Institut für Psychologie Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie Leitung: Prof. Dr. Monika Knopf PEG-Gebäude, Grüneburgplatz 1 Hauspostfach 66 60333 Frankfurt am Main Telefon +49 (0)69-798 35267 http://www.entwicklungspsychologie.uni-frankfurt.de Lernen und Gedächtnis im Kindergartenalter Die Studie LEGEK Text und Gestaltung Dipl.-Psych. Isabel Vöhringer M.Sc. Verena Zok Prof. Dr. Monika Knopf Margit Feyler, Psychol.-Techn. Ass. Inhaltsverzeichnis Die Studie LEGEK ..................................................................................................................... 5 Zentrale Fragen, die in LEGEK geklärt werden sollen ............................... 6 1. Gedächtnisentwicklung .................................................................................................... 7 Gedächtnisarten .......................................................................................................... 7 Gedächtnis in der Studie LEGEK .......................................................................... 8 2. Beschreibung der LEGEK-Aufgaben und erste Ergebnisse .............................. 9 Das Lernen von Abfolgen (Sequenzlernen) .................................................... 9 Priming-Aufgabe .......................................................................................................10 Wiedererkennen von Gesichtern .......................................................................13 Die Aufgaben zur Verzögerten Imitation .......................................................15 Serielles Lernen .........................................................................................................18 Schatzkästchenaufgabe ..........................................................................................19 Einkaufaufgabe ..........................................................................................................22 Marshmallowaufgabe .............................................................................................23 3. Zusammenhänge von Entwicklung und Kultur ...................................................25 Kulturübergreifende Entwicklung von Lernen und Gedächtnis .........25 4. Längsschnittliche Zusammenhänge..........................................................................27 5. Fazit .........................................................................................................................................28 6. Ausblick .................................................................................................................................31 Vorwort Zur Realisierung und zum Gelingen dieser groß angelegten, internationalen Längsschnittstudie haben viele beigetragen, denen ich zum Dank verpflichtet bin. Zunächst und vor allem schulde ich den kleinen Studienteilnehmern und ihren Eltern Dank, die vielmals den Weg zu uns ins Psychologische Institut gefunden haben und die die teils auch anspruchsvollen Aufgaben mit großer Geduld und Langmut bewältigt haben. Mein Dank gilt weiterhin der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG und ihren Gutachtern, die das Potential dieser großen Studie erkannt, und die durch ihre Befürwortung und finanzielle Unterstützung die Realisierung von LEGES und LEGEK für mehrere Jahre er- möglicht haben. Dankbar bin ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen an den drei anderen, in diese Studie einbezogenen Universitäten, Frau Professorin Heidi Keller (Osn- abrück), Frau Professorin Gudrun Schwarzer (Gießen) sowie Herrn Professor Arnold Lohaus (Bielefeld), für die Möglichkeit der Kooperation und für den kontinuierlichen gedanklichen Austausch. Ohne diese Zusammenarbeit, durch die die Größe der Studie sowie die kulturvergleichende Betrachtung von Entwicklung erst möglich wurde, wären die grundlegenden entwicklungs-psychologischen Einsichten, die aus dieser Studie re- sultierten und die durch weitergehende Datenanalysen noch genauer beschrieben wer- den müssen, nicht möglich gewesen. Und schließlich bin ich allen wissenschaftlichen sowie studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an LEGES und LEGEK dankbar, die die vielfältigen und zahlreichen Details in die Tat umgesetzt haben, die Forschung umfasst. Es wäre schön und bin zuversichtlich, dass für die eine oder andere Mitarbeiterin an dieser Studie, LEGES- und LEGEK-Forschung so spannend und inspirierend war, dass sie für ihre weitere wissenschaftliche Laufbahn „Forschungsfeuer“ gefangen hat. Und schließlich hoffe ich, dass diese große Studie auch dazu beitragen kann, die Vielfalt der Entwicklung von Kindern in unterschiedlichen Lebenswelten besser zu verstehen und deren Entwicklungsbedingungen optimal zu gestalten. Frankfurt, den 2. Oktober 2014 Prof. Dr. Monika Knopf Die Studie LEGEK Das Projekt Lernen und Gedächtnis im Kindergartenalter (LEGEK) ist eine multizentrische Längsschnittstudie, die von der Deutschen Forschungs-gemeinschaft (DFG) gefördert wird und eine Fortsetzungserhebung zu der bereits abgeschlossenen Studie zur Entwicklung von Lernen und Gedächtnis im Säuglingsalter (LE- GES) darstellt. Im Rahmen der LEGEK-Studie wurden in der Zeit von September 2011 bis Oktober 2013 die Lern- und Gedächtnisleistungen von dreijährigen und vierjährigen Kindern untersucht. Erneut haben Entwicklungspsychologen am Institut für Psychologie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Monika Knopf und den Mitarbeiterinnen Frau Dipl.- Psych. Sonja Poloczek (ehemals Borchert) und Frau Dipl.-Psych. Isabel Vöhringer mit Kollegen der Universitäten Bielefeld, Gießen und Osnabrück zusammengearbeitet, um die Entwicklung einer möglichst großen Anzahl von Kindern zu analy- sieren. Dabei wurden diejenigen Familien mit ihren Kindern erneut zur Testung eingeladen, die bereits am LEGES-Projekt teilgenommen hatten. So konnte die Entwicklung der Kinder von den ersten Lebensmonaten bis ins Kindergartenalter studiert werden. Insgesamt waren etwa 300 deutsche und kamerunische Fami- lien an der LEGEK-Studie beteiligt. Zu zwei Zeitpunkten – nämlich in einem mittleren Alter der Kinder von 3;4 und 4;4 Jahren – nahm jede Familie an mehreren Terminen erneut teil. Ziel der LEGEK-Studie war es, weitere Einsichten in die frühe Lern- und Gedächt- nisentwicklung von Kindern zu erhalten, insbesondere auch unter Berücksichti- gung unterschiedlicher Kulturen, in denen Kinder aufwachsen: Die Osnabrücker Kolleginnen und Kollegen haben wie bereits in der Vorgängerstudie LEGES mit 80 Nso Kindern, einer ethnischen Bevölkerungsgruppe in den Bamenda Grassfields im Nordosten Kameruns, dieselben Aufgaben durchgeführt, die auch die deutschen Kinder bearbeitet haben. Dies erlaubt uns beispielsweise herauszufinden, ob sich deutsche und gleichalte kamerunische Kinder gleich viele Bilder aus ei- nem Bildkartenset merken können oder nicht. Oder ob es beispielsweise einen 5 Unterschied gibt in der Anzahl und Art der Handlungen, die Kinder aus den beiden Kulturkreisen dem Versuchsleiter auf Aufforderung nachahmen und später wieder erinnern können. Zentrale Fragen, die in LEGEK geklärt werden sollen, sind unter anderem: ? Unterscheidet sich die Entwicklung von Lernen und Gedächtnis von Kindern, je nachdem, in welcher Kultur sie aufwachsen? ? Erwachsene zeigen den sogenannten other-race-Effekt, d.h., sie können Ge- sichter ihrer eigenen Ethnie besser unterscheiden als die einer fremden Eth- nie. Zum Abschluss der LEGES-Studie zeigten die 9 Monate alten Kleinkinder dieses unterschiedliche Unterscheidungsvermögen für menschliche Gesich- ter aus der eigenen Kultur versus aus einer anderen Kultur (noch) nicht. Findet sich dieses unterschiedliche Unter-scheidungsvermögen nun bei Kin- dern im Alter von drei und vier Jahren? ? Zeigen sich Zusammenhänge zwischen dem Verhalten, das die Kinder als Säuglinge zeigten, und dem Verhalten, das sie später im Kleinkindalter zeigen? ? Im Alter von etwa vier Jahren entwickeln Kinder die Fähigkeit zum Beloh- nungsaufschub. Das heißt, sie können zunehmend besser zugunsten einer späteren, aber größeren Belohnung auf eine sofortige, dafür kleinere Beloh- nung verzichten. Ist die Entwicklung dieser Fähigkeit in verschiedenen Kul- turen ähnlich, also eher universell, oder entwickelt sich dieser Belohnungsaufschub kulturabhängig? In dieser Broschüre, die vor allem als Information für Eltern gedacht ist, die mit Ihren Kindern an LEGES und LEGEK teilgenommen haben, soll zumindest auf einzelne dieser Fragen eingegangen werden. 6 1. Gedächtnisentwicklung im betrachteten Alterszeitraum Gedächtnisarten Das Gedächtnis des Menschen wird in aller Regel in mehrere Bereiche mit charakteristischen Eigenschaften eingeteilt. Zur Messung der Leistung in diesen unter- schiedlichen Gedächtnisbereichen werden im Erwachsenen- wie auch im Kindes- alter unterschiedliche Aufgaben herangezogen. Abbildung 1 zeigt eine vereinfach- te Übersicht über die Einteilung der Gedächtnisarten und welchen Bereichen die Aufgaben der LEGEK-Studie zugeordnet werden können. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen einem sogenannten nichtdeklarativen (automatischen oder impliziten) und einem deklarativen (bewuss- ten oder expliziten) Gedächtnis. Im nicht-deklarativen Gedächtnis werden nach entsprechendem Training automatische Abläufe wie zum Beispiel „Fahrrad fah- ren“ gespeichert – wir können diese Information aus dem Gedächtnis zwar anwenden bzw. abrufen, sie aber nicht explizit erklären. Werden wir hingegen nach der Hauptstadt von Spanien oder unserem letzten Urlaub gefragt, können wir die Abbildung 1: Zuordnung der in LEGEK durchgeführten Aufgaben zu den beiden Gedächtnisbereichen. 7 Information darüber bewusst berichten – sie ist im deklarativen Gedächtnis gespeichert. Die beiden hier unterschiedenen Gedächtnisbereiche zeigen auch im Gehirn un- terschiedliche Aktivierungsmuster. Während für nicht-deklaratives Gedächtnis vor allem Kleinhirn und Basalganglien (die stammesgeschichtlich älteren Teile des Gehirns) wichtig sind, aktiviert deklaratives Gedächtnis besonders den Hip- pocampus und die beim Menschen besonders große Hirnrinde (Neocortex), die grundsätzlich bei bewussten Vorgängen beteiligt ist. Diese Bereiche gelten als neuere Teile des Gehirns, da sie sich in der Stammesgeschichte vergleichsweise spät entwickelt haben. Es wird daher davon ausgegangen, dass erstere weniger von Umwelteinflüssen geformt werden und Unterschiede zu einem Großteil gene- tisch bedingt sind. Letztere Hirnregionen, da sie auch in der Individualentwicklung später reifen, sollen stärker von Kultur und Umwelt beeinflusst werden. Gedächtnis in der Studie LEGEK In LEGEK sind verschiedene, für entwicklungspsychologische Studien mit Kindern typische Aufgaben zur Erfassung von Lern- und Gedächtnisleistungen zum Einsatz gekommen. Zur Erfassung des nicht-deklarativen, unbewussten Gedächtnisses wurden (a) das Lernen von Abfolgen (Sequenzlernen) und (b) die soge- nannte Priming-Aufgabe herangezogen. Das deklarative Gedächtnis wurde mit folgenden Aufgaben erfasst: (a) Dem Wiedererkennen von Gesichtern (b) Der Verzögerten Imitation (c) Dem seriellen Lernen („Sort & Recall“) (d) Der Schatzkästchenaufgabe (e) Der Einkaufaufgabe Zusätzlich wurde mit einer Variante der sogenannten „Marshmallowaufgabe“ eine Aufgabe zum Belohnungsaufschub durchgeführt, die keinem Gedächtnisbereich zugeordnet werden kann. Vielmehr stellt sie Anforderungen an die so ge- 8 nannten exekutiven Funktionen, die immer dann relevant werden, wenn eine Handlung, die gerne ausgeführt würde, unterdrückt werden muss (weil sie bspw. in einer bestimmten Situation nicht angebracht ist). 2. Beschreibung der LEGEK-Aufgaben und erste Ergebnisse Das Lernen von Abfolgen (Sequenzlernen) Beim Lernen von Abfolgen (Sequenzlernen) wird untersucht, ob und inwieweit Regelmäßigkeiten zwischen Ereignissen erlernt werden. Im Alter von drei Jahren wurden den Kindern dazu die Bilder Ball und Hund auf einem Bildschirm Abbildung 2: beispielhafte Bilderfolge in der Assoziationsaufgabe. gezeigt (siehe Ab- bildung 2). Die Aufgabe der Kinder bestand darin, auf ei- nem Tastenboard immer dann die Taste mit dem Hund zu drücken, wenn der Hund auf dem Bildschirm erschien. Entsprechend sollten sie die Taste mit dem Ball drücken, wenn der Ball auf dem Bildschirm erschien. Die Bilder erschienen dabei entweder in zufälliger Reihenfolge oder nach einer fest- gelegten Regel. Es wird angenommen, dass die Tasten schneller gedrückt werden, wenn die Darbietung einem bestimmten Ablauf folgt (bspw. Ball-Hund-Hund- Ball-Hund-Hund-Ball); dies im Vergleich dazu, dass die Darbietung keinem festge- legten Ablauf folgt, also zufällig ist (z. B. Ball-Ball-Hund-Ball-Hund-Ball-Hund- Hund-Hund). Diese schnellere Drückrate ist nur dann möglich, wenn die Kinder eine – wenn auch nicht bewusste – interne Vorstellung der Abfolge, d. h. der Präsentationsreihenfolge, aufbauen und speichern. Das Erlernen dieser Reihenfolge wird dem prozeduralen Gedächtnis, einem Teil des nicht-deklarativen Gedächt- nisses, zugeordnet. 9 Zum zweiten Erhebungszeitpunkt in LEGEK, also im durchschnittlichen Alter von vier Jahren, wurde diese Aufgabe im Schwierigkeitsniveau angepasst. Statt der zwei Bilder wurden den Kindern nun die Bilder von drei unterschiedlichen Wel- pen dargeboten, auf die wieder mit den entsprechenden Tasten reagiert werden musste. Im Alter von drei wie auch vier Jahren waren die Kinder beider Kulturen wie erwartet in der Lage, die regelhafte Präsentationsreihenfolge zu erlernen und zu speichern, was sich darin zeigte, dass sie ihre Reaktion auf die Bilder im Verlauf der regelhaften Präsentation beschleunigten und die entsprechende Taste immer schneller drückten, bis hin zu antizipatorischen Reaktionen. Das bedeutet, dass die Kinder im Verlauf des regelhaften Versuchs immer häufiger die korrekte Tas- te drückten noch bevor das Bild erschien. Sie antizipierten also das nächste Bild. Wurde die Reihenfolge im Verlauf des Versuchs verändert, verlangsamte sich die Reaktion der Kinder wieder, zudem machten sie mehr Fehler und drückten die falschen Tasten. Auch dieses ist ein Beleg dafür, dass die Kinder die regelhafte Abfolge der gezeigten Bilder erlernt und gespeichert hatten. Priming-Aufgabe Bei einer so genannten Priming-Aufgabe wird untersucht, in wie weit das beiläu- fige, unbewusste Wahrnehmen von Reizen wie bspw. Bildern sich auf das spätere Wiedererkennen dieser Reize auswirkt. Dementsprechend sahen die Kinder in unserer Priming-Aufgabe zunächst fünf verschiedene Strichzeichnungen von be- kannten, alltäglichen Objekten, wie z. B. Schuh, Apfel oder Stuhl. Nach einer Wartezeit von knapp zehn Minuten, in der zur Ablenkung kleine Spiele gespielt wurden, wurden diese Bilder sowie fünf neue Bilder, welche die Kinder zuvor nicht gesehen hatten, in unterschiedlichen Fragmentierungsstufen erneut präsentiert. Die Aufgabe der Kinder bestand darin, zu raten, was die unvollständigen Bilder, die Bildfragmente, darstellen könnten. Die Fragmentierung erfolgte nach dem Prinzip, dass zunächst nur 40% der Linien des kompletten Bildes sichtbar waren. Jede weitere Stufe zeigte zusätzliche 15% der Linien, so dass das letzte Bild 10 schließlich 100% der Bildinformation enthielt. Zur Illustration haben wir fünf Fragmentierungsstufen für das Objekt „Auto“ in Abbildung 3 dargestellt. Bei Erwachsenen zeigt sich bei solchen Aufgaben ein so genannter Primingeffekt, was bedeutet, dass zuvor präsentierte Bilder auf einer früheren Stufe, also mit weniger Linienanteilen, erkannt werden, als zuvor nicht präsentierte Bilder. Nun interessierte uns, ob dieser Effekt bereits bei drei Jahre alten Kindern zu finden ist, wie er sich im Laufe des vierten Lebensjahres entwickelt und ob er bei den Kindern, die in zwei kulturellen Kontexten aufwachsen, in gleichem Umfang vor- handen ist. Wir konnten in LEGEK zeigen, dass schon bei drei Jahre alten Kindern ein Pri- mingeffekt beobachtet werden kann. Dieser Effekt ist in beiden Kulturen von vergleichbarer Größe. Bilder, welche die Dreijährigen in der ersten Phase nicht ge- zeigt bekommen hatten, wurden im Schnitt meist auf der vierten Fragmentie- rungsstufe erkannt. Waren die Bilder jedoch durch die vorherige Demonstration bekannt gemacht worden, konnten sie bereits zwischen der dritten und der vier- ten Stufe, d.h. mit 70 oder 85% der Bildinformation richtig identifiziert werden. Der Profit, den Kinder aus einer früheren Präsentation der Objekte für das späte- re Wiedererkennen ziehen, ist für die Kinder in beiden Kulturen gleich groß. Betrachtet man allerdings die generelle Fähigkeit, die Bilder zu erkennen, zeigen sich Unterschiede zwischen den Kindern, die in beiden Kulturen aufwachsen: Kinder in Deutschland erkennen alle Bilder – egal ob bereits gesehen oder nicht – auf einer früheren Stufe, also mit weniger Information als kamerunische Kinder, was auf die geringe Erfahrung kamerunischer Kinder mit Abbildungen im Allgemeinen zurückgeführt werden kann. Im Alter von vier Jahren zeigt sich ein vergleichbares Befundmuster, allerdings werden alle Kinder gleichermaßen besser im Erkennen der Bilder, so dass bereits Abbildung 3: Die Fragmentierungsstufen des Bildes „Auto“. 11 gesehene Bilder nun durchschnittlich auf Stufe 3, unbekannte Bilder zwischen der dritten und der vierten Stufe erkannt werden. Nach wie vor zeigt sich aber ein Unterschied darin, dass kamerunische Kinder Bilder etwas später erkennen als deutsche Kinder. Die genauere Analyse des Verhaltens der Kinder in der Aufgabe lieferte weitere spannende Befunde. Da die Kinder die Aufgabe hatten, gemeinsam mit dem Versuchsleiter zu raten, was das noch unfertige Bild darstellen könnte, wurde no- tiert, was die Kinder auf jeder dargebotenen Stufe zu dem Bild sagten. Dabei zeigten sich Unterschiede für die Kinder aus den beiden Kulturen dahingehend, dass deutsche Kinder mehr Alternativen nannten als kamerunische Kinder. Im Schnitt rieten deutsche Kinder zu 70%, kamerunische nur zu 50%. Abbildung 4 veranschaulicht das typische Antwortverhalten für deutsche (blaue Darstellung) und kamerunische Kinder (rote Darstellung) an einem Beispiel. 12 Abbildung 4: Exemplarische Darstellung des Antwortverhaltens deutscher und kamerunischer Kinder. Diese Unterschiede im Antwortverhalten erklären wir uns durch die unterschied- liche Rolle, die Fantasie und Kreativität in den beiden Kulturen spielen. Während deutsche Kinder im Alltag vielfach ermutigt werden, eigene und kreative Lösun- gen zu finden und einzubringen, liegt in der kamerunischen Kultur der Fokus auf der Genauigkeit und Korrektheit von kindlichen Äußerungen sowie Handlungen. Diese unterschiedlichen Erziehungsideale, die in beiden Kulturen angestrebt werden, führen unseres Erachtens zu mehr spekulativem Rateverhalten bei deutschen Kindern, während kamerunische Kinder sich eher erst äußern, wenn sie große Gewissheit haben. Das Erlernen und Wiedererkennen von Gesichtern Menschliche Gesichter wiederzuerkennen ist eine Lern- und Gedächtnisaufgabe, der in allen Kulturen fraglos eine große Bedeutung zukommt. Bei der von uns verwendeten computergestützten Aufgabe bekamen die LEGEK-Kinder auf einem Bildschirm für einige Sekunden ein menschliches Gesicht präsentiert. Anschließend wurden gleichzeitig zwei Gesichter gezeigt und die Kinder hatten die Aufga- be, dasjenige Gesicht zu identifizieren und zu zeigen, das sie zuvor gerade (erstmals) gesehen hatten. 13 Den Kinder wurden dabei menschliche Gesichter gezeigt, die für drei verschiede- ne Ethnien stehen: Sie sahen entweder kaukasische, asiatische oder afrikanische Gesichter. Uns interessierte, ob die Kinder Gesichter der eigenen Ethnie besser erkennen als die anderer Kulturen, ob also deutsche Kinder die kaukasischen Ge- sichter besser erkennen und kamerunische Kinder die afrikanischen. Zudem interessierte uns, ob die Lernerfahrung, welche die Kinder bereits seit dem 3. Lebensmonat, also im LEGES-Projekt, hinsichtlich der kaukasischen bzw. afrikanischen Gesichter gesammelt hatten, Einfluss auf ihre jetzige Wiedererkennensleis- tung haben würde. Es wäre denkbar, dass deutsche Kinder zwar zwei kaukasische Gesichter sehr gut voneinander unterscheiden können, dass sie aber auf- grund ihrer LEGES-Erfahrungen mit afrikanischen Gesichtern diese wiederum besser erkennen und wiedererkennen als asiatische Gesichter, die in LEGES nicht vorkamen und mit denen sie also wenig(er) Erfahrung haben. Für die kameruni- schen Kinder ist denkbar, dass die Erfahrung aus LEGES eine noch größere Rolle spielt. In der dörflichen Gemeinschaft, in der die kamerunischen LEGEK-Kinder aufwachsen, gibt es – abgesehen von unseren Studienleiterinnen, die jedoch nur zeitweise dort anwesend sind – keine Europäer. Kinder in Deutschland hingegen sammeln in der Regel auch in ihrer Lebensumwelt einige Erfahrung mit Men- schen anderer Ethnien. Neben der ethnischen Zugehörigkeit der gezeigten Gesichter wurde die Schwie- rigkeit der Aufgabe variiert. In der einfachsten Aufgabenversion sahen die Kinder die Gesichter komplett, d. h. mit inneren (Augen, Nase, Mund) sowie mit äußeren (Gesichtsform, Ohren, Haare) Gesichtsmerkmalen. In der schwierigsten Version waren die äußeren Gesichtsmerkmale entfernt, indem die Gesichter durch Löcher in einem undurchsichtigen Holzzaun blickend präsentiert wurden. In der dritten Aufgabenversion, die bezüglich ihrer Schwierigkeit zwischen den beiden anderen Versionen liegen soll, trugen die Gesichter Mützen. Dadurch waren zwar die Haare und Ohren verdeckt, die Gesichtsform aber nach wie vor erkennbar. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich sagen, dass die Kinder beider Kulturen in der leichtesten Version den so genannten other-race-Effekt zeigen und Gesichter der eigenen Ethnie sich besser einprägen und dementsprechend voneinander unter- 14 scheiden können als die Gesichter der anderen, fremden Ethnien. Auch hier zeigt sich jedoch, dass deutsche Kinder generell höhere Wiedererkennensraten haben und alle Gesichter besser unterscheiden können als kamerunische Kinder. Dieser kulturspezifische Befund lässt sich möglicherweise mit den Nso-Vorstellungen von guten Umgangsformen erklären: Anderen Menschen ins Gesicht zu schauen gilt als unhöflich. Deswegen erhalten die kamerunischen Kinder auch ein Training darin, dieses zu unterlassen. Auch Erwachsene aus der von uns untersuchten afrikanischen Ethnie erkennen Mitmenschen nicht primär an ihren inneren und äußeren Gesichtsmerkmalen, sondern an der Zusammenschau von Statur, Kleidung, Gestik und Sprache. Die Gedächtnisaufgaben zur Verzögerten Imitation In der LEGES-Studie konnten wir nachweisen, dass die Aufgabe der Verzögerten Imitation in beiden Kulturen gleichermaßen zur Messung von Gedächtnis- einträgen geeignet ist. Das Prinzip der Aufgabe beruht auf der Demonstration verschiedener Handlungen durch die Studienleiterin und einer späteren Testphase, in der beobachtet wird, wie viele Handlungen von den Kindern anhand der Handlungsobjekte ausgeführt und damit erinnert werden, die ihnen zu diesem Zweck gegeben werden. Aus LEGES wissen wir, dass bereits 6 Monate alte Säuglinge in der Lage sind, in der Testphase ein bis zwei der zuvor gezeigten Handlun- gen mit Hilfe der Objekte auszuführen. In anderen, die LEGEK-Studie ergänzenden Erhebungen, die teilweise auch in unserer Abteilung durchgeführt wurden, konnte gezeigt werden, dass mit zuneh- mendem Alter immer mehr Handlungen erlernt, behalten und später ausgeführt werden. So führen Kinder im Alter von 12 Monaten durchschnittlich bereits vier Handlungen aus, die ihnen in der Demonstrationsphase gezeigt worden waren. Im Alter von 24 Monaten steigt die kindliche Imitationsrate im Mittel auf 17 Handlungen an. Ausgehend von diesen Ergebnissen interessierte uns, wie viele Handlungen im Alter von 40 und 52 Monaten erlernt, behalten und später ausge- führt werden. Da mithilfe der zeitverzögerten Imitation von zuvor präsentierten 15 Handlungen die Gedächtnisleistung der Kinder erfasst wird, heißt diese Aufgabe auch „Verzögerte Imitationsaufgabe“. Dazu wurden den LEGEK-Kindern festgelegte Handlungen mit verschiedenen Ob- jekten demonstriert, die in ihrer Schwierigkeit dem jeweiligen Alter angepasst waren. In Abbildung 5 sind die Objekte für die Aufgabe der Verzögerten Imitation mit 40 Monaten dargestellt. An diesen Gegenständen wurden den Kindern jeweils vier- bis sechsschrittige Handlungen präsentiert. Die Kinder sollten nach einer Verzögerungszeit von 30 Minuten, in der sie mit anderen Spielen beschäftigt waren, die zuvor gezeigten Handlungen ausführen. Erst zu diesem Zeitpunkt bekamen sie die Objekte ausgehändigt, die für die Ausführung dieser Handlungen benötigt werden. Um jedoch sicher sein zu können, dass die Handlungen nicht rein zufällig durchgeführt, sondern tatsächlich erlernt waren und erinnert wurden, bekamen die Kinder alle Objekte einmal vor der Demonstrationsphase zum freien Spiel und es wurde beobachtet und analysiert, was sie zu diesem frühen Zeitpunkt mit den Objekten spielen. So sahen die Kinder in dieser spontanen Spielphase beispielsweise, dass in der Zauberkiste (Abbildung 5, zweite Reihe erstes Bild) unter einer Plexiglasscheibe ein Ball versteckt ist. In der Regel fanden die Kinder jedoch nicht heraus, wie sie an den Ball gelangen konnten. In der Demonstrationsphase jedoch zeigte der Versuchsleiter den Weg, der teilweise aus zielführenden, teilweise aus willkürlichen, nicht-zielführenden Handlungen bestand. So wurden mit einem Schlüssel, der in der Kiste auf der Plexiglasscheibe lag, die Knöpfe an der Vorderseite der Kiste „aufgeschlossen“. Anschließend wurden die Knöpfe abgenommen, wodurch die Kissen an den Seiten der Kiste abgenommen werden konnten. Dadurch wurde sichtbar, wie die Plexiglasscheibe aus der Kiste geschoben werden konnte, was der Versuchsleiter bei der Demonstration ebenfalls zeigte. Der Ball wurde an- schließend dreimal springen gelassen, bevor die Zauberkiste wieder in ihren Ausgangszustand zurückgebaut wurde. Erstaunlich ist hierbei, dass auch Kinder, welche die Kiste in der spontanen Spielphase „knackten“, häufig willkürliche und nicht direkt zielführende Handlungen, wie bspw. das „Aufschließen“ der Knöpfe 16 imitierten, obwohl sie bereits herausgefunden hatten, dass dies zur Öffnung nicht nötig war. Der Ablauf der Aufgabe war im Alter von 52 Monaten identisch. Allerdings kamen andere Objekte zur Anwendung, die in ihrer Schwierigkeit dem Alter angepasst waren. Insgesamt wurden sechs verschiedene Gegenstände verwendet, mit denen jeweils vier- bis zehnstufige Handlungen demonstriert wurden. Wie auch in LEGES waren die Kinder zu beiden Messzeitpunkten in der Lage, sich die demonstrierten Handlungen einzuprägen, gut zu behalten und imitierten im Alter von drei Jahren durchschnittlich 22 von insgesamt 34 Handlungen und mit vier Jahren 36 von insgesamt 62 Handlungen. Eltern waren nicht selten verblüfft und erstaunt darüber, wie fein und umfangreich das Gedächtnis der Kinder für die gezeigten Handlungen war. Auch die kamerunischen Kinder erlernten die Handlungen und ahmten sie später nach. Im Gegensatz zum Säuglingsalter in LE- GES zeigte sich nun aber ein Unterschied zwischen den Kindern aus zwei Kultu- ren: Kamerunische Kinder führten absolut betrachtet weniger der gezeigten Handlungen aus als deutsche Kinder. Im Alter von drei Jahren ahmten kamerunische Kinder nur 16 im Vergleich zu 22 Handlungen auf Seiten der deutschen Kinder nach. Auf den ersten Blick legt dies die Vermutung nahe, als lernten und merkten sich kamerunische Kinder weniger Handlungen. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich jedoch, dass deutsche Kinder bereits in der spontanen Spielphase durchschnittlich drei Zielhandlungen, also solche, die der Versuchsleiter später vormachte, zeigten. Betrachtet man den reinen Zugewinn, also diejenigen Hand- 17 lungen, welche die Kinder neu dazu lernen, verschwindet der Unterschied zwischen deutschen und kamerunischen Kindern. Im Alter von vier Jahren zeigt sich ein vergleichbares Befundmuster. Serielles Lernen (Sort & Recall-Aufgabe) Die Aufgabe zur Analyse der Fähigkeit zum Seriellen Lernen ist eine so genannte „Sort & Recall“-Aufgabe (Sortier- und Erinnerungs-Aufgabe), bei der untersucht wird, ob und welche Sortierstrategien Kinder im Alter von drei und vier Jahren bereits nutzen, um sich viele Kärtchen einzuprägen. Die Kinder sollten zunächst verschiedene Objekte auf Bildkarten benennen und diese dann so zusammenle- gen, wie sie gut zusammen passen (Sortierphase). Dabei wurde den Kindern ab- sichtlich kein Hinweis darauf gegeben, wie die Karten sortiert werden könnten, um ihr eigen initiiertes, spontanes Sortierverhalten zu beobachten. Die Bilder konnten entweder zu drei Kategorien Personen, Möbel und Kleidungsstücke zu- geordnet werden (kategoriale Ordnung) oder sie konnten funktional zusammengestellt werden (z. B. der Mann trägt Schuhe). Anschließend wurden die Karten verdeckt und nach einer kurzen Wartezeit sollten die Kinder möglichst viele Bil- der erinnern (Erinnerungsphase). Unsere Annahme ist, dass die Kinder sich beim Sortieren entsprechend ihrer Sozialisationserfahrungen verhalten. Kamerunische Kinder sollten eher ganzheitlich vorgehen und daher die Bilder entsprechend ihrer Funktion gruppieren. Kinder aus dem westlichen Kulturkreis, wie die Kinder unserer deutschen Stichprobe, sollten eher die kategoriale Strategie anwenden und die Bilder in erfahrungsferne Kategorien ordnen (Kleidungsstücke, Möbel). 