Wer hat hier die Krise - Schweizerische Gesellschaft für

Werbung
Strategien zur Bewältigung von
Krisensituationen
Wer hat hier die Krise
Isabella Skuljan
Simone Keller
Marie-Anne Gfeller
Seelsorgerin Inselspital
Dipl. Expertin Intensivpflege Pädiatrie
Berufsbildungsverantwortliche Klinik für
Intensivmedizin
Ziele




Was ist eine Krise
Bedeutung einer Krise
Krise und Trauma – Wo sind die Zusammenhänge
Ressourcen zur Bewältigung einer Krise
2
Eintritt auf die pädiatrische Intensivstation
Patientenanmeldung:
 Andreas (Name geändert) 5 Jahre alt
 Septischer Schock
 Zunehmende Verschlechterung der Beatmungs- und
Kreislaufsituation
 Verlegung ins Zentrumsspital zur Therapieausweitung
Foto
Abteilung für pädiatrische
Intensivbehandlung, Inselspital Bern
 Zweites Kind einer albanischen Familie
3
Meine Gedanken als Pflegefachfrau
 Der Patient ist schwer krank und benötigt diverse
intensivmedizinische Therapien.
 Das Ärzte- und Pflegeteam wird in Anspruch genommen am
Bett.
 Die Spätschicht verfügt über weniger Personalressourcen.
 Möglicherweise werden viele Angehörige die Eltern begleiten.
 Die Patientensituation erscheint lebensbedrohlich – für die
Angehörigen eine Krisensituation.
 Die Seelsorge wird informiert und beigezogen.
4
Der Patient
 Eintritt um 16h mit der Rega.
 Kardiopulmonal stabil bei medikamentöser
Kreislaufunterstützung und hohem Beatmungsbedarf.
 Im Verlauf zunehmende Schocksymptomatik.
 Anlage der ECMO unter Reanimation.
 Weitere Verschlechterung mit Multiorganversagen.
Foto
Abteilung für pädiatrische
Intensivbehandlung, Inselspital Bern
5
Die Angehörigen
 Werden von der Seelsorge in Empfang genommen und zu
Andreas begleitet.
 Sie erhalten fortlaufend Informationen über den Zustand von
Andreas.
 Die Seelsorge erklärt den Eltern wo sich Aufenthaltsräume
befinden, wo sie Getränke bekommen, wie sie sich auf der
IPS zurechtfinden, wo sie übernachten können.
 Die Eltern sitzen oft bei Andreas am Bett.
 Gespräche der Entscheidungsfindung finden ausserhalb des
Patientenzimmers statt.
 Die Eltern werden während der Reanimation von der
Seelsorge betreut.
6
Der Therapieabbruch




Gegen Morgen Entscheid zum Therapieabbruch.
Die Eltern brauchen Zeit die Situation anzunehmen.
Morgens um 7 Uhr sind sie bereit Andreas zu extubieren.
Andreas verstirbt in den Armen der Eltern
Foto
Abteilung für pädiatrische
Intensivbehandlung, Inselspital Bern
7
Inanspruchnahme
 Seelsorge/Careteam auf Wunsch der Pflege bzw. Ärzte
 Seelsorge/CareTeam auf Wunsch der Eltern
 Aufgrund eigener Wahrnehmung und Nachfragen
 Gewährleistung durch 24 h Pikettdienst durch
das Seelsorge/Care Team
 Nach Aufgebot ist die Seelsorge/CareTeam
innert einer ½ Stunde vor Ort.
8
Kernaufgabe
Seelisch-geistige und interreligiös-spirituelle Unterstützung bei
Erkrankung, Unfall und Sterben,
insbesondere in Krisensituationen und
bei Sinn- und Identitätsfragen
in einem multireligiösen Umfeld
9
CARE: Was ist Notfallpsychologie?
Unter NFP verstehen wir:
Theorien, Methoden, Techniken
für die Prävention, Diagnostik, Beratung, Intervention und
Weiterbildung bezogen auf Situationen, in denen Menschen
 sich plötzlich (unvorbereitet bzw. unerwartet)
 direkt oder indirekt
 psychisch-belastenden + traumatisierenden
Situationen (Unfälle, unerwartete Diagnosen, Gewalt, Suizide)
befinden und einer unmittelbaren und/oder nachfolgenden
Betreuung bedürfen.
10
Ausnahmezustand
 Eingeschränkte Wahrnehmung:
sehen, hören, schmecken, fühlen
 Verändertes Zeiterleben
 Handlungen und Pläne werden unterbrochen oder gar sinnlos
 Die Selbstkontrolle ging verloren
 Das Selbstbild gerät aus den Fugen
 Die soziale Ordnung ist gestört
11
Interventionen
Akutphase

möglichst zeitnah, vor Ort (in der Regel 1-3 Std.)
 Erreichen der Selbstständigkeit
Stabilisierungsphase
 psychologische, seelsorgliche und psychosoziale
Unterstützung
Weiterbetreuung, Nachbetreuung
 wenn aufgetretene Symptome nicht selber vergehen
12
Angewandte Notfallpsychologie
Praktische Umsetzung von präventiven und interventiven
Massnahmen
Ziele der psychosozialen Nothilfe:
 Verringerung psychischen Leidens (z. B. PTBS)
 Präventive Intervention
 Förderung der psychosozialen Ressourcen und
Wiederermächtigung in Bezug auf Handlungsfähigkeit
 Salutogenetisch basierte Betreuung
 Zusammenarbeit mit Behandlungsteam
 Vernetzung der verschiedenen Dienste (Nachsorge)
13
Akutphase/ Intervention
Das SAFER Modell : Ziel: Handlungsfähigkeit
sichern
anerkennen
fördern
ermutigen
rüc
kführen
14
S
A
F
E
R
icherheit geben, Stabilisieren
nerkennen
ördern
rmutigen
ückführen
Vertrauen schaffen
von den Stressoren wegbringen
15
S
A
F
E
R
tabilisieren, S icherheit geben
nerkennen
ördern
rmutigen
ückführen
 Den/die Betroffenen beschreiben lassen,
was passiert ist und was seine persönlichen
Reaktionen auf die aktuelle Situation sind
16
S
A
F
E
R
tabilisieren, S icherheit geben
nerkennen
ördern
rmutigen
ückführen
 Die Befindlichkeit als normale, verständliche
Reaktionen erkennen lassen
17
S
A
F
E
R
tabilisieren, S icherheit geben
nerkennen
ördern
rmutigen
ückführen
 Grundlagen des Stress- und Krisenmanagements
vermitteln bzw. in Erinnerung rufen
 Ressourcen aktivieren
18
S
A
F
E
R
tabilisieren, S icherheit geben
nerkennen
ördern
rmutigen
ückführen
Beurteilung der aktuellen Funktionsfähigkeit
 Aufsuchen weiterer Hilfe/ Triage Notfall
19
Zusammenfassung: Seelsorge im
Universitätsspital: WAS
 Wir begleiten PatientInnen und ihre Angehörigen/ Eltern und
ihr Kind in Krisensituationen rund um die Uhr
(Krisenintervention)
 Wir nehmen spirituelle, existentielle und religiöse Anliegen in
einem interkulturellen Kontext auf (Schweigepflicht)
 Wir gestalten mit Angehörigen persönliche Rituale z. B. Taufe,
Segnungsfeiern und beim Abschied (Ritualbefähigung)
20
Was
 Wir suchen zusammen mit den Angehörigen/ Eltern nach
Möglichkeiten Kräfte zu sammeln, damit diese in Zeiten der
Erschöpfung ganz für ihren Patienten/in/ für ihr Kind da sein
können
(Support für Angehörige: wer tut was, wann, wie und wo)
 Wir vermitteln bei Bedarf Kontakte zu anderen Konfessionen
und Religionen (Interreligiösität)
21
Stabilisierungsphase:
22
Werkstatt der Schmetterlinge I







Gewohnte Rituale und vertraute Abläufe leben
Neue Rituale schaffen
Tage- und/oder Malbuch erstellen
Vertraute Umgebung schaffen
Vertraute Bezugspersonen einbeziehen
Entspannungs- und Atemtechniken einüben
Individueller Anker
23
Werkstatt der Schmetterlinge II







Poesie des Augenblicks wahrnehmen
Symbole nutzen
Natur (Jahreszeiten, Feste) einbeziehen
Engel erinnern
Wünsche wahrnehmen
Humor und Phantasie entwickeln
Segnungen, Taufen und Abschiedsrituale feiern
24
Die Trauerbegleitung
 Orientiert sich am Konzept « Sternenkinder, die Begleitung
des sterbenden Kindes und seiner Familie auf der
pädiatrischen Intensivstation »
 Nachgespräch nach drei Monaten.
Foto
Abteilung für pädiatrische
Intensivbehandlung, Inselspital Bern
25
Das Behandlungsteam





Grosse Betroffenheit
« Wir haben gekämpft und trotzdem verloren »
Austausch im Behandlungsteam.
ECMO Schläuche werden von Kardiochirurgen entfernt.
Emotionen bekommen Raum.
26
Definition «Kritische Ereignisse»
 sind potentiell traumatische Ereignisse, welche ausserhalb
des Bezugsrahmens liegen und die aktuellen Ressourcen und
Bewältigungsstrategien übersteigen
27
Definition Trauma
 Wenn durch ein Ereignis außerhalb der Norm, die psychische
und/oder physische Integrität des Individuums angegriffen wird
28
Betroffene eines Traumas
 Primäropfer:
direkt betroffen
 Sekundäropfer:
unmittelbar konfrontiert mit den
Traumatisierungen der Primäropfer
 Einsatzkräfte und Augenzeugen
 Tertiäropfer:
mittelbar betroffen, später am Einsatzort,
zeitlich verzögerter Kontakt mit Primär- und
Sekundäropfer nicht direkt konfrontiert oder
ausgesetzt
 Familienmitglieder
29
Betroffene eines Traumas
 Typ-1-Trauma:
Ereignis einmalig, zeitlich begrenzt
 Typ-2-Trauma:
 Ereignis (se) wiederholt, lang andauernd,
30
Soziales Traumas
 Individuelles Trauma
→ Individuum, Selbst
 Soziales Trauma
→ Beziehung
→ Familie
→ Gemeinde
→ Nation
→ Global
→ Generation, System
→ Geschichte
→ Kultur
31
Trauma – Reaktionen
 Akute Stressreaktion
 normal
 Belastungsreaktion
 normal
 Posttraumatische Belastungsstörung
fehlende Integrationsfähigkeit
32
...totstellen, erstarren…
Fotos: Wikipedia
33
…kämpfen…
Fotos: Wikipedia
34
…flüchten…
Fotos: Wikipedia
35
…soziales Engagement…
Fotos: Wikipedia
36
Reaktionen
 Akute Stressreaktion normal
→ kämpfen
→ flüchten
→ erstarren
während des Ereignisses
37
Reaktionen
 Belastungsreaktion normal
→ Wiedererinnern
→ Schlafstörungen
→ Verändertes Essverhalten
→ Verhaltensänderungen
→ Reizverminderung
Beginn: schon in den ersten Stunden
Dauer: 2 Tage bis 4 Wochen
38
Reaktionen
 Posttraumatische Belastungsstörung, Traumasymptome
fehlende Integrationsfähigkeit
→ Hyper-/ Hypoaurousal
→ Aufmerksamkeitsveränderungen
→ Bewusstseinseinengung
→ Betäubung
→ Dissoziation
Wochen, Monate oder Jahre später
39
Neurozeption nach Stephen Porges
Wikipedia
40
Das autonome Nervensystem
Fotos: Wikipedia
41
…diese bedeuten…
 anhaltende körperliche Übererregung
 unwillkürliches Wiedererleben des Traumas, belastende
Erinnerungen (Intrusionen) in Form von Alpträumen,
Flashbacks, Vermeidungsverhalten, emotionaler Taubheit und
Dissoziation
42
…Folgen…
 der Körper ist in einer chronischen, traumatischen
Überreaktion
 autonom-physiologische Körpervorgänge treten stärker in die
bewusste Wahrnehmung
 es zeigen sich vermehrt Körpersymptome
 es kommt zu einer ungenügenden Selbstregulation
 Gefahr der Sucht
43
…Traumatisierung bedeutet…
 nicht die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis, sondern die
körperliche Reaktion darauf
 den Verlust der Orientierung
 die Verbindungen zum Selbst, zu Mitmenschen und zur
Umwelt sind unterbrochen
44
…Ziel ist es…
 gefühlter Kontakt herstellen
 ermöglichen von Re- Orientierung
45
…ein Trauma bewältigen ist einfacher, wenn...
 ein soziales Netz trägt, tröstet und zu verstehen hilft  
 äussere Sicherheit vorhanden ist
 persönliche, genetische Stressresistenz und Resilienz
vorhanden ist
 Flexibilität und Fantasie eine Sinnfindung erleichtern
 Gerechtigkeit auf gesellschaftlicher Ebene nachgelebt wird
 familiär nach Lösungen und Versöhnlichkeit mit dem Schicksal
gestrebt wird
46
…take home...
 Stressreaktionen sind Schutzreaktionen und normal
 Emotionen erlauben und Raum geben für Alle
 Interdisziplinäre Zusammenarbeit in Anspruch nehmen
47
[email protected]
[email protected]
[email protected]
48
Literatur:
Babette Rotschild
Der Körper erinnert sich (Synthesis)
Peter A. Levine
Trauma Heilung (Synthesis)
Stephen W. Porges:
Die Polyvagal- Theorie (Junfermann)
Anngwyn St.Just
Soziales Trauma (Kösel)
Clemens Hausmann
Notfallpsychologie und Traumabewältigung Handbuch. 3. Auflage 2010
Manuel Rupp
Notfall Seele 3. Auflage 2010
Frank Lasoggaund Bernd Gasch
Notfallpsychologie Lehrbuch für die Praxis, 2. Auflage 2011
49
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen