20 21 Über die Möglichkeit des Scheiterns Nele McElvany Einführung Wie definiert man »Scheitern«? Der verschossene Elfmeter im WM-Finale ist vermutlich für die meisten eindeutig Scheitern. Aber ist der Abbruch eines Studiums ein Beispiel für Scheitern? Immer, oder nur wenn der Abbruch unfreiwillig, beispielsweise aufgrund einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung erfolgte? Ein Scheitern, auch wenn man danach ein neues Studium beginnt und mit diesem viel glücklicher ist als mit dem alten Studium? Gehören zum Scheitern zwangsläufig äußere Einflüsse? Ist Scheitern über die sachlichen Konsequenzen zu definieren? Oder über die emotionalen Folgen? Oder einfach eine Frage der Interpretation? Was bedeutet es, wenn Scheitern, wie der Duden angibt, das Nicht-Erreichen eines angestrebten Ziels oder ähnlichem ist, das Ausbleiben von Erfolg, das Misslingen, Missglücken oder Fehlschlagen – wobei man an »etwas« oder an »jemandem« scheitern kann? Die Turmbauer von Pisa sind daran gescheitert, einen geraden Turm zu bauen. Aber wäre der Turm von Pisa so bekannt, wenn er ein normaler, nicht schiefer Turm geworden wäre? In der unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beliebten TVShow »The Voice« werden in jeder Sendung junge Menschen nicht ausgewählt, müssen die Show verlassen. Im ersten Moment ein riesiges, erschütterndes Scheitern. Der amerikanische Begriff »Devastating« (in etwa: vernichtend, niederschmetternd) passt hier so gut wie wohl kaum ein deutsches Wort. In diesem Augenblick wird jemand in all seiner Schwäche entblößt und dies in aller medialen Öffentlichkeit. Kurzfristig gedacht, liegt die Einordnung als Scheitern nahe. Aber mittelfristig gibt es auch eine andere Perspektive: Die Person hat es versucht. Sie hatte eine Chance. Scheitern wäre hier für gesangsbegeisterte Jugendliche wohl eher gewesen, es nicht versucht, keine Chance gehabt zu haben. Scheitern heißt immer auch »Ich habe es versucht.« Die Wahl eines Studiums bzw. einer Ausbildung und eines damit verbundenen Berufs kann man angelehnt an Herzog, Neuenschwander und Wannack (2006) in sechs Phasen unterteilen, beginnend (1) mit einer diffusen Berufsorientierung orientiert an Wunschberufen, über (2) deren Konkretisierung (u.a. anhand von persönlichen Interessen und Fähigkeiten), (3) der Suche nach einem Ausbildungs- oder Studienplatz, (4) einer Konsolidierungsphase nach getroffener Entscheidung, (5) der Ausbildungs– bzw. Studienphase bis hin (6) zu dem Eintritt in das Erwerbsleben, das mit erneuten Entscheidungen einhergeht. Dem Modell liegen sowohl die institutionell vorgegebenen Strukturen als auch die gesellschaftlich signalisierten und von den Individuen meistens übernommenen Erwartungen eines idealisierten linearen Verlaufs zugrunde (vgl. Stalder & Schmid, 2012). Gleichzeitig bricht aber circa jede/r dritte Studierende das BA-Studium ab (Heublein, Richter, Schmelzer & Sommer, 2014). Und auch die moderne Arbeitswelt ist von Dynamik geprägt, von Veränderungen durch neue Technologien, örtlicher Flexibilität, Instabilität von Firmen oder genereller Geschäftsmodelle, und durch Scheitern erzwungene Veränderungen werden zu einer eigentlich normalen Möglichkeit der beruflichen Biographie. Hat man lineare Verläufe im Blick verursacht diese Vorstellung Stress – im Umgang mit ihr wie auch in der Kommunikation über sie. Im Folgenden wollen wir uns dem Konzept des Scheiterns nähern, indem wir Beiträge verschiedener Disziplinen betrachten. Annäherung an das Konzept des Scheiterns Zum Konzept des Scheiterns finden wir in der Philosophie an vielen Stellen das Bild des Schiffsbruchs: Scheitern ist demnach die unwiderrufliche Zerstörung eines Schiffes und nicht nur dessen Stranden, das eher Vorstufen des Scheiterns wie dem Misslingen oder Irrtum entspricht (Blumenberg, 1979 nach Rieger-Ladich, 2014). Denkt man diese Metapher weiter, setzt Scheitern demnach da an, wo etwas nicht »reparierbar« oder »wiederherstellbar« ist. Dennoch enthält das Bild einen wichtigen Aspekt der Produktivität, den man in dem Wort des Scheiterns oder Zustand des Zerstört-Seins zunächst nicht unbedingt vermuten würde: Aus den Überresten des zerstörten Schiffes kann durchaus etwas Neues entstehen, in neuer Form, vielleicht mit neuem Zweck, vielleicht an neuem Ort. Ob das neu Entstandene, neu Zusammengesetzte in Relation zu dem Alten als »besser« oder »schlechter« bewertet werden kann, bleibt zunächst grundsätzlich offen. Das Bild des Schiffsbruchs entspricht auch der etymologischen Wurzel des Wortes Scheitern, dem »in Stücke brechen«. So wie in dem Bild etwas Neues entstehen kann, arbeitet auch Rohrhirsch (2009) in seinen Überlegungen zur Bedeutung des Scheiterns aus philosophischer Sicht heraus, dass Scheitern Grundbedingung für Orientierungswissen als »verortetem Wissen« ist, dessen Erwerb im Kontext der Herausbildung von Haltungen geschieht, die als Basis verantwortliche Entscheidungen ermöglichen. Er weist in diesem Zusammenhang außerdem darauf hin, dass Scheitern immer auch eine ganzheitliche Erfahrung ist und eine abstrakte Trennung in »körperlich« – »geistig« – »seelisch« zur Verarbeitung oder Auseinandersetzung mit dem Scheitern nicht funktioniert. 22 Das Feststellen von Scheitern, von dem Schiffbruch, ist immer eine Zuschreibung in Verbindung mit Handlungsunfähigkeit. Es erfolgt entlang einer normativen Dimension ein Abgleich zwischen Soll-Zustand vor dem Anspruch, was man erreichen oder wie man sein und was man machen wollte, und Ist-Zustand der Wirklichkeit (vgl. Vogd, 2013). Entspricht der von individuellen oder gesellschaftlichen Werten definierte nicht dem tatsächlich festgestellten Zustand, wird in der individuellen oder sozialen Bewertung eine Differenz deutlich, die entweder ausgehalten oder überwunden werden muss, wenn sie nicht zerstörerisch wirken soll. Die Interpretation hängt hierbei auch von dem Referenzrahmen ab, in dem das Scheitern, die Diskrepanz, festgestellt wurde und kann kulturabhängig sein (vgl. Backert, 2004). Ist die Handlungsunfähigkeit temporär, kann mit Junge (2004) von graduellem Scheitern gesprochen werden (vgl. auch »Misserfolg« in der Psychologie), ist sie dauerhaft, von absolutem Scheitern. Ein verschossener Elfmeter in einem WM–Finale kann nicht wiederholt werden, das Scheitern ist absolut. Die Erwartung an eine/n Studierende/n der Physik ist, dass dieses Studium erfolgreich abgeschlossen wird. Das Nicht-Bestehen von hierfür notwendigen Klausuren konstituiert im Abgleich mit dem Ziel ein Scheitern. Soll das Scheitern nicht einfach ignoriert oder verdrängt wer- 23 den, kann die Anpassung an diese Situation auf zweierlei Wegen erfolgen: einer Anpassung der Werte/Selbstaktualisierung, beispielsweise durch interessiertes Hinwenden zu einem anderen Studienbereich oder im Sinne instrumenteller Ziele eine erfolgreiche Umsetzung von Aktivitäten, mit deren Hilfe die Diskrepanzen zwischen Soll- und Ist-Zustand überwunden werden, wenn dies noch möglich ist. Während sich die erste Strategie vor allem auf das Individuum und dessen psychologische Identität bezieht, hat der zweite Weg häufig verstärkt die soziale Identität im Kontext von sozialen Erwartungs- und Bewertungsstrukturen im Blick, denen durch die Anpassung entsprochen werden kann (vgl. Vogd, 2013). Die evaluative Zuschreibung von Scheitern kann dabei in der intraindividuellen wie auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation erfolgen. Einen besonderen Umgang mit Scheitern kennen Kunst und Kultur: Viele bekannte Gemälde der letzten Jahrhunderte stellen Szenen des Scheiterns dar. In jüngerer Zeit thematisierte die »Show des Scheiterns« als Vortragsreihe, bei der Menschen über Vorhaben und Projekte berichten, die nicht zustande kamen, das Scheitern als »etwas Sympathisches, für das man sich nicht zu schämen braucht«, verbunden mit der Botschaft »Im Gegenteil: Nur wer etwas versucht, kann auch scheitern.« (Schwarz, Jöns & Orlac, 2015). In der Literatur veröffentlichte vor wenigen Jahren Hans Magnus Enzensberger (2011) sein Buch »Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem IdeenMagazin«, in dem er kleine und große eigene Niederlagen darstellt und dahingehend einordnet, dass er wenigen Erfahrungen so viel verdanke wie diesen Misserfolgen. Und schließlich war da Christoph Schlingensief, der das Fehlermachen als radikalen Anspruch der Kunst formuliert und konsequent in vielen vielseitig beachteten und intensiv diskutierten Projekten umgesetzt hat. Mit dem Wahlslogan seiner Partei »Chance 2010« machte er eine starke Vorgabe zur Interpretation des Scheiterns: »Scheitern als Chance«. Diese positive Interpretation findet eine direkte Parallele in modernen Organisationsund Innovationstheorien: Organisationen leben von Veränderung und Innovation. Diese gibt es nur dann, wenn Risikobereitschaft, kreative neue Ideen und Experimente möglich sind. Hierfür darf Scheitern nicht sanktioniert werden, sondern muss ganz im Gegenteil als Teil positiven Handelns und nützlicher Schritte hin zu Neuem gesehen werden (vgl. Morgenroth & Schaller, 2004). Innovationstheorien sehen in Scheitern etwas Notwendiges: Viele Ideen sind nötig, um die eine erfolgreiche zu finden. Davon lebt die gesamte Start-UpBranche, in der viele Dinge erdacht und ausprobiert werden (vgl. auch Trial & Error als Lernprinzip). Es geht um die richtige Mischung aus Planung und Antizipation auf der einen Seite und vielfältigen Versuchen auf der anderen Seite, von denen sich der beste bzw. stärkste Versuch – darwinistisch – am Ende durchsetzen wird. Gössler (2007, S. 4) spitzt diese Entwicklung dahingehend zu, dass er den »Umgang mit Scheitererfahrungen zur biographischen, organisationalen, gesellschaftlichen und beraterischen Schlüsselkompetenz« erhebt. In Bezug auf Lernprozesse gibt es in der Pädagogik einen Ansatz, der Scheitern ähnlich, aber doch anders einordnet. Fehler sind hier nicht Scheitern sondern konstituierender Teil positiver Lernkulturen. Die positive Fehlerkultur wird als wichtiges Element der konstruktiven Unterstützung der Lernenden angesehen, die eine der drei Basisdimensionen von gutem Unterricht darstellt. Fehler werden nicht nur als unvermeidlich angesehen, sondern als wichtiger Teil des Lernprozesses (Helmke, 2009). Sie informieren die Lehrkraft über den Lernstand bzw. das Verständnis und Mißkonzepte der Lernenden und erlauben es dadurch, im Unterricht gezielt an diese