Pädagogik - Schulbuchzentrum Online

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Inhaltsverzeichnis
Materialien zu „Pädagogik“, 6. Auflage
Inhaltsverzeichnis
Zu Kapitel 1: Pädagogik als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Zu Kapitel 2: Die Möglichkeit und Notwendigkeit von Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Zu Kapitel 3: Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Zu Kapitel 4: Grundlagen und Aufgaben der Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Zu Kapitel 5: Erziehung aus Sicht der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Zu Kapitel 6: Lernen im Erziehungsprozess: die Konditionierungstheorien . . . . . . . . . . . . 28
Zu Kapitel 7: Lernen im Erziehungsprozess: kognitive Lerntheorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Zu Kapitel 8: Ziele in der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Zu Kapitel 9: Erzieherverhalten und Erziehungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Zu Kapitel 10:Maßnahmen in der Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Zu Kapitel 11:Medien und Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Zu Kapitel 12:Erziehung in pädagogischen Einrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Zu Kapitel 13:Erziehung außerhalb von Familie und Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Zu Kapitel 14:Erziehung unter besonderen Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Zu Kapitel 15:Mensch und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Zu Kapitel 16:Alternative pädagogische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Bildquellenverzeichnis
Albert Bandura: Department of Psychology, Stanford University: S. 36
Foto mit freundlicher Genehmigung von Patricia Crittenden, USA: S. 47
Fotolia GmbH Deutschland, Berlin: S. 16 (Oksana Kuzmina), 20 (bilderstoeckchen), 23 (­ xurzon), 58 (detailblick-foto)
istock, Canada: S. 2 (AdamGregor), 9 (Rawpixel Ltd), 56 (COSPV), 61 ­(Ocsakayark), 71 (RapidEye), 73 (starfotograf), 78 (airdone)
Cornelia Kurtz, Boppard/Bildungsverlag EINS GmbH, Köln: S. 28, 29, 45.1-2, 46
shutterstock, New York: S. 52 (bikeriderlondon)
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Kapitel 1
Materialien Kapitel 1
1.Empirische (erfahrungswissenschaftliche) Methoden der
­Pädagogik
Die Beobachtung
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Sieht man die Pädagogik als Erfahrungswissenschaft, so ist sie zur Gewinnung von Erkenntnissen
auf die Beobachtung angewiesen. Jedes erfahrungswissenschaftlich gewonnene Wissen geht
auf eine Beobachtung irgendeiner Art zurück. Insofern können alle anderen Methoden als eine besondere Form der Beobachtung gelten.
Beobachtung als wissenschaftliche Methode
meint die geplante, gezielte und systematische Wahrnehmung eines bestimmten Teilbereiches der Wirklich­keit mit dem Ziel, diesen
Bereich möglichst genau zu erfassen und
festzuhalten. Dabei bedient man sich in der
Regel geeigneter tech­nischer Hilfsmittel wie
beispielsweise Beobachtungsbogen.
Der Test
Mithilfe eines Tests will man bestimmte psychische Merkmale erfassen und feststellen, in
welchem Maße diese Merkmale bei einem
Menschen ausgeprägt sind. So will zum Beispiel ein Intelligenztest die Intelligenz (= psychisches Merkmal) eines Menschen erfassen
und feststellen, wie ausgeprägt sie bei einem
Menschen ist. Ein Intelligenztest misst also
die Intelligenz eines Menschen.
Test ist die Bezeichnung für ein Messverfahren, mit dessen Hilfe die individuelle Ausprägung eines oder mehrerer psychischer Merkmale eines Menschen festgestellt werden
kann.
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Das Experiment
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Das Experiment ist eine bestimmte Form der
Beob­
achtung: Während sich eine Beobachtung auf eine bereits vorhandene Situation
beschränkt, wird beim Experiment die Situation absichtlich herbeigeführt. Wenn ein Forscher beispielsweise in Schulklassen geht
und wissen will, wie sich die Lehrer und wie
sich in Abhängigkeit davon die Schüler verhalten, so han­delt es sich um eine Beobachtung. Gibt nun der Forscher dem Lehrer genau
vor, wie er sich zu verhalten hat, um dann das
Schülerverhalten als Reaktion auf das Lehrerverhalten beobachten zu können, so han­delt
es sich um ein Experiment.
Unter einem Experiment versteht man das absichtliche und planmäßige Herbeiführen eines
Vorganges, um ihn gezielt beobachten zu können. Vorteile des Experiments gegenüber der
Beobach­tung ergeben sich aus der Möglichkeit, dass der Forscher die Situation selbst bestimmen und ihre Be­
dingungen ­
verändern,
variieren sowie eine experimentelle Untersuchung beliebig oft wiederholen kann.
Die Befragung bzw. das Interview
Die Befragung ist eine sehr weit verbreitete
Technik zur Gewinnung von bestimmten Daten.
Dabei werden an bestimmte Personen bzw. Personengruppen Fragen ge­stellt, die diese beantworten.
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Kapitel 1
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Die Befragung ist eine Technik zur Erfassung
von Da­ten mithilfe der Beantwortung von Fragen, die einem bestimmten Personenkreis gestellt werden. Eine Befragung kann schriftlich
oder aber auch mündlich stattfinden. Eine
mündliche Befragung wird gewöhnlich
„Interview“ genannt.
Arbeit eingesetzt, wo sie meist als „Exploration“
bezeichnet wird. Es handelt sich dabei um ein
Ge­spräch, in welchem versucht wird, persönliche Pro­bleme eines Menschen zu erhellen.
Quelle: Hobmair, 2010, S. 169–175, gekürzt und
verändert
Interview ist eine mündliche zweckgerichtete
Befra­
gung, um bestimmte Daten zu erhalten.
Sehr häufig wird eine Befragung in der Sozialen
2. Handlungs- bzw. Aktionsforschung
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Handlungs- oder auch Aktionsforschung zielt
darauf ab, als Forschung und nicht erst nach
vollzogenem Forschungsprozess in die pädagogische Praxis verändernd einzugreifen. [...]
Ein Konzept von Handlungsforschung geht
davon aus, Praxisrelevanz und kritische Intentionen zu verbinden und empirische Forschung als eingreifende Praxis zu entwerfen,
und wird von drei alternativen Grundannahmen charakterisiert:
−− Erstens ist Handlungsforschung in ihrem Erkenntnisinteresse und damit in ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. pädagogische Praxis bezogen, sie
will zur Lö­sung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme beitragen.
−− Zweitens greift Handlungsforschung unmittelbar in die Praxis ein, und sie muss
sich daher für Rückwirkungen aus dieser
von ihr selbst mitbeeinflussten Praxis auf
die Fra­gestellungen und die Forschungsmethoden im Forschungsprozess selbst
offenhalten.
−− Drittens hebt Handlungsforschung in irgendeinem Grade bewusst und ge­zielt die
Scheidung zwischen Forscher und pädagogischem Praktiker auf zuguns­ten eines
möglichst direkten Zusammenwirkens von
Forschern und Praktikern im Handlungsund Forschungsprozess.
1
siehe Abschnitt 1.3.2
Pädagogische Handlungsforschung wird im
Kontext Kritischer Erziehungs­
wissenschaft1
somit als Innovationsforschung verstanden,
als Forschung im Zu­
sammenhang mit und
zum Zwecke von Reformen im Erziehungsund Bildungs­
wesen. [...] Da Handlungsforschung auf das Prinzip der kommunikativen
Beteiligung der Betroffenen an Forschungsprozessen setzt und zugleich die Komplexität
des je­weiligen Forschungsfeldes umfassend
untersuchen will, werden kommunikati­
ons­
fördernde, qualitative Forschungsmethoden,
wie z. B. Gruppendiskussionsver­
fahren oder
teil­
nehmende Beobachtung, in Aktionsforschungsprojekten bevorzugt. [...]
Quelle: Krüger,
20126,
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S. 192 f., leicht verändert
Dabei wird in der Tradition der Kritischen
­Erziehungswissenschaft Handlungsforschung
durch zwei Merkmale bestimmt:
−− Handlungsforschung zielt primär nicht auf
Erkenntnis, sondern auf die Lösung praktischer Probleme. [...]
−− Handlungsforschung beansprucht, das
traditionelle
Subjekt-Objekt-Verhältnis
zwischen Forscher und Forschungsobjekt
(den Versuchspersonen) in ein SubjektSubjekt-Verhältnis umzuwandeln. [...]
Quelle: König/Zedler, 20073, S. 132 f.
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Kapitel 1
3. Geisteswissenschaftliche Methoden
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Die Hermeneutik
Die Phänomenologie
Ein wissenschaftliches Verfahren, das auf eine
rationale und überprüfbare Auslegung und
Interpretation der Wirklichkeit – hier der Erziehungswirklichkeit – abzielt, wird hermeneutisches1 Verfahren genannt. Meist wird es auf
Textauslegung und Sprachanalyse beschränkt,
doch es bezieht sich auch auf die Wirklichkeit
als Praxisfeld. Mit Interpretation und Auslegung
ist das methodische Vorgehen gemeint, mit
welchem der Wissenschaftler die Wirklichkeit in
ihrem Sinngehalