Hirnforschung und klinische Sozialarbeit - Grundlagen zur

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Hirnforschung und klinische Sozialarbeit
- Grundlagen zur Wirksamkeit von Betreuungsbeziehungen
Sven Bahlmann, Masterstudiengang Klinische Sozialarbeit
Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, Juni 2009
Gutachter: Uwe Klein, Prof. Ralf-Bruno Zimmermann
1. Einleitung
Die Masterthesis fragt nach den neurobiologischen Grundlagen von wirkungsvollen Betreuungsbeziehungen in der klinischen Sozialarbeit. In einer interdisziplinär angelegten Untersuchung
werden dabei drei Perspektiven verknüpft: Hirnforschung, Philosophie und die Fallvignette eines Schlaganfallpatienten.
2. Theoretische Ergebnisse
Seit einigen Jahren werden geistige Aktivitäten im Gehirn in bisher nicht gekannter Qualität beobachtet. Denken, Fühlen und Handeln scheinen sich genau visualisieren und lokalisieren zu lassen.
Die Fortschritte der modernen Bildgebung vermitteln jedoch nicht die subjektive Bedeutung des Erlebten. Die Arbeit hinterfragt rein naturalistische Deutungen des Gehirns und ersetzt sie durch
die subjektorientierte und ökologische Konzeption von Thomas Fuchs. Die neurobiologischen Anlagen des Menschen sind demnach zu einem hohen Anteil offene Schleifen, die komplementäre
Ergänzungen durch Bezugspersonen und Umwelt brauchen.
Abb:
Lineare Kausalität (alle Abb.: Fuchs 2008)
Abb:
Zirkuläre Kausalität
Abb: Doppelaspekt Körper-Leib
Das Gehirn als Beziehungsorgan (Fuchs 2008) ist Träger für die menschliche Subjektivität in einer zirkulären Beziehung zu Körper und Umwelt. Das Subjekt ist nicht im Gehirn zu lokalisieren,
sondern in der inkorporierten Einheit von Körper und Leib. Das für die klinische Sozialarbeit paradigmatische bio-psycho-soziale Modell, das die Leib-Seele-Dichotomie nicht wirklich auflösen
kann wird konzeptionell ergänzt.
In der Masterthesis werden phänomenologische und entwicklungspsychologische Theorien konkreter auf einzelne neurobiologische Konzepte bezogen: So bestätigen die somatischen Marker
(Damasio 1995) aktuelle Emotionsforschungen, die von impliziten und expliziten Modi von Wahrnehmung und Verhalten ausgehen. Die phänomenologische Konzeption einer primären
Intersubjektivität zwischen Kind und Mutter berücksichtigt aktuelle Erkenntnisse der Säuglings- und der Bindungsforschung. Die Interaktion von Organismus und Umwelt in der frühen MutterKind-Bindung verändert die plastischen neuronalen Strukturen und ermöglicht so kindliche Entwicklung. Auch bei Erwachsenen führen soziale Interventionen zu Anpassungen in der Hirnstruktur
und längerfristig zu Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Das biologische Resonanzsystem der Spiegelneurone belegt die unmittelbare Übersetzung eines fremden in das eigene Körperschema
und bestätigt das leibphänomenologische Konzept der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty 1965). Die sekundäre Intersubjektivität ist durch den Perspektivwechsel in einer exzentrischen Position
(Plessner 1975) und die Aneignung von Sprache als verkörperter intersubjektiver Praxis gekennzeichnet. Das Gehirn ist ein sozial und biographisch geprägtes Organ, durch dessen Funktionen
der Transformation und Musterbildung biographische Erfahrungen einverleibt werden. Schließlich dient das autobiographische Gedächtnis als Relais der psychosozialen Synchronisation
(Markowitsch, Welzer 2005), das subjektiv Kohärenz und Kontinuität sichert.
3. Fallvignette
In einer Fallvignette wird verkörperte Intersubjektivität (Fuchs 2008) als biographische Ressource in der klinischen Sozialarbeit praktisch veranschaulicht:
Am Beispiel von Klaus O., den der Autor bei der Zuhause im Kiez gGmbH als klinischer Sozialarbeiter betreut wird gezeigt, wie nach biographischen Brüchen
Anschlusskohärenzen und Normalitätsbalancen (Mollenhauer) gefunden werden können. Klaus hat in Folge eines Schlaganfalls, der anderthalb Jahre zurück
lag, schwere Gedächtnisamnesien und kognitive Einschränkungen. Seine verbleibenden Ressourcen werden als offene Schleifen in einer zirkulären Kausalität
verstanden, die sich in Resonanz zur Umwelt weiter entwickeln können.
Abb.: Hand-Tattoo
Im Mittelpunkt der Darstellung steht ein eintägiger Besuch bei der Familie in Ahlerstedt/Niedersachen im März 2009, zu dem der Autor Klaus begleitet hat. Die Reise, sowie einige ältere
Erinnerungen aus der Sozialarbeit mit Klaus werden unter den vier thematischen Perspektiven Leibverlust und Zwischenleiblichkeit, Subjektivität und Intersubjektiviät, Sozialität und
Anerkennung, sowie biographische Sinnüberschüsse und Ressourcen betrachtet. Es wird der Frage nachgegangen, ob und wie „die Dynamik des biographischen Wiederaneignungsprozesses
von Lebenskompetenz und der Gesundungsgeschichte dem Bereich des Leiblich-Affektiven oder des Biographisch-Reflexiven geschuldet ist“ (Hanses 1999). Vollzieht sich dieser Prozess „nur“
zwischenleiblich auf der Ebene der primären Intersubjektivität oder ist Klaus, zumindest in Ansätzen in der Lage explizit an der Gestaltung seines Lebens mitzuwirken und ihm Sinn und
Bedeutung zu geben?
4. Diskussion
Die Masterthesis geht der Frage nach, ob Betreuungsbeziehungen und „Mitwirkung am Hilfeprozess“ überhaupt möglich sind, wenn emotionale Schwingungsfähigkeit und Reflexionsvermögen
stark eingeschränkt sind? Kann Klinische Sozialarbeit Zugang zu impliziten Gedächtnisinhalten und Beziehungsschemata gewinnen? Gibt es dabei eine aufgeklärte Einwilligung, einen informed
consent und wie müsste er aussehen?
Für Klaus brachten die Beeinträchtigungen nach seinem Schlaganfall massive Irritationen seines Selbstbildes und Selbstbewusstseins mit sich. In der Bezugsbetreuung kommt es darauf an, ihm
ein Bild von sich selbst zu vermitteln, das die Integration von für ihn unverständlichen Erfahrungen ermöglicht und ihm so „Selbst“- Sicherheit gibt. Klaus wird zum Beispiel bei der Vermeidung
von selbstgefährdendem Verhalten oder auch der Beachtung „vergessener“ sozialer Konventionen, wie dem Nichtraucherschutz oder einer gewissen körperlichen Gepflegtheit unterstützt.
„Psycho-soziale Behandlung im Rahmen Klinischer Sozialarbeit muss also damit umgehen, dass Interventionen sowohl mit als auch ohne „Erlebniseigenschaft“ bzw. Bewusstsein der Probanden
stattfindet. Gerade Maßnahmen sozialstruktureller Art, bspw. soziale Unterstützung durch Integration von Wohngemeinschaften psychisch Kranker (…) werden häufig auch ohne das bewusste
Erleben der Betroffenen sozialtherapeutisch wirken“ (Pauls 2004). Eine Herausforderung in der Zusammenarbeit mit Klaus ist es, seine Wünsche zu respektieren und adäquat aufzunehmen, auch
wenn „kritische Distanz und Einschätzung der eigenen Situiertheit und Leistungsfähigkeit erschwert“ sind, weil bei ihm „geschädigtes, bewältigendes, realitätsanpassendes und beurteilendes
Organ“ (Lucien-Hoen 1999) identisch ist. Jedoch - der von Thomas Fuchs eröffnete “präsentische Raum der Beziehung: im szenischen Dialog, in Tonfall, Haltung und Ausdruck, in der
´Zwischenleiblichkeit` von Therapeut und Patient“ (Fuchs 2003) kann auch in der klinischen Sozialarbeit wirksam werden.
Literatur
Damasio, A. (1995). Descartes` Irrtum. Fühlen, Denken und menschliches Gehirn. München: List. Fuchs T. (2003). Non- verbale Kommunikation: Phänomenologische, entwicklungspsychologische und therapeutische
Aspekte, Psychotherapeut 51, 41-50. Fuchs T. (2008). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart: Kohlhammer.
Hanses, A. (1999). Das Leiberleben als biographische Ressource in der Krankheitsbewältigung. Biographieanalytische Betrachtung über den „Leib“ bei Menschen mit Epilepsien. In: Alheit P. et al. (Hrsg.) (1999).
Biographie und Leib, Gießen: Psychosozial, S.111-129. Lucius-Hoen, G. (1999). „Ich hatte immer das bestreben, den Gesunden zu markieren“. Hirnverletzungssymptome und Identitätskonstruktion. In: Alheit P. et
al. (Hrsg.) (1999). Biographie und Leib, Gießen: Psychosozial-Verlag, 133-151. Markowitsch, H.- J., Welzer H. (2005). Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung,
Stuttgart: Klett-Cotta. Merleau-Ponty, M. (1965). Phänomenologie der Wahrnehmung. De Gruyter, Berlin. Pauls H. (2004). Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psycho-sozialer Behandlung. Weinheim
München: Juventa. Plessner H. (1975). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin, New York: de Gruyter.
Kontakt (auch für interessante Aufgaben im Arbeitsfeld Sozialpsychiatrie): [email protected] 030/34501404.
Die Masterthesis ist im Diplomica-Verlag Hamburg, www.diplom.de als eBook (ISBN: 978-3-8366-4498-3) und als Fachbuch (ISBN: 978-3-8366-9553-4) für jeweils 38,00 Euro erschienen.
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