anzuknüpfen. Damit sind sie keine Lernbarrieren und sollten für den Lernenden nicht unangenehm oder peinlich sein, und es ist Aufgabe der Lehrkraft, auf Fehler geduldig und konstruktiv zu reagieren. Diese im Ursprung 24 auf den schulischen Unterricht bezogene Theorie kann durchaus auch auf größere Lebenskontexte und den dortigen Umgang mit Fehlern übertragen werden. Der Aufschwung der Empirischen Bildungsforschung in den letzten Jahren beruht ganz wesentlich darauf, einen Status quo der schulischen Bildung in Deutschland dahingehend zu kennzeichnen, dass das bisherige Vorgehen zu Scheitern führt – PISA 2000 hat anhand von harten Ranking-Zahlen gezeigt, dass der Kompetenzerwerb deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich nicht den in Deutschland gehegten Erwartungen entspricht. Darüber hinaus hat die Studie – und haben viele weitere, weniger prominent diskutierte Untersuchungen – gezeigt, dass das System daran scheitert, substantielle Anteile der Kinder und Jugendlichen aus sozial weniger privilegierten Familien oder mit Migrationshintergrund zu Bildungserfolg im Sinne von Kompetenz- und Zertifikatserwerb zu führen. Statistiken verweisen auf den Anteil von Jugendlichen, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen, auf vorzeitig aufgelöste Lehrverträge, auf abgebrochene Universitätsstudien. Auch wenn die Forderung, das Scheitern immer als Möglichkeit pädagogischen Handelns mitzudenken, eine alte ist (vgl. z.B. Bollnow, 1962), so unterscheidet sich die Empirische Bildungsforschung in ihrer Themati- 25 sierung des Scheiterns von Bildungsprozessen (und dessen Nutzung zur Unterstreichung der eigenen Relevanz und Notwendigkeit der Ressourcenallokation) doch von der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, deren Fokus traditionell auf der Beschreibung und Reflexion positiver Erziehungs- und Bildungsziele und entsprechender Handlungsansätze liegt und dabei weitgehend ignoriert, dass ausgerechnet dieses »Kerngeschäft« der Pädagogik in höchstem Maße störungsanfällig ist (Rieger–Ladich, 2014). Rieger-Ladich (2014) weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Scheitern in anderen Disziplinen einen selbstverständlicheren Raum einnimmt und zeigt dies für die Philosophie anhand des Beispiels von John L. Austin auf, der in seiner Sprachakttheorie auch immer das Scheitern, das Misslingen einer Regel oder eines Begriffs, mitdenkt (s. Krämer, 2003) und damit in sachlich-neutraler Distanz dem Gegenstandsbereich seiner Erkenntnisbemühungen gegenüber steht. Ganz ursprünglich und zentral mit dem Scheitern beschäftigt sich die Soziologie. Ihr geht es um gesellschaftliche Veränderungen oder soziale Ungleichheiten innerhalb und zwischen Gesellschaften als Scheitern einer gerechten Verteilung von Gütern und Kapitalien (vgl. z.B. Bourdieu, 1983) oder das Funktionieren bzw. Scheitern gesellschaftlicher Systeme. In der Bildungssoziologie wird konkret das Scheitern von Jugendlichen im Schul- und Ausbildungssystem untersucht, wie zum Beispiel das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher an den Normalisierungspflichten moderner Bildungsgesellschaften (Solga, 2004). Dennoch gibt es vergleichsweise wenige soziologische Arbeiten, die sich explizit mit dem Scheitern beschäftigten und dieses aus soziologischer Perspektive konzeptualisieren (Junge & Lechner, 2004; implizit s. z.B. Elias, 1970 zu Transintentionalität, oder Bourdieu, 1987 zu Umstellungsstrategien). In der Verbindung von Makro- und MikroEbene, von Überlegungen zu gesellschaftlichem, sozialem und individuellem Scheitern treffen sich Soziologie und Psychologie. Die Psychologie beschäftigt sich neben dem klinischen Bereich der Psychiatrie, der Therapie und Beratung auch in einer Reihe von weiteren Theorien und Studien mit dem alltäglichen Scheitern. Die Frage, warum ein einmal begonnenes Studium, eine mit positiven Intentionen begonnene Lehre nach einiger Zeit vielleicht doch abgebrochen wird, kann beispielsweise das StageEnvironment-Fit-Modell erhellen. Hier wird in einer Entwicklungsperspektive darauf hingewiesen, dass die Passung zwischen individuellen Bedürfnissen und Kontextbedingungen aufgrund von Weiterentwicklungen nicht mehr unbedingt gegeben sein muss und mit dem entstehenden Mismatch negative Korrelate wie beispielsweise eine verringerte Motivation einhergehen (vgl. Eccles & Midgley, 1989). Ein wichtiger Aspekt in der Auseinandersetzung der Psychologie mit dem Scheitern ist die Reaktion des Individuums auf sein Scheitern. Viele entlastende Kognitionen, zu denen auch die selbstwertdienliche Attribution gehört, fördern demnach neben Emotionsregulationsstrategien einen produktiven Umgang mit Scheitern: Während Erfolge auf individuumsinterne und stabile Faktoren wie zum Beispiel auf eigene Fähigkeiten oder intern-variable Faktoren wie eigene Anstrengungen attribuiert werden können, können Misserfolge auf externe und variable Bedingungen wie beispielsweise auf »Pech« oder extern-stabile Faktoren wie zum Beispiel die Schwierigkeit der Aufgabe, an der man gescheitert ist, zurückgeführt und zugleich die Kontrollierbarkeit der Situation durch eigenes Handeln wahrgenommen werden (Weiner, 1988). Wird Scheitern hingegen als intern, stabil und generell (verallgemeinert) verursacht angesehen, so kann dies nach Seligman, Abramson, Semmel und von Baeyer (1979) das Entstehen einer Depression befördern. Auf die Phase nach dem Scheitern hat auch die christliche Theologie einen Blick. Neben der Auseinandersetzung mit dem Tod als Frage des Scheiterns (vgl. auch in der Philosophie die These von der Unmöglichkeit des Scheiterns bei Unsterblichen, 26 Rohrhirsch, 2009) schließt das Vaterunser als zentrales Gebet des Christentums das Scheitern prominent und in vollkommener Selbstverständlichkeit ein: »… und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« (evangelische, römisch-katholische, ökumenische Fassung). »Unsere Schuld« schließt ein, dass wir gescheitert sind. Gescheitert daran, es »richtig« zu machen, uns nicht schuldig gemacht zu haben. Wir tragen Verantwortung im Alltag, wir begegnen Menschen und laufen immer auch Gefahr, dass wir scheitern; an kleinen Punkten – vielleicht nur ein unpassender Gesichtsausdruck –, an mittleren Punkten wie einem in den Sand gesetzten Projekt oder an großen Punkten wie einer falschen Entscheidung, die das Leben eines anderen oder das eigene nachhaltig beeinflusst. Man kann sich die Frage nach dem eigenen Scheitern täglich stellen. In der Theologie ist damit expliziter als in anderen Kontexten zum einen die beruhigende Botschaft verbunden, dass Scheitern vergeben wird. Der damit einhergehende Auftrag lautet allerdings, auch anderen ihr Scheitern zu vergeben. Mit Blick auf die psychologische Perspektive fällt an dieser Stelle auf, dass in dem Zweiklang die Bitte darum fehlt, dass wir uns unser eigenes Scheitern vergeben. Das dürfte in vielen Situationen das schwierigste sein und in nicht seltenen Fäl- 27 len Begleitung bedürfen. Es gibt die schöne Redewendung »seinen Frieden mit etwas machen«. Seinen Frieden mit seinen eigenen Erfahrungen des Scheiterns zu machen, kann als unabdingbar angesehen werden, um ein gesunder Mensch zu bleiben (vgl. auch die entsprechenden Ansätze der Psychologie). Umgang mit Scheitern und seinen Folgen Trotz der herausgestellten Bedeutung und Produktivität der Auseinandersetzung mit dem Scheitern ist offener Umgang mit Scheitern immer noch ein großes Tabu – im privaten, im beruflichen, im gesellschaftlichen Kontext sind wir darauf getrimmt, erfolgreich zu sein, Misserfolge abzuwiegeln, zu verschweigen oder am besten ganz zu vermeiden. Das Scheitern wird im Sinne Luhmanns (1997) dethematisiert. Der moderne Zeitgeist sieht vor, dass alle Probleme im Zweifelsfall durch harte Arbeit und/oder mit Vernunft lösbar seien. Scheitern ist in diesem Ansatz nicht vorgesehen. Das deutsche Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied« wie auch der »Self-Made-Man« als elementarer Teil des amerikanischen Traums suggerieren die Verantwortung für das eigene Glück läge ausschließlich im Individuum selber – und im Umkehrschluss damit auch die Verantwor- tung für ein eventuelles Scheitern (vgl. auch Sennett, 2002 über das Verschweigen-Müssen von Scheitern in der amerikanischen Kultur). Wer an etwas gescheitert ist, bekommt vielleicht noch Mitleid, steht in der Regel aber als (leistungs-)schwach da oder befürchtet dies zumindest, da die sozialen Normen gradlinige, zeiteffektive Ausbildungs- und Lebensverläufe wünschenswert erscheinen lassen. Abweichungen wie ein abgebrochenes Studium oder ein Wechsel des Berufs werden vielfach als Risiko für den weiteren Weg des Einzelnen und für dessen Wohlbefinden angesehen, die positive Interpretation, als Revision nicht guter oder zumindest verbesserbarer Zustände und das Eröffnen neuer Wege werden weitaus weniger gesehen und geschätzt. nen und Wissenschaftler Forschungsergebnisse mit negativen, im Sinne von nicht statistisch signifikanten Ergebnissen nicht zur Publikation einreichen, weil ihnen der Publikationsbias (Sterling, 1959) bekannt ist, nach dem in Fachzeitschriften überwiegend positive, d.h. statistisch signifikante Ergebnisse veröffentlicht werden. Dies ist in vielerlei Hinsicht problematisch, denn neben den Auswirkungen auf den einzelnen Forscher bzw. die einzelne Forscherin – also individuellem Scheitern – wird damit der Allgemeinheit auch ein Erkenntnisgewinn vorenthalten und werden potentiell weitere Ressourcen an anderer Stelle zur Überprüfung des gleichen Phänomens erneut aufgewendet; es scheitert also auch das System ein Stück weit selber. Das Verstecken von Scheitern kann in der Wissenschaft anhand der (Nicht-)Publikation von Forschungsergebnissen beobachtet werden, auf die sich der Druck, nicht zu scheitern – zumal vor dem Hintergrund der Verwertbarkeitsdiskussion und der Ökonomisierung im Wettbewerb um Drittmittel – auswirkt. Hier ist trotz der breiten Auseinandersetzung mit Poppers (1935) Falsifikationsprinzip als Logik der Forschung und damit dem Mitdenken des Scheiterns auf dem Weg zur Erkenntnis der sogenannte File-Drawer-Effekt (Schubladen-Effekt; aktuelle Übersicht: Fanelli, 2012) bekannt. Dieser beschreibt, dass Wissenschaftlerin- Im Kontext der Systemsteuerung ist die Zulassung zum Studium ein gutes Beispiel, um auf der Basis von (Eignungs-)Diagnostik und damit verbundenen Entscheidungen den unauflösbaren Widerspruch im Umgang mit dem möglichen Scheitern zu verdeutlichen: Werden möglichst viele Interessierte für ein bestimmtes Studienfach zugelassen, werden weniger – für das Studienfach – Geeignete ausgeschlossen, dafür erhöht sich aber auch der Anteil der eigentlich nicht Geeigneten, die mit höherer Wahrscheinlichkeit früher oder später ihr Studium abbrechen werden (sogenannter Fehler 1. Art). Handhabt man den Zugang 28 zum Studium hingegen restriktiver und reduziert damit den Fehler 1. Art, also die Zulassung vieler eigentlich Ungeeigneter für ein bestimmtes Studienfach, verringert man zwar die Abbrecherquote und spart Ressourcen, dafür erhöht man gleichzeitig aber auch das Risiko, jemandem, der tatsächlich geeignet gewesen wäre, die Chance des Studiums zu verwehren (sogenannter Fehler 2. Art) – Ja, vielleicht verpasst man gerade den- oder diejenige/n, der/die das bisher unerkannte Genie ist, der/die besondere Qualität für das Studienfach hat und zum Stolze der Universität später einen Nobelpreis gewonnen hätte. Scheitern von Individuen und Scheitern eines Systems hängen hier unausweichlich zusammen. System versus Individuum – für beide kann individuelles Scheitern negative wie positive Wirkungen haben und unterschiedlichen Zwecken dienen. Beiden bietet Scheitern nützliche Informationen, was nicht funktioniert und im besten Fall auch Erkenntnisse darüber, warum nicht, sowie ggf. Einblicke, die anders nicht hätten gewonnen werden können. Dem Individuum kann Scheitern in diesem Denkkontext zur Selbstreflexion und Selbstfindung helfen und sinnvolle Korrekturen auf dem Lebensweg ermöglichen. Gleichzeitig hat Scheitern teilweise hohe Kosten, sei es aus gesellschaftlicher oder aus individueller Perspektive, beispielsweise die materielle Aufwendung von 29 Ressourcen, Zeit, Energie. Insbesondere für das Individuum kann Scheitern durchaus existentiell bedrohlich und emotional zerstörend wirken. Der positivistische Ansatz, dass aus jedem Scheitern etwas Neues erwächst, ist nicht hilfreich, solange dem Individuum die persönlichen, sozialen und ökonomischen Mittel hierfür nicht ausreichend zur Verfügung stehen, und dürfte eher dann wirksam sein, wenn es sich um einen Fall graduellen Scheiterns (vgl. Junge, 2004) handelt, der noch Raum für autonomes Handeln und Handlungsfähigkeit lässt. Im Bereich von Ausbildung und Berufstätigkeit endet die Möglichkeit zu scheitern nicht mit erfolgreich absolvierter Ausbildung oder abgeschlossenem Studium, nicht einmal nach erfolgreicher Aufnahme einer Berufstätigkeit. Auch innerhalb einer Berufsausübung ist Scheitern alltäglich präsent. Beispiele sind das – Scheitern an dem Verhältnis von eigentlich notwendiger im Vergleich zu der zur Verfügung stehenden Zeit. – Scheitern in der Kommunikation mit Mitmenschen (vgl. auch die Überlegungen der Linguistik zum Scheitern von Kommunikation). – Scheitern an Vorgesetzten, Gutachtenden, Auftraggebenden, die Ideen, Texte, Produkte oder Anträge nicht so überzeugend finden wie man selber. – Scheitern daran, wie man sich menschliches Miteinander auch im beruflichen Alltag wünscht. – Scheitern an eigenen Erwartungen. Aber diesem alltäglichen Scheitern – steht eben auch die eine Idee oder Aufgabe gegenüber, die man dann trotz der knappen Zeit erfolgreich weiterverfolgt hat. – Steht das wechselseitige Verständnis, nachdem man über die intendierte Kommunikation aufgeklärt hat. – Steht der erteilte Auftrag oder der angenommene Vorschlag. – Steht eine Geste der Hilfsbereitschaft, ein Signal des Verständnisses oder eine gelebte Großzügigkeit an einer Stelle, an der man es mitten im Scheitern nicht erwartet hätte. Das Scheitern ist in vielen Disziplinen explizit oder implizit Thema. Es begegnet uns als individuelles, aber auch als gesellschaftliches Phänomen. Ohne viele Fehlversuche, ohne das Risiko grandios zu scheitern, hätte es die meisten Entwicklungen und Entdeckungen auf unserer Welt und im Universum nicht gegeben. Scheitern gehört in allen Lebensbereichen zu den unausweichlichen menschlichen Grunderfahrungen. Lamparter (2012, S. 453) spitzt dies zu der Formulierung zu, der Mensch sei ein »Krisenbewältigungswesen«. Scheitern zeigt die Grenzen eigener Handlungsfähigkeit auf. Damit beinhaltet es aber einen zentralen Aspekt: das Handeln selber. Die (intentionale) Handlung geht dem Scheitern voraus (vgl. Junge & Lechner, 2004). Handeln ist quasi immer auch das Bemühen Scheitern zu vermeiden oder mit erfolgtem Scheitern umzugehen. Die Kunst besteht darin, im Rahmen einer aktiven und konstruktiven Auseinandersetzung sowohl die Ursachen des Scheiterns realistisch und ehrlich zu analysieren als auch die neuen Möglichkeiten, die sich aus dem Scheitern ergeben, zu sehen, abzuwägen und eine neue Entscheidung zu treffen. Hierfür helfen weder individuelle noch gesellschaftliche Negativzuschreibungen und Gefühle weiter, noch ein überoptimistisches Fokussieren auf kurzfristige Verbesserungen oder eine oberflächliche Neujustierung (»alles wird neu, alles wird besser«). Und im Persönlichen: Zum Erfahren, welcher Weg, welche Entscheidung für einen der bzw. die richtige ist, muss man Wege und Entscheidungen ausprobieren. Erst danach kennt man die Antwort. Das Problem ist nicht, irgendwann zu verstehen, dass es auf einem Weg nicht weitergeht, problematisch ist, es nicht ausreichend versucht zu haben. Das gilt im Privaten wie im Beruflichen. Wenn man nie mit etwas scheitert, dann hat man nicht genug versucht, nichts Neues ausprobiert, nicht 30 versucht Altes besser zu machen. Welch verpasstes Potential! Was sagt uns dies alles für die Wahl einer Ausbildung, eines Studiums, eine Berufes? Für die Frage einen einmal gewählten Weg abzubrechen? Oder für die Situation, dass andere, die Umstände einen vom aktuellen Weg abbringen? Es sagt uns: Das Scheitern gehört dazu. Immer. Ohne die Möglichkeit des Scheiterns kann es kein Gelingen geben, und so manches Scheitern auf den ersten Blick wird sich später als glückliche Fügung erweisen. Man muss Dinge ausprobieren und sich erlauben, dass es vielleicht schief geht. Aber dann weiß man, dass man es versucht hat und kann stolz darauf sein – und mindestens eine gute Geschichte zum Erzählen daraus machen. Literatur Backert, Wolfram (2004): Kulturen des Scheiterns: gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich. In: Junge, Matthias / Lechner, Götz (Hrsg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden: VS, S. 63–77. Bollnow, Otto Friedrich (1962): Existenzphilosophie und Pädagogik. In: Bollnow, Otto Friedrich / Lichtenstein, Ernst / Weber, Otto (Hrsg.): Der Menschen in Theologie und Pädagogik. Heidelberg: Quelle & Meyer, S. 44–57. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): »Soziale Ungleichheiten« (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen: Schwartz, S. 183–198 Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. 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