Karies, Pest und Knochenbrüche - Wahl / Zink - Beck-Shop

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Karies, Pest und Knochenbrüche
Was Skelette über Leben und Sterben in alter Zeit verraten
von
Joachim Wahl, Albert Zink
1. Auflage
Karies, Pest und Knochenbrüche – Wahl / Zink
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
Theiss Verlag, Stuttgart 2013
Verlag C.H. Beck im Internet:
www.beck.de
ISBN 978 3 8062 2585 3
24 | Infektionskankheiten
1493 durch spanische Seefahrer von Haiti nach Europa
verschleppt und ausgebreitet. 1498 gab es mit Ankunft
der Portugiesen Erkrankungsfälle in Indien, später
auch in China und Japan (1505). Die ältesten Dokumente, die die Erkrankung in Japan beschreiben, datieren zwischen 1512 und 1513.42
Das Krankheitsbild der Syphilis verläuft in mehreren Stadien. Im Tertiärstadium kommt es in etwa
10 bis 20% der Fälle zu Knochenveränderungen, die
überwiegend den Schädel oder die langen Röhrenknochen betreffen. Vor allem im Bereich des Schädeldaches ergibt sich ein charakteristisches Bild, das
bereits morphologisch eine weitestgehend sichere Diagnose zulässt. Diese Veränderungen äußern sich in
einem typischen Nebeneinander von rundlichen
Knochenauflösungen mit reaktiver, aufgeraut wirkender Knochenneubildung, das als »Caries sicca«
bezeichnet wird. Letztendlich führt dieser fortschreitende Prozess zu einer runzeligen, zerklüfteten Knochenoberfläche. Am Stirnbein einer jungen Frau aus
dem Gebeinhaus in Rain am Lech zeigt sich deutlich
das zerklüftete Erscheinungsbildung einer »Caries
sicca«. Ebenfalls erscheint der Bereich unterhalb des
rechten Auges und des angrenzenden Jochbeins
durch die Knochenneubildungen etwas verdickt und
aufgeraut.
An den Langknochen kommt es bei Syphilis primär
zu einer Entzündung der Knochenhaut, die meist auf
den Knochenschaft beschränkt bleibt, sich aber bis
ins Knochenmark ausbreiten kann. Überwiegend
sind die langen Röhrenknochen der unteren Extremitäten betroffen. Der neu gebildete Knochen wird immer wieder in reifen, lamellären Knochen umgebaut,
was zu einer Verdickung mit rauer und porös erscheinender Oberfläche führen kann. Im radiologischen
Bild zeigt sich sehr deutlich die starke Verdickung des
Knochenschaftes etwa in der Mitte des Knochens. Die
Knochenhaut wirkt in diesem Bereich verwaschen
und nicht mehr deutlich abgrenzbar, der Markraum
erscheint ebenfalls verdichtet.
Anmerkungen
1 G. Hühne-Osterloh, 1989; G. Boenisch, G. Bräuer, 1986 · 2 R. E. Black,
S. S. Morris, J. Bryce, 2003 · 3 WHO, 2007 · 4 D. J. Ortner, 2003 ·
5 M. Würmseher, 2007 · 6 K. P. C. A. Gramberg, 1961 · 7 M. Yoeli,
1955 · 8 V. Möller-Christensen, 1983; T. Dzierzykray-Rogalski, 1980
· 9 E. H. Ackerknecht, 1972 · 10 C. Wells, 1964 · 11 C. Roberts,
1986 · 12 V. Möller-Christensen, 1961 · 13 R. Dubos, J. Dubos,
1952 · 14 S. Winkle, 1997 · 15 A. G. Carmicheal, 1993b · 16
K. Manchester, 1992 · 17 C. J. Haas et al., 2000 · 18 A. Castigilioni,
1941; W. D. Johnston, 1993 · 19 Anm. 14 · 20 Anm. 14 · 21 A. Cockburn, 1963 · 22 R. Brosch et al., 2002 · 23 P. Pott, 1779 · 24 V. Formicola, Q. Milanesi, C. Scarsini, 1987 · 25 D. E. Derry, 1938 · 26 P. Sager, M. Schmalzer, V. Möller-Christensen, 1972 · 27 A. Stirland,
T. Waldron, 1990 · 28 S. Ulrich-Bochsler et al., 1982 · 29 Major
J. Lichtor, A. Lichtor, 1957 · 30 L. Widmer, A. J. Perzigian, 1981 · 31
A. Marcsik et al., 1999 · 32 A. Centurion-Lara et al., 2006 · 34 E. H.
Hudson, 1965; C. J. Hackett, 1967 · 34 R. T. Steinbock, 1976 · 35
A. Stirland, 1991 · 36 G. Palfi et al., 1992 c · 37 B. J. Baker, G. J. Armelagos, 1988 · 38 T. E. von Hunnius et al., 2006 · 39 K. J. Reichs,
1989 · 40 D. J. Ortner, 1986 · 41 G. Correal Urrego, 1990 · 42 T. Suzuki, 1991
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Meistens unangenehm, häufig
schmerzhaft und manchmal tödlich –
Zahnerkrankungen in früher Zeit
Das Gebiss des Menschen ist ein Informationsträger
par excellence. An keiner anderen Struktur des Skelettes lassen sich vielfältigere Erkenntnisse über seinen Träger gewinnen. Zähne und Zahnhalteapparat
liefern auf makroskopischer, histologischer und molekularer Ebene Anhaltspunkte zu Alter, Geschlecht
und Migrationsverhalten (über Strontiumisotopie)
ebenso zur Ernährung, Verwandtschaft (über DNA-
Das Gebiss eines älteren Alamannen aus Konstanz weist
verschiedene Befunde auf:
Starke Abrasion und Sekundärdentinbildung an den
Frontzähnen, kariöse Defekte
in verschiedenen Stadien,
Anzeichen von Parodontitis,
Wurzelvereiterung und Zahnstein.
Analysen oder anatomische Varianten)1, Zahn- und
Mundhygiene oder zu Entwicklungsstörungen während der Kindheit (s. Kapitel »Knochen und Zähne
als Spiegel von Mangelerscheinungen und Stoffwechselstörungen«). Dazu kommen Spuren mannigfacher
spezifischer Krankheitszeichen, die zunächst nur als
lästig empfunden werden, in fortgeschrittenem Stadium vielfach mit erheblichen Schmerzen einhergehen
und von Fall zu Fall sogar schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen können.2
Nach ihrem Durchbruch wirken fortwährend physikalische und chemische Einflüsse auf die Zähne ein.
Die Folge sind Abnutzung und Schädigungen verschiedenster Art. Dabei ist Zahnschmelz die härteste
Substanz des menschlichen Körpers überhaupt, sodass
die Zahnkronen in ungünstigem Liegemilieu häufig
auch dann noch überdauern, wenn sich das restliche
Skelett längst aufgelöst hat. Das unter der Schmelzkappe befindliche Dentin (Zahnbein) ist ebenfalls widerstandsfähiger als Knochen. Gleichwohl sind Zahnschmerzen ein ständiger Begleiter des Menschen. Am
Schädel des ca. 200000 bis 300000 Jahre alten »Rhodesian Man« aus der Broken-Hill-Höhle (heute Kabwe in Sambia) wurden alleine elf kariöse Zähne und
mehrere Wurzelabszesse diagnostiziert. Weitere Beispiele sind aus dem Jungpaläolithikum bekannt. Im
Mittelalter galten Zahnschmerzen als gottgewollt. Der
Schutzheiligen der Geplagten (und Zahnärzte), der
Hl. Appolonia – einer nach antiken Quellen schon betagten Jungfrau, die stets mit einer Zahnzange abgebildet wird – waren im Rahmen der Christenverfolgung in Alexandria im Jahr 249 sämtliche Zähne
ausgeschlagen worden. Mit dem Scheiterhaufen bedroht, soll sie betend selbst ins Feuer gesprungen sein.
Im Alten Ägypten wie auch in der römischen Kaiserzeit war die Upperclass häufiger von Karies betroffen als die sozial weniger Privilegierten, da sie sich
eher fein gemahlenes Mehl, Datteln, Honig oder ähnlich kariogene Nahrungsmittel leisten konnten. Von
Ludwig XIV (1638–1715), dem »Sonnenkönig«, wird
berichtet, dass er sich davon überzeugen ließ, sich zur
Erhaltung seiner königlichen Glorie alle Zähne ziehen zu lassen.3 Bei deren Entfernung zerbarst der Unterkiefer und größere Teile des Gaumens brachen
26 | Zahnerkrankungen in früher Zeit
Ein überzähliger, sog. Nasenzahn (Mesiodens) im Oberkiefer des 25- bis 30-jährigen
Mannes aus dem bandkeramischen Gräberfeld von Schwetzingen. Der linke Unterkieferast ist atrophiert und deformiert, die Seitenzähne infolge
Knochenschwunds verkippt
und teilweise von Zahnstein
überkrustet. Zudem finden
sich heftige Entzündungsreaktionen am Gesichtsskelett.
Aus Elfenbein geschnitzter,
menschlicher Backenzahn mit
Darstellung des »Zahnwurms«
sowie einer Fegefeuer-Szene
aus dem 18. Jh.: Zahnschmerzen werden mit Höllenqualen
in Verbindung gebracht.
heraus. Fortan war er ständig von fauligem Gestank
umgeben, ausgehend von Speiseresten, die sich in seinem Nasen-Rachen-Raum verfangen hatten. Auch
Ludwig II von Bayern (1845–1886) war von Zahnschmerzen geplagt.4 Der »Märchenkönig« liebte Süßigkeiten über alles und trug eine Teilprothese im
Oberkiefer, nachdem er mit Mitte 20 bereits einige
Vorderzähne eingebüßt hatte. Der nach dem Tod des
41-Jährigen angefertigte Sektionsbericht listet einen
fast zahnlosen Oberkiefer sowie den Verlust aller Seitenzähne im Unterkiefer auf.
denen Parametern ab, insbesondere den Bestandteilen der Nahrung, aber auch genetischen Determinanten wie der Zusammensetzung der Mundflora,
Speichelmenge, Härte und Dicke des Zahnschmelzes,
eventuellen Fehlstellungen im Gebiss oder Zahnpflegemaßnahmen.
Mit Blick auf die Ernährung spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle: Erstens: Sie liefert das
Substrat für die in der Plaque vorhandenen Bakterienspezies, Streptokokken, Staphylokokken und Enterobakterien, von denen v.a. die erstgenannten eine
besondere Affinität zu niedermolekularen Kohlehydraten wie der Saccharose haben, die von ihnen zu
Milchsäure vergoren wird und ihrerseits die Zahnhartsubstanzen demineralisiert.5 Stärke als Polysaccharid benötigt demgegenüber einen deutlich längeren Spaltungsprozess durch das Speichelenzym
Amylase. Tierische Kost wie Fleisch, Fisch oder
Milchprodukte ist demgegenüber weit weniger kariogen. Es sind also letztlich organische Säuren aus dem
Stoffwechsel von Mikroorganismen, die den Zahn
zerstören.6 Zweitens: Feste, faserige Nahrungskomponenten polieren die Oberflächen der Zähne, die so
den Bakterien weniger Angriffsfläche bieten. Die Art
der Zubereitung wirkt sich auf die Kauintensität aus.
Zudem hat der Abrieb von Mahlsteinen im Getreidemehl einen gewissen Schleif- und Reinigungseffekt.
Karies – Entstehung, Auswirkung und Aufnahmemodus |
27
Drittens: Mangelhafte Versorgung mit Vitamin A, C
und/oder D in der Entwicklungsphase bewirkt eine
Störung der schmelz- bzw. dentinbildenden Zellen.
Die daraus resultierende minderwertige Zahnsubstanz ist leichter angreifbar.7
Im Umkehrschluss liefert die Kariesinzidenz einer
Skelettserie zusätzliche Anhaltspunkte zur Rekonstruktion des Nahrungsverhaltens. Damit stellt sie eine wichtige Ergänzung dar zu den klassischen Indikatoren wie der Untersuchung von Tierknochen,
Pflanzenpollen, Koprolithen oder Abnutzungsspuren
an Zähnen und den zuletzt etablierten Isotopenanalysen (v.a. Calcium, Stickstoff, Schwefel und Strontium) an Knochen, Zähnen oder Haaren.8 Des Weiteren lassen sich Nährwerte oder einzelne Inhaltsstoffe
bestimmter Nahrungsmittel berechnen. So liegt z.B.
der Saccharosegehalt von Mais deutlich über demjenigen von Weizen und Gerste, hat aber infolge eines
höheren Phosphatanteils gleichzeitig eine antikariogene Wirkung.9 Rohrzucker aus dem asiatischen
Raum ist in der Antike und im Mittelalter nur für die
Oberschicht erschwinglich, gemeine Menschen süßen
ausschließlich mit Honig. Rübenzucker wird erst zu
Beginn des 19. Jh. industriell hergestellt.10
Unterkiefer eines nach anthropologischen Kriterien
senilen Mannes aus der Christuskirche in Konstanz mit vergleichsweise schwacher Zahnkronenabrasion, aber massiven Zahnsteinablagerungen
und deutlichen Anzeichen von
Parodontitis.
Karies – Entstehung, Auswirkung und
Aufnahmemodus
Als eine der Hauptursachen pathologischen Geschehens im Bereich des Kauapparates kommt der Zahnfäule besondere Beachtung zu. Die damit verbundenen Schmerzen dürften den meisten Menschen
bekannt sein. Bis ins 18. Jh. hinein schrieb man diese
Pein dem so genannten Zahnwurm zu, erst später
konnte nachgewiesen werden, dass sie bakteriellen
Ursprungs ist. Kariöse Defekte hängen von verschie-
66 |
Vom Schwarzen Tod und alter DNA –
Seuchen der Menschheit und ihre Spurensuche in menschlichen Überresten
Seit der Antike gehören große Seuchen zum festen
Bestandteil der Menschheitsgeschichte, die noch bis
ins beginnende 20. Jh. ihre tödlichen Spuren hinterlassen haben.1 Mit keiner Krankheit ist der Begriff
»Seuche« wohl enger verbunden als mit der Pest, deren Name sich vom lateinischen »pestis« ableitet und
zum Synonym für Unheil, Verderben, Scheusal und
großes Leiden geworden ist. Dennoch ist die Pest bei
Weitem nicht die einzige Erkrankung, die für frühere
Bevölkerungen verheerend war. Neben den im Kapitel »Infektionskrankheiten – Plagen der Menschheit
bis in die heutige Zeit« beschriebenen Infektionskrankheiten wie Lepra, Syphilis und Tuberkulose, die
zeitweise seuchenhaft verbreitet waren, kam es im
Verlauf der letzten 2000 Jahre immer wieder zu
schweren Ausbrüchen von Pocken, Fleckfieber, Cholera, Typhus und Masern. Inzwischen geht man sogar
davon aus, dass einige Epidemien, die ursprünglich
der Pest zugeschrieben wurden, auf diese Infektionskrankheiten zurückzuführen sind. Für die betroffenen Dorf- oder Stadtbevölkerungen waren die Seuchen Ausdruck von Machtlosigkeit und Sinnbild für
Untergang und Verderben. Gegenmaßnahmen jedweder Art erwiesen sich als wenig erfolgreich und
führten dazu, dass man die Ursachen entweder in bestimmten Personengruppen suchte, wie z.B. bei den
so genannten Brunnenvergiftern, sie als Bestrafung
Gottes für die Sündhaftigkeit der Menschheit ansah
oder sie ganz einfach auf schlechte Luft bzw. üble
Ausdunstungen, das Miasma, zurückführte. Ein anderes Verständnis von Krankheit und der damit verbundene Mangel an Wissen über Ursachen und Verbreitung führte zu ungenauen Beschreibungen der
Symptomatik und erschwert heute die Rekonstruktion der zugrundeliegenden Erreger von Epidemien
bzw. Pandemien anhand historischer Quellen. Einen
anderen und unmittelbareren Zugang zu dieser Frage
bietet die Untersuchung von Skeletten, insbesondere
aus Massengräbern, die im Zuge von schweren Epidemien angelegt wurden, wie etwa die weit verbreiteten Pestfriedhöfe. Obwohl bei Infektionskrankheiten, die einen schnellen tödlichen Verlauf nehmen,
offensichtliche Skelettveränderungen in der Regel
nicht zu beobachten sind, erlauben moderne molekularbiologische Analysen den direkten Nachweis der
Krankheitserreger. Insbesondere die Extraktion von
altem bzw. antikem Erbgut (engl. ancient DNA, kurz:
aDNA) aus Knochenfunden ermöglicht heutzutage
einen detaillierten Einblick in das Auftreten, die Verbreitung und die Entwicklungsgeschichte von Infektionskrankheiten. Diese Methode kann entscheidend
dazu beitragen, den tatsächlichen Auslöser einer Seuche zu bestimmen und im günstigsten Fall darüber
hinaus sogar noch Rückschlüsse auf die Spezies oder
Stammzugehörigkeit des Erregers zu ziehen. Dies soll
zunächst am Beispiel der Pest demonstriert werden.
Ein typischer Pestarzt mit
Schutzanzug und Maske, der
auf dieser Abbildung von
1656 als »Der Doktor Schnabel aus Rom« bezeichnet
wurde.
der Opfer, der damals der in Athen wütenden Seuche
zugeschrieben wurde.3 Sie verglichen die mithilfe der
aDNA-Untersuchung erzielten Genabschnitte mit
vorhandenen Gendatenbanken und kamen zum Ergebnis, dass es sich um den Erreger von Typhus, das
»Salmonella typhi«, gehandelt haben könnte. Somit
lieferten sie zumindest einen Hinweis, dass die Athener Epidemie in der Tat nicht die Pest war. Jedoch
wurden die Ergebnisse erheblich angezweifelt. Im
Rahmen einer einfachen stammesgeschichtlichen
Analyse der alten Erregersequenzen ließ sich zeigen,
dass diese außerhalb von nahe verwandten Salmonellenarten liegen und somit unmöglich von Typhuserregern stammen können.4 Somit bleibt die genaue
Ursache der attischen Seuche weiterhin ungeklärt.
Die so genannte Justinianische Pest, die nach dem
römischen Kaiser Justinian benannt wurde, gilt als
erste richtige Pestpandemie, obwohl auch hier zumindest bezweifelt wird, dass ausschließlich der Pesterreger grassierte. Zumindest geht man davon aus, dass
Die Pest und ihr Nachweis im Skelettmaterial
Die Pest ist eine schwere und unbehandelt meist tödlich verlaufende Infektionskrankheit, die vom Bakterium »Yersinia pestis« hervorgerufen wird. Sie findet
sich heute noch in einigen Gebieten der Erde und tritt
dort gelegentlich in Form von kleinen Ausbrüchen
auf. Die WHO berichtet von etwa 1000 bis 3000 Pestfällen pro Jahr.2 Die Übertragung des Erregers erfolgt
über einen Zwischenwirt, meistens Flöhe, oder direkt
durch Tröpfcheninfektion. Es existieren vier verschiedene Formen: Die auch als Bubonenpest bezeichnete
Beulenpest ist durch die typischerweise am Hals und
in der Leistengegend auftretenden Beulen gekennzeichnet; die Lungenpest führt zu einem raschen Tode
und kann auf dem Luftweg übertragen werden; bei
der Pestsepsis treten die Erreger in den Blutkreislauf
ein und verteilen sich im gesamten Körper; und
schließlich gibt es die harmlose Variante der Erkrankung, die abortive Pest.
Obwohl der Begriff »Pest« für viele Seuchen verwendet wurde, die seit der Antike im Mittelmeerraum
aufgetreten sind, geht man heute davon aus, dass es
sich bei den Epidemien vor 541 n.Chr. nicht um Pest
gehandelt hat. Dies trifft sowohl auf die Beschreibungen der Pest im Alten Ägypten zu als auch auf die
große Epidemie von Athen (430–426 v.Chr.). Die von
Thukydides überlieferten Symptome weisen in keiner
Weise auf Pest hin, erlauben andererseits aber auch
keine andere eindeutige Diagnose. Zudem gelang
2007 griechischen Forschern der Nachweis von Salmonellen-DNA in drei Zähnen aus einem Friedhof
Die Pest und ihr Nachweis im Skelettmaterial |
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es sich um die Beulenpest gehandelt hat, die möglicherweise noch von anderen Krankheiten begleitet
wurde. Sie nahm ihren Ursprung 541 n.Chr. in Ägypten und erreichte 542 n.Chr. Konstantinopel, wo etwa
ein Viertel der Bevölkerung daran zugrunde ging. In
den darauffolgenden Jahren kam es immer wieder zu
Ausbrüchen mit zahlreichen Opfern, darunter auch
in Syrien und Persien, bis die Pest um 770 n.Chr. vorübergehend aus Europa und dem Mittelmeerraum
verschwand.
Im 14. Jh. kam es dann zu einer verheerenden Pandemie in Europa, die als »Schwarzer Tod« bezeichnet
wurde und fast ein Drittel der gesamten Bevölkerung
eliminierte. Man nimmt an, dass sie ihren Ursprung
in Asien genommen und durch intensivierte Handelsbeziehungen und mongolische Eroberungszüge
ihren Weg nach Europa gefunden hat. So soll bei der
Belagerung der Hafenstadt Caffa die Pest im Lager
der Tartaren ausgebrochen sein und diese ihre Leichen als frühe Form eines biologischen Kampfstoffes
über die Mauern katapultiert haben. Die fliehenden
Bewohner der Stadt könnten dann die Pest nach Italien eingeschleppt haben. Tatsache ist, dass sich die
Pest von 1347 bis 1352 über fast ganz Europa ausgebreitet und sogar Norwegen und Island erreicht hat.
Nach dem Ende der großen Pandemie hielt sich die
Pest in Europa und trat immer wieder in Form von
mehr oder weniger schweren Epidemien auf, die bis
ins 18. Jh. andauerten. Schließlich kam es Mitte des
19. Jh. zu einer dritten und letzten Pandemie, die in
Zentralasien begonnen hatte und weltweit etwa 12
Millionen Opfer forderte. Dabei gelang dem französischen Arzt Alexandre Yersin die Entdeckung des Erregers und die Aufklärung des Übertragungswegs.
Nachdem der Pesterreger der dritten Pandemie erfolgreich identifiziert worden war, ging man zunächst
davon aus, dass er auch für die beiden ersten Pestwellen verantwortlich zu machen sei. Diese Ansicht wurde aber zugleich angezweifelt und gerade für die mittelalterliche Pest immer wieder andere Erreger, wie
z.B. Anthrax (Bacillus anthracis), ein Virus oder vielleicht auch ein bereits ausgestorbener Erreger ins
Spiel gebracht.5 Erst im letzten Jahr scheinen aDNAUntersuchungen an Skelettmaterial endgültig zu einer
Lösung dieser Fragestellung geführt zu haben. Davor
hatte über viele Jahre eine heftige Debatte über den
Nachweis des Pesterregers in altem Skelettmaterial
geherrscht. Bereits 1998 publizierten französische
Wissenschaftler ihre Ergebnisse zum Nachweis von
Yersina-pestis-DNA in Zahnproben aus südfranzösischen Pestfriedhöfen des 16. und 18. Jh.6 In darauffolgenden Studien konnten sie weitere Belege für die
Existenz des Pesterregers in Skelettmaterial erbringen
und schlossen daraus, dass die mittelalterlichen Pest-
72 |
Zwischen Kräutersud und Aderlass –
Einblicke in das frühe Gesundheitswesen
»Seit vielen Jahren habe ich die Trepanation mehr gescheuet als die Kopfverletzungen, welche mir vorkamen; sie ist mir in den meisten Fällen als ein sicheres
Mittel erschienen, den Kranken umzubringen«,
schätzte noch im Jahr 1840 der bekannte Chirurg
Prof. J. F. Dieffenbach das große Risiko eines Eingriffs
am Schädel ein.1 Doch zahlreiche Beispiele belegen,
dass Behandlungen dieser Art bereits in der Jungsteinzeit meistens erfolgreich verliefen.