18 Abbildung 6: Anzahl der erinnerten Bilder für deutsche und kamerunische Kinder. Die Ergebnisse der Dreijährigen zeigen, dass auch bei dieser Aufgabe deutsche Kinder mehr erinnern als kamerunische Kinder, und zwar ca. 3 Bilder im Ver- gleich zu 2,5 Bildern. Dies kann damit zusammen hängen, dass mehr als die Hälfte der deutschen Kinder eine Sortierstrategie anwandten, während nur knapp 10% der kamerunischen Kinder dies taten. Bezüglich der Art der Sortierstrategien konnten unsere Hypothesen nicht bestätigt werden: Jede Sortierstrategie für sich genommen wurde von den deutschen Kindern häufiger angewendet als von den kamerunischen Kindern, die insgesamt sehr wenig Strategien benutzten. Die Schatzkästchenaufgabe und Gedächtnishilfen Visuell-räumliche Gedächtnisaufgaben bewältigen zu können, beschreibt die Fä- higkeit, Objekte an einem spezifischen Ort wiederzufinden. Um diese Gedächtnis- fähigkeit zu untersuchen, wurde den LEGEK-Kindern ein Kästchen mit 20 Schub- laden präsentiert, in dem sechs unterschiedliche Gegenstände versteckt wurden. Diese Aufgabe wurde in insgesamt drei verschiedenen Variationen durchgeführt. In der ersten Version („Originalbedingung“) bekamen die Kinder die Verstecke der einzelnen Objekte nacheinander gezeigt und sollten diese anschließend selbst wiederfinden (unmittelbarer Test). Anschließend wurden den Kindern so lange die Verstecke der Objekte wiederholt gezeigt, bis sie sich alle Verstecke einge- prägt hatten. Nach einer Wartezeit wurden den Kindern Doppelgänger der Objek- 19 Unmittelbarer Test Verzögerter Test Abbildung 7: Ergebnisse der Schatzkästchenaufgabe für deutsche und kamerunische Nso Kinder. te gegeben mit der Aufforderung, genau solch ein Objekt in den Schubladen des Schatzkästchens wiederfinden. In einer zweiten, leichteren Aufgabenversion („Hinweisbedingung“) waren an den Schubladen kleine Gegenstände angebracht, die einen Hinweis auf das versteckte Objekt geben konnten (bspw. ein kleiner Reifen auf der Schublade, in der das Auto versteckt wurde). Das Vorgehen war dabei identisch zur Originalbedingung. In der dritten Version („Imitationsbedin- gung“) mussten die Gegenstände von den Kindern an der richtigen Stelle selbst versteckt werden. Sie handelten in diesem Falle aktiv, da sie selbst „verstecken“ konnten. Uns interessierte, wie viele Lerndurchgänge notwendig sind, um sich zunächst alle Verstecke richtig einzuprägen, wie viele Objekte später korrekt gefunden wurden, ob Hinweise an den Verstecken als solche erkannt werden und ob ein aktives Verstecken zu einer höheren Erinnerungsleistung führt, als wenn man beim Verstecken nur zusehen konnte. Die Auswertung der Schatzkästchenaufgabe ist noch im Gang, so dass bis dato nur die Ergebnisse zur Original- und Hinweisbedingung berichtet werden können und in Abbildung 10 veranschaulicht sind. Es findet sich generell, dass deutsche Kinder mehr Objekte wiederfanden als kamerunische Kinder. Von der mehrmali- gen Demonstration der Verstecke profitieren aber die Kinder beider Kulturen und finden im späteren Test, der auf mehreren Lerndurchgängen beruht, mehr 20 Objekte als im unmittelbaren Test, der nur auf einem Lerndurchgang basiert. Deutsche Kinder profitieren zudem sehr stark von der Hinweisbedingung – nach mehrmaliger Demonstration finden sie in dieser Bedingung, wenn also die Verstecke Hinweise tragen, beinahe alle Objekte wieder. Kamerunische Kinder hingegen können offensichtlich keinen Vorteil daraus ziehen, dass an den Schubladen Hinweise auf den Inhalt angebracht sind – ihre Leistung unterscheidet sich nicht zwischen der Original- und der Hinweisbedingung. Im Alter von vier Jahren wurde mit nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Kin- dern statt der Schatzkästchenaufgabe eine Aufgabenvariante durchgeführt. Mit dieser Aufgabe wollten wir herausfinden, ob vierjährige Kinder bereits selbst- ständig Markierungsstrategien aktiv anwenden, oder ob sie sich noch in einem Stadium befinden, in dem sie von dieser Strategie profitieren (wie beim Schatz- kästchen mit Hinweisreizen), sie aber selbst noch nicht anwenden können. Diese Aufgabe ist nach ihrem Erfinder als Ritter-Aufgabe bezeichnet. Dabei wurde den vierjährigen LEGEK-Kindern eine drehbare Scheibe mit 10 identischen Döschen vorgelegt. Der Versuchsleiter versteckte zunächst ein Objekt in einem der Dös- chen und ließ das Kind die Erfahrung machen, dass es unmöglich ist, das Objekt wiederzufinden, wenn die Scheibe nach dem Verstecken gedreht wird, während es die Augen geschlossen hat. Zudem wurden dem Kind die kleinen Hinweisreize aus der Schatzkästchenaufgabe auf einem Blatt neben der Drehscheibe präsentiert. Die Aufgabe des Kindes war nun „etwas zu tun, damit es das versteckte Objekt nach dem verdeckten Drehen der Scheibe sofort wiederfindet“. Dazu stellte der Versuchsleiter dem Kind immer präzisere Fragen mit dem Ziel, das Kind auf die Idee zu bringen, dass die Dose mit dem versteckten Objekt mit einem der Hinweisreize markiert werden kann. In einem weiteren, schwereren Durchgang wurden mehrere Objekte in den Dosen versteckt, so dass es wichtig wurde, welche Hinweisreize auf die Dosen gelegt werden. Dabei wurde darauf geachtet, dass jeweils ein Hinweisreiz mit genau einem versteckten Objekt in Beziehung steht, bspw. konnte die Dose mit dem versteckten Auto mit einem kleinen Reifen verse- hen werden. Nach dem Suchen der Objekte wurden den Kindern verschiedene Fragen zu ihrem Strategiewissen gestellt. Dabei interessierte uns, warum sich die 21 Kinder für die eine oder die andere Markierung entschieden, ob sie erkannten, dass eine Strategie nützlich war und ob sie benennen konnten, warum. Einkaufaufgabe Die gängigen, in der Entwicklungspsychologie eingesetzten Tests und Aufgaben wurden bevorzugt im westlichen Kulturkreis entwickelt und sind daher von unserem Verständnis eines kognitiv gut entwickelten Kindes geprägt. In unserer Erfahrung mit dem Kulturkreis der Nso haben wir aber zunehmend lernen kön- nen, dass deutsche Eltern und Nso-Eltern sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was ein gut entwickeltes Kind können soll und wie der Entwicklungsverlauf im Idealfall ist. Während wir mit den gängigen Testverfahren und Aufgabenstellungen sehr gut die westlichen Vorstellungen abbilden können, fehlen bis dato Erhebungs- methoden, die uns erlauben, Kinder hinsichtlich ihrer Entwicklung im Sinne des Nso-Entwicklungsideals zu klassifizieren. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde in LEGEK durch die Einkaufaufgabe gegangen. In der Ethnie der Nso lernen die Kinder recht früh, eigenständig kleine Aufgaben zu übernehmen und korrekt auszuführen. So müssen sie beispielsweise schon früh auf kleinere Geschwister aufpassen und diverse andere Aufgaben im alltägli- chen Haushaltsleben übernehmen. Zu diesen Aufgaben gehört es unter anderem, kleinere Besorgungen zu erledigen, was bereits von vier Jahre alten Kindern selbstständig bewältigt wird. Deutsche Kinder übernehmen solche Aufgaben in der Regel in diesem Alter (eigenständig) noch nicht, kennen jedoch die Situation des Einkaufens aus dem freien Spiel, beispielsweise mit einem Kaufladen, oder aus dem Beobachten des Einkaufs der Eltern. Mit der Einkaufaufgabe wurde das Gedächtnis der Kinder daher im Rahmen einer Einkaufssituation geprüft, die für die Kinder beider Kulturen vertraut war, wobei die kamerunischen Kinder hier mehr Erfahrung mit eigenständiger Erledigung 22 haben. Bei dieser Aufgabe sollten die Kinder zunächst verschiedene Objekte des alltäglichen Gebrauchs benennen (z. B. Zwiebel, Eier) und diese in einen Kaufla- den einräumen. Damit wurde sichergestellt, dass die Objekte den Kindern be- kannt waren. Nach einer kleinen Zwischenaufgabe wurden die Kinder beauftragt, zu einem späteren Zeitpunkt bestimmte Dinge in einer definierten Anzahl einzu- kaufen sowie eine Nachricht an eine vertraute Person zu übermitteln. Neben normalen Einkaufsobjekten (Zwiebel, Kerze, Eier…) lagen im Laden auch für die Kinder hoch interessante Gegenstände (Puppe, Auto), mit deren Hilfe überprüft werden sollte, ob die Kinder tatsächlich das einkaufen, was sie zu erinnern meinen oder zu attraktiven Objekten greifen. Die Ergebnisse zeigen, dass die von uns gewünschte Anpassung an die kameruni- sche Kultur insofern erfolgreich war, als dass kamerunische und deutsche Kinder gleich viele richtige Objekte einkauften. Allerdings konnten sich kamerunische Kinder die Nachrichten, die zudem überbracht werden sollten, besser merken und gaben diese vollständiger wieder als dies den deutschen Kindern gelang. Betrachtet man, welche Arten von Fehlern die Kinder gemacht haben, so zeigt sich, dass deutsche Kinder mehr falsche Objekte im Einkaufsladen einkaufen als kamerunische Kinder. Wir erklären uns das Verhalten deutscher Kinder erneut damit, dass es in unserer Kultur angesehen ist und wertgeschätzt wird, eigene Ideen zu äußern und zu verfolgen. So verbalisierten die deutschen Kinder auch gelegentlich, warum sie falsche Objekte mitgebracht haben: „Ich habe die Äpfel mitgebracht, weil man damit einen Apfelkuchen backen kann“ - „Ich habe die Kerze mitgenommen, weil Mami gerne Kerzen mag“. Kamerunische Kinder hin- gegen neigen, wenn überhaupt, eher dazu, zu wenige Dinge mitzubringen. Nur selten „kaufen“ sie etwas ein, was der Versuchsleiter nicht in Auftrag gegeben hat. Die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub - Marshmallowaufgabe Mit der Marshmallowaufgabe, einer Aufgabe zur Erfassung der Fähigkeit zum Be- lohnungsaufschub, wird überprüft, inwieweit Kinder in der Lage sind, für eine gewisse Zeit auf eine kleinere Belohnung zu verzichten, um später eine größere Belohnung zu erhalten. Der Marshmallowtest wurde bereits Anfang der 70er Jah- 23 re mit vier Jahre alten Kindern durchgeführt und von uns repliziert. Mit Hilfe dieser Aufgabe wollten wir untersuchen, wie gut die exekutiven Funktionen bereits entwickelt sind, das heißt die Fähigkeit, eine attraktive oder angenehme Hand- lung zu unterdrücken und damit zu kontrollieren. Mit dem aktuellen Verzicht ist freilich eine größere spätere Belohnung verknüpft. Anders als in der Originalstudie aus den siebziger Jahren, in der die Kinder ein Marshmallow bekamen, durften die Kinder in unserer Studie selbst eine für sie attraktive Süßigkeit (Lolli oder Kinderschokolade) auswählen. Die Kinder wurden anschließend vor die Wahl gestellt, die Süßigkeit entweder gleich zu essen oder zu warten, bis der Versuchsleiter später wieder kommt, um sich noch eine weitere aussuchen zu können. Die meisten Kinder fassten den Plan zu warten, um spä- ter eine größere Belohnung zu bekommen. Die Süßigkeit wurde sodann vor ihnen auf dem Tisch platziert und der Versuchsleiter verließ den Raum. Durch eine Vi- deoübertragung konnte das Verhalten der Kinder aus dem Nebenraum beobachtet werden. Falls es den Kindern gelang, 10 Minuten nicht von der Süßigkeit zu probieren und dabei auch den Raum nicht zu verlassen, durften sie sich wie angekündigt eine weitere Belohnung aussuchen. Uns interessierte dabei vor allem, welche Strategien zur Lösung dieser Aufgabe verwendet wurden und ob die Kinder der beiden Kulturen sich bei der Bewälti- gung dieser Aufgabe unterscheiden. Leider sind die Daten zu dieser Aufgabe noch nicht vollständig ausgewertet; un- sere ersten Analysen zeigen aber, dass Kinder in Deutschland vor allem dann erfolgreich waren, wenn sie Ablenk- oder Kontrollstrategien anwandten. Kinder, die sich also beispielsweise mit Singen oder Geschichten erzählen beschäftigten, oder Kinder, die durch gezieltes Nicht-Anschauen der Süßigkeit deren Allgegen- wart kontrollierten, hielten die Wartezeit mit größerer Wahrscheinlichkeit durch als solche Kinder, die keine Strategien anwandten. Wie erwartet schienen kamerunische Kinder deutlich weniger Probleme mit dem Warten zu haben. Sie sind es aus ihrem Alltag mehr gewohnt, dass sie geduldig sein sollen und warten können müssen. Einzelne kamerunische Kinder nahmen das Warten gar so gelassen hin, dass sie währenddessen kurz einschliefen. 24 3. Zusammenhänge von Entwicklung und Kultur Kulturübergreifende Entwicklung von Lernen und Gedächtnis Die Durchführung der gleichen Aufgaben bei deutschen wie kamerunischen Kindern ermöglicht es uns in LEGEK, kulturelle Einflüsse auf frühe Lern- und Ge- dächtnisprozesse zu untersuchen. In LEGES konnten zwischen deutschen und kamerunischen Kindern nur kleinere bedeutsame Unterschiede in den von uns untersuchten Lern- und Gedächtnisleistungen identifiziert werden. Alle Kinder, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund, erwerben um den sechsten Le- bensmonat herum Strategien, die ihnen helfen, Gesichter ihrer eigenen Kultur besser voneinander zu unterscheiden. Auch die Befunde, dass die Babys im Alter von 6 Monaten in der Aufgabe zur Verzögerten Imitation mit dem kulturell vertrauten Kissen eher nah interagieren (streicheln, drücken und küssen), findet sich in beiden untersuchten Kulturen. Allerdings fanden sich bei den LEGES-Kindern bereits einige bedeutsame kulturbezogenen Unterschiede (z.B. geringere Strampelraten bei kamerunischen Kindern in der Basisbedingung der so genannten Mobileaufgabe; bessere Leistungen in der Grobmotorik bei kamerunischen Kindern; bessere frühe verbale Entwicklung bei deutschen Kindern). Dennoch sprechen die LEGES-Befunde noch sehr stark für allgemeingültige, universelle Lernund Gedächtnismechanismen. Mit zunehmendem Lebensalter manifestieren sich die Kultureinflüsse jedoch stärker, die Kinder agieren spezifischer, entsprechend den Anforderungen ihrer Kultur. Unsere LEGEK-Ergebnisse sprechen in der Tat dafür, dass mit zunehmen- dem Alter Unterschiede zwischen den Kindern der beiden Kulturen deutlicher werden. In nahezu jeder Aufgabe schneiden deutsche Kinder hinsichtlich ihrer Leistung absolut betrachtet besser ab als kamerunische Kinder. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass kamerunische Kinder meist in gleicher Weise in den Aufgaben profitieren. In der Verzögerten Imitation beispielsweise 25 lernen kamerunische Kinder gleich viele Handlungen dazu wie deutsche Kinder. Da deutsche Kinder aber bereits in der spontanen Spielphase mehr Handlungen zeigen als kamerunische Kinder (Unterschiede im Ausgangsniveau), zeigen sie auch in der Testphase insgesamt mehr Handlungen. Ähnlich beobachten wir beispielsweise bei der Priming-Aufgabe, dass Kinder aus beiden Kulturen in glei- chem Umfang von einer früheren Präsentation eines Objekts profitieren, da je- doch die kamerunischen Kinder in ihrem Verhalten vorsichtiger sind, antworten sie stets etwas später als deutsche Kinder. Man kann also sagen, dass kamerunische Kinder auf einem niedrigeren Niveau starten als deutsche Kinder. Man stelle sich vor, Kinder beider Kulturen haben die Aufgabe, einen Turm aus Legosteinen zu bauen. Während die kamerunischen Kinder aber vom Boden anfangen zu bauen, haben die deutschen Kinder von An- beginn der Aufgabe einen kleinen Turm, auf den sie aufbauen. Auch wenn deutsche und kamerunische Kinder gleich viele Steine auf ihren Turm setzen, werden die deutschen Kinder am Ende der Aufgabe einen höheren Turm haben. Die Fähigkeit des Turmbauens wäre also bei allen Kindern gleich, das Endergebnis aber wäre unterschiedlich, da deutsche Kinder von vorne herein einen Vorsprung haben. Woher kommt dieser Vorsprung? Zum einen sind fast alle Aufgaben, welche die Kinder im Rahmen der LEGEKStudie bearbeiten sollten, im westlichen Kulturkreis entwickelt worden und da- mit für diese Kinder optimal. Ihnen liegen also unsere Ideen und Annahmen zu- grunde, was ein gut entwickeltes Kind können sollte, worin sich gutes Gedächtnis zeigt oder woran man erkennt, dass ein Kind viel gelernt hat. Es stellt sich aber die Frage, ob wir diese Aufgaben kulturübergreifend gleich gut verwenden soll- ten. In der Fachliteratur gibt es den Begriff des Konstruktbias, der sich darauf bezieht, dass beim Vergleich von Kulturen Fehler in der Messung psychologischer Eigenschaften (Konstrukten) dadurch entstehen können, dass nicht überprüft wird, ob die psychologischen Eigenschaften in beiden Kulturen das Gleiche be- deuten. So kann es sein, dass Gedächtnis nicht universell in allen Kulturen das Gleiche meint. Dementsprechend angepasst muss die Messung erfolgen: Während sich ein Kind mit gutem Gedächtnis bei uns dadurch auszeichnet, dass es bei- 26 spielsweise Lieder und Gedichte aus dem Kindergarten weiß oder sich an Orte und Geschehnisse erinnert, bedeutet ein gutes Gedächtnis in der kamerunischen Kultur, dass ein Kind von selbst an die alltäglichen Pflichten (wie Tischdecken, das Haus fegen, einkaufen) denkt, die es zu erledigen hat. Damit messen die meis- ten im westlichen Kulturkreis entwickelten und etablierten Verfahren nicht das, was in der Kultur der Nso als „gutes Gedächtnis“ verstanden wird. Ein weiterer Grund für den Vorsprung deutscher Kinder kann in der Testsituation gesehen werden. Für deutsche Kinder ist das direkte Spiel mit einem Erwachse- nen nicht ungewöhnlich; im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen stellt für deutsche Kinder in der Regel keine besondere Situation dar. Bei der Ethnie der Nso in Kamerun hingegen ist direkte Interaktion mit einem Erwachsenen weit weniger üblich und die Kinder sind es nicht gewohnt, im Aufmerksamkeitsfokus eines Erwachsenen zu stehen. Interaktion und Kommunikation sind bei den Nso in der Regel in soziale Situationen mit mehr als zwei Teilnehmern integriert, viele Komponenten unserer Testsituation sind für kamerunische Kinder demnach nicht in gleicher Weise vertraut. Nicht zuletzt können die zur Testung verwendeten Objekte ein Grund für den Vorsprung der deutschen Kinder sein. Deutsche Kinder sind eine Vielzahl an Ob- jekten in unterschiedlichsten Farben und Materialen gewohnt, nicht so jedoch Nso Kinder. Sie haben nur wenige Spielsachen, diese sind selbstgemacht und be- stehen aus natürlichen Materialien in Braun- und Rottönen. Zudem ist mit Objek- ten sehr vorsichtig umzugehen, erkundendes Spiel ist nicht erwünscht und wird unterbunden. Daher zögern Nso Kinder stärker, Spielobjekte zu berühren und zu erkunden, was ebenfalls zu niedrigeren Ausgangswerten beiträgt. 4. Entwicklungsverläufe (Längsschnittliche Zusammenhänge) Ein weiteres Ziel der LEGES-/LEGEK-Studie war es, lä ngsschnittliche Zusammen- hä nge zwischen dem Sä uglings- und Kleinkindalter zu untersuchen, d.h. Entwicklungsverlä ufe zu beschreiben und zu analysieren. Die Ergebnisse zeigten im Gro- ßen und Ganzen, dass lä ngsschnittliche Zusammenhä nge in so frü hen Lebensal- 27 tersabschnitten und im hier untersuchten Bereich des Lernens und des Gedä cht- nisses noch schwierig zu identifizieren und/oder sehr gering sind. Das bedeutet, dass die Gedä chtnisleistungen der Kinder im Kindergartenalter in der Regel nicht oder nur ungenau aufgrund ihrer Leistung im Sä uglingsalter vorhergesagt wer- den kann. Es herrscht also eine große Entwicklungsplastizitä t, was bedeutet, dass Kinder, die im Vergleich zu ihren Altersgenossen eher schlecht in unseren Aufgaben abschnitten, mit drei oder vier Jahren gut abschneiden kö nnen – aber auch andersherum. Dies kö nnte daran liegen, dass die den Aufgaben zugrunde liegenden Lern- und Gedä chtnisprozesse im frü hen Kindesalter noch sehr fragil sind. Die Leistungen in den Aufgaben von sehr jungen Kindern kö nnten noch sehr anfä llig sein fü r exter- ne Faktoren wie Mü digkeit bzw. Wachheit, Verdauungsaktivitä ten oder Laune, welche die eigentliche Leistungsfä higkeit des Kindes verschleiern. Alternativ ist es natü rlich auch mö glich, dass die frü hen Messungen eigentlich bereits gut, aber die gemessenen Fä higkeiten noch sehr stark durch Erfahrung formbar sind. 5. Fazit Dank der engagierten Teilnahme einer sehr großen Zahl von Eltern mit ihren Kindern über 4 Jahre hinweg an insgesamt 17 Einzelterminen konnten wir viele spannende neue Erkenntnisse zur Entwicklung von Lernen und Gedächtnis im Säuglings- und Kleinkindalter sammeln. Obwohl einige Fragen noch offen bleiben, da die Datenauswertung noch nicht vollständig abgeschlossen ist und sich neue Fragen aufgetan haben, so haben wir dennoch in den Jahren von LEGES und LE- GEK vieles über die frühkindliche Lern- und Gedächtnisentwicklung gelernt, was auch in wissenschaftlichen Publikationen seinen Niederschlag gefunden hat oder noch finden wird. ! Babys sind schon im Alter von drei Monaten fähig, eine gewisse Bildabfolge zu erkennen (Assoziationslernen). Sie schauen zum Teil bereits vor der Präsentation des nächsten Fotos erwartungsvoll an den Ort, an dem das nächste 28 Bild erscheinen wird. Dies lernen sie mit zunehmendem Alter immer schnel- ler. Mit drei und vier Jahren sind die Kinder in der Lage, solche Bildabfolgen nicht nur durch ihr Blickverhalten, sondern auch durch Tastendruck zu lernen. Mit zunehmender Übung beschleunigen die Kinder ihre Reaktion auf ei- ne festgelegte Bildabfolge. Ändert sich sodann die Abfolge, drücken sie häufi- ger die falsche Taste. Dies erklären wir uns damit, dass die Kinder die geübte Sequenz gespeichert haben und anschließend länger brauchen, um „umzuler! nen“. Mit drei Monaten können Babys mit unterschiedlichem kulturellen Hinter- grund lernen, dass sie über ihr eigenes Strampeln ein mit ihrem Beinchen über eine Schnur verbundenes Mobile bewegen können. Diese Aufgabe wird dem nicht-deklarativen Gedächtnis zugeschrieben (Mobile-Aufgabe). Im Kin- dergartenalter haben wir nicht-deklaratives oder implizites Gedächtnis mit- hilfe der Primingaufgabe erfasst. Auch bei dieser Aufgabe brauchen deutsche und kamerunische Kinder dann weniger Informationen zur Identifikation ei- nes Bildes aus einem Bildfragment, wenn sie es bereits davor gesehen haben. Deutsche und kamerunische Kinder zeigen also vergleichbare nichtdeklarative Gedächtnisleistungen. Für diesen Gedächtnisbereich zeigt sich als für einen der wenigen Bereiche frühkindliche Stabilität in der Entwicklung. Kinder, die in der Mobile-Aufgabe besonders deutlich zeigten, dass sie den Zusammenhang zwischen ihrem Strampeln und der