Über die Möglichkeit des Scheiterns

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Über die Möglichkeit des Scheiterns
Nele McElvany
Einführung
Wie definiert man »Scheitern«? Der verschossene Elfmeter im WM-Finale ist vermutlich für die meisten eindeutig Scheitern. Aber ist der Abbruch eines Studiums
ein Beispiel für Scheitern? Immer, oder
nur wenn der Abbruch unfreiwillig, beispielsweise aufgrund einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung erfolgte?
Ein Scheitern, auch wenn man danach ein
neues Studium beginnt und mit diesem viel
glücklicher ist als mit dem alten Studium?
Gehören zum Scheitern zwangsläufig äußere
Einflüsse? Ist Scheitern über die sachlichen
Konsequenzen zu definieren? Oder über
die emotionalen Folgen? Oder einfach eine
Frage der Interpretation? Was bedeutet es,
wenn Scheitern, wie der Duden angibt, das
Nicht-Erreichen eines angestrebten Ziels
oder ähnlichem ist, das Ausbleiben von
Erfolg, das Misslingen, Missglücken oder
Fehlschlagen – wobei man an »etwas« oder
an »jemandem« scheitern kann?
Die Turmbauer von Pisa sind daran gescheitert, einen geraden Turm zu bauen.
Aber wäre der Turm von Pisa so bekannt,
wenn er ein normaler, nicht schiefer Turm
geworden wäre? In der unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beliebten TVShow »The Voice« werden in jeder Sendung
junge Menschen nicht ausgewählt, müssen
die Show verlassen. Im ersten Moment ein
riesiges, erschütterndes Scheitern. Der amerikanische Begriff »Devastating« (in etwa:
vernichtend, niederschmetternd) passt hier
so gut wie wohl kaum ein deutsches Wort.
In diesem Augenblick wird jemand in all
seiner Schwäche entblößt und dies in aller
medialen Öffentlichkeit. Kurzfristig gedacht, liegt die Einordnung als Scheitern
nahe. Aber mittelfristig gibt es auch eine
andere Perspektive: Die Person hat es versucht. Sie hatte eine Chance. Scheitern
wäre hier für gesangsbegeisterte Jugendliche
wohl eher gewesen, es nicht versucht, keine
Chance gehabt zu haben. Scheitern heißt
immer auch »Ich habe es versucht.«
Die Wahl eines Studiums bzw. einer Ausbildung und eines damit verbundenen Berufs kann man angelehnt an Herzog, Neuenschwander und Wannack (2006) in sechs
Phasen unterteilen, beginnend (1) mit einer
diffusen Berufsorientierung orientiert an
Wunschberufen, über (2) deren Konkretisierung (u.a. anhand von persönlichen Interessen und Fähigkeiten), (3) der Suche nach
einem Ausbildungs- oder Studienplatz, (4)
einer Konsolidierungsphase nach getroffener Entscheidung, (5) der Ausbildungs–
bzw. Studienphase bis hin (6) zu dem Eintritt in das Erwerbsleben, das mit erneuten
Entscheidungen einhergeht. Dem Modell
liegen sowohl die institutionell vorgegebenen Strukturen als auch die gesellschaftlich signalisierten und von den Individuen
meistens übernommenen Erwartungen eines idealisierten linearen Verlaufs zugrunde
(vgl. Stalder & Schmid, 2012). Gleichzeitig
bricht aber circa jede/r dritte Studierende
das BA-Studium ab (Heublein, Richter,
Schmelzer & Sommer, 2014). Und auch
die moderne Arbeitswelt ist von Dynamik
geprägt, von Veränderungen durch neue
Technologien, örtlicher Flexibilität, Instabilität von Firmen oder genereller Geschäftsmodelle, und durch Scheitern erzwungene
Veränderungen werden zu einer eigentlich
normalen Möglichkeit der beruflichen Biographie. Hat man lineare Verläufe im Blick
verursacht diese Vorstellung Stress – im
Umgang mit ihr wie auch in der Kommunikation über sie.
Im Folgenden wollen wir uns dem Konzept des Scheiterns nähern, indem wir Beiträge verschiedener Disziplinen betrachten.
Annäherung an das
Konzept des Scheiterns
Zum Konzept des Scheiterns finden wir in
der Philosophie an vielen Stellen das Bild des
Schiffsbruchs: Scheitern ist demnach die
unwiderrufliche Zerstörung eines Schiffes
und nicht nur dessen Stranden, das eher
Vorstufen des Scheiterns wie dem Misslingen oder Irrtum entspricht (Blumenberg,
1979 nach Rieger-Ladich, 2014). Denkt
man diese Metapher weiter, setzt Scheitern
demnach da an, wo etwas nicht »reparierbar« oder »wiederherstellbar« ist. Dennoch
enthält das Bild einen wichtigen Aspekt der
Produktivität, den man in dem Wort des
Scheiterns oder Zustand des Zerstört-Seins
zunächst nicht unbedingt vermuten würde:
Aus den Überresten des zerstörten Schiffes
kann durchaus etwas Neues entstehen, in
neuer Form, vielleicht mit neuem Zweck,
vielleicht an neuem Ort. Ob das neu Entstandene, neu Zusammengesetzte in Relation zu dem Alten als »besser« oder »schlechter« bewertet werden kann, bleibt zunächst
grundsätzlich offen.
Das Bild des Schiffsbruchs entspricht
auch der etymologischen Wurzel des Wortes Scheitern, dem »in Stücke brechen«.
So wie in dem Bild etwas Neues entstehen
kann, arbeitet auch Rohrhirsch (2009) in
seinen Überlegungen zur Bedeutung des
Scheiterns aus philosophischer Sicht heraus, dass Scheitern Grundbedingung für
Orientierungswissen als »verortetem Wissen« ist, dessen Erwerb im Kontext der
Herausbildung von Haltungen geschieht,
die als Basis verantwortliche Entscheidungen ermöglichen. Er weist in diesem Zusammenhang außerdem darauf hin, dass
Scheitern immer auch eine ganzheitliche
Erfahrung ist und eine abstrakte Trennung
in »körperlich« – »geistig« – »seelisch« zur
Verarbeitung oder Auseinandersetzung mit
dem Scheitern nicht funktioniert.
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Das Feststellen von Scheitern, von dem
Schiffbruch, ist immer eine Zuschreibung
in Verbindung mit Handlungsunfähigkeit.
Es erfolgt entlang einer normativen Dimension ein Abgleich zwischen Soll-Zustand
vor dem Anspruch, was man erreichen oder
wie man sein und was man machen wollte, und Ist-Zustand der Wirklichkeit (vgl.
Vogd, 2013).
Entspricht der von individuellen oder gesellschaftlichen Werten definierte nicht dem
tatsächlich festgestellten Zustand, wird in
der individuellen oder sozialen Bewertung
eine Differenz deutlich, die entweder ausgehalten oder überwunden werden muss,
wenn sie nicht zerstörerisch wirken soll. Die
Interpretation hängt hierbei auch von dem
Referenzrahmen ab, in dem das Scheitern,
die Diskrepanz, festgestellt wurde und kann
kulturabhängig sein (vgl. Backert, 2004).
Ist die Handlungsunfähigkeit temporär,
kann mit Junge (2004) von graduellem
Scheitern gesprochen werden (vgl. auch
»Misserfolg« in der Psychologie), ist sie dauerhaft, von absolutem Scheitern. Ein verschossener Elfmeter in einem WM–Finale
kann nicht wiederholt werden, das Scheitern ist absolut. Die Erwartung an eine/n
Studierende/n der Physik ist, dass dieses
Studium erfolgreich abgeschlossen wird.
Das Nicht-Bestehen von hierfür notwendigen Klausuren konstituiert im Abgleich mit
dem Ziel ein Scheitern. Soll das Scheitern
nicht einfach ignoriert oder verdrängt wer-
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den, kann die Anpassung an diese Situation
auf zweierlei Wegen erfolgen: einer Anpassung der Werte/Selbstaktualisierung, beispielsweise durch interessiertes Hinwenden
zu einem anderen Studienbereich oder im
Sinne instrumenteller Ziele eine erfolgreiche Umsetzung von Aktivitäten, mit deren
Hilfe die Diskrepanzen zwischen Soll- und
Ist-Zustand überwunden werden, wenn dies
noch möglich ist. Während sich die erste
Strategie vor allem auf das Individuum und
dessen psychologische Identität bezieht, hat
der zweite Weg häufig verstärkt die soziale
Identität im Kontext von sozialen Erwartungs- und Bewertungsstrukturen im Blick,
denen durch die Anpassung entsprochen
werden kann (vgl. Vogd, 2013). Die evaluative Zuschreibung von Scheitern kann
dabei in der intraindividuellen wie auch in
der zwischenmenschlichen Kommunikation
erfolgen.
Einen besonderen Umgang mit Scheitern
kennen Kunst und Kultur: Viele bekannte
Gemälde der letzten Jahrhunderte stellen
Szenen des Scheiterns dar. In jüngerer Zeit
thematisierte die »Show des Scheiterns« als
Vortragsreihe, bei der Menschen über Vorhaben und Projekte berichten, die nicht
zustande kamen, das Scheitern als »etwas
Sympathisches, für das man sich nicht
zu schämen braucht«, verbunden mit der
Botschaft »Im Gegenteil: Nur wer etwas
versucht, kann auch scheitern.« (Schwarz,
Jöns & Orlac, 2015). In der Literatur veröffentlichte vor wenigen Jahren Hans Magnus Enzensberger (2011) sein Buch »Meine
Lieblings-Flops, gefolgt von einem IdeenMagazin«, in dem er kleine und große eigene Niederlagen darstellt und dahingehend
einordnet, dass er wenigen Erfahrungen
so viel verdanke wie diesen Misserfolgen.
Und schließlich war da Christoph Schlingensief, der das Fehlermachen als radikalen
Anspruch der Kunst formuliert und konsequent in vielen vielseitig beachteten und intensiv diskutierten Projekten umgesetzt hat.
Mit dem Wahlslogan seiner Partei »Chance
2010« machte er eine starke Vorgabe zur
Interpretation des Scheiterns: »Scheitern als
Chance«.
Diese positive Interpretation findet eine
direkte Parallele in modernen Organisationsund Innovationstheorien: Organisationen
leben von Veränderung und Innovation.
Diese gibt es nur dann, wenn Risikobereitschaft, kreative neue Ideen und Experimente möglich sind. Hierfür darf Scheitern
nicht sanktioniert werden, sondern muss
ganz im Gegenteil als Teil positiven Handelns und nützlicher Schritte hin zu Neuem gesehen werden (vgl. Morgenroth &
Schaller, 2004). Innovationstheorien sehen
in Scheitern etwas Notwendiges: Viele Ideen sind nötig, um die eine erfolgreiche zu
finden. Davon lebt die gesamte Start-UpBranche, in der viele Dinge erdacht und
ausprobiert werden (vgl. auch Trial & Error
als Lernprinzip). Es geht um die richtige
Mischung aus Planung und Antizipation
auf der einen Seite und vielfältigen Versuchen auf der anderen Seite, von denen sich
der beste bzw. stärkste Versuch – darwinistisch – am Ende durchsetzen wird. Gössler (2007, S. 4) spitzt diese Entwicklung
dahingehend zu, dass er den »Umgang mit
Scheitererfahrungen zur biographischen, organisationalen, gesellschaftlichen und beraterischen Schlüsselkompetenz« erhebt.
In Bezug auf Lernprozesse gibt es in der
Pädagogik einen Ansatz, der Scheitern ähnlich, aber doch anders einordnet. Fehler
sind hier nicht Scheitern sondern konstituierender Teil positiver Lernkulturen. Die
positive Fehlerkultur wird als wichtiges
Element der konstruktiven Unterstützung
der Lernenden angesehen, die eine der drei
Basisdimensionen von gutem Unterricht
darstellt. Fehler werden nicht nur als unvermeidlich angesehen, sondern als wichtiger
Teil des Lernprozesses (Helmke, 2009). Sie
informieren die Lehrkraft über den Lernstand bzw. das Verständnis und Mißkonzepte der Lernenden und erlauben es dadurch,
im Unterricht gezielt an diese anzuknüpfen.
Damit sind sie keine Lernbarrieren und
sollten für den Lernenden nicht unangenehm oder peinlich sein, und es ist Aufgabe
der Lehrkraft, auf Fehler geduldig und konstruktiv zu reagieren. Diese im Ursprung
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auf den schulischen Unterricht bezogene
Theorie kann durchaus auch auf größere
Lebenskontexte und den dortigen Umgang
mit Fehlern übertragen werden.
Der Aufschwung der Empirischen Bildungsforschung in den letzten Jahren beruht ganz wesentlich darauf, einen Status
quo der schulischen Bildung in Deutschland dahingehend zu kennzeichnen, dass
das bisherige Vorgehen zu Scheitern führt
– PISA 2000 hat anhand von harten Ranking-Zahlen gezeigt, dass der Kompetenzerwerb deutscher Schülerinnen und Schüler
im internationalen Vergleich nicht den in
Deutschland gehegten Erwartungen entspricht. Darüber hinaus hat die Studie –
und haben viele weitere, weniger prominent
diskutierte Untersuchungen – gezeigt, dass
das System daran scheitert, substantielle
Anteile der Kinder und Jugendlichen aus
sozial weniger privilegierten Familien oder
mit Migrationshintergrund zu Bildungserfolg im Sinne von Kompetenz- und Zertifikatserwerb zu führen. Statistiken verweisen
auf den Anteil von Jugendlichen, die die
Schule ohne Schulabschluss verlassen, auf
vorzeitig aufgelöste Lehrverträge, auf abgebrochene Universitätsstudien.
Auch wenn die Forderung, das Scheitern
immer als Möglichkeit pädagogischen Handelns mitzudenken, eine alte ist (vgl. z.B.
Bollnow, 1962), so unterscheidet sich die Empirische Bildungsforschung in ihrer Themati-
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sierung des Scheiterns von Bildungsprozessen
(und dessen Nutzung zur Unterstreichung
der eigenen Relevanz und Notwendigkeit der
Ressourcenallokation) doch von der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, deren Fokus
traditionell auf der Beschreibung und Reflexion positiver Erziehungs- und Bildungsziele
und entsprechender Handlungsansätze liegt
und dabei weitgehend ignoriert, dass ausgerechnet dieses »Kerngeschäft« der Pädagogik
in höchstem Maße störungsanfällig ist (Rieger–Ladich, 2014). Rieger-Ladich (2014)
weist darauf hin, dass die Auseinandersetzung
mit dem Scheitern in anderen Disziplinen einen selbstverständlicheren Raum einnimmt
und zeigt dies für die Philosophie anhand des
Beispiels von John L. Austin auf, der in seiner
Sprachakttheorie auch immer das Scheitern,
das Misslingen einer Regel oder eines Begriffs,
mitdenkt (s. Krämer, 2003) und damit in
sachlich-neutraler Distanz dem Gegenstandsbereich seiner Erkenntnisbemühungen gegenüber steht.
Ganz ursprünglich und zentral mit dem
Scheitern beschäftigt sich die Soziologie. Ihr
geht es um gesellschaftliche Veränderungen oder soziale Ungleichheiten innerhalb
und zwischen Gesellschaften als Scheitern
einer gerechten Verteilung von Gütern
und Kapitalien (vgl. z.B. Bourdieu, 1983)
oder das Funktionieren bzw. Scheitern gesellschaftlicher Systeme. In der Bildungssoziologie wird konkret das Scheitern von
Jugendlichen im Schul- und Ausbildungssystem untersucht, wie zum Beispiel das
Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher
an den Normalisierungspflichten moderner Bildungsgesellschaften (Solga, 2004).
Dennoch gibt es vergleichsweise wenige
soziologische Arbeiten, die sich explizit mit
dem Scheitern beschäftigten und dieses aus
soziologischer Perspektive konzeptualisieren
(Junge & Lechner, 2004; implizit s. z.B.
Elias, 1970 zu Transintentionalität, oder
Bourdieu, 1987 zu Umstellungsstrategien).
In der Verbindung von Makro- und MikroEbene, von Überlegungen zu gesellschaftlichem, sozialem und individuellem Scheitern treffen sich Soziologie und Psychologie.
Die Psychologie beschäftigt sich neben
dem klinischen Bereich der Psychiatrie, der
Therapie und Beratung auch in einer Reihe von weiteren Theorien und Studien mit
dem alltäglichen Scheitern. Die Frage, warum ein einmal begonnenes Studium, eine
mit positiven Intentionen begonnene Lehre
nach einiger Zeit vielleicht doch abgebrochen wird, kann beispielsweise das StageEnvironment-Fit-Modell erhellen. Hier
wird in einer Entwicklungsperspektive darauf hingewiesen, dass die Passung zwischen
individuellen Bedürfnissen und Kontextbedingungen aufgrund von Weiterentwicklungen nicht mehr unbedingt gegeben sein
muss und mit dem entstehenden Mismatch
negative Korrelate wie beispielsweise eine
verringerte Motivation einhergehen (vgl.
Eccles & Midgley, 1989).
Ein wichtiger Aspekt in der Auseinandersetzung der Psychologie mit dem Scheitern
ist die Reaktion des Individuums auf sein
Scheitern. Viele entlastende Kognitionen,
zu denen auch die selbstwertdienliche Attribution gehört, fördern demnach neben
Emotionsregulationsstrategien einen produktiven Umgang mit Scheitern: Während
Erfolge auf individuumsinterne und stabile
Faktoren wie zum Beispiel auf eigene Fähigkeiten oder intern-variable Faktoren wie
eigene Anstrengungen attribuiert werden
können, können Misserfolge auf externe
und variable Bedingungen wie beispielsweise auf »Pech« oder extern-stabile Faktoren wie zum Beispiel die Schwierigkeit der
Aufgabe, an der man gescheitert ist, zurückgeführt und zugleich die Kontrollierbarkeit
der Situation durch eigenes Handeln wahrgenommen werden (Weiner, 1988). Wird
Scheitern hingegen als intern, stabil und
generell (verallgemeinert) verursacht angesehen, so kann dies nach Seligman, Abramson, Semmel und von Baeyer (1979) das
Entstehen einer Depression befördern.
Auf die Phase nach dem Scheitern hat
auch die christliche Theologie einen Blick.
Neben der Auseinandersetzung mit dem
Tod als Frage des Scheiterns (vgl. auch in
der Philosophie die These von der Unmöglichkeit des Scheiterns bei Unsterblichen,
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Rohrhirsch, 2009) schließt das Vaterunser
als zentrales Gebet des Christentums das
Scheitern prominent und in vollkommener
Selbstverständlichkeit ein: »… und vergib
uns unsere Schuld wie auch wir vergeben
unsern Schuldigern« (evangelische, römisch-katholische, ökumenische Fassung).
»Unsere Schuld« schließt ein, dass wir gescheitert sind. Gescheitert daran, es »richtig« zu machen, uns nicht schuldig gemacht
zu haben. Wir tragen Verantwortung im
Alltag, wir begegnen Menschen und laufen
immer auch Gefahr, dass wir scheitern; an
kleinen Punkten – vielleicht nur ein unpassender Gesichtsausdruck –, an mittleren
Punkten wie einem in den Sand gesetzten
Projekt oder an großen Punkten wie einer
falschen Entscheidung, die das Leben eines
anderen oder das eigene nachhaltig beeinflusst.
Man kann sich die Frage nach dem eigenen Scheitern täglich stellen. In der Theologie ist damit expliziter als in anderen Kontexten zum einen die beruhigende Botschaft
verbunden, dass Scheitern vergeben wird.
Der damit einhergehende Auftrag lautet
allerdings, auch anderen ihr Scheitern zu
vergeben. Mit Blick auf die psychologische
Perspektive fällt an dieser Stelle auf, dass
in dem Zweiklang die Bitte darum fehlt,
dass wir uns unser eigenes Scheitern vergeben. Das dürfte in vielen Situationen das
schwierigste sein und in nicht seltenen Fäl-
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len Begleitung bedürfen. Es gibt die schöne
Redewendung »seinen Frieden mit etwas
machen«. Seinen Frieden mit seinen eigenen Erfahrungen des Scheiterns zu machen,
kann als unabdingbar angesehen werden,
um ein gesunder Mensch zu bleiben (vgl.
auch die entsprechenden Ansätze der Psychologie).
Umgang mit Scheitern
und seinen Folgen
Trotz der herausgestellten Bedeutung und
Produktivität der Auseinandersetzung mit
dem Scheitern ist offener Umgang mit
Scheitern immer noch ein großes Tabu – im
privaten, im beruflichen, im gesellschaftlichen Kontext sind wir darauf getrimmt,
erfolgreich zu sein, Misserfolge abzuwiegeln, zu verschweigen oder am besten ganz
zu vermeiden. Das Scheitern wird im Sinne
Luhmanns (1997) dethematisiert.
Der moderne Zeitgeist sieht vor, dass
alle Probleme im Zweifelsfall durch harte
Arbeit und/oder mit Vernunft lösbar seien.
Scheitern ist in diesem Ansatz nicht vorgesehen. Das deutsche Sprichwort »Jeder
ist seines Glückes Schmied« wie auch der
»Self-Made-Man« als elementarer Teil des
amerikanischen Traums suggerieren die Verantwortung für das eigene Glück läge ausschließlich im Individuum selber – und im
Umkehrschluss damit auch die Verantwor-
tung für ein eventuelles Scheitern (vgl. auch
Sennett, 2002 über das Verschweigen-Müssen von Scheitern in der amerikanischen
Kultur). Wer an etwas gescheitert ist, bekommt vielleicht noch Mitleid, steht in der
Regel aber als (leistungs-)schwach da oder
befürchtet dies zumindest, da die sozialen
Normen gradlinige, zeiteffektive Ausbildungs- und Lebensverläufe wünschenswert
erscheinen lassen. Abweichungen wie ein
abgebrochenes Studium oder ein Wechsel
des Berufs werden vielfach als Risiko für
den weiteren Weg des Einzelnen und für
dessen Wohlbefinden angesehen, die positive Interpretation, als Revision nicht guter
oder zumindest verbesserbarer Zustände
und das Eröffnen neuer Wege werden weitaus weniger gesehen und geschätzt.
nen und Wissenschaftler Forschungsergebnisse mit negativen, im Sinne von nicht
statistisch signifikanten Ergebnissen nicht
zur Publikation einreichen, weil ihnen der
Publikationsbias (Sterling, 1959) bekannt
ist, nach dem in Fachzeitschriften überwiegend positive, d.h. statistisch signifikante
Ergebnisse veröffentlicht werden. Dies ist
in vielerlei Hinsicht problematisch, denn
neben den Auswirkungen auf den einzelnen
Forscher bzw. die einzelne Forscherin – also
individuellem Scheitern – wird damit der
Allgemeinheit auch ein Erkenntnisgewinn
vorenthalten und werden potentiell weitere
Ressourcen an anderer Stelle zur Überprüfung des gleichen Phänomens erneut aufgewendet; es scheitert also auch das System
ein Stück weit selber.
Das Verstecken von Scheitern kann in der
Wissenschaft anhand der (Nicht-)Publikation von Forschungsergebnissen beobachtet
werden, auf die sich der Druck, nicht zu
scheitern – zumal vor dem Hintergrund der
Verwertbarkeitsdiskussion und der Ökonomisierung im Wettbewerb um Drittmittel
– auswirkt. Hier ist trotz der breiten Auseinandersetzung mit Poppers (1935) Falsifikationsprinzip als Logik der Forschung
und damit dem Mitdenken des Scheiterns
auf dem Weg zur Erkenntnis der sogenannte File-Drawer-Effekt (Schubladen-Effekt;
aktuelle Übersicht: Fanelli, 2012) bekannt.
Dieser beschreibt, dass Wissenschaftlerin-
Im Kontext der Systemsteuerung ist die
Zulassung zum Studium ein gutes Beispiel,
um auf der Basis von (Eignungs-)Diagnostik und damit verbundenen Entscheidungen den unauflösbaren Widerspruch im
Umgang mit dem möglichen Scheitern zu
verdeutlichen: Werden möglichst viele Interessierte für ein bestimmtes Studienfach
zugelassen, werden weniger – für das Studienfach – Geeignete ausgeschlossen, dafür
erhöht sich aber auch der Anteil der eigentlich nicht Geeigneten, die mit höherer
Wahrscheinlichkeit früher oder später ihr
Studium abbrechen werden (sogenannter
Fehler 1. Art). Handhabt man den Zugang
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zum Studium hingegen restriktiver und
reduziert damit den Fehler 1. Art, also die
Zulassung vieler eigentlich Ungeeigneter für
ein bestimmtes Studienfach, verringert man
zwar die Abbrecherquote und spart Ressourcen, dafür erhöht man gleichzeitig aber
auch das Risiko, jemandem, der tatsächlich
geeignet gewesen wäre, die Chance des Studiums zu verwehren (sogenannter Fehler
2. Art) – Ja, vielleicht verpasst man gerade
den- oder diejenige/n, der/die das bisher
unerkannte Genie ist, der/die besondere
Qualität für das Studienfach hat und zum
Stolze der Universität später einen Nobelpreis gewonnen hätte. Scheitern von Individuen und Scheitern eines Systems hängen
hier unausweichlich zusammen.
System versus Individuum – für beide kann
individuelles Scheitern negative wie positive Wirkungen haben und unterschiedlichen
Zwecken dienen. Beiden bietet Scheitern
nützliche Informationen, was nicht funktioniert und im besten Fall auch Erkenntnisse
darüber, warum nicht, sowie ggf. Einblicke,
die anders nicht hätten gewonnen werden
können. Dem Individuum kann Scheitern
in diesem Denkkontext zur Selbstreflexion und Selbstfindung helfen und sinnvolle
Korrekturen auf dem Lebensweg ermöglichen. Gleichzeitig hat Scheitern teilweise
hohe Kosten, sei es aus gesellschaftlicher
oder aus individueller Perspektive, beispielsweise die materielle Aufwendung von
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Ressourcen, Zeit, Energie. Insbesondere
für das Individuum kann Scheitern durchaus existentiell bedrohlich und emotional
zerstörend wirken. Der positivistische Ansatz, dass aus jedem Scheitern etwas Neues
erwächst, ist nicht hilfreich, solange dem
Individuum die persönlichen, sozialen und
ökonomischen Mittel hierfür nicht ausreichend zur Verfügung stehen, und dürfte
eher dann wirksam sein, wenn es sich um
einen Fall graduellen Scheiterns (vgl. Junge,
2004) handelt, der noch Raum für autonomes Handeln und Handlungsfähigkeit lässt.
Im Bereich von Ausbildung und Berufstätigkeit endet die Möglichkeit zu scheitern
nicht mit erfolgreich absolvierter Ausbildung oder abgeschlossenem Studium, nicht
einmal nach erfolgreicher Aufnahme einer
Berufstätigkeit.
Auch innerhalb einer Berufsausübung ist
Scheitern alltäglich präsent. Beispiele sind
das
– Scheitern an dem Verhältnis von eigentlich notwendiger im Vergleich zu der zur
Verfügung stehenden Zeit.
– Scheitern in der Kommunikation mit
Mitmenschen (vgl. auch die Überlegungen der Linguistik zum Scheitern von
Kommunikation).
– Scheitern an Vorgesetzten, Gutachtenden,
Auftraggebenden, die Ideen, Texte, Produkte oder Anträge nicht so überzeugend
finden wie man selber.
– Scheitern daran, wie man sich menschliches Miteinander auch im beruflichen
Alltag wünscht.
– Scheitern an eigenen Erwartungen.
Aber diesem alltäglichen Scheitern
– steht eben auch die eine Idee oder Aufgabe gegenüber, die man dann trotz der
knappen Zeit erfolgreich weiterverfolgt
hat.
– Steht das wechselseitige Verständnis,
nachdem man über die intendierte Kommunikation aufgeklärt hat.
– Steht der erteilte Auftrag oder der angenommene Vorschlag.
– Steht eine Geste der Hilfsbereitschaft, ein
Signal des Verständnisses oder eine gelebte Großzügigkeit an einer Stelle, an der
man es mitten im Scheitern nicht erwartet hätte.
Das Scheitern ist in vielen Disziplinen explizit oder implizit Thema. Es begegnet uns
als individuelles, aber auch als gesellschaftliches Phänomen. Ohne viele Fehlversuche,
ohne das Risiko grandios zu scheitern, hätte es die meisten Entwicklungen und Entdeckungen auf unserer Welt und im Universum nicht gegeben. Scheitern gehört in
allen Lebensbereichen zu den unausweichlichen menschlichen Grunderfahrungen.
Lamparter (2012, S. 453) spitzt dies zu der
Formulierung zu, der Mensch sei ein »Krisenbewältigungswesen«. Scheitern zeigt die
Grenzen eigener Handlungsfähigkeit auf.
Damit beinhaltet es aber einen zentralen
Aspekt: das Handeln selber. Die (intentionale) Handlung geht dem Scheitern voraus
(vgl. Junge & Lechner, 2004). Handeln ist
quasi immer auch das Bemühen Scheitern
zu vermeiden oder mit erfolgtem Scheitern
umzugehen. Die Kunst besteht darin, im
Rahmen einer aktiven und konstruktiven
Auseinandersetzung sowohl die Ursachen
des Scheiterns realistisch und ehrlich zu
analysieren als auch die neuen Möglichkeiten, die sich aus dem Scheitern ergeben, zu
sehen, abzuwägen und eine neue Entscheidung zu treffen. Hierfür helfen weder individuelle noch gesellschaftliche Negativzuschreibungen und Gefühle weiter, noch ein
überoptimistisches Fokussieren auf kurzfristige Verbesserungen oder eine oberflächliche
Neujustierung (»alles wird neu, alles wird
besser«).
Und im Persönlichen: Zum Erfahren,
welcher Weg, welche Entscheidung für einen der bzw. die richtige ist, muss man
Wege und Entscheidungen ausprobieren.
Erst danach kennt man die Antwort. Das
Problem ist nicht, irgendwann zu verstehen, dass es auf einem Weg nicht weitergeht, problematisch ist, es nicht ausreichend
versucht zu haben. Das gilt im Privaten
wie im Beruflichen. Wenn man nie mit etwas scheitert, dann hat man nicht genug
versucht, nichts Neues ausprobiert, nicht
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versucht Altes besser zu machen. Welch verpasstes Potential! Was sagt uns dies alles für
die Wahl einer Ausbildung, eines Studiums,
eine Berufes? Für die Frage einen einmal
gewählten Weg abzubrechen? Oder für die
Situation, dass andere, die Umstände einen
vom aktuellen Weg abbringen? Es sagt uns:
Das Scheitern gehört dazu. Immer. Ohne
die Möglichkeit des Scheiterns kann es kein
Gelingen geben, und so manches Scheitern auf den ersten Blick wird sich später
als glückliche Fügung erweisen. Man muss
Dinge ausprobieren und sich erlauben, dass
es vielleicht schief geht. Aber dann weiß
man, dass man es versucht hat und kann
stolz darauf sein – und mindestens eine gute
Geschichte zum Erzählen daraus machen.
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