Die Bemühungen, einem kranken oder verletzten
Mitmenschen beizustehen, dürften tief verwurzelt
sein. Auf emotionaler Ebene sind primär die unmittelbaren (Familien-)Angehörigen angesprochen. Aber
es gilt auch, die Arbeitskraft des Betroffenen wiederherzustellen, da sowohl in Jäger- und Sammlergruppen als auch in sesshaften Gesellschaften jedes Mitglied zumindest einen minimalen Beitrag zum Erhalt
des Gemeinwesens beitragen kann. Nur ein kleiner
Bruchteil der Heilmaßnahmen, die von mehr oder
weniger fachkundigen Helfern durchgeführt wurden,
ist an (prä-)historischen Skelettresten überhaupt erkennbar. Einige erschließen sich nur indirekt, andere
belegen auf eindrückliche Weise die erstaunlichen
anatomischen Kenntnisse früher Mediziner.
Die Archäologie trägt durch Funde chirurgischer
Instrumente, Grabreliefs u.ä. Wesentliches bei, und
mit dem Aufkommen von Schriftquellen eröffnen sich
zusätzliche Einblicke in die damaligen heilkundlichen
Fähigkeiten.2 Sie offenbaren gleichermaßen den zunehmenden Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnisse wie auch den Einfluss von Irr- und Aberglaube
über Ursache und Wirkung oder regionale Unterschiede bezüglich der Etablierung der Ärzteschaft
bzw. der Auswahl therapeutischer Maßnahmen.
Zu den frühesten Zeugnissen dieser Art zählt der
babylonische Kodex Hammurapi aus dem frühen
17. Jh. v.Chr., eine steinerne Stele mit Gesetzestexten,
in denen nicht nur die Höhe von Arzthonoraren, sondern auch drastische Strafen für Pfusch am Patienten
eingraviert sind.3 Ebenso die bekannten ägyptischen
Papyri »Ebers« und »Edwin Smith«, die – beide um
1550 v.Chr. – rund 900 Rezepte und Beschreibungen
einer Vielzahl verschiedener Krankheiten bzw. Anleitungen zur Wundbehandlungen enthalten.4 In Lehrbüchern vom Ende des 1. Jt. n.Chr. dokumentierten
Die Protagonisten |
73
Nach gelungener Wunddesinfektion und lediglich schwachen Entzündungsreaktionen
verheilte Abkappung am linken Scheitelbein eines 25- bis
30-jährigen Hinrichtungsopfers aus Schwäbisch Gmünd
(17.–18. Jh.).
arabische Mediziner alleine 130 verschiedene Augenkrankheiten.5 Etwas später übersetzte ein Benediktinermönch im Kloster Monte Cassino einige der Texte
ins Lateinische, und mancher spätmittelalterliche
oder frühneuzeitliche Fachautor schmückte sich mit
diesen Kenntnissen, indem er schlicht und einfach
dort abgeschrieben hat.6 Schon im frühen 17. Jh. äußerte der schwäbische Wundarzt A. J. Ultzheimer, der
über mehr als ein Jahrzehnt hinweg drei Kontinente
bereist hatte, erhebliche Zweifel, ob seine hiesigen
Kollegen alternative Heilmethoden überhaupt in Erwägung ziehen würden.7
Die Protagonisten
Die Liste von »Berufsbezeichnungen«, die mit kurativen Tätigkeiten einhergehen, ist lang. Bereits bei paläolithischen Jägern und Sammlern dürfte es in jeder
Sippe jemanden gegeben haben, der um die heilende
Wirkung bestimmter Kräuter und Hilfsmaßnahmen
wusste und dem – wohl nicht zuletzt ob dieser Kenntnisse – magisch-spirituelle Fähigkeiten zugestanden
wurden bzw. zumindest in Teilbereichen eine gewisse
Führungsrolle zukam. Man könnte ihn am ehesten als
Schamanen bezeichnen. Eine Rolle, die vielleicht sogar bevorzugt von Frauen eingenommen wurde, zumal Wiederbelebung, Wiederherstellung eines Kranken oder Verwundeten sowie Fruchtbarkeit auf
ähnlichen Vorstellungen beruhen. In traditionell lebenden Gesellschaften finden sich noch heute derartige Grenzgänger, die Psyche und Physis betreffende
Erfahrungswerte früherer Generationen mit rituellen
Handlungen verbinden. Aus dem Neolithikum sind
zahlreiche überlebte Eingriffe am Schädel bekannt,
die sich in bestimmten Fundregionen häufen und bereits für diese Zeit auf spezialisierte Operateure
schließen lassen.8 Die Bronzezeit ist demgegenüber
nur sehr schwach vertreten.
Für die Römerzeit weisen Texte und Grabinschriften mehrheitlich auf männliche Ärzte hin. Doch es
gab auch weibliche Standesvertreterinnen, wie das
Brandgrab einer 30- bis 35-jährigen Frau aus Heidelberg-Neuenheim bezeugt, die mit berufsbezogenen
Accessoires ausgestattet war.9 Eine Fülle von Informationen zum Stand der Medizin liefern etwas später
die ältesten Rechtsaufzeichnungen der Germanen, die
Der sog. Wundenmann aus
dem »Feldtbuch der Wundartzney« von Hans von Gersdorff (1517) mit zeitgenössischen Verletzungsursachen
und möglichen Lokalisationen.
so genannten Leges (z.B. »Pactus legis alamannorum«
oder entsprechende westgotische, burgundische, bajuwarische und langobardische Texte) aus dem 5. bis
9. Jh.10 Danach können innerhalb des Gesundheitswesens bereits zwei Strömungen unterschieden werden,
eine durch die antike Heilkunde geprägte Versorgung
der Oberschicht in Höfen und Klöstern sowie eine
vorwiegend mündlich tradierte Volksmedizin, d. h.
Laienärzte wie kräuterkundige Frauen mit wundchirurgischen Aufgaben. Die besondere Wertschätzung
der Ärzte kommt u.a. dadurch zum Ausdruck, dass
ihr Schwur drei andere Zeugenaussagen aufwiegt.
Die studierten Ärzte des Mittelalters sind reine
Theoretiker, die ihr Wissen ausschließlich aus Büchern
schöpfen und Vertreter aller anderen Heilberufe wie
Wundärzte, Bader und Barbiere als »niedere Handwerker« betrachten. Mitte des 12. Jh. zählen auch Chirurgen noch dazu. Eine der berühmtesten Ausbildungsstätten dieser Zeit ist die Schule von Salerno.
Als Universitätsstudium etabliert sich die Medizin in
der zweiten Hälfte des 13. Jh. und wenig später sind
auch praktizierende Ärztinnen registriert. Bei den
Arabern waren demgegenüber schon 300 Jahre früher
Prüfungen für Ärzte vorgeschrieben und im 10. Jh.
alleine in Cordoba 50 Krankenhäuser oder in Bagdad
über 800 niedergelassene Ärzte bekannt.11 Bei uns
sind noch Mitte des 18. Jh. lediglich 33 Amtsärzte für
ganz Baden-Württemberg zuständig. Und während
Zugehörige Unterlagen
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