DIABETES & ESSSTÖRUNGEN a.o.Prof. Dr. Barbara Mangweth-Matzek Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin, Innsbruck Pflege im Dialog, Ottenschlag 22.9.2017 INHALT 1. Klinische Essstörung 2. Komorbidität: Diabetes und Essstörungen a) b) c) d) Prävalenzen Charakteristika Pathomechanismen Folgen 3. Therapie 1. Klinische Essstörungen 4 Essstörungen nach DSM 5 Anorexia nervosa Bulimia nervosa Störung mit Essanfällen Essstörung nicht näher bezeichnet DIAGNOSE DER ANOREXIA NERVOSA DSM 5 A) Restriktive Nahrungsaufnahme (im Verhältnis zum körperlichen Bedarf), die zu einem signifikant niedrigem Gewicht im Verhältnis zu Alter, Geschlecht, Entwicklungsstufe und körperlicher Gesundheit führt. Signifikant niedriges Gewicht ist definiert als Gewicht, das niedriger ist als minimal normales Gewicht, oder für Kinder und Adoleszente, weniger als minimal erwartet. B) Starke Angst vor Gewichtszunahme, trotz UGW C) Störungen der eigenen Körperwahrnehmung; Selbstbewertung ist übermäßig von Figur und Gewicht abhängig D) Amenorrhoe seit mindestens 3 Monaten Restriktiver Typ Bulimischer Typ DIAGNOSEKRITERIEN DER BULIMIA NERVOSA DSM-5 DSM-IV (307.51) • Wiederholte Episoden von Essanfällen mit Kontrollverlust bei denen innerhalb best. Zeit eine riesige Nahrungsmenge gegessen wird, die meist grösser ist als Andere essen würden. • Kompensatorische Verhaltensweisen zur Gewichtskontrolle: • selbstinduziertes Erbrechena • Laxantien- / Diuretikaabususa • Fasten / Hyperaktivitätb 1x / Woche • Essanfälle und kompens. Verhaltensweisen treten seit mindest. 3 Mon. 1x / Woche auf • Selbstbewertung ist übermäßig von Figur u. Gewicht abhängig. 2 Subtypen: purging, non-purging KRITERIEN: BINGE EATING STÖRUNG (BED) DSM-5 Wiederholte Episoden von Essanfällen mit Kontrollverlust , bei denen innerhalb von ca. 2 Stunden eine riesige Nahrungsmenge gegessen wird, die meist grösser ist als Andere essen würden. Essanfälle sind charakterisiert durch (mindest. 3 Kriterien): • schneller essen als normal • essen ohne Hunger • essen bis unangenehm satt • aus Scham alleine (heimlich) essen • Ekel, Depression / schlechtes Gewissen nachher Deutliches Leiden wegen der Essanfälle Essanfälle an mindest. 1 x / Wo über 3 Mon. Essanfälle sind nicht regelmässig mit unangemessenen kompensatorischen Verhaltensweisen assoziiert Nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörung (DSM-5) • 1. Atypische AN: alle Kriterien der AN, ausser im Normalgewicht • 2. BN (von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer): sämtliche Kriterien der BN, ausser < 1x/Wo oder < 3 Mon. • 3. BED (von geringer Häufigkeit und/oder begrenzter Dauer): alle Kriterien der BED, ausser < 1x/Wo oder < 3 Mon. • 4. Purging Störung: Wiederholtes Purging (selbstinduziertes Erbrechen, Lax,-Diuretika- oder andere Medik.-abusus) ohne vorherige Essanfälle. • 5. Night Eating Syndrom: Bewusste wiederholte Episoden von nächtlichem Essen (während der Schlafphase oder exzessiv nach Abendessen). Verursacht extreme psychische Belastung und Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit. Wichtig • Schweregrad der Psychopathologie und das Ausmaß der sekundären psychosozialen Beeinträchtigung in PatientInnen mit EDNOS ist mit jenen der PatientInnen mit AN und BN vergleichbar!!! 1b. Essstörungen Klinische Symptomatik KÖRPERLICHE MERKMALE DER ANOREXIE • Gesamtkörper • ZNS • Kardiovaskulär /periph. vaskulär • Skelett • Schwäche • Apathie, Konzentration • Palpitationen, Schwindel, Kurzatmigkeit, Brustschmerz, kalte Extremitäten • Osteopenie, Osteoporose • Reproduktion • Reifestop, Amenorrhoe, Fertilitätsprobleme • Endokrinologisch • Müdigkeit, Kältesensibilität • Gastrointestinal • Erbrechen, Abdomenschmerz, Obstipation • Dermatologisch • Lanugo • Dental • Karies, Zahnverlust, Paradontose KÖRPERLICHE SYMPTOME DER BULIMIE • Metabolisch • Schwäche, Irritation • Kardiomuskulär • Palpitationen • Gastrointestinal • Erbrechen, Abdomenschmerz, Obstipation • Reproduktion • Fertilitätsprobleme • Dermatologisch • Drüsen • Dental • Russell‘s Sign • Sialadenose,Backenschwellung, Nacken • Zahnschäden, Karies Verlauf von AN /BN /BED • Remission: AN: 50% BN: 60% BED 70% • (≠ symptomfrei) • Chronisch: 25-40% • Symptomshift: 60% • Mortalitätsrate: AN: 5-18% BN: 1-3% • LIT: Fichter et al. Int J Eat Dis. 2003; Steinhausen et al. Am J Psychiat 2002; Quadflieg & Fichter, 2003 Eu Child & Adolesc Psychiat; Ben-Tovin et al. 2003, Lancet;Fairburn et al. 2000, Arch Gen Psychiat; 2. Diabetes & Essstörungen Prävalenzen DM-1/2 & ED (1) • Systematische Epidemiologie- erst seit 1985 • AN: 0.1-0.7% bei weibl. Jugendlichen/jungen Frauen • BN: 1-2% bei Frauen in der Adoleszenz und im jungen 0.1-3% Erwachsenenalter Frauen / Männer / • AN/BN: 0.3% /0.5% bei männlichen Jugendlichen/ Allgemeinbevölkerung Männern • BED: 1-3% allgemeine Bevölkerung • DM 1/2: ca. 8% der Bevölkerung in Europa – Tendenz steigend - 90% Typ-2, 10% Typ-1 » Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015; Herpertz, Diabetes aktuell, 2014; Komorbidität DM-1/2 & ED (2) Frage: überzufällige Koinzidenz von ED & DM? • BN/BED/gestörtes EV häufiger bei Frauen mit DM-1 als bei stoffwechselgesunden Frauen DM-1: DM-2: -eating disorders: 10% versus 4% altersgemacht KO Mehrheitlich Mehrheitlich -disordered 38%; male: 16% NEIN!!!eating: age: 12-21: female: JA! -gestörtes EV: 7% versus 2.8% KO • Aber auch kontroversielle Daten: DM-1 = KO Hevelke et al, Psychother Psych Med 2016; Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015, Herpertz, Diabetes aktuell, 2014; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Scheuing et al, Diab Care, 2014; DM_2: gleich wie bei stoffwechselgesunden Frauen; BES / EDNOS: 5 -25%] 2b) Charakteristika für Diabetes und Essstörung Problem der Verheimlichung der ED • Nur die wenigsten Diabetikerinnen sprechen offen über ihre ED • Nur die wenigsten BehandlerInnen fragen nach Essstörungssymptomen • Manche Diabetikerinnen verleugnen ihre Essstörung ? Charakteristika der Doppelerkrankung 1 1. Physiologisch-somatische Ebene: Dauerhafte Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung ohne organische Ursachen BN – Essattacken & zu wenig/ kein Insulin HypERglykämien durch Essattacken & Insulinunterdosierung (ketoazidotischen Episoden, diabet. Koma) Absichtlich herbeigeführte Glukosurien – verheimlicht* durch Harnverdünnung HypOglykämien durch bulimisches Erbrechen und Laxantienabusus *Verhinderung der Glukoseutilisation und ein Teil der Nahrung wird unverwertet als Harnzucker wieder ausgeschieden; Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Charakteristika der Doppelerkrankung 2 – Gewichtsfluktuationen – Hoher HBA1C-Wert – Wiederholte Klinikaufenthalte wegen Stoffwechselentgleisungen (Ketoazidose, etc.) – Starke Blutzuckerschwankungen – Vernachlässigung der Erkrankung (geringe Blutzuckermessungen, kein Protokoll, geringes Wechseln der Pumpenposition – Unregelmäßige Insulin Verschreibungen (zu viel /wenig) – Reizbarkeit/ Kopfschmerzen/ Übelkeit/ Diarrhoe – Menstruationsprobleme *Verhinderung der Glukoseutilisation und ein Teil der Nahrung wird unverwertet als Harnzucker wieder ausgeschieden; Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Charakteristika der Doppelerkrankung 3 2. Physiologisch-verhaltensoriente Ebene: • Starke Orientierung an Gewicht und Körperbild – – Problem der Insulinbehandlung, da es durch sie zu einer überstarken Fettbildung kommt • Oft Manipulation Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Insulin-Purging “Erbrechen über die Niere”* • bewußte Reduktion / Weglassen (meist der abendlichen) Insulindosis zwecks Gewichtsregulation/-abnahme (16%) – Folge: Glukosurie bei Wiederholung: Gewichtsabnahme • häufige gegenregulatorische Maßnahme bei essgestörten UND nicht-essgestörten Frauen mit Typ 1 DM – häufiger als Erbrechen oder Laxantienabusus – selbstschädigendes Verhalten (28%) * Feiereis, 1990; Colton et al, Diab Care, 2004; Jones et al, BMJ, 2000 ; Rydall et al, NJMED, 1997; Insulin-Purging “Erbrechen über die Niere”* • Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter 9-14 Jährige: 2% weibliche Teenager: 14% erwachsene Frauen: 34% * Colton et al, Review, 2009; Peveler et al., 2005 ; Folgen des Insulin-Purgings 1 Hyperglykämien -Begleitende Übelkeit reduziert Hungergefühl Hypoglykämien -Hyperglykämische Polydipsie erleichtert das Erbrechen nach Erbrechen und Laxantienabusus dienen als Rechtfertigung für Essattacken -Trigger für Heißhungeranfälle und spätere Bulimie Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Folgen des Insulin-Purgings 2 Diabetische Spätfolgen werden ignoriert und dem Gewichtsideal unterstellt Gleichgültigkeit gegenüber den Richtlinien der Diabetesbehandlung Unterstützt durch Depressivität (oft assoziiert mit ED) und psychasthenischen Beschwerden (Müdigkeit, Gereiztheit) infolge häufiger Hyperglykämien Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Folgen des Insulin-Purgings 2 • Diabetische Spätfolgen werden ignoriert und dem Gewichtsideal unterstellt • Gleichgültigkeit gegenüber den Richtlinien der Diabetesbehandlung Unterstützt durch Depressivität (oft assoziiert mit ED) und psychasthenischen Beschwerden (Müdigkeit, gereiztheit) infolge häufiger Hyperglykämien Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Charakteristika der Doppelerkrankung 4 3. Psychosoziale Ebene: • Kontrolle des sozialen Umfeldes – Aufmerksamkeit, Verantwortung meiden • Manipulation – Bewußtes Produzieren von hyper- bzw. hypoglykämischen Episoden Familien • Überbehütend, perfektionistisch, leistungsorientiert, chaotisch Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; 2c) Pathomechanismen Gemeinsame Pathomechanismen: DM-1 & ED (1) • ED entsteht meist NACH der DM -1-Diagnose: – Gewichtszunahme durch das Insulin (bis zu 7 kg = deutlich über dem Wunschgewicht) kann subtile Selbstwertproblematik, gestörtes Körperbild verschlimmern (dh. VOR Diagnose schon existent) • Gabe von Insulin – fördert den Hunger und Appetit, was für “gewichtsbewußte” Personen schwierig ist Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990 Gemeinsame Pathomechanismen: DM-1 & ED (2) • Gastrointestinale Verzögerungen v.a. bei Typ 1 DM – führen zu postprandialen Beschwerden (diabet. Gastroparese), die zu Nahrungsverweigerung (anorektischen Verhalten) führen können. • Regulationsstörungen im Hypothalamus-Hypophysensystem bei DM & ED-PatientInnen – doppelte Belastung der Stoffwechseleinstellung durch die blutzucker-steigernder Wirkung von Kortisol Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Hudson et al, NEJM, 1983; Gemeinsame Pathomechanismen: DM-2 & ED (3) • Komorbidität von DM-2 & ED – kaum beforscht • > 80% der Menschen mit DM-2 – übergewichtig • ED häufig schon VOR der DM-Diagnose • Erfolglosigkeit von konservativer Gewichtsreduktion – Lösung oft ED – v.a. Bulimia nervosa, Binge Eating Störung » Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015; Herpertz, Diabetes aktuell, 2014 ; Mannuci et al, J Endocrinol Invest, 2005; Gemeinsame Pathomechanismen: DM-1/2 & ED (4) • DM – fordert lebenslange Anpassungsleistung und Kontrolle von Essen = bahnend für ED (Vgl. Diät-ED) • Eßverhalten ist nicht nur durch Hunger und Appetit, sondern durch Diätvorschrift gesteuert (restraint eating) • ED = individuelle Antwort auf den Stress durch die chronische Erkrankung des DM mit unangemessenen Bewältigungsstrategien (Depression, Insuffizienz) » Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015; Herpertz, Diabetes aktuell, 2014 ; Mannuci et al, J Endocrinol Invest, 2005; Gemeinsame Pathomechanismen: DM-1/2 & ED (4) • Stoffwechselentgleisungen durch emotionale Belastungen (labile “brittle” DiabetikerInnen) • Störungen des Serotoninstoffwechsels durch DM – möglicher trigger für ED » Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015; Herpertz, Diabetes aktuell, 2014 ; Mannuci et al, J Endocrinol Invest, 2005; 2d) Folgen Folgen der Doppelerkrankung • Diabetische Spätkomplikationen (Retinopathie, Nephropathie, Neuropathie) – deutlich früher als ohne ED • ED: größtes Mortalitätsrisiko in der Psychiatrie • ED & DM: v.a. Insulin-Purging – 3x höheres Mortalitätsrisiko (bis zu 36% über 12 Jahre) als Frauen mit DM ohne ED Hanlan et al, Curr Diab Rep, 2015; Herpertz, Diabetes aktuell, 2014; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Walker et al, Diab Care, 2002; 3. Behandlung Essstörungs-Screening – Fragen nach Essstörungen (Risiko: Pat: 10-50 J.) Simpel: Hatt/ben Sie (jemals) eine Essstörung? – Gleichzeitig: Sorgsames Fragen nach manipulativem Verhalten (v.a. Insulin-Purging): • • • • Wie geht es Ihnen mit Ihrem Gewicht und Ihrem Körper? Was ist Ihr Wunschgewicht? Wie geht es Ihnen mit Ihrem Essensplan? Wieviel Insulindosen nehmen Sie (versus Empfehlung?) Lauterbacher, Verhaltensmodifikation und Verhaltensmedizin 1990; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Herpertz, 2014; SCOFF-Fragebogen* 1) Erbrechen Sie nachdem Sie sich unangenehm voll fühlen? Selbstinduziertes Erbrechen 2) Haben Sie Angst, dass sie die Kontrolle über das, wieviel Sie essen, verlieren? Angst vor Kontrollverlust 3) Haben Sie kürzlich innerhalb von 3 Monaten über 7 Kilo abgenommen? Gewichtsverlust 4) Glauben Sie, dass Sie zu dick sind auch wenn andere sagen,dass Sie dünn sind? Gefühl des Dickseins trotz Untergewicht 5) Würden Sie sagen, dass Essen Ihr Leben bestimmt? Gedankliche Einengung auf Essen • *Assessment of a new screening tool for eating disorders, Morgan et al: The SCOFF questionnaire, BMI, 1999 Multidisziplinäre Behandlung Stationär (Psychosomatische Station) (2-4 Mon) • Stabilisierung des Stoffwechsels durch die Einstellung der ED-Symptomatik (v.a. InsulinPurgings) • Stabilisierung des Essverhaltens • Behandlung der Komorbiditäten Ambulant Psychotherapeutische Ergänzung im Behandlungsmanagement (Empfehlung der Dt. Diab.Gesellsch) Takii et al, J Psychosom Res 2003; Herpertz, Psychodiabetologie, 2013; Herzlichen Dank!