de Torrenté 675 Lyme-Borreliose: verlängerte Therapie zur Vermeidung von Spätsymptomen? Übersichtsartikel AIM S. A. Dietler-Shaw, E. Lemmenmeier, M. Schlegel, R. Zanoni, A. Niederer-Loher Tollwutrisiken in der Schweiz 676 Die Tollwut ist eine tödliche virale Enzephalomyelitis, die über Bisse und Speichelkontakte mit infizierten Säugetieren übertragen wird. Auch wenn die Schweiz seit Jahren als frei von terrestrischer Tollwut gilt, sind Fragen bezüglich prä- oder postexpositioneller Prophylaxe im Alltag häufig. B. de Kalbermatten, S. Malacarne, C. Tran, J. Jaafar, J. Philippe Hypoglykämie bei Patienten ohne Diabetes 681 Zur Erfassung einer nicht diabetischen Hypoglykämie ist zuerst eine genaue und umfassende Anamnese erforderlich. Sobald der Verdacht besteht, müssen die drei Kriterien der WhippleTrias erfüllt sein, um von einer Hypoglykämie zu sprechen. Die häufigsten Ursachen sind Arzneimittel, eine Leber-, Nieren-, Herz- oder Nebenniereninsuffizienz, Mangelernährung, Sepsis und bariatrische Operationen. Eine strukturierte Diagnosestellung ist unverzichtbar. Fallberichte M. Triantafyllidou, M. Paul, G. Müllner, C. Hess 687 Wenn die medikamentöse Therapie zur Systemerkrankung führt Wir berichten von einem zuvor gesunden Patienten, welcher 13 Tage nach Beginn einer oralen Mesalazin-Therapie eine 5-ASAinduzierte Polyserositis mit Perimyokarditis und Begleitnephritis entwickelte. Z. Ivanova, S. Morf, G. Stuckmann, P. E. Ballmer 690 Thoraxschmerz nach lautstarkem Singen Notfallmässige Vorstellung eines 19-jährigen Patienten per Rettungsdienst wegen atemabhängiger Brustschmerzen. Der Patient war Teilnehmer an einer Musikfestwoche und hatte am Festival lautstark gesungen. INHALTSVERZEICHNIS 674 Fallberichte K. Büchel, G. Singer, T. Niemann, J. H. Beer, A. Gross 694 Der verkalkte Umweg zur Diagnose Wir berichten über den Fall eines 71-jährigen Patienten, der aufgrund eines rezidivierenden, tachykarden Vorhofflimmerns hospitalisiert wurde. Im konventionellen Röntgenbild des Thorax zeigte sich eine pleuraständige Raumforderung in Projektion auf den posterobasalen Unterlappen rechts. Zusätzlich fiel eine diskrete, basal betonte, retikuläre Zeichnungsvermehrung mit teils nodulärer Komponente auf. Leserbrief B. Gurtner 698 Die Kunst des Konsils Extended abstracts from SMW New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 698. Impressum Swiss Medical Forum – Schweizerisches Medizin-Forum Offizielles Fortbildungsorgan der FMH und der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin Marketing EMH / Inserate: Dr. phil. II Karin Würz, Leiterin Marketing und Kommunikation, Tel. +41 (0)61 467 85 49, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected] Redaktionsadresse: Ruth Schindler, Redaktionsassistentin SMF, EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 58, Fax +41 (0)61 467 85 56, [email protected], www.medicalforum.ch Abonnemente FMH-Mitglieder: FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, Elfenstrasse 18, 3000 Bern 15, Tel. +41 (0)31 359 11 11, Fax +41 (0)31 359 11 12, [email protected] Andere Abonnemente: EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Abonnemente, Farnsburgerstrasse 8, 4132 Muttenz, Tel. +41 (0)61 467 85 75, Fax +41 (0)61 467 85 76, [email protected] Abonnementspreise: zusammen mit der Schweizerischen Ärztezeitung 1 Jahr CHF 395.– / Studenten CHF 198.– zzgl. Porto; ohne Schweizerische Ärzte zeitung 1 Jahr CHF 175.– / Studenten CHF 88.– zzgl. 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Dies wird als chronische LB bezeichnet: anhaltende Müdigkeit, neurologische und kognitive Störungen nach Abheilung des Erythema migrans, unabhängig davon, ob dieses behandelt wurde. In Vorgängerstudien konnte durch eine verlängerte Antibiotika(AB-)Therapie keine überzeugende Symptomverbesserung erzielt werden und die meisten Richtlinien empfehlen keine länger als 2–4 Wochen dauernde Therapie. Diese Frage wollte die niederländische PLEASE-Studie («Persistant Lyme Empiric Antibiotic Study Europe») beantworten. Methode Die Studie war randomisiert, doppelblind und plazebokontrolliert. Überdies ist interessant, dass sie in Europa mit Borrelienstämmen durchgeführt wurde, die sich von denen der Vorgängerstudien in den USA unterscheiden. Die Patienten wurden von 2010–2013 rekrutiert. Sie mussten Symptome einer chronischen LB nach einem Erythema migrans oder einen positiven Bluttest aufweisen. Alle erhielten 14 Tage (d) lang täglich 2 g Ceftriaxon. Tuberkulose und HIV: ein neuer Test Patienten mit HIV-Infektion sind sehr häufig an Tuberkulose erkrankt und ihre Mortalität ist hoch. Könnte eine Frühdiagnose einen Teil retten? Ein neuer Urinschnelltest (25 Minuten), der einen Bestandteil der Zellwand des KochBazillus (Lipoarabinomannan) nachweist, hat bei Patienten mit einer CD 4-Zellzahl von <200/µl eine Sensitivität von 50 und eine Spezifizität von 94%. Am Krankenbett durchgeführt, ermöglicht er den schnellen Beginn einer Tuberkulosetherapie und verringert die 8-Wochen-Mortalität. Bei höherer Sensitivität wäre eine Anwendung des Tests eventuell auch bei Patienten ohne HIV möglich. Peter JG, et al. Lancet. 2016;387(10024):1187–97. Aortenklappenersatz mittels Katheter Seit einigen Jahren ist es möglich, eine stenosierte Aortenklappe transfemoral zu ersetzen («transcatheter aortic valve replacement», TAVR). Eine der Hauptindikationen ist, dass der Patient für einen chirurgischen Klappenersatz zu schwach ist. Die «Placement of Aortic Transcatheter Valves (PARTNER)»-Studie hat Anschliessend wurden sie auf 3 Gruppen randomisiert: 12 Wochen 1) Doxycyclin 100 mg 2×/d + Plazebo 2×/d, 2) Clarithromycin 500 mg 2×/d + Hydroxychloroquin 200 mg 2×/d oder 3) 4 Plazebokapseln/d. Alle Kapseln sahen gleich aus. Zu Studienbeginn, nach 14 (Therapieende), 40 und 52 Wochen wurde ein Fragebogen ausgeteilt. Dieser RAND SF-36-Fragebogen dient zur Beurteilung der körperlichen Funktionsfähigkeit oder von körperlichen Einschränkungen, Schmerzen sowie der allgemeinen Gesundheitswahrnehmung (Punktzahl von 15–61, je höher die Punktzahl, desto besser das Ergebnis). In der Allgemeinbevölkerung beträgt die Punktzahl 50 ± 10. Resultate 86 Patienten wurden in die Doxycyclin-, 96 in die Clarithromycin- + Hydroxychloroquinund 98 in die Plazebogruppe eingeschlossen. Am Ende der Ceftriaxoneinnahme und der anderen Evaluierungszeiträume gab es mit einem durchschnittlichen kombinierten SF-36Score von ca. 35 keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Jedoch hatte sich am Therapieende in allen Gruppen die körperliche Funktionsfähigkeit laut SF-36 von 32 auf 36 Punkte verbessert. Die häufigsten Nebenwirkungen in Form von Übelkeit und Photosensibilisierung unter Doxycyclin bei 16 Patienten waren auf die AB-Behandlungen zurückzuführen. das Schicksal von Patienten nach TAVR anhand von 1220 Frauen und 1339 Männer mit hohem OP-Risiko untersucht. Bei den Frauen kam es zu mehr vaskulären Komplikationen (17 vs. 10%) und starken Blutungen (10,5 vs. 7,7%). Die 30-Tages-Mortalität der beiden Gruppen war mit ~6% identisch. Nach einem Jahr ging es den Frauen mit einer Mortalität von 19 vs. 26% jedoch besser. Leider sind diese Zahlen sehr hoch. Vielleicht sollte die Indikation früher gestellt werden … Kodali S, et al. Ann Intern Med. 2016;164:377–84. Antibiotika und Atemwegsinfektionen Das American College of Physicians und die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) haben neue Richtlinien für Atemwegsinfektionen herausgegeben. Quintessenz: – Bei Bronchitis (ohne Pneumonieverdacht) keine Antibiotika (AB). «Purulente» Expektorationen sind nicht mit einer bakteriellen Infektion gleichzusetzen. – Bei Verdacht auf Streptokokken-A-Pharyngitis (anhaltendes Fieber, Schwellung der vorderen Halslymphknoten, mit Exsudat SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):675 Probleme Das Hauptproblem ist das Fehlen einer reinen Plazebogruppe (ohne Ceftriaxon oder sonstige AB), um eine fehlende mit den verlängerten Behandlungen vergleichen zu können. Die Gruppen waren relativ klein. Ca. ²⁄₃ der Patienten wurden ausschliesslich aufgrund des positiven Bluttests eingeschlossen. Kommentar Für die 10–20% der Patienten, die nach einer korrekt behandelten LB an chronischen Symptomen leiden, ist diese Studie nicht wirklich beruhigend. Nichtsdestotrotz ist sie sehr sinnvoll, da sie den Betroffenen eine eventuell nicht nebenwirkungsfreie verlängerte ABTherapie erspart. Ein Pluspunkt der Studie ist die Berücksichtigung «europäischer» Borrelienstämme. Warum die Spätsymptome in Form von muskuloskelettalen Schmerzen, Sensibilitätsstörungen mit Dysästhesien und kognitiven Problemen auftreten, bleibt nur zu vermuten. Sind die Betroffenen psychisch instabil? Leiden sie an einem chronisch-entzündlichen Zustand? Sollte eine psychiatrische Behandlung erwogen werden, die jedoch möglicherweise schlecht akzeptiert würde? Das Geheimnis bleibt ungeklärt. Berende A. N Engl J Med. 2016;374(13):1209–20. überzogene Tonsillen) ist ein Schnelltest zur Bestätigung oder eine Rachenabstrichkultur angezeigt. Bei Bestätigung der Infektion ist eine AB-Therapie indiziert. – Bei Rhinosinusitis sind AB nur angezeigt, wenn die Symptome >10 Tage andauern und starkes Fieber mit purulenter Rhinorrhoe und Gesichtsschmerzen besteht. – Keine AB bei einer einfachen Erkältung. Manchmal fällt es sehr schwer, den Wünschen des Patienten zu widerstehen, auch wenn eine AB-Therapie eindeutig kontraindiziert ist … Harris AM, et al. Ann Intern Med. 2016;164:425–34. Abholzung und Malaria Seit der massiven Abholzung in Malaysia treten Plasmodium Knowlesi-Infektionen beim Menschen auf, die zuvor nur bei bestimmten Affenarten beobachtet wurden. Der Grund dafür ist unklar, die Abholzung könnte jedoch den Kontakt von Mensch und Anopheles Leucosphyrus vereinfachen. Die Zerstörung eines Ökosystems bleibt eben nicht folgenlos. Friedrich MJ. JAMA. 2016;315:1100. ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 676 Wann sind prä- und postexpositionelle Prophylaxe indiziert? Tollwutrisiken in der Schweiz Dr. med. Susy Ann Dietler-Shaw a,*, Dr. med. Eva Lemmenmeier a,*, Dr. med. Matthias Schlegel a , Prof. Dr. med. vet. Reto Zanoni b , Dr. med. Anita Niederer-Loher a,c Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene, Kantonsspital St. Gallen, St. Gallen; b Schweizerische Tollwutzentrale, Institut für Virologie und Immunologie IVI, in Kooperation mit der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern, Bern; c Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen *Diese Autorinnen haben zu gleichen Teilen zum Manuskript beigetragen. a Die Tollwut ist eine tödliche virale Enzephalomyelitis, die über Bisse und Speichelkontakte mit infizierten Säugetieren übertragen wird. Auch wenn die Schweiz seit Jahren als frei von terrestrischer Tollwut gilt, sind Fragen bezüglich prä- oder postexpositioneller Prophylaxe im Alltag häufig. Beispiel aus der Praxis Eine 40-jährige Patientin wurde in Graubünden beim Spazieren von einem Hund gebissen. Der Hundebesitzer kommt aus Russland, ist lediglich für eine Woche in der Schweiz und reist dann ohne Adressmitteilung wieder ab. Er gibt an, dass sein Hund geimpft sei. Nun meldet sich die Patientin besorgt bei Ihnen in der Praxis. An ihrer linken Wade finden sich vier kleine, relativ tiefe Wunden ohne Infektionszeichen. Sie ist nicht gegen Tollwut geimpft. Führen Sie nun eine postexpositionelle Tollwutprophylaxe durch? Einleitung Tollwut wird durch ein neurotropes Lyssavirus verursacht, das sein Reservoir in terrestrischen Raubtieren inklusive Hund und davon unabhängig in Fledermäusen hat. Es findet sich vor allem im Speichel von infizierten Tieren. Eine Übertragung kann nicht nur durch Bisse, sondern auch durch Kratzer und Kontakt von Tierspeichel mit nicht intakter Haut, offenen Wunden oder Schleimhäuten erfolgen (Tab. 1). Die Inkubationszeit variiert von fünf Tagen bis mehre- Susy Ann Dietler-Shaw Eva Lemmenmeier ptom) äussert, dann in einen Agitationszustand mit ren Jahren, beträgt aber typischerweise zwei bis drei Pharynxspasmen und allenfalls Hydrophobie, oft aber Monate, selten länger als ein Jahr. Sie ist zudem abhän- auch nur in rasch progressive Lähmungs- und weitere gig von der Nervenversorgung am Ort der Inokulation, ZNS-Ausfallerscheinungen übergeht und sich schliess- der Menge des inokulierten Speichels und der Schwere lich als Koma und Tod durch irreversible Schädigung der Verletzung. der Atmungs- und Kreislaufzentren manifestiert. Die Inkubation erfolgt vom Immunsystem unbemerkt Die klinische Diagnose ist schwierig. Bei Verdacht kann zum grössten Teil extraneural, bis das Virus über eine die Infektion durch einen Virusnachweis aus einer neuromuskuläre Endplatte ins periphere Nervensys- Hautbiopsie im Nackenbereich (Haarübergang), Liquor tem gelangt, wo es immunprivilegiert ist und retro- oder Speichel diagnostiziert werden. Auch ein positiver grad ins Zentralnervensystem (ZNS) transportiert Antikörpernachweis im Serum (ungeimpfte Person) wird. Hier befällt es das gesamte Nervensystem und oder Liquor erlaubt die Diagnose. Post mortem finden führt zu einer Enzephalomyelitis, die sich primär als sich pathognomonische Veränderungen wie mikro- unspezifisches virales Syndrom (Fieber, Schüttelfrost, skopisch sichtbare Negri-Körperchen (eosinophile zyto- Myalgien, Müdigkeit, Kopfschmerzen sowie Parästhe- plasmatische Einschlüsse) in betroffenen Regionen im sien an der Bissstelle als hinweisendes, frühes Sym- Gehirn. Der sensitive Nachweis des für diese Struktur SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):676– 680 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 677 verantwortlichen Virusantigens erfolgt mittels Immun- tion der prä- beziehungsweise postexpositionellen fluoreszenz. In der Schweiz werden diese Untersuchun- Prophylaxe entscheidend. Sie steht deshalb im Fokus gen durch die Schweizerische Tollwutzentrale am dieses Artikels. Institut für Virologie und Immunologie der VetsuisseFakultät, Standort Bern, durchgeführt. Es existiert keine gezielte Therapie, und eine Tollwutinfektion verläuft bei Säugetieren immer fatal. Es fin- Epidemiologie Die Schweiz gilt seit 1999 offiziell als frei von terrestri- den sich ein gutes Dutzend Fallbeschreibungen von scher Tollwut, nachdem zu diesem Zeitpunkt in der überlebenden Menschen bei weltweit jährlich über Schweiz während zweier Jahre keine tollwutinfizierten 50 000–60 000 Tollwutfällen. In Anbetracht dieser landlebenden Wildtiere, insbesondere Füchse, mehr nahezu 100%-igen Mortalität ist die sorgfältige Indika- festgestellt wurden [1]. Diese Errungenschaft war auf die orale Immunisierung der Füchse zurückzuführen, welche die Schweiz als weltweit erstes Land 1978 im Feld Tabelle 1: Kontaktkategorien und empfohlene postexpositionelle Prophylaxe (PEP). erfolgreich erprobt und in der Folge etabliert hatte. Kontaktart Art der PEP Kategorie I Berühren oder Füttern von Tieren, Lecken der intakten Haut Keine Kategorie II Schnappen von unbe- Sofortige aktive deckter Haut, kleine Impfung, WundKratzer oder Schürfun- behandlung gen ohne Bluten Kategorie III Der Rotfuchs ist das Reservoir der in Europa vorherrschenden Wildtiertollwut, die im westlichen Europa wie in der Schweiz unter Kontrolle gebracht wurde. Einzelne oder mehrere Sofortige aktive und transdermale Bisse passive Impfung, oder Kratzer, Lecken Wundbehandlung von nicht intakter Haut; Kontamination von Schleimhäuten mit Tierspeichel, Kontakt mit Fledermäusen Adaptiert nach WHO Factsheet Rabies, http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs099/en/. Mit freundlicher Genehmigung der WHO. Alle benachbarten Länder der Schweiz sind frei von terrestrischer Tollwut. Gesamthaft wurden in Europa in den letzten zehn Jahren (2005–2015) 78 771 Tollwutfälle hauptsächlich bei Wildtieren (Füchsen) und 104 humane Tollwutfälle gemeldet, wovon die meisten in Osteuropa und Russland registriert wurden [2]. Dementsprechend ist die Fuchs-Tollwutfreiheit Westeuropas als fragil zu betrachten. Für den Menschen kritischer als die Wildtiertollwut ist die Hundetollwut, die in ganz Asien, Afrika, Teilen Lateinamerikas und dem mittleren Osten verbreitet und für die meisten Tollwutfälle beim Menschen ver- High risk Moderate risk Low risk No risk No data available Not applicable Abbildung 1: Karte der weltweiten Tollwutprävalenz. Quelle: http://www.who.int/rabies/Global_distribution_risk_humans_contracting_rabies_2013.png?ua=1. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der World Health Organisation (WHO). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):676– 680 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 678 antwortlich ist (Abb. 1) [3]. Andere Haustiere wie Katzen, onsrisiko haben. Dazu zählt der Umgang mit potentiell Wiederkäuer und Pferde sind, wie auch der Mensch, infizierten Tieren (Fledermäuse, eingeführte Haustiere für die Tollwut empfänglich, können aber die Tollwut oder Haustiere unbekannter Herkunft) oder mit Toll- nicht innerhalb der eigenen Spezies aufrechterhalten. wutviren in einem entsprechenden Labor [1]. In Anbetracht der grossen humanen Reisetätigkeit und Die Grundimmunisierung besteht aus drei Dosen an der Migration ist eine illegale Einfuhr von angesteck- Tag 0, 7 und 21–28 sowie einer Boosterdosis nach frü- ten Haustieren speziell aus Ländern mit endemischer hestens 12 Monaten. In der Schweiz sind Tollwut Mé- Hundetollwut nicht ausgeschlossen. Ebenfalls sollte rieux® und Rabipur® als aktive Impfstoffe zugelassen, beim klinischen Bild einer Enzephalomyelitis und ent- wobei letzterer bei Personen mit einer bekannten sprechender Reiseanamnese die Tollwut in die Differen- Hühnereiweissallergie nicht eingesetzt werden soll. tialdiagnose einbezogen werden. Die präexpositionelle Prophylaxe ist zwar effektiv zur Neben der terrestrischen Tollwut ist weltweit die Fle- Aufrechterhaltung des immunologischen Gedächtnis- dermaustollwut endemisch. In den Fledermauspopu- ses, bietet aber keinen vollständigen Schutz, weshalb lationen wird ein von terrestrischen Säugetieren im Falle einer Exposition immer eine postexpositio- unabhängiger Infektionszyklus aufrechterhalten. Da nelle Impfung nötig ist. Diese fällt jedoch viel einfacher Fledermausbisse auch unentdeckt bleiben können, und kürzer aus als bei nicht oder unvollständig geimpf- muss bei physischem Kontakt mit Fledermäusen im- ten Personen. Es kann hier auf den Einsatz von Tollwut- mer an Tollwut gedacht und dementsprechend eine Immunglobulinen verzichtet werden, die je nach Region Prophylaxe durchgeführt werden. In Europa wurden schwer oder gar nicht erhältlich sind, und die Anzahl seit 1954 über 1000 Fledermaustollwutfälle diagnosti- benötigter aktiver Impfdosen wird um die Hälfte redu- ziert, wobei diese sich über ganz Europa erstrecken. In ziert. der Schweiz wurden bisher lediglich drei Fälle bei Ein häufiges Problem bei der reisemedizinischen Bera- Fledermäusen diagnostiziert, der letzte 2002 [2]. tung ist der zeitliche Rahmen, da der Arzt oft erst kurz Tollwutverdachtsfälle müssen innerhalb eines Tages vor der Abreise aufgesucht wird und somit nicht die dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) gemeldet werden. benötigte Zeit von minimal drei Wochen für eine vollständige Impfserie zur Verfügung steht. In Einzelfällen Wann ist eine präexpositionelle Prophylaxe indiziert? kann dann ein Kurzimpfschema mit je einer Impfdosis an den Tagen 0, 3 und 7 angewendet werden. Damit werden sieben Tage nach der letzten Impfung vergleich- Eine typische Zielgruppe für eine präexpositionelle bare Antikörpertiter erreicht wie mit dem konventio- Prophylaxe sind Reisende. Die Indikation hängt hier in nellen Schema. Die Antikörper fallen dann rascher ab, erster Linie von der lokalen Epidemiologie im Reise- die Immunogenität ist bis ein Jahr nach der Impfung land sowie der Dauer und Art der Reise ab. Bei einer aber vergleichbar [4]. Danach ist wie beim regulären Reise in ein Gebiet mit einer hohen Prävalenz wird Schema eine Boosterdosis zur Induktion eines im- eine Impfung bei einer Reisedauer von über vier Wo- munologischen Gedächtnisses notwendig. Da dieses chen empfohlen, in Gebieten mit tiefer bis mittlerer Schnellimpfschema bisher nicht zugelassen ist, sollte Reisende und Personen mit beruflichem Expositionsrisiko sind typische Zielgruppen für die präexpositionelle Prophylaxe. Prävalenz bei Langzeitaufenthalten über drei Monate (Abb. 1) [3]. Velo- und Motorradfahrer, Rucksacktouris- es nur in Einzelfällen mit dringlicher Indikation und nach Information des Reisenden empfohlen werden. Vorgehen nach einer möglichen Tollwutexposition ten sowie Kleinkinder haben ein deutlich erhöhtes Da keine spezifische Therapie gegen Tollwut existiert, Risiko, von einem Tier verletzt zu werden, weshalb hier ist die postexpositionelle Prophylaxe (PEP) mittels pas- eine präexpositionelle Impfung grosszügiger indiziert siver und aktiver Impfung die einzig wirksame Option. werden soll. Führt die Reise durch abgelegene Gebiete Diese sollte in jedem Fall einer potentiellen Exposition oder ist die ärztliche Versorgung im Reiseland schlecht möglichst rasch eingeleitet werden. (insbesondere wenn eine passive Immunisierung Nach einer möglichen Exposition in einem Land ohne schlecht oder nicht erhältlich ist), sind dies zusätzliche bekannte terrestrische Tollwut wird primär eine Risiko- Gründe für eine präexpositionelle Prophylaxe. evaluation durchgeführt und abhängig davon über die Neben den Reisenden wird eine Impfung denjenigen Indikation für eine PEP entschieden. Hierfür wird einer- Personen empfohlen, die im Rahmen ihrer beruflichen seits der Expositionsgrad bestimmt: Berühren oder Tätigkeit oder Freizeitaktivität ein erhöhtes Expositi- Füttern von Tieren wie auch das Lecken von intakter SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):676– 680 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 679 Haut wird nicht als Exposition beurteilt, während bei Fledermaus Lecken von lädierter Haut, oberflächlichen Hautläsio- apperzept (Biss) oder inapperzept (im Schlaf in einem Raum) PEP nen ohne Blutung oder einem perkutanen Biss oder Kratzer eine potentielle Exposition besteht (Tab. 1). Ob in diesen Fällen tatsächlich ein Risiko vorliegt, hängt kein Biss (Kontakt im Wachzustand und im Freien) keine PEP letztendlich von der Herkunft und Verfügbarkeit des Tieres zur zehntägigen Beobachtung ab. Nach einem Biss durch eine Fledermaus wird immer Haustiere (Hund, Katze, Frettchen etc.) krank oder entwichen oder Halter unbekannt PEP in oder aus Gebiet mit terrestrischer Tollwut PEP beginnen und stoppen, falls Tier nach 10 Tagen noch gesund ist unwahrscheinlich, aber nicht ganz ausgeschlossen, dass Tier aus Gebiet mit terrestrischer Tollwut PEP beginnen, falls Tier innerhalb der nächsten 10 Tage krank wird nicht in oder aus Gebiet mit terrestrischer Tollwut (Halter bekannt) eine PEP empfohlen, während dies bei einem Hundeoder Katzenbiss nur dann indiziert ist, wenn das Tier aus einem Gebiet mit terrestrischer Tollwut stammt, keine Massnahmen ausser Wundbehandlungen der Halter unbekannt und somit das Tier (Hund, Katze oder Frettchen) nicht zur Beobachtung während zehn Tagen zur Verfügung steht oder das Tier offensichtlich krank ist (Abb. 2) [1]. Auswaschen, desinfizieren, impfen Primär sollte jede Wunde mit Wasser und Seife gründlich gesäubert und anschliessend mit Iod-PovidonLösung desinfiziert werden. Das Impfschema der PEP hängt davon ab, ob die Person im Rahmen einer präexpositionellen Prophylaxe vollständig geimpft wurde Andere Landsäugetiere in oder aus Gebiet mit terrestrischer Tollwut PEP (das heisst ≥3 Dosen) oder ob kein beziehungsweise ein ungenügender (<3 Dosen) Impfschutz vorliegt [5]. Bei vollständig präexpositionell geimpften Personen nicht in oder aus Gebiet mit terrestrischer Tollwut keine Massnahmen ausser Wundbehandlungen kann auf die passive Impfung verzichtet werden, und zwei aktive Impfungen können an den Tagen 0 und 3 verabreicht werden mit anschliessender Titerkontrolle am Tag 14 (Abb. 3). Abbildung 2: Flowchart für das Vorgehen nach Tollwutexposition (adaptiert nach [1], mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Gesundheit). PEP = Postexpositionsprophylaxe. Bei unvollständig geimpften oder ungeimpften Personen ist die passive Impfung obligat und sollte idealerweise gleichzeitig mit der aktiven Impfung oder sonst spätestens bis sieben Tage nach deren Beginn durchge- Postexpositionsprophylaxe ohne vollständige Tollwutimpfung (keine oder <3 Impfungen) d7 d0 d3 d14 d21 d30 führt werden, da eine verspätete passive Impfung den Erfolg der aktiven Immunisierung einschränken kann. Die Impfungen (aktiv + passiv) sollten möglichst nahe am Expositionszeitpunkt erfolgen, da diese nur wirksam sind, bevor das Virus die motorische Endplatte erreicht hat. Solange beim Patienten keine Symptome vorliegen, ist es jedoch aufgrund der bis auf wenige passive Impfung bis d7 Tage extraneuralen Inkubation nie zu spät für die Ini- Postexpositionsprophylaxe nach vollständiger Tollwutimpfung (≥3 Impfungen) d0 d3 tiierung einer vollständigen PEP (Wochen bis Monate nach Exposition). Das Tollwutimmunglobulin (Berirab® 20 IE/kg Körpergewicht) wird in das Gewebe in und um d14 die Wunde infiltriert. Zu beachten gilt, dass dies sehr schmerzhaft sein kann. Falls noch Tollwutimmunglobulin übrig bleibt, kann dies intramuskulär in den anterolateralen Oberschenkel verabreicht werden. Die aktive Impfung erfolgt an den Tagen 0, 3, 7 und 14 mit = aktive Impfung anschliessender Titerkontrolle am Tag 21. Bei ungenü- Abbildung 3: Schema für die postexpositionelle Impfung (adaptiert nach [1,5], mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Gesundheit). d = Tag. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):676– 680 gender Immunantwort (Titer <0,5 IE/ml) ist die Applikation einer bis mehrerer aktiver Impfungen ab Tag 30 nötig (Abb. 3). ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Korrespondenz: Dr. med. Anita Niederer-Loher Leiterin der Reisesprechstunde Infektiologie und Spitalhygiene Kantonsspital St. Gallen Rorschacherstrasse 95 680 Beispiel aus der Praxis: Soll nun eine PEP durchgeführt werden? Der Hund ist trotz anamnestisch erfolgter Impfung nicht zu 100% gegen Tollwut geschützt und könnte sich in Russland, wo die terrestrische Tollwut verbreitet ist, angesteckt haben. Empfohlenes Vorgehen bei CH-9007 St. Gallen dieser Patientin (gemäss Abb. 2) wäre, eine PEP zu star- anita.niederer-loher[at] ten und den Hund zehn Tage zu beobachten. Falls er bis kssg.ch dahin asymptomatisch bleibt, kann die PEP gestoppt werden. Nun reist der Hund bereits nach sieben Tagen wieder aus der Schweiz ab, weshalb eine vollständige PEP inklusive Titerbestimmung durchgeführt werden sollte. Die Wunde sollte initial gut mit Seife ausgewaschen und sorgfältig desinfiziert werden. Ebenfalls sollte der Tetanusimpfschutz überprüft und eine Tetanusauffrischimpfung durchgeführt werden, sofern die letzte vor mehr als zehn Jahren erfolgte. Auf eine antibiotische Prophylaxe kann bei kleiner Wunde verzichtet werden, bei Infektionszeichen muss eine Therapie in Betracht gezogen werden. Verdankungen Die AutorInnen bedanken sich herzlich bei Frau Dr. med. Yvonne Suter und den Herren Dres. med. Philippe Portner und Tom Wagels für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und die wertvollen Kommentare zur Praxisrelevanz. Disclosure statement Das Wichtigste für die Praxis Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. • Tollwut ist ein neurotropes Lyssavirus, das zu einer immer tödlich ver- Bildnachweis © Stanislav Duben | Dreamstime.com laufenden Enzephalitis führt. • Die Schweiz ist frei von terrestrischer Tollwut. Dies ist in Anbetracht der Migration und Reisetätigkeit bezogen auf Haustiere (insbesondere Hunde) aber ein dynamischer Zustand, und Fälle können illegal impor- Literatur 1 tiert werden. • Jede Verletzung mit möglicher Tollwutexposition soll so rasch als möglich mit Seife ausgewaschen und sorgfältig desinfiziert werden. • Die Indikation für eine präexpositionelle Impfung (Tag 0, 7, 21–28, Booster nach 12 Monaten) ist abhängig vom individuellen Risiko. Bei Tierärzten 2 3 4 oder Laborpersonal mit Kontakt mit Tollwutviren ist sie immer empfohlen. • Eine postexpositionelle Prophylaxe (PEP) ist auch bei vollständig geimpften Personen indiziert; in diesen Fällen kann auf die Gabe von Immunglobulinen verzichtet und die Anzahl aktiver Impfungen auf zwei reduziert werden. • Nach einer PEP ist immer eine Titerkontrolle indiziert. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):676– 680 5 BAG. Richtlinien und Empfehlungen: Prä- und postexpositionelle Tollwutprophylaxe beim Menschen. BAG 2004. http://www.bag. admin.ch/themen/medizin/00682/00684/02535/index. html?lang=de Rabies-Bulletin-Europe: http://www.who-rabies-bulletin.org/ Queries/Surveillance.aspx WHO Expert Consultation on Rabies: second report. 2013. http:// apps.who.int/iris/bitstream/10665/85346/1/9789240690943_eng.pdf Jelinek T, Burchard GD, Dieckmann S, Bühler S, Paulke-Korinek M, Nothdurft HD, et al. Short-Term Immunogenicity and Safety of an Accelerated Pre-Exposure Prophylaxis Regimen With Japanese Encephalitis Vaccine in Combination With a Rabies Vaccine: A Phase III, Multicenter, Observer-Blind Study. J Travel Med 2015;22(4):225–31. BAG. Richtlinien und Empfehlungen: Anpassung des Schemas für die postexpositionelle Tollwutprophylaxe: Aktualisierung der Empfehlungen. BAG 2012. http://www.bag.admin.ch/themen/ medizin/00682/00684/02535/index.html?lang=de ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 681 Diagnose und Ursachen Hypoglykämie bei Patienten ohne Diabetes Dr. med. Bénédicte de Kalbermatten a , Dr. med. Sarah Malacarne a , Dr. med. Christel Tran b , Dr. med. Jaafar Jaafar a , Prof. Dr. med. Jacques Philippe a a b Service d’endocrinologie, diabétologie, hypertension et nutrition, Département de spécialités de médecine, Hôpitaux universitaires de Genève Centre des maladies métaboliques moléculaires, Département médico-chirurgical de pédiatrie, Centre hospitalier universitaire vaudois Ein zweiter Artikel zum Thema «Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes» erscheint in der nächsten Ausgabe des SMF. Zur Erfassung einer nicht diabetischen Hypoglykämie ist zuerst eine genaue und umfassende Anamnese erforderlich. Sobald der Verdacht besteht, müssen die drei Kriterien der Whipple-Trias erfüllt sein, um von einer Hypoglykämie zu sprechen. Die häufigsten Ursachen sind Arzneimittel, eine Leber-, Nieren-, Herz- oder Nebenniereninsuffizienz, Mangelernährung, Sepsis und bariatrische Operationen. Eine strukturierte Diagnosestellung ist unverzichtbar. Einleitung In der täglichen Praxis haben Hypoglykämien meist eine iatrogene Ursache und sind auf die Verwendung von Insulin oder oralen Antidiabetika zurückzuführen. In diesen Fällen weiss man sehr gut, wie die Hypoglykämie zu erkennen und zu behandeln ist. Spontane Hypoglykämien bei Patienten ohne Diabetes sind seltener und problematischer zu diagnostizieren. Leicht zu identifizieren sind die vegetativen (Blässe, Palpitationen, Zittern, Angst, Heisshunger, Schwitzen, Schwäche usw.) und neuroglykopenischen Symptome (kognitive Störungen, Agitiertheit, Amnesie, Bewusstseinsstörungen, Krämpfe, Koma usw.); sehr viel schwieriger ist es, deren Ursache zu erkennen, wenn der Patient keine blutzuckersenkende Therapie erhält. Wiederholte und längere Hypoglykämien gehen mit erhöhter Morbidität und Mortalität einher [1]. Das Erkennen dieser Pathologie ist somit von grosser Wichtigkeit. Wie unten dargestellt, kann nur durch ein progressives und strukturiertes Vorgehen eine schlüssige Diagnose gestellt und die geeignete Behandlung einge- Im Normalzustand verhindern und korrigieren viel- leitet werden. fältige Gegenregulationsmechanismen jegliche Hypoglykämie. Diese Gegenregulation läuft in folgenden Gegenregulationsmechanismen und Definition Bénédicte de Kalbermatten Schritten ab: Hemmung der Insulinsekretion, Sekretion von Glukagon und Katecholaminen und schliesslich, im Falle längerer Hypoglykämien, Sekretion von Die Glukose ist das wichtigste Stoffwechselsubstrat, Wachstumshormon und Kortisol. So kann der Körper welches das Gehirn im physiologischen Zustand benö- wieder einen euglykämischen Zustand herstellen. An- tigt: Pro Tag sind 150 g Kohlenhydrate erforderlich. Da gesichts der Vielfalt der physiologischen Schutzmecha- die Glykogenvorräte knapp sind, müssen die Ge- nismen muss eine Hypoglykämie beim nicht diabeti- hirnfunktionen durch eine kontinuierliche Zufuhr aus schen Patienten demnach als «Red-Flag-Symptom» dem Blutkreislauf gewährleistet werden. gelten, das eine sorgfältige Analyse erfordert [1, 3]. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 682 Im engeren Sinne liegt eine Hypoglykämie dann vor, schlechte Prognose und erhöhte Mortalität [1, 4]. Die wenn der Blutzuckerwert so niedrig ist, dass Anzei- Behandlung basiert auf einer hinreichenden Glukose- chen und Symptome einer Glykopenie auftreten. Diese zufuhr und der Therapie der Grunderkrankung. sind allerdings wenig spezifisch, zudem kann auch das Als erste Ursache ist die Einnahme blutzuckersenken- Ergebnis der Blutzuckermessung verfälscht sein. Beim der Medikamente oder Substanzen zu nennen. Abge- Gesunden treten die ersten vegetativen Symptome, die sehen von den gebräuchlichen Antidiabetika können zur Einnahme von Zucker veranlassen, ab 3 mmol/l auch zahlreiche andere Medikamente den Blutzucker- und die neuroglykopenischen Symptome ab 2,8 mmol/l spiegel senken. Allerdings dürfen solche Zusammen- auf [4]. Ab diesen Werten wird die Sekretion endoge- hänge nur mit Vorsicht bewertet werden (Tab. 1). Auch nen Insulins unterdrückt. Sie sind jedoch, auch wenn ein allfälliger Alkoholkonsum ist als Ursache zu be- sie zur Definition herangezogen werden, nur Richt- rücksichtigen: Alkohol hemmt die Glukoneogenese, werte und variieren von Patient zu Patient. Es ist somit nicht aber die Glykolyse und bringt somit bei Patien- schwierig, zur Definition einer Hypoglykämie einen ten mit und ohne Diabetes ein erhöhtes Hypoglyk- genauen Wert festzulegen. Zur Diagnose einer Hypo- ämierisiko mit sich, besonders im Rahmen längerer glykämie beim nicht diabetischen Patienten müssen Nüchternphasen, da der Blutzuckerspiegel vor allem deshalb die drei Kriterien der Whipple-Trias erfüllt sein: von der Glukoneogenese abhängt. Dies ist eine verhält- Blutzuckerkonzentration unter 2,8 mmol/l im nüch- nismässig häufige Ursache von Hypoglykämien bei ternen Zustand, typische Symptome einer Hypoglykä- Notfallpatienten. Bei den Untersuchungen muss zu- mie und rasche Besserung der Symptome nach Gabe dem auf allfällige schwere Akuterkrankungen geachtet von Kohlehydraten. Andernfalls wird der Patient mög- werden, etwa Nieren-, Leber und Herzinsuffizienz, Sep- licherweise nutzlosen und kostspieligen Untersuchun- sis und Mangelernährung. Ist die Funktion der Leber gen ausgesetzt, die eventuell Komplikationen verursa- gestört, wird die hepatische Glukoneogenese gehemmt chen und keine Diagnose ermöglichen [3]. Anzumerken und es kommt typischerweise zu Hypoglykämien im ist zudem, dass lediglich die im Blutplasma ermittelten Nüchternzustand. Bei Niereninsuffizienz dagegen wird Werte zuverlässig sind, während die Blutzuckermess- weniger Insulin eliminiert und die zur Glukoneo- geräte, die mit Kapillarblut arbeiten, im niedrigen Be- genese nötigen Substrate werden in geringerem Um- reich oftmals ungenaue Ergebnisse liefern. fang mobilisiert. Der zugrundeliegende Mechanismus Wenn der Blutzuckerwert mehr als 3,9 mmol/l beträgt bei einer Herzinsuffizienz ist noch nicht geklärt [1]. und gleichzeitig vegetative Symptome vorliegen, ge- Kortisol und das Wachstumshormon sind Bestandteile hen diese nicht auf eine Hypoglykämie zurück [3]. des Gegenregulationsmechanismus bei einer Hypo- Demgegenüber kommt ein asymptomatischer Abfall glykämie während längerer Nüchternphasen. Folglich des Nüchternblutzuckers (zwischen 3 und 4 mmol/l) kommen auch eine Nebennierenrindeninsuffizienz beim gesunden nicht diabetischen Patienten häufig und ein Wachstumshormonmangel als mögliche Ur- vor und gilt nicht als pathologisch. sache infrage. Glücklicherweise dienen die vielfältigen Symptome, die diese Pathologien mit sich bringen, als Diagnose und Ätiologie Orientierung bei der Diagnosestellung [1]. Zu den seltenen Ursachen einer nicht diabetischen Hy- Wird bei einem Patienten ohne Diabetes eine Hypogly- poglykämie beim «Kranken» zählen darüber hinaus kämie vermutet, sind zunächst eine genaue Anamnese die extrapankreatischen Tumoren («non-islet cell tumor und eine körperliche Untersuchung des Patienten [NICT]»), die «big insulin-like growth factor II» (Big- durchzuführen. Vor allem Zeitpunkt und Umstände der Hypoglykämien müssen ermittelt werden: Traten sie im Nüchternzustand, nach dem Essen (reaktiv) oder im Laufe einer körperlichen Betätigung auf? So können die Patienten in «kranke» und «scheinbar gesunde» Tabelle 1: Medikamentöse Ursachen von Hypoglykämien. 1. Insulin oder insulinsekretionsfördernde Mittel (Sulfonylharnstoffe, Glinide) kämien sind in dieser Population oftmals auf verschie- 2. Andere: Mässig starker Zusammenhang gesichert: – Chinin, Pentamidin, Gatifloxacin, Cibenzolin, Indometacin, Glukagon (bei Endoskopien) Schwacher Zusammenhang gesichert: – Lithium, Chloroquinoxalin-Sulfonamid, Propoxyphen/ Dextropropoxyphen Sehr schwacher Zusammenhang gesichert: – ACE-Hemmer, Sartane, Betablocker, Levofloxacin, Mifepriston, Disopyramid, Sulfamethoxazol/Trimethoprim, Heparin, 6-Mercaptopurin den Faktoren zurückzuführen und ein Marker für eine Abkürzung: ACE = Angiotensin Converting Enzyme. eingeteilt werden [3]. Der «kranke» Patient Zu dieser Gruppe zählen jene Patienten, die laut der genauen Anamnese und der körperlichen Untersuchung zusätzlich an einer Grunderkrankung leiden. Hypogly- SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 683 IGF-II) produzieren. Diese Tumoren sind meist solid, Der «scheinbar gesunde» Patient von beträchtlicher Grösse und mesenchymalen oder Nach Ausschluss der oben genannten Ursachen gilt der epithelialen Ursprungs. Die Hypoglykämie resultiert Betroffene als «scheinbar gesund». Mit spezifischen dia- aus der insulinartigen Aktivität des Big-IGF-II und der gnostischen Tests und Abklärungen muss nach einem Stimulierung der Insulinrezeptoren. Da die Sekretion Hyperinsulinismus endogener oder exogener Ursache des Wachstumshormons gehemmt ist, ist der Blut- gesucht werden. spiegel des IGF-I niedrig [1, 3, 6]. Die endogene Insulinproduktion wird unterdrückt, wodurch die biomedizi- Diagnostische Tests nische Konstellation einer hypoinsulinämischen Die Plasmakonzentration folgender Faktoren muss be- Hypoglykämie entsteht (Abb. 1). Deren Behandlung stimmt werden: Glukose, Insulin, C-Peptid und Pro- obliegt dem Onkologen. insulin (Nachweis der endogenen Insulinproduktion), Postprandiale neurovegetative Störungen ohne bestä- β-Hydroxybutyrat (Ketonkörper, Nachweis des Nüch- tigte Whipple-Trias weisen im Allgemeinen auf eine ternzustands), Sulfonylharnstoffe (und gegebenenfalls funktionelle Pathologie hin, die nicht blutzuckerbedingt Glinide) sowie Antiinsulinantikörper. Treten die Hypo- ist. Dies bezeichnet man als idiopathisches postpran- glykämien spontan auf, müssen die Tests zum Zeit- diales Syndrom (früher «reaktive Hypoglykämie»). Die punkt des Auftretens durchgeführt werden, andern- Ursache ist noch unbekannt. Es sind keine zusätzlichen falls ist ein 72-stündiger Fastentest nötig (Tab. 2). Wenn Untersuchungen erforderlich, die Therapie ist sym- in dessen Verlauf keine Hypoglykämie auftritt, muss ptomatisch und umfasst Ernährungsumstellungen der Patient als nächsten Schritt eine Testmahlzeit ein- (Aufteilung der Mahlzeiten, Vermeiden von Alkohol nehmen, damit eine postprandiale Hypoglykämie und Nahrungsmitteln mit hohem glykämischem In- festgestellt werden kann (Tab. 3). Mithilfe dieser Unter- dex) [3]. suchungen kann eine organische Hypoglykämie objek- Keine zusätzlichen Untersuchungen und lediglich Anpassung der Ernährung Verdacht auf Hypoglykämie beim Patienten ohne Diabetes Idiopathisches postprandiales Syndrom Bestätigte Whipple-Trias = Bestätigte echte Hypoglykämie beim Patienten ohne Diabetes Nicht bestätigte WhippleTrias «Scheinbar Gesunder» «Kranker» 2. Schritt: Umfassende Beurteilung der Hypoglykämie mit Messung im venösen Blut: Glukose, Insulin, C-Peptid, Proinsulin, β-Hydroxybutyrat, Insulinsekretagoga und ± Antiinsulinantikörper Non-insulinoma pancreatogenous Hypoglycemia Syndrome (NIPHS) (Postprandiale Hypoglykämien, kein lokalisiertes Insulinom, jedoch diffuser Hyperinsulinismus im SPACI) Hypoinsulinismus (" Insulin, C-Peptid, Proinsulin) Exogener Hyperinsulinismus Endogener Hyperinsulinismus (! Insulin, C-Peptid und Proinsulin) Insulinom (Nachweis mittels bildgebender Verfahren) Medikamente, Alkohol Organinsuffizienz (Nieren, Leber oder Herz) Sepsis Mangelernährung Hormoninsuffizienz (Kortisol, IGF-I) Extrapankreatische, IGF-II-produzierende Tumoren 1. Schritt: Status und ausführliche Anamnese Autoimmunhypoglykämie (Test auf Antiinsulinantikörper positiv) Hypoglykämie nach Magenbypass (kein Insulinom, postprandiale Hypoglykämien und Zustand nach Bypass) Zufuhr oraler insulinsekretionsfördernder Wirkstoffe (! Insulin, C-Peptid und Proinsulin, aber MedikamentenScreening positiv) Exogene Insulinzufuhr (Diskordanz zwischen !Insulin und " C-Peptid und Proinsulin Abbildung 1: Diagnosestellung. Abkürzungen: SPACI = «selective pancreatic arterial calcium injection», IGF = «insulin-like growth factor». SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 Hypoinsulinismus und Untersuchungen negativ: Könnte eine angeborene Stoffwechselstörung vorliegen? ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 684 tiv erfasst und deren Ursache geklärt werden. Tabelle 4 Tabelle 2: Fastentest, Protokollvorschlag. gibt Hinweise zur diagnostischen Auswertung der Tests. In der Fachliteratur wird allerdings dazu aufgefordert, Indikation – Verdacht auf nicht diabetische Hypoglykämie, die während einer spontanen Hypoglykämieepisode nicht bestätigt werden konnte. die Normalwerte der genannten Faktoren nur mit Vorsicht zu übernehmen, da sie ausgehend von Kohorten Methode – Dauer 72 h – Ausreichende Flüssigkeitszufuhr (nur Getränke ohne Kalorien), alle nicht unbedingt nötigen Medikamente absetzen und sicherstellen, dass der Patient in den Wachstunden der Testphase körperlich aktiv ist. – Muss im Spital unter ärztlicher Kontrolle durchgeführt werden. • Der Patient kann die Nüchternphase schon zu Hause am Vorabend der Hospitalisation beginnen. – Blutzuckermessung mit Kapillarblut alle 2 h – Blutzuckermessung mit venösem Blut alle 6 h bis Blutzuckerwert <3,3 mmol/l. Sobald Blutzucker im venösen Blut <3,3 mmol/l: Messung alle 2 h oder öfter im Falle klinischer Symptome. • Sobald Blutzucker im venösen Blut <3,3 mmol/l: Insulin, C-Peptid, Proinsulin, β-Hydroxybutyrat und Sulfonylharnstoffe (gegebenenfalls Glinide) ebenfalls bestimmen§ gesunder Personen bestimmt wurden. Überdies unterscheiden sich der amerikanische und der europäische Expertenkonsens hinsichtlich des Grenzwertes für Hypoglykämien (3 mmol/l bzw. 2,5 mmol/l) [5]. Halten wir indes fest, dass die Diagnose gestellt wird, wenn der Blutzuckerwert <3 mmol/l und die Insulinämie >3 mIU/l beträgt (Verhältnis Insulinämie/Blutzucker >1). Medikamente, die die Insulinsekretion beeinflussen, sollten vor dem Test möglichst abgesetzt werden. 65 bis 85% der Insulinome werden in den ersten 24 Stun- Abbruch des Tests: unter drei Voraussetzungen – Vorliegen schwerer neuroglykopenischer Symptome (Bewusstseinsverlust, Krämpfe, Verwirrtheit): Test beenden, ohne das Ergebnis der letzten Blutzuckermessung abzuwarten. • Wenn möglich, vor der Verabreichung von Zucker noch folgende Werte im venösen Blut bestimmen: Blutzucker, Insulin, C-Peptid, Proinsulin, β-Hydroxybutyrat. – Blutzucker <2,5 mmol/l (amerikanische Empfehlungen: 3 mmol/l) + Symptome einer Hypoglykämie. – Blutzucker <2,2 mmol/l ohne Symptome einer Hypoglykämie. § den der Untersuchung diagnostiziert, 90 bis 100% in den ersten 48 Stunden [5]. Anderen Tests, etwa Stimulierung mit Glukagon nach einem Fastentest oder ein oraler Glukosetoleranztest (OGTT), kommt eine geringe Bedeutung zu, sie werden nicht als Tests erster Wahl empfohlen [1, 5]. Je nach klinischem Kontext kann auch ein Test auf Antiinsulinantikörper durchgeführt werden Hyperinsulinismus: Ursachen Beim Gesunden ruft die Einnahme blutzuckersenken- Tabelle 3: Testmahlzeit, Protokollvorschlag. der Substanzen eine exogene hyperinsulinämische Indikation – Verdacht auf postprandiale, nicht diabetische Hypoglykämie, die während einer spontanen Hypoglykämie und bei einem Fastentest nicht bestätigt werden konnte. Hypoglykämie hervor (Insulinspiegel erhöht). Wird exogenes Insulin verabreicht, so sinkt die Konzentration des C-Peptids und von Proinsulin (Diskordanz), bei Methode – Am Tag nach dem Fastentest: Einnahme eines gemischten Frühstücks, das 80 g Kohlenhydrate umfasst. – Blutzucker im venösen Blut + Messung von Insulin, C-Peptid, Proinsulin alle 30 Minuten im Verlauf von 5 h. der Einnahme insulinsekretionsfördernder Substanzen sind die C-Peptid- und Proinsulinkonzentrationen erhöht. Tabelle 4: Interpretation der Labortests bei Patienten mit spontaner Hypoglykämie während Fastentest oder Testmahlzeit. Symptome und/oder Blutzucker Anzeichen einer venös* Hypoglykämie (mmol/l) Insulin Nein <3 Ja <3 Ja C-Peptid Proinsulin (mIU/l) (pmol/l) (pmol/l) <3 <200 <5 >2,7 Nein Negativ Normal >>3 <200 <5 ≤2,7 Nein Negativ§ Exogene Insulinzufuhr (exogener Hyperinsulinismus) <3 ≥3 ≥200 ≥5 ≤2,7 Nein Negativ Insulinom, NIPHS, nach Magenbypass (endogener Hyperinsulinismus) Ja <3 ≥3 ≥200 ≥5 ≤2,7 Ja Negativ Einnahme blutzuckersenkender Wirkstoffe (exogener Hyperinsulinismus) Ja <3 >>3 >>200 >>5 ≤2,7 Nein Negativ Autoimmunität (endogener Hyperinsulinismus) Ja <3 <3 <200 <5 ≤2,7 Nein Negativ Vermutlich IGF-II-produzierender Tumor (hypoinsulinämische Hypoglykämie) Ja <3 <3 <200 <5 >2,7 Nein Negativ Zustand des «Kranken» (nicht IGF-II-vermittelte hypoinsulinämische Hypoglykämie) β-Hydroxybutyrat (mmol/l) Sulfonylharnstoffe (± Glinide) Antiinsulinantikörper Interpretation Abkürzungen: NIPHS = «non-insulinoma pancreatogenous hypoglycemia syndrome», IGF = «insulin-like growth factor». * Gemäss den europäischen Empfehlungen wird ein Blutzuckerspiegel <2,5 mmol/l zur Bestimmung der Hypoglykämie verwendet. § Antiinsulinantikörper können nachgewiesen werden, wenn der Patient exogenem Insulin ausgesetzt wird. Im Unterschied zur Autoimmunhypoglykämie sind in dieser Situation das C-Peptid und das Proinsulin jedoch auf einem niedrigen Niveau. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM 685 Die – seltene – endogene hyperinsulinämische Hypo- Das nicht insulinombedingte, pankreatogene Hypo- glykämie kann durch zahlreiche Pathologien bedingt glykämiesyndrom («non-insulinoma pancreatogenous sein, meist durch ein Insulinom. In jedem Fall ist dabei hypoglycemia syndrome [NIPHS]») wurde erstmals 1999 eine im Verhältnis zum Blutzuckerspiegel unangemes- beschrieben [1]. Es handelt sich dabei um eine seltene sen hohe Insulinkonzentration zu beobachten. Die en- Ursache anhaltender Hypoglykämien beim Erwachse- dogene Hyperinsulinämie gilt als bestätigt, wenn die nen und ist durch eine endogene, vor allem post- Plasmakonzentration von Insulin >3 mIU/l, des C-Pep- prandiale Hyperinsulinämie gekennzeichnet. Es tritt tids >200 pmol/l und von Proinsulin >5 pmol/l beträgt; hauptsächlich bei Männern auf. Die histologischen gleichzeitig muss der Blutzuckerspiegel <3 mmol/l betra- Anomalien legen eine Fehlfunktion der β-Zellen nahe gen (2,5 mmol/l laut europäischen Empfehlungen) [1, 5]. (diffuse Hyperplasie mit Hypertrophie und übermässi- Das Insulinom ist ein seltener, von den β-Zellen aus- ger Proliferation der Inselzellen [Nesidioblastose]). Bei gehender Tumor der Bauchspeicheldrüse (1/250 000 Pa- erwachsenen Patienten ist die Ursache nicht bekannt, tienten/Jahr), der autonom und unabhängig vom Blut- bei Kindern hingegen wurden genetische Ursachen zuckerspiegel Insulin produziert. Es tritt bei allen identifiziert. Die endgültige Diagnose ist rein histo- ethnischen und Altersgruppen auf. Die Hypoglykämie logisch. Klinisch und biomedizinisch kann diese Pa- manifestiert sich typischerweise in der Nüchternphase thologie nicht von einem Insulinom unterschieden (73%), kann aber auch postprandial auftreten (6%) [1]. werden. Die Ergebnisse der klassischen bildgebenden Von entscheidender Bedeutung für die Behandlung ist Verfahren sind oftmals negativ, und schliesslich ist es die Lokalisierung des Tumors; diese ist allerdings nicht meist nur mithilfe einer SPACI-Untersuchung möglich, immer einfach, da 90% der Insulinome unter 2 cm gross den diffusen pankreatischen Hyperinsulinismus zu sind. Die üblicherweise eingesetzten bildgebenden entdecken (Insulinom: lokalisierter Hyperinsulinismus). Verfahren (CT, MRT) haben eine hohe Sensitivität (80 Die Behandlung erfolgt im Allgemeinen chirurgisch bzw. 85%), und wenn sie mit einer Ultraschalluntersu- mittels subtotaler Pankreatektomie [2, 8]. Postopera- chung kombiniert werden, liegt der Wert bei fast 100%. tive Rezidive sind ebenso häufig wie das Auftreten eines Die Endosonographie ist ein invasives Verfahren, weist postoperativen Diabetes. In der Fachliteratur werden jedoch in Kombination mit einer Punktion eine Sensi- Therapien mit Diazoxid, Octreotid, Kortikoiden und tivität von über 90% auf [3]. Wenn diese Untersuchun- Kalziumantagonisten beschrieben [8]. gen negativ ausfallen, kann man einen intraarteriellen Ebenfalls erwähnt werden müssen die postprandialen Kalzium-Stimulationstest durchführen («selective pan- reaktiven Hypoglykämien infolge einer bariatrischen creatic arterial calcium injection [SPACI]»): Dabei wird Operation (auch Spätdumping-Syndrom genannt). Sie die Läsion lokalisiert, indem sekretionsförderndes Kal- sind zwar selten, aber eine grosse Behinderung, und zium selektiv in die pankreasversorgenden Arterien die Therapie ist oftmals schwierig. Sie treten typischer- injiziert wird und nach jeder Kalziumgabe Blut aus weise ein bis drei Jahre nach der Operation auf. den Lebervenen zur Insulinbestimmung entnommen Hinsichtlich Pathophysiologie werden mehrere Hypo- wird. Die Sensitivität der Octreotidszintigraphie (mar- thesen diskutiert, und die zugrundeliegenden Mecha- kiertes Somatostatinanalogon) beträgt 80%; sie ist nismen sind wohl vielfältig: Überfunktion der β-Zellen zweckdienlich, um vermutete Metastasen zu entdecken. (histologisch festgestellte Nesidioblastose), verstärkter Auch andere Verfahren zur funktionellen Bildgebung Inkretineffekt nach dem Essen, Übersek retion von (18F-DOPA PET, 68-Ga-DOTATOC, GLP-1-Szintigraphie Insulin infolge beschleunigter Magenentleerung und usw.) sind vielversprechend und werden in Spezialzen- schnellen Blutzuckeranstiegs sowie Verringerung der tren eingesetzt [1, 2, 3]. Insulinresistenz im Zusammenhang mit dem Gewichts- Das Insulinom ist in den meisten Fällen gutartig und verlust [7]. Diese Hypoglykämien sprechen auf Ernäh- kann mithilfe eines chirurgischen Eingriffs kurativ be- rungsmassnahmen (Aufteilung der Mahlzeiten, Nah- handelt werden. In der Wartezeit oder im Falle einer rungsmittel mit geringem glykämischem Index) ebenso Kontraindikation können insulinsekretionshemmende an wie auf die Verwendung des α-Glucosidase-Hem- Wirkstoffe verabreicht werden (Diazoxid, Octreotid). mers Acarbose. Auch Behandlungen mit Diazoxid, Oc- Jedenfalls ist es nötig, die Ernährungsgewohnheiten treotid, Kalziumantagonisten und GLP-1-Analoga (zur zu ändern und längere Nüchternphasen zu verhin- Verzögerung der Magenentleerung) waren teilweise dern. Selten sind maligne, metastasierende und mit erfolgreich [7]. In extremen Fällen wurde der Magen- einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 assoziierte bypass rückgängig gemacht oder eine partielle Pan- Formen zu beobachten (10% der Fälle). Es ist folglich kreatektomie vorgenommen. ein multidisziplinäres Vorgehen geboten (Chirurg, Diese Pathologie muss vom klassischen Frühdumping- Endokrinologe, Onkologe) [1]. Syndrom unterschieden werden: Beim Frühdumping SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 ÜBERSICHTSARTIKEL AIM Korrespondenz: Prof. Dr méd. Jacques Philippe Service d’endocrinologie, diabétologie, hypertension et nutrition, Hôpitaux universitaires de Genève Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4 CH-1211 Genève jacques.philippe[at]hcuge.ch 686 verringert sich infolge des Verzehrs grösserer Kohlen- Stoffwechselstörungen («inborn errors of metabolism hydratmengen das Plasmavolumen in den Gefässen. [IEM]») in Betracht gezogen werden. Sie beruhen auf Dadurch kommt es postprandial (15 bis 30 Minuten) zu der Mutation von Genen, die für Stoffwechselenzyme plötzlichem Schwitzen, Schwächegefühl, Schwindel und kodieren, und sprechen auf spezifische Therapien an. zu Palpitationen. Anders als beim Spätdumping sind die Deshalb ist eine genaue Diagnosestellung wichtig. Wenn Symptome also nicht durch eine Hypoglykämie bedingt. auch selten, so kann eine Hypoglykämie beim Erwach- Das ebenfalls mit einer hyperinsulinämischen Hypo- senen das erste Zeichen einer IEM sein. Bei der Dia- glykämie einhergehende Antiinsulinantikörper-Syn- gnose kann man sich an bestimmten Symptomen und drom ist eine seltene Autoimmunerkrankung. Sie wird klinischen Zeichen orientieren: 1) Auftreten einer Hypo- durch endogene Antikörper gegen Insulin ausgelöst glykämie (nüchtern oder postprandial), 2) Assoziation und tritt vorwiegend bei Japanern und Koreanern auf. mit der Störung anderer Systeme (z.B. Hepatomegalie, Zu den prädisponierenden Faktoren zählen systemi- Hypogonadismus, verringerte körperliche Leistungs- scher Lupus erythematodes, multiples Myelom und fähigkeit mit eventueller Rhabdomyolyse, Dysmorphie) Colitis ulcerosa [1]. Nach den Mahlzeiten ist zuerst auf- und 3) anamnestische Erfassung prädisponierender Fak- grund der Antikörperbindung an das Insulin eine Hy- toren, etwa katabolischer Trigger (Fieber, längere Nüch- perglykämie zu beobachten. Sobald die Konzentration ternphasen, Infektion, intensive Anstrengung usw.). des endogenen Insulins einen Höhepunkt erreicht und Beispiele von IEM, die eine Hypoglykämie auslösen es von den Antikörpern unabhängig vom Blutzucker- können, sind etwa Störungen des Kohlenhydratstoff- spiegel freigegeben wird, kommt es verzögert zu einer wechsels (z.B. hereditäre Fruktoseintoleranz, Glykoge- postprandialen Hypoglykämie. Die Insulin-, C-Peptid- nose, Störung der Glukoneogenese) und des Lipidstoff- und Proinsulinwerte sind sehr hoch, die Blutzucker- wechsels (z.B. Störung der Fettsäureoxidation). In werte dagegen niedrig. Angesichts dieser Konstellation seltenen Fällen können Mutationen der Gene, die für sollten Tests auf Antiinsulinantikörper durchgeführt den Monocarboxylat-Transporter 1 kodieren (wird zum werden. In leichten Fällen beruht die Behandlung auf Transport von Pyruvat und Laktat benötigt), bei körper- Ernährungsanpassungen, in schweren Fällen sind die licher Anstrengung zu Hypoglykämien führen. Beim Optionen indes begrenzt (Kortikoidtherapie, Immun- Verdacht auf eine IEM sollte ein Fachzentrum konsul- suppression). tiert werden, damit Experten die richtige Diagnose Seltene Störungen Seit 2013 besteht in der Romandie für Erwachsene mit stellen und die geeignete Behandlung einleiten können. Zu erwähnen sind überdies die kongenitalen hyper- IEM die Möglichkeit einer diesbezüglichen Konsulta- insulinämischen Hypoglykämien, die zum Beispiel auf tion, die von einem Endokrinologen in zwei Zentren Anomalien der Gene basieren, welche die Insulinsekre- koordiniert wird (Centre hospitalier universitaire vau- tion regulieren (ABCC8/KCNJ11), oder auf GLUT1-akti- dois [CHUV] und Universitätsspital Genf [HUG]). Es wird vierenden Mutationen. Diese Pathologien werden im empfohlen, Patienten mit nicht diabetischer Hypogly- Allgemeinen im Kindesalter diagnostiziert und behan- kämie an diese Stellen zu verweisen, wenn die Ursache delt und sind nicht Gegenstand dieses Artikels. der Störung mithilfe der üblichen Untersuchungen Schliesslich müssen bei der Differentialdiagnose nicht nicht bestimmt werden kann (Abb. 1) [9]. diabetischer Hypoglykämien auch die angeborenen Nützliche Adressen für Konsultationen bei Stoffwechselkrankheiten beim Erwachsenen (IEM) Das Wichtigste für die Praxis • Die nicht diabetische (organische) Hypoglykämie ist selten, aber schwierig zu diagnostizieren. • Die Diagnose der Hypoglykämie erfordert unbedingt das Vorliegen einer Whipple-Trias: Blutzuckerkonzentration unter 2,8 mmol/l, neuroglykopenische Symptome und rasche Besserung der Symptome nach Zuckergabe. • Die häufigsten Ursachen sind: Organstörungen beim Kranken, Nebenniereninsuffizienz, Zustand nach operativem Eingriff im Verdauungstrakt und Insulinom. • Wenn beim Patienten ohne Diabetes Hypoglykämien nachgewiesen werden, aber keine Grunderkrankung festzustellen ist, sollte eine angeborene Stoffwechselstörung in Betracht gezogen werden und der Patient zur Diagnose und Behandlung an ein Fachzentrum verwiesen werden. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):681–686 Dr. med. Christel Tran Institut für Endokrinologie, Diabetologie, Hypertonie und Ernährung, Universitätsspital Genf Zentrum für Stoffwechselkrankheiten, medizinisch-chirurgische Abteilung für Pädiatrie, CHUV Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert. Bildnachweis Glukosemolekül, © Ollaweila | Dreamstime.com Literatur Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch. LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix Literatur 1* Martens P, Tits J. Approch to patient with spontaneous hypoglycemia. Eur J Intern Med. 2014 Jun;25(5):415–21. 2* Arya VB. Hyperinsulinemic hypoglycaemia. Horm Metab Res 2014; 46:157–70. 3* Cryer PE. Evaluation and Management of Adult Hypoglycemic Disorder: An endocrine Society Clinical Practice Guideline. 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Cyrill Hess b a c Departement der Inneren Medizin, Kantonsspital, Luzern; b Departement der Inneren Medizin/Gastroenterologie, Kantonsspital, Luzern; Departement der Inneren Medizin/Kardiologie, Kantonsspital, Luzern; d Departement der Inneren Medizin/Allergologie, Kantonsspital, Luzern Fallbericht zierte systolische linksventrikuläre Funktion (EF 40%) mit inferioren und inferolateralen Wandbewegungs- Anamnese und Vorbefunde Bei einem 49-jährigen Kaukasier erfolgte aufgrund von seit mehr als sechs Monaten bestehenden wässrigen, z.T. blutigen Durchfällen (Stuhlfrequenz >15/Tag) ambulant eine Ileo-Koloskopie bei einem niedergelassenen Gastroenterologen. Der Patient war ansonsten gesund, ohne relevante Vorerkrankungen. Allergien oder Medikamentenunverträglichkeiten waren keine bekannt und die Familienanamnese, insbesondere hinsichtlich gastrointestinaler Erkrankungen, bland. Die endoskopische Untersuchung zeigte eine mittelschwere, kontinuierliche Pankolitis mit Ödem und Fibrinausschwitzung sowie eine leichtgradige Ileitis terminalis. In den vorangehenden Stuhlkulturen fanden sich keine darmpathogenen Keime oder Parasiten. Aufgrund der Anamnese, Klinik und Endoskopie wurde eine Colitis ulcerosa mit Backwash-Ileitis postuliert und noch am gleichen Tag eine systemische Therapie mit Mesalazin-(Salofalk®-)Granulat (4 g/Tag) sowie Budesonid (Budenofalk®) (9 mg/Tag) eingeleitet. Unter der begonnenen Therapie kam es initial zu einer deutlichen Besserung der Diarrhoe (Stuhlfrequenz 6–8/Tag). störungen sowie einen hämodynamisch nicht relevanten Perikarderguss nach (Abb. 1). Die durchgeführte Koronarangiographie zeigte unauffällige Koronararterien. Somit waren die echokardiographisch gesehenen Wandbewegungsstörungen am ehesten durch eine Perimyokarditis zu erklären. Computertomographisch fand sich zudem ein Pleuraerguss als weiteres Zeichen einer Polyserositis. Lungenembolien konnten ausgeschlossen werden. Die Nieren waren morphologisch unauffällig. Die Niereninsuffizienz und das aktive Sediment waren jedoch suggestiv für eine Nephritis. Aufgrund des gutartigen weiteren Verlaufs erübrigte sich jedoch eine weiterführende nephrologische Diagnostik. Wir interpretierten die Befunde im Rahmen einer generalisierten Reaktion unter Therapie mit Mesalazin. Die Mesalazin-Therapie wurde umgehend abgesetzt und die floride Kolitis primär mittels systemischer Kortikosteroid-Therapie behandelt. Bis zum Austritt waren das Troponin wie auch der Perikarderguss regredient. Die Nierenfunktion erholte sich, und das aktive Sediment verschwand vollständig. In einer kardiologischen Nachkontrolle zwei Monaten nach der Diagnosestellung zeigte der Patient einen erfreulichen Verlauf Diagnostik und Verlauf Ca. 10 Tage nach Therapiebeginn mit oralem Mesalazin und Budesonid trat eine erneute Zunahme der Stuhlfrequenz auf. Zusätzlich bestanden eine progrediente Belastungsdyspnoe, retrosternales atemabhängiges Engegefühl und Palpitationen, welche den Patienten schliesslich auf unsere Notfallstation führten. Auf Nachfragen hin gab er ferner Nachtschweiss und Reiz- mit kompletter Erholung der linksventrikulären Pumpfunktion (EF 62%). Seither hat er keine 5-Aminosalicylsäure-(5-ASA-)Präparate mehr eingenommen und blieb bis auf die Symptome der Kolitis beschwerdefrei. Diskussion husten ohne Auswurf an. Maria Triantafyllidou Klinisch imponierten eine Tachyarrhythmie sowie hy- 5-Aminosalicylsäure (5-ASA) ist chemisch ein Amin- potone Blutdruckwerte. Die übrigen somatischen Unter- derivat der Salicylsäure (Abb. 2) und wird seit der Ent- suchungsbefunde waren unauffällig. Laborchemisch deckung von Sulfasalazin in den 1950er Jahren als fanden sich erhöhte systemische Entzündungswerte, entzündungshemmender Arzneistoff primär in der Be- positive myokardiale Marker sowie eine leichtgradige handlung chronisch entzündlicher Darmerkrankun- Niereninsuffizienz mit aktivem Sediment (Tab. 1). gen (CED) in systemischer und topischer Form (Einlauf, Das EKG zeigte ein tachykardes Vorhofflimmern. Die Schaum) angewendet. Insbesondere bei der Therapie transthorakale Echokardiographie wies eine redu- der milden bis mittelschweren Colitis ulcerosa gelten SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):687–689 FALLBERICHTE 688 Tabelle 1: Relevantes Labor zum Zeitpunkt der Hospitalisation und vor Entlassung. Parameter Normwert Eintritt Austritt Leukozyten 2,6–7,8 G/l 7,2 G/l 8,0 G/l 101 g/l Hämoglobin 127–163 g/l 108 g/l Quick 70–100% 66% Kreatinin 59–104 µmol/l 129 µmol/l 68 µmol/l Myoglobin <110 µg/l 86 µg/l 102 µg/l Troponin-T <0,014 µg/l 0,044 µg/l 0,018 µg/l CK <190 U/l 35 U/l 75 U/l CK-MB <5 µg/l 1,3 µg/l 1,0 µg/l Bilirubin total <17 µmol/l 16 µmol/l ASAT <50 U/l 27 U/l 57 U/l ALAT <50 U/l 47 U/l 70 U/l Alkalische Phosphatase 40–130 U/l 395 U/l 414 U/l γ-GT 10–71 U/l 256 U/l 494 U/l <5 mg/l CRP <5 mg/l 268 mg/l Blutsenkung 3–8 mm/h 73 mm/h TSH 0,27–4,20 mU/l 3,61 mU/l Negativ Negativ ++ >+++ Keine Keine Leukozyten Negativ 6–10/GF 0–5/GF Erythrozyten Negativ >40/GF 0–5/GF Glomeruläre Erythrozyten Negativ Keine Keine Hyaline Zylinder Negativ +++ Keine Granulierte Zylinder Negativ ++ Keine Abbildung 1: Parasternaler Längsachsenschnitt der transthorakalen Echokardiographie bei Eintritt. Der Perikarderguss ist mit Pfeilen markiert. LA = linkes Atrium; LV = linker Ventrikel; RV = rechter Ventrikel; Ao = Aorta ascendens. O Urinstatus Protein: Hämoglobin Urinsediment GF = Gesichtsfeld. O OH HO OH O NH 2 O Abbildung 2: 5-Aminosalicylsäure (= Mesalazin, links) ist der Acetylsalicylsäure (rechts) sehr nahe verwandt (aus: www.pharmawiki.ch, mit freundlicher Genehmigung). 5-ASA-Derivate als Medikamente der ersten Wahl, so- gig von der Anwendungsform (systemisch oder topisch). wohl zur Remissionsinduktion als auch zum -erhalt [1]. Sie scheinen auf einer Hypersensitivitätsreaktion zu Die entzündungshemmende Wirkung von 5-ASA bei beruhen. Erste Symptome treten meist innerhalb von der CED hängt vom Vorhandensein von freiem 5-ASA 2–4 Wochen nach einem Therapiebeginn auf. Von ver- im Lumen des Kolons ab. Verschiedene 5-ASA-Derivate zögerten Hypersensitivitätsreaktionen, insbesondere wie Sulfasalazin, Balsalazin oder Olsalazin werden als unter Komedikation mit Steroiden, wurde jedoch be- Pro-Drug eingenommen und müssen erst durch Darm- richtet. Die häufigsten Symptome sind Dyspnoe (76%), bakterien in ihre aktive Form, dem 5-ASA, verstoff- Fieber (68%), Thoraxschmerzen (65%) und Husten (22%) wechselt werden. [4]. Eine Bluteosinophilie kann hinweisend auf das Vor- Verschiedene allgemeine Nebenwirkungen der Thera- liegen einer Hypersensitivitätsreaktion sein. Differen- pie mit 5-ASA-Derivaten wie Übelkeit, Bauchschmer- tialdiagnostisch kann sich jedoch ein medikamentös zen, Kopfschmerzen und wässrige Diarrhoe werden in induzierter Lupus oder eine konkomitante Kollagenose über 10% der behandelten Patienten berichtet und sind ähnlich präsentieren. Im Falle der Nephritis ist eine gut dokumentiert [2]. Diese sind in der Regel dosis- rechtzeitige Diagnose entscheidend und macht bei The- abhängig und bessern jeweils mit Reduktion der Medi- rapiebeginn eine regelmässige Kontrolle der Nieren- kamentendosis. funktion unerlässlich. Eine Verschleppung der Diagno- Wie im geschilderten Fall können jedoch auch lebens- se kann eine irreparable Schädigung der Nieren und bedrohliche Reaktionen auf 5-ASA-Präparate, wie Peri- deren Funktion zur Folge haben [3]. karditis, Myokarditis, Polyserositis, Pneumonitis, Ne- Immer muss bei Patienten, welche sich insbesondere phritis und febrile Zustände, auftreten. Die interstitielle mit Fieber präsentieren und in Kombination mit Im- Nephritis ist mit einem auf 500 Patienten die Häufigste munsuppressiva behandelt werden, eine infektiöse [3]. Diese Art von unerwünschten Wirkungen ist idio- Ursache aktiv gesucht werden. Hinzu kommt, dass sich synkratisch und nicht dosisabhängig sowie unabhän- die CED in ihrer Manifestation nicht nur auf den Darm SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):687–689 FALLBERICHTE Korrespondenz: Dr. med. Maria Triantafyllidou Luzerner Kantonsspital Spitalstrasse CH-6000 Luzern maria.triantafyllidou[at] luks.ch 689 beschränkt, sondern eine systemische Erkrankung Zuverlässige Tests, welche helfen würden, eine Hyper- darstellt, welche praktisch alle Organe befallen kann. sensitivitätsreaktion von anderen Differentialdia- Extraintestinale CED-Manifestationen sind häufig gnosen zu unterscheiden, gibt es nicht. Hauttests sind (Morbus Crohn ca. 40%, Colitis ulcerosa ca. 30% aller meist nicht konklusiv und Lymphozyten-Transforma- Patienten) [5] und gehen in ihrer Ausprägung oft nicht tionstests fallen häufig falsch negativ aus. Beweisend mit der Aktivität der Darmentzündung einher. Die Prä- wäre ein Reexpositionsversuch, welcher jedoch aus valenz einer akuten Perikarditis bei CED-Patienten im ethischen Gründen, wie auch in unserem Fall, meist Verhältnis zur Normalbevölkerung ist mit 3,33 bei Coli- unterbleibt. tis ulcerosa und 3,07 bei M. Crohn deutlich erhöht. Aufgrund der chemischen Ähnlichkeit von Acetylsali- Extraintestinale CED-Manifestationen werden mit cylsäure (Aspirin®, ASS) und deren Derivate (wie die Sicherheit unterdiagnostiziert [6]! Die Diagnose einer nichtsteroidalen Antirheumatika [NSAR]) und 5-ASA CED-induzierten Serositis stützt sich auf den exsudati- liegt der Verdacht nahe, dass Kreuzreaktionen hinsicht- ven Charakter der Flüssigkeit, die prädominant neutro- lich einer einmal aufgetretenen Hypersensitivitäts- philen Zellen und die Sterilität sowohl in der Gram-Fär- reaktion vorkommen könnten (Abb. 2). In der Literatur bung als auch in der Kultur ab. Ferner wird ein gutes finden sich hierzu keine Studien. Fallberichte und Über- Ansprechen auf systemische Steroide den Verdacht er- legungen, welche die unterschiedlichen Wirkmechanis- härten. men beider Medikamentengruppen berücksichtigen, Unser Patient präsentierte sich mit den Leitsympto- gehen jedoch davon aus, dass Kreuzreaktionen unwahr- men Dyspnoe und Thoraxschmerzen, was zusammen scheinlich sind. 5-ASA-Präparate sollten Patienten mit mit dem positiven Troponin initial zum Verdacht einer bekannter Unverträglichkeit für ASS/NSAR somit kei- symptomatischen koronaren Herzerkrankung oder nesfalls vorenthalten werden. Aufgrund der dürftigen Lungenembolie führte. Die prompte, vollständige und Datenlage wird jedoch vorgeschlagen, bei bekannter bis dato anhaltende Regredienz der Symptomatik nach Unverträglichkeit für ASS/NSAR vor Therapiebeginn Absetzen der 5-ASA-Medikation bestätigte den Verdacht mit 5-ASA-Präparaten eine Testdosis (z.B. Mesalazin einer Medikamentennebenwirkung. Auch die Nieren- 1000 mg) unter ärztlicher Kontrolle zu verabreichen [7]. insuffizienz und das aktive Sediment, Ausdruck einer passageren Nephritis, verschwanden. Auf eine Reexposition zur Bestätigung des Verdachts wurde verzichtet. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur 1 Das Wichtigste für die Praxis 5-Aminosalicylat-Präparate werden als «Firstline»-Therapie zur Behandlung der chronisch entzündlichen Darmerkrankung (CED) empfohlen und sind, insbesondere bei der Behandlung der Colitis ulcerosa, eine potente und häufig eingesetzte Medikamentengruppe. Unspezifische Medikamentennebenwirkungen werden unter dieser Therapie häufiger beobachtet und sind dosisabhängig. Wenn auch selten, so sind von diesen Medikamenten neben den dosisabhängigen auch idiosynkratische, potentiell lebensbedrohliche 2 3 4 5 Hypersensitivitätsreaktionen bekannt. Diese gehen mit Perikarditis, Myokarditis, Nephritis und Pneumonitis einher und verschwinden in der Regel nach Absetzen der Medikamente spontan wieder. Die Symptome sind klinisch jedoch leicht zu verpassen und können mit extraintestinalen Manifestationen einer CED oder infektiösen Ursachen verwechselt werden. Spezifische Tests zum Nachweis einer Hypersensitivitätsreaktion gibt es leider nicht. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):687–689 6 7 Dignass A, Lindsay JO, Sturm A, Windsor A, Colombel JF, Allez M, et al. Second European evidence-based consensus on the diagnosis and management of ulcerative colitis part 2: current management. J Crohns Colitis. 2012;6:991–1030. Rao SS, Cann PA, Holdsworth CD. Clinical experience of the tolerance of mesalazine and olsalazine in patients intolerant of sulphasalazine. Scand J Gastroenterol. 1987;22(3):332–6. Perrotta C, Pellegrino P, Moroni E, De Palma C, Cervia D, Danelli P, et al. 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Gerhard Stuckmann b ; Prof. Dr. med. Peter E. Ballmer a a Departement Medizin, Kantonsspital Winterthur; b Institut für Radiologie, Kantonsspital Winterthur Einleitung Nacken- und Halsbereich wahrgenommen zu haben. Patienten mit Thoraxschmerzen sind auf der Notfallstation und in der Praxis häufig. Oft handelt es sich um eine muskuloskelettale Genese (Pleuritis, Interkostalneuralgie, Tietze-Syndrom), wobei die Differentialdiagnose auch breiter sein kann. Zuerst sollte allerdings immer an ein akutes Koronarsyndrom, eine Aortendissektion oder Lungenembolie sowie an einen Pneumothorax gedacht werden. Im vorliegenden Fall berichten wir über eine nicht alltägliche Ursache von Thoraxschmerzen nach lautstarkem Singen. Anschliessend seien die Schmerzen in den Brustkorb gewandert und hätten im Verlauf an Intensität zugenommen. Dem Patienten war kein Trauma erinnerlich, es waren kein Asthma bronchiale und keine andere chronische Lungenerkrankung bekannt. Der Patient war bisher gesund und konsumierte folgende Noxen: 10–15 Zigaretten pro Tag, gelegentlich Marihuana (letzter Konsum vor einer Woche). Er hatte keine Allergien. Status und Befunde Es zeigte sich bei Eintritt ein schlanker (BMI 21 kg/m²) Fallbericht 19-jähriger Patient in leicht reduziertem Allgemeinzustand. Habitus und Vitalparameter waren normal Zorica Ivanova Anamnese (Blutdruck 140/70 mm Hg, Puls 95/min, SaO2 95% mit Notfallmässige Vorstellung eines 19-jährigen Patienten 2 Liter O2/min, Atemfrequenz 20/min). Auffällig war per Rettungsdienst wegen atemabhängiger Brust- im Halsbereich ein subkutanes Weichteilemphysem schmerzen. Der Patient war Teilnehmer an der Musik- mit Krepitationen. Es bestand keine Halsvenenstau- festwoche Winterthur und hatte am Festival lautstark ung, die Herztöne waren rein. Über allen Lungenfel- gesungen und zwischendurch auch zwei bis drei Biere dern war ein normales Atemgeräusch auskultierbar. konsumiert. Der Patient berichtete, nach lautem Sin- Die Laboranalyse zeigte eine Leukozytose von 19,5 G/l gen plötzlich einen Schmerz und ein Druckgefühl im ohne CRP-Erhöhung und normale, nicht erhöhte Herz- Abbildung 1: Thoraxröntgen ap (A) und seitlich (B). A Mediastinalemphysem mit Ausbreitung bis in die zervikalen Weichteile (Pfeile). B Mediastinalemphysem im Seitenbild (Pfeil). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):690–693 FALLBERICHTE 691 Abbildung 2: Computertomographie des Thorax, Transversalschnitt (A) und koronare Rekonstruktion (B). A Mediastinalemphysem (Pfeil). B Mediastinalemphysem mit Ausbreitung bis in die zervikalen Weichteile (Pfeile). enzyme. Im EKG bestand ein normokarder Sinusrhyth- mediastinales Emphysem. Weiterhin bestanden keine mus (75/min) bei normalem Lagetyp und unauffälliger Hinweise auf einen Pneumothorax. Der Patient wurde De- und Repolarisation. und blieb im Verlauf beschwerdefrei, das Thoraxrönt- Interessanterweise zeigte das Thoraxröntgenbild in genbild am darauffolgenden Tag zeigte nun auch ein beiden Ebenen ein ausgedehntes Mediastinalemphy- leicht regredientes mediastinales Emphysem und ein sem mit Ausbreitung bis in die zervikalen Weichteile, weiter regredientes zervikales Weichteilemphysem aber es fanden sich keine Hinweise für einen Pneumo- (Abb. 3A, 3B). thorax (Abb. 1A, 1B). Die Herzgrösse war normal und es Nach 36 Stunden konnte er in gutem Allgemeinzu- bestanden keine Infiltrate oder Pleuraergüsse. Wir stand entlassen werden. Wir empfahlen ihm eine klini- führten anschliessend eine Computertomographie sche und konventionell-radiologische Verlaufskon- (CT) des Thorax zur Diagnosesicherung und zum Aus- trolle in der hausärztlichen Sprechstunde nach fünf schluss einer Ösophagus- oder Tracheaperforation Tagen und erliessen ein Flugverbot für mindestens durch. Das CT bestätigte ein ausgedehntes Mediasti- zwei Wochen [1]. Bis zu einer tauchmedizinischen Ab- nalemphysem mit Ausbreitung bis in die zervikalen klärung sollte ein Tauchverbot eingehalten werden [2]. Weichteile ohne Hinweise auf einen Pleuraerguss, eine signifikante Atelektase oder eine Verletzung eines Bronchus, der Trachea oder des Ösophagus (Abb. 2A, 2B). Diskussion Bei fehlenden gastrointestinalen Beschwerden und Bei bekannter Anamnese (lautstarkes, forciertes Singen) kreislaufstabilem Patient war keine weitere Abklärung lag eine Ruptur eines kleinen Bronchus mit konsekutiver Ausbildung eines mediastinalen Emphysems notwendig [9]. über den Macklin-Effekt vor. Therapie und Verlauf Luft, die durch eine Ruptur der Alveolen in der Lunge Wir hospitalisierten den Patienten zur weiteren Überwa- frei wird, diffundiert aufgrund der Druckverhältnisse chung. Bis auf leichte atemabhängige thorakale Schmer- durch das peribronchovaskuläre Interstitium über den zen mit Schwellungsgefühl im Halsbereich war der Pa- Hilus in das Mediastinum und verursacht so ein Pneu- tient beschwerdefrei. Die Vitalparameter inklusive der momediastinum. Ursächlich liegt einer Alveolarrup- Sauerstoffsättigung waren stets unauffällig. Der Pa- tur entweder eine intraalveoläre Druckerhöhung oder tient erhielt bedarfsweise 2–4 l/min Sauerstoff über eine Fragilität der Alveolarwände zugrunde. Eine in- die Nasenbrille sowie eine Analgesie mit Ibuprofen traalveoläre Druckerhöhung wird im klinischen Alltag 3× 600 mg/d, worauf die Beschwerden rasch regredient am häufigsten durch eine mechanische Beatmung ver- waren. Das Verlaufs-Thoraxröntgenbild am frühen ursacht. Die Ursachen eines spontanen Pneumome- Morgen zeigte bereits eine leichte Regredienz des zer- diastinums sind Asthmaexazerbationen, Valsalva-Ma- vikalen Weichteilemphysems sowie ein stationäres növer (starkes Husten, intensive körperliche Belastung, SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):690–693 FALLBERICHTE 692 Abbildung 3: Thoraxröntgen, seitlich (A) und ap (B). A Regredientes Mediastinalemphysem nach 24 Stunden (Pfeil). B Regredientes zervikales Weichteilemphysem (Pfeil). Gewichtheben, Geburt), rezidivierendes Erbrechen, Emphyseme bei Erwachsenen, die selbstlimitierend Barotrauma (Fliegen und Tauchen), Inhalation von He- waren [7]. Das spontane Pneumomediastinum ist in lium aus Party-Ballonen, Krampfanfälle oder wie in der Regel selbstlimitierend. Die Heilungsrate ist hoch, unserem Fall auch lautstarkes Singen oder Schreien [3]. unter konservativer Therapie (Bettruhe, Analgesie) Weitere bekannte Auslöser sind Alkoholüberkonsum kommt es zur klinischen Besserung und radiologisch und Inhalation von Drogen (Kokain, Heroin oder Mari- zur vollständigen Resorption innert 2–7 Tagen (durch- huana), wobei der genaue Pathomechanismus nicht schnittlich 3,5 Tage) und nur in 0,8% zu Rezidiven [8, 9]. klar ist, möglicherweise im Rahmen einer übermässi- Komplikationen sind selten [3, 4], dürfen aber nicht gen anhaltenden körperlichen Aktivität [4]. verpasst werden. Die häufigste Komplikation ist ein Einer erhöhten Fragilität der Alveolarwände liegen Spannungspneumothorax. Hinweise auf einen Span- meistens ein Asthma bronchiale, eine COPD oder eine nungspneumothorax sind akute respiratorische Ver- interstitielle Pneumopathie zugrunde [4], was bei un- schlechterung, gestaute Halsvenen und Zyanose. Eine serem Patienten nicht der Fall war. Hospitalisation zur Früherkennung von Komplikatio- Das Pneumomediastinum nach zahnärztlicher Be- nen ist deshalb indiziert [4, 8, 9]. handlung, vor allem beim Arbeiten mit luftgetriebenen Es ist wichtig, das gefährlichere sekundäre Pneumo- Turbinen im Unterkiefer, ist eine bekannte Komplika- mediastinum auszuschliessen, welches eine Mortali- tion und mehrfach in der Literatur für Zahnmedizin tätsrate von bis zu 39% aufweist [10]. Diesem liegt ursächlich meist ein Trauma, eine Ösophagusperforation Schwellung im Gesichts- oder Halsbereich und Dyspnoe werden oft als allergische Reaktion fehlinterpretiert. oder eine Mediastinitis bei deszendierender HNO-Infektion oder postoperativ nach Sternotomie zugrunde. Somit sollte speziell bei gastrointestinalen Beschwerden, Dyspnoe, Pleuraerguss, signifikanter Atelektase beschrieben [5]. Nicht selten werden die akute Schwel- oder Auftreten der Mackler-Trias (akuter vernichten- lung im Gesicht- oder Halsbereich und Dyspnoe als der Thoraxschmerz, Emesis, subkutanes Emphysem) allergische Reaktion fehlinterpretiert. das Boerhaave-Syndrom (spontane Ösophagusperfora- Das Auftreten eines spontanen Pneumomediastinums tion) mittels Ösophagogramm ausgeschlossen werden nach forciertem Schreien ist in der Literatur beschrie- [9, 11, 12]. Dabei sollte zwingend ein wasserlösliches ben [3], ebenso ein spontanes retropharyngeales und Kontrastmittel verwendet werden, um mögliche ge- zervikales Emphysem als seltene Läsion bei Sängern fährliche Komplikationen wie eine Mediastinitis durch [6]. Eine andere frühere Studie beschrieb spontan auf- Kontrastmittelextravasat (z.B. nach der Gabe von Bari- getretene retropharyngeale und zervikale subkutane umsulfat) zu vermeiden [11, 12]. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):690–693 FALLBERICHTE Korrespondenz: Dr. med. Samuel Morf Oberarzt Departement Medizin Kantonsspital Winterthur Brauerstrasse 15 Postfach 834 693 Eine spontane Ösophagusperforation kann im Früh- Komplikationen frühzeitig zu erkennen (Spannungs- stadium aber auch subklinisch sein und ist nicht selten pneumothorax, Pneumoperikard, Pneumoperitoneum, schwer zu erkennen, vor allem bei immunkompromit- Mediastinitis). tierten Patienten oder bei Patienten unter Steroidthe- Die Behandlung ist exspektativ und die Spontanhei- rapie oder Antibiotika [9]. lungsrate hoch [4]. Die Gabe von Sauerstoff (2–6 l pro Minute über Nasen- CH-8401 Winterthur samuel.morf[at]ksw.ch brille) oder eines NSAR kann bedarfsweise erfolgen. Ist Schlussfolgerungen der Verlauf unauffällig, kann eine rasche Demissio (nach Bei der Abklärung von Thoraxschmerzen ist an ein 24–48 h) angestrebt werden. Valsalva-Manöver sollten Pneumomediastinum bei folgender klinischen Präsen- vermieden werden (Pressen, forcierte Exspiration). Ein tation zu denken: junge, schlanke Patienten mit oder Flugverbot soll für mindestens 2 Wochen nach doku- ohne Asthma bronchiale, akute retrosternale Schmer- mentierter Resorption bestehen [1] sowie ein Tauchver- zen mit Ausstrahlung in den Hals- und Nackenbereich bot bis auf weiteres, wobei dieses nach einer tauchme- (pathognomonisch ist ein subkutanes Emphysem), dizinischen Abklärung reevaluiert werden kann [2, 15]. Dyspnoe gegebenenfalls mit Dysphonie oder Dysphagie. Eine Halsvenenstauung und das Hamman-Zeichen Informed consent (knirschendes oder blubberndes Geräusch präkordial Die Publikation erfolgt mit dem Einverständnis des Patienten. synchron mit dem Herzschlag) können zusätzlich vorliegen. Eine normale körperliche Untersuchung schliesst ein Pneumomediastinum nie aus [13]. Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Unsere Empfehlung: die Indikation zur konventionellen Thoraxübersicht in zwei Ebenen sollte grosszügig gestellt werden, da ein Mediastinalemphysem konventionell-radiologisch bereits sichtbar ist (typisches Zeichen: «Ring around the artery-sign», vgl. Abb. 1A). Zur Diagnosesicherung (Sensitivität über 90%) und zum Ausschluss eines sekundären Pneumomediastinums ist die Durchführung einer Computertomographie des Thorax als Goldstandard indiziert [9, 10, 13, 14]. Eine weitere Abklärung eines sekundären Pneumomediastinums sollte mittels Ösophagogramm mit wasserlöslichem Kontrastmittel bei folgenden Risikofaktoren durchgeführt werden: Alter >40 Jahre, Hyperemesis, Würgreiz, abdominale Druckdolenzen, Leukozytose, computertomographischer Nachweis von Pleuraerguss, signifikante Atelektase, Pneumoperikard oder Pneumoperitoneum [9, 11, 12]. Patienten mit Pneumomediastinum sollten zwecks Überwachung rasch hospitalisiert werden, um mögliche Das Wichtigste für die Praxis • Bei jungen Patienten mit Thoraxschmerzen muss an ein Pneumomediastinum gedacht und die Indikation zur konventionellen Thoraxübersicht in zwei Ebenen grosszügig gestellt werden, auch bei normalem Status. Zur Diagnosesicherung oder zum Ausschluss eines sekundären Pneumomediastinums ist das Thorax-CT der Goldstandard. • Valsalva-Manöver sollten vermieden und ein Flugverbot für mindestens 14 Tage eingehalten werden. • Ein Tauchverbot besteht bis auf weiteres, wobei dieses nach einer tauchmedizinischen Abklärung reevaluiert werden kann. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):690–693 Literatur 1 Cheatham ML, Safcsak K. Air travel following traumatic pneumothorax: when is it safe? Am Surg. 1999;65(12):1160. 2 Ottomann C, Seidenstücker KH (Hrsg.) Maritime Medizin. Praxiswissen für Schiffsärzte und Ärzte im Offshore-Bereich. 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FALLBERICHTE 694 Von einer Endokrinopathie zu einer lebensbedrohlichen Läsion der Lunge Der verkalkte Umweg zur Diagnose Dr. med. Karolina Büchel a , Prof. Dr. med. Gad Singer c , PD Dr. med. Tilo Niemann d , Prof. Dr. med. Jürg H. Beer a,b , Dr. med. Andreas Gross a,e Departement Innere Medizin, Kantonsspital Baden, Schweiz; b Zentrum für molekulare Kardiologie, Universität Zürich, Schlieren, Schweiz; c Institut für Pathologie, Kantonsspital Baden, Schweiz; d Institut für Radiologie, Kantonsspital Baden, Schweiz; e Departement Innere Medizin, Pneumologie, Kantonsspital Baden, Schweiz a Fallbeschreibung Befunde Bei Eintritt zeigten sich das fT3 normwertig (3,8 pmol/l), das fT4 minimal erhöht (22,9 pmol/l) und das TSH sup- Karolina Büchel Anamnese primiert (0,169 mU/l). Sonographisch fanden sich keine Wir berichten über den Fall eines 71-jährigen Patien- Auffälligkeiten der Schilddrüse. Die Thyreotropin- ten, der aufgrund eines rezidivierenden, tachykarden Rezeptor-Auto-Antikörper (TRAK) waren negativ (am Vorhofflimmerns hospitalisiert wurde. Zwei Monate zu- 16.4.2015 Thyroidea-Peroxidase MAK <4 IU/ml, Thyreo- vor wurde bei Inappetenz und Anstrengungsintoleranz globulin TAK <4 IU/ml, TSH-Rezeptor TRAK <4 U/l). eine Hyperthyreose diagnostiziert, und die ursächlich In Zusammenschau der Befunde werteten wir die Hy- vermutete Amiodaron-Medikation abgesetzt. Eine The- perthyreose als Amiodaron-induziert, wobei aufgrund rapie mit Carbimazol (Neo-Mercazole® 3 × 10 mg/Tag) wurde gestartet. der Gesamtsituation bewusst auf die Durchführung einer Schilddrüsenszintigraphie sowie auf eine Be- Zudem bestanden eine hypertensive Herzkrankheit stimmung des Serum-Thyreoglobulins zur Differen- mit mittelschwer eingeschränkter Ejektionsfraktion, zierung des Typs der Amiodaron-induzierten Hyper- ein primäres Conn-Syndrom (ED 2005) sowie ein Sta- thyreose verzichtet wurde. tus nach rezidivierenden thromboembolischen Ereig- Im konventionellen Röntgenbild des Thorax zeigte nissen (Lungenembolien und tiefen Beinvenenthrom- sich eine pleuraständige Raumforderung in Projektion bosen) mit konsekutiv festgestellter homozygoter auf den posterobasalen Unterlappen rechts. Zusätzlich Faktor-V-Leiden-Mutation, weshalb eine orale Antiko- fiel eine diskrete, basal betonte, retikuläre Zeichnungs- agulation mit Phenprocoumon (Marcoumar®) durch- vermehrung mit teils nodulärer Komponente auf geführt wurde. (Abb. 1). In der Computertomographie (CT) des Thorax Abbildung 1: Konventionelle Thoraxradiographie pa und lat. Rundlich konfigurierte Raumforderung in Projektion auf den posterobasalen Unterlappen rechts (Pfeile). Angedeutete interstitielle Retikulationen mit assoziierten angedeuteten feingranulären Verkalkungen. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):694–697 FALLBERICHTE 695 Abbildung 2: Thorax-CT, multiplanare Rekonstruktionen und volume rendering Rekonstruktion der Lunge. Irreguläre pleuraständige Konsolidation mit eingelagerten, teils scholligen, teils stippchenförmigen Mikroverkalkungen (weisse Pfeile). Disseminierte vorwiegend pleuraständige Mikroverkalkungen betont an der Lungenbasis (blauer Pfeil). fand sich als Korrelat eine irreguläre Konsolidation im unter anderem auch einen Lungeninfarkt. Die aufgrund posterobasalen Unterlappen mit eingelagerten, teils li- der latent hyperthyreoten Stoffwechsellage (Computer- nearen, teils dispers stippchenförmigen Verkalkungen, tomographie des Thorax nur nativ) durchgeführte die sich auch an der Pleura und in den subpleuralen Be- Lungenszintigraphie ergab jedoch keinen hinreichen- zirken der Unterlappen abgrenzen liessen (Abb. 2). den Verdacht auf eine Lungenembolie. In den zusätzlichen Laboruntersuchungen zeigten sich das korrigierte Kalzium, Phosphat, Vitamin D und Pa- Diagnose rathormon normwertig. Eine Thiazidmedikation oder In den bronchoskopisch entnommenen, transbronchi- eine längere Immobilisation liessen sich nicht eruieren. alen Zangenbiopsien liessen sich histopathologisch Auf Nachfrage bestätigte der Hausarzt hingegen inter- Anteile eines hier lepidisch («kriechend») wachsenden, mittierend erhöhte Serum-Kalziumwerte. nicht-kleinzelligen muzinösen Karzinoms (G1, low Angesichts der zeitlichen Korrelation interpretierten grade) beschreiben (Abb. 3 und 4). Im tumorumgeben- wir die Hyperthyreose als Ursache der pulmonalen den Stroma fanden sich Verkalkungen und fokal auch Verkalkungen. eine Ossifikation (Abb. 3). Die Ätiologie der akzentuiert verkalkten Raumforde- In Zusammenschau der Befunde konnten wir bei unse- rung blieb indes noch offen. Bei bekannter Thrombo- rem Patienten über den Umweg eines Hyperthyreose- philie, echokardiographisch leichter Rechtsherzbelas- vermittelten Vorhofflimmerns resp. der dadurch auch tung und verdächtiger Radiomorphologie erwogen wir erklärbaren Verkalkungen des Lungenparenchyms die SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):694–697 FALLBERICHTE 696 Tabelle 1: Risikofaktoren metastatischer und dystropher Kalzifizierung. (In Anlehnung an [1–7]). Kalzifikation Metastatisch Risikofaktoren Neoplastisch • Osteolysen Endokrin Hyperparathyreoidismus • D-Hypervitaminose • Hyperthyreose • Hypocortisolismus • Medikamentös • Thiazid-Diuretika • Exzessive Kalzium-Zufuhr • Exzessive Vitamin-D-Zufuhr Abbildung 3: Mikroskopisches Bild der Verkalkungen mit herdförmiger Ossifikation im tumorumgebenden Stroma (HE-Färbung, 200×). Renal • Chronische Niereninsuffizienz unter Hämodialyse • Status nach Nierentransplantation Andere Osteoporose • Osteitis deformans • Dystroph Entzündlich/infektiös • Pneumokoniosen • Sarkoidose • Mykobakteriose • Histoplasmose Neoplastische Zustände mit Gewebehypoxie • Hämorrhagische und ischämische Infarkte tika, exzessive Kalzium- oder Vitamin-D-Zufuhr), renale und andere seltene Ursachen (wie z.B. chronische Abbildung 4: Muzinöses Karzinom und histochemischer Nachweis der ausgedehnten Verkalkungen (Pfeile) (Kossa-Färbung für den Nachweis von Kalk, 200×). Niereninsuffizienz unter Hämodialyse, Status nach Nierentransplantation, Osteoporose) erwähnenswert (Tab. 1). Im Gegensatz hierzu tritt die dystrophe Form der Lun- Diagnose eines nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinoms genverkalkung als Folge lokal-chemischer Bedingun- stellen. gen in nekrotischem Gewebe auf. Bei diesen meist Therapie chemisch in der Regel ein normaler Kalzium- und Phos- Der Patient konnte, ohne Hinweise auf nodale, lokale phatstoffwechsel. Als Ursachen kommen entzündliche umschriebenen Kalk-Einlagerungen findet sich labor- oder Fernmetastasen in der FDG-PET/CT-Ganzkörper- und/oder infektiöse Erkrankungen (Pneumokoniosen, untersuchung, in potentiell kurativem Ansatz erfolg- Sarkoidose, Mykobakteriose, Histoplasmose u.a.), Neo- reich operiert werden. plasien und Zustände mit Gewebehypoxie (hämorrhagische und ischämische Infarkte) in Frage (Tab. 1) [1, 4–7]. Diskussion Bei unserem Patienten lassen sich interessanterweise beide Formen der Verkalkung, eng benachbart im glei- Verkalkungen der Lunge sind meist asymptomatisch chen Organ, abgrenzen; dies im Sinne einer metastati- und werden häufig bildgebend oder autoptisch ent- schen, subpleuralen Kalzifizierung und einer dystroph- deckt [1]. Pathophysiologisch werden zwei unterschied- akzentuiert verkalkten, malignen Raumforderung. liche Mechanismen unterschieden: Die metastatische Verkalkungen in malignen Lungenneoplasien werden und die dystrophe Form der Verkalkung (Tab. 1). in narbigem resp. desmoplastischem Stroma, in Nekro- Erstere ist durch ein Kalzium-Phosphat-Produkt über sen des Tumorgewebes, als verkalktes Sekret oder in der Löslichkeitsgrenze bedingt, was zu Ablagerungen Assoziation mit Ossifikationen beobachtet (Pfeile in von Kalziumsalzen im gesunden Gewebe/Lungenpar- Abb. 2). enchym führt [2–4]. Ätiologisch sind neoplastische, Die orale Antikoagulation mit Marcoumar® war im endokrine (Hyperparathyreoidismus, D-Hypervitami- vorliegenden Fall für die Verkalkung der Lunge mög- nose, Hyperthyreose), medikamentöse (Thiazid-Diure- licherweise bedeutsam. K-Vitamine sind nicht nur für SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):694–697 FALLBERICHTE 697 die Synthese von Gerinnungsfaktoren, sondern auch zium- und Phosphatkonzentrationen auch ein lokal für die Bildung/Aktivierung weiterer Proteine (soge- alkalisches Milieu. So ist bekannt, dass sich die aus den nannte Gla-Eiweisse) essentiell. Dazu gehört auch das anorganischen Komponenten des Knochens gelösten Matrix-Gla-Protein, das durch Kalziumbindung die Ver- Kalziumsalze (Ca3(PO4)2 und CaCO3) bevorzugt in alkali- kalkung der Weichteile und inneren Organe hemmt. schem Gewebe anreichern [13, 14]. Neben anderen, vorgängig erwähnten Risikofaktoren In der Lunge führt das unterschiedliche Ventilations- begünstigen daher auch Vitamin-K-Antagonisten – Perfusions-Verhältnis zu variierenden physiko-chemi- durch Inaktivierung des Matrix-Gla-Proteins – eine schen Gegebenheiten. So finden sich (in aufrechter Po- Kalzifikation [8]. sition) im Lungenapex ein niedrigerer CO2-Partialdruck Am bekanntesten ist die Verkalkung der kleinen und und konsekutiv ein höherer pH-Wert als an der Lun- mittleren Arterien der Dermis und Subkutis. Diese so- genbasis. Die daraus ableitbare Vermutung, dass die genannte Kalziphylaxie kann mitunter zu lebensbe- apikalen Abschnitte der Lunge eher zu metastatischer drohlichen Reaktionen führen [1, 9]. Bei Patienten mit Kalzifikation prädisponieren, liess sich allerdings nie metastatischen pulmonalen Kalzifikationen besteht bestätigen. Es darf demnach spekuliert werden, ob bei ein deutlich erhöhtes Risiko eine Kalziphylaxie zu ent- unserem Patienten eine zwischenzeitlich beeinträch- wickeln, selten auch ohne begleitende chronische Nie- tigte Perfusion (Tumor, Infekt) der dorsobasalen Lun- reninsuffizienz [8, 10]. genabschnitte zur subpleural-basalen Kalkdeposition Aufgrund der verkalkungsfördernden Komponente beigetragen haben könnte. des Marcoumar® und dessen bekannter Interaktion mit Neo-Mercazol® wurde die orale Antikoagulation auf ein NOAK (neue orale Antikoagulantien) umgestellt (Rivaroxoban 1 × 20 mg). Eine Hyperthyreose als Ursache einer viszeralen Verkalkung ist sehr selten. In der Literatur wird das Auftreten von Hyperkalzämien bei Hyperthyreose am häufigsten in Zusammenhang mit einem Hyperparathyreoidismus beschrieben. Jedoch wurde in ca. 20% der Fälle ein isoliertes Auftreten von Hyperkalzämien dokumentiert [11, 12, 15]. Der Mechanismus beruht vermutlich auf einem Parathormon-(PTH-)unabhängigen, erhöhten Knochenumsatz [11]. Wie bei unserem PatienKorrespondenz: ten (PTH 3,9 pmol/l) sind die PTH-Konzentrationen Dr. med. Andreas Gross hierbei entweder supprimiert oder niedrig normal. Leiter Pneumologie Bemerkenswert ist schliesslich die überwiegend in den Departement Innere Medizin subpleuralen Bereichen beschriebene Lokalisation der Kantonsspital Baden Verkalkungen. Im Ergel 1 CH-5404 Baden andreas.gross[at]ksb.ch Zu den prädisponierenden Faktoren einer metastatischen Verkalkung zählen neben erhöhten Serum-Kal- Das Wichtigste für die Praxis • Kalkablagerungen im Gewebe können als Folge verschiedenster Ursachen auftreten. • Im Gegensatz zur dystrophen liegt bei der metastatischen Form der Verkalkung das Kalzium-Phosphat-Produkt über der Löslichkeitsgrenze. Eine umfassende Abklärung mit Suche einer Hyperkalzämie und der Bestimmung des Parathormons sollten erfolgen. • Zu den prädisponierenden Faktoren einer dystrophen Verkalkung zählt ein alkalisches Milieu. Pulmonale Kalk-Ablagerungen sind daher aufgrund lokal-chemischer Verhältnisse wahrscheinlicher im Lungenapex zu erwarten. Variierende Lokalisationen pulmonaler Kalzifizierungen weisen daher auf das Vorliegen zusätzlicher Pathologien hin. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):694–697 Disclosure statement Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Literatur 1 Bendayan D, Barziv Y, Kramer M. Pulmonary calcifications: a review. Respiratory Medicine. 2000;94:190–3. 2 Chan E, Morales D, Welsh C, Mc Dermott M, Schwarz M. Calcium deposition with or without bone formation in the lung. 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Wir wurden zu Bürolisten und Zuhältern erzogen. Das verlängerte den Spitalaufenthalt um viele Tage und belastete die Patienten und das Per­ sonal mit zusätzlichen Untersuchungen. Was sollten wir tun, wenn sich die Empfehlungen mehrerer Organreparateure diametral wider­ sprachen? Antikoagulation ja/nein? Steroide ja/nein? Den Stichentscheid musste unser Oberarzt fällen. Die zehn Gebote für ein gutes Konsilium wa­ ren zu dieser Zeit noch nicht definiert. Hinge­ gen galt schon damals die goldene Regel, dass sich ein guter Konsiliarius zunächst einmal hinsetzt und nochmals die Anamnese unvor­ eingenommen und präzis ergänzt. Und es gab damals auch: – zaudernde Vorgesetzte, die sich mit der Anforderung eines Konsiliums um dring­ liche eigenverantwortliche Entscheidun­ gen drückten; – verdienstvolle Konsiliarii, die bei Privat­ versicherten immer sehr rasch zur Stelle waren, bei Allgemeinpatienten aber nur nach wiederholter Aufforderung oder gar nicht erschienen; – empfindsame Spezialisten, die es gar nicht schätzten, wenn Assistenten schon vor dem Konsilium mit einer Verdachtsdiagnose in ihr Fachgebiet eindrangen; – saloppe Routiniers, die als Konsiliarii zu­ erst einmal die üblichen Laborunter­ suchungen und bildgebenden Verfahren ihres Spezialfachs verordneten, bevor sie den Patienten genau untersuchten; SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(34):700 – – hartnäckige Opponenten, welche die (Ver­ dachts­)Diagnosen und Therapiemassnah­ men der zuvor tätigen Kollegen grundsätz­ lich für falsch deklarierten. Ein Chirurg operierte zuverlässig immer sofort, wenn wir Internisten (absichtlich!) für Zuwarten plädierten; dringende Massnahmen empfehlende Konsiliumberichte, die erst eintrafen, als der Patient das Spital schon längst verlas­ sen hatte. Tempi passati – oder eben doch nicht? Bernhard Gurtner Lesetipp dazu – Krapf R. Konsiliumskultur. Schweiz Ärztezeitung. 2005;86(3):156–60. Korrespondenz: Dr. med. Bernhard Gurtner Eggstrasse 76 CH­8620 Wetzikon gurtner.bernhard[at]bluewin.ch