Bewegung des Mobiles erkannt haben, schnitten auch mit ! drei Jahren in der Primingaufgabe besonders gut ab. Säuglinge können im Alter von neun Monaten zwei deutsche bzw. zwei kame- runische Frauengesichter noch genauso gut voneinander unterscheiden wie mit drei Monaten, wenn sie im Laufe des halben Jahres eine gewisse Übung mit kulturell weniger vertrauten Gesichtern hatten (Habituationslernen), wie dies in der LEGES-Studie möglich war. Mit drei Jahren zeigen die Kinder bei- der Kulturen in der Aufgabe zum Wiedererkennen von Gesichtern einen so ge- nannten other-race-Effekt, wie er sich auch bei Erwachsenen findet. Sie kön- nen dann zwei Gesichter der eigenen Ethnie besser voneinander unterschei- 29 den als zwei Gesichter einer anderen Ethnie. Sie sind also zu Experten für die ! Gesichter derjenigen Kultur geworden, in der sie aufwachsen. Bereits mit sechs Monaten sind Säuglinge in der Lage, sich neue, einfache Handlungen, die ihnen zuvor gezeigt wurden, einzuprägen und diese später nachzuahmen (Verzögerte Imitation). Diese Fähigkeit verbessert sich mit zunehmendem Alter: Die Kinder lernen immer mehr und immer komplexere Handlungsabfolgen. Mit vier Jahren können die Kinder im Schnitt bereits 36 Handlungsschritte von komplexen Handlungen behalten. Dabei zeigt sich, dass deutsche Kinder absolut betrachtet nach der Demonstration zwar mehr Handlungen zeigen als kamerunische Kinder, berücksichtigt man jedoch nur diejenigen Handlungen, welche die Kinder neu dazu gelernt haben (und nicht bereits spontan gezeigt hatten), so findet sich kein Unterschied in der Ge- ! dächtnisleistung für die Kinder aus den beiden Kulturen. Kinder in Deutschland und Kamerun lernen nach mehrmaliger Demon- stration die Verstecke von bis zu 6 Gegenständen (Schatzkästchenaufgabe). Erstaunlich dabei ist, dass deutsche Kinder deutlich davon profitieren, wenn an den Schubladenverstecken Hinweise auf den Inhalt angebracht sind (Reifen an der Schublade, die das Auto enthält). Kamerunische Kinder können von solchen Hinweisreizen nicht profitieren – ihre Gedächtnisleistung ist unter beiden Bedingungen (keine Hinweise versus Hinweise) vergleichbar. Dies könnte daran liegen, dass kamerunische Kinder, die in einer Umgebung mit wenig Objekten und rein natürlichen Farben leben, von der Vielzahl an visuellen Reizen und den vielerlei Farben „erschlagen“ werden und sich nicht mehr auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren können. Oder auch daran, dass die alltägliche Lebenswelt der Kinder aus Kamerun Möbelstücke mit ! vielen Schubladen, die als Verstecke dienen könnten, nicht bietet. Kinder aus beiden Kulturen zeigen einfache Sortierstrategien, wenn es darum geht, Bildkarten so zu ordnen, dass sie nachher gut erinnert werden (Serielles Lernen und Erinnern). Deutsche Kinder verwenden dabei alle untersuchten Sortierstrategien häufiger als kamerunische Kinder; vermutlich aufgrund die- 30 ses stärkeren strategischen Verhaltens zeigen sie bessere Erinnerungsleis! tungen bei dieser Aufgabe. Kinder können das besonders gut, was in ihrer Kultur wichtig ist und womit sie Erfahrung haben. So schneiden die kamerunischen Kinder bei der Ein- kaufsaufgabe besser ab als die deutschen Kinder. Zwar bringen Kinder aus beiden Kulturen im Schnitt gleich viele richtige Objekte aus dem Kaufmanns- laden mit, doch gehen insbesondere bei den deutschen Kindern die zu über- bringenden Nachrichten meist zumindest teilweise verloren. Die Fehler, die die Kinder beim Einkauf machen, unterscheiden sich ganz im Sinne des Sozia- lisationsmodells, in dem die Kinder groß werden. Kinder in Kamerun werden dazu angeleitet, vorsichtig zu handeln und Fehler zu vermeiden, daher brin- gen sie eher zu wenig Objekte mit. Kinder der westlichen Mittelschicht wer- den für eigene Ideen und Gedanken gelobt – sie kaufen daher auch Gegen- ! stände ein, die sie selber kaufen wollten. Deutschen Kindern mit vier Jahren fällt es wie erwartet noch sehr schwer, auf eine kleinere, sofortige Belohnung zugunsten einer größeren, aber späteren Belohnung zu verzichten (Marshmallow-Aufgabe); in dieser Fähigkeit sind gleich alte kamerunische Kinder überlegen. Es zeigt sich jedoch, dass auch deutsche Kinder in diesem Alter langsam Strategien entwickeln, die es ihnen schon in ein paar Monaten erlauben werden, kleine Belohnungen zugunsten größerer und besserer Belohnungen aufzuschieben, und damit eine Fähigkeit zu zeigen, die gerade auch im Rahmen von schulischem Lernen als wichtig er! achtet wird. Im Säuglingsalter konnten wir Unterschiede bezüglich der allgemeinen moto- rischen Entwicklung zugunsten der kamerunischen Kinder feststellen, die viel früher frei sitzen und stehen können als deutsche Kinder. Diese Unterschiede nivellieren sich mit Erreichen des Kindergartenalters jedoch hinsichtlich grobmotorischer Fähigkeiten wie Balancieren oder Hüpfen. Im feinmotorischen Bereich kehren sich die Unterschiede sogar um, so dass deutsche Kin- der in den von uns verwendeten Aufgaben besser abschneiden. Dies könnte aber vor allem an der Art der Aufgaben und weniger an den Fähigkeiten ge- 31 nerell liegen – deutsche Kinder machen im Gegensatz zu Nso Kindern im Kindergartenalter viel Erfahrung mit Schere, Stift und Papier. 6. Ausblick Durch die LEGEK-Studie konnten viele unserer Fragen beantwortet werden, gleichzeitig werden durch die gefundenen Ergebnisse jedoch auch neue Fragen aufgeworfen. So haben wir in einer Reihe von Aufgaben gefunden, dass deutsche Kinder absolut betrachtet besser abschneiden als kamerunische Kinder. Zugleich zeigt sich jedoch konsistent das Bild, dass kamerunische Kinder den gleichen o- der zumindest einen vergleichbaren Profit aus den von uns initiierten Lernsituationen ziehen. So lernen sie in der Aufgabe zur Verzögerten Imitation gleich viele neue Zielhandlungen dazu, starten aber von einem niedrigeren Level, wie in der Analogie vom Turmbau bereits beschrieben. In folgenden Studien möchten wir versuchen, Aufgaben zu entwickeln, die so konzipiert sind, dass deutsche und kamerunische Kinder auf einem vergleichba- ren Level starten. Ist der Lernzuwachs für Kinder beider Kulturen dann nach wie vor derselbe? Wir haben daher, bereits als Vorbereitung auf weitere Studien, im Rahmen der LEGEK-Studie kamerunische wie deutsche Eltern in einem Interview gefragt, woran sie erkennen, dass „ein Kind klug/clever ist“. Die Antworten der Mütter unterscheiden sich stark zwischen den beiden Kulturen. Für deutsche Mütter ist ein kluges Kind eines, das neue Ideen entwickelt, viel hinterfragt, seine Umwelt erkundet und neue Dinge ausprobiert. Für kamerunische Mütter kennt ein kluges Kind seinen Platz in der Gesellschaft. Es gehorcht den Älteren ohne Widerworte, erfüllt Pflichten im Alltag (das Haus fegen, Wasser holen, …), ohne daran erinnert zu werden, erledigt Besorgungen selbstständig und gibt aufgetragene Nachrichten auch nach einigen Stunden korrekt wieder. Das Konstrukt Gedächtnis ist damit kulturübergreifend variabel: entweder eine geistige Instanz die Aufträge, Gehörtes exakt speichert oder eine Basis für Konstruktion und Kreation. In unserer zukünftigen kulturvergleichenden Forschung sollen unsere Aufgaben 32 daher noch stärker als bisher so gestaltet sein, dass sie diesen kulturell unter- schiedlichen Entwicklungsperspektiven Rechnung tragen und so dem Anspruch der Kulturfairness noch mehr genügen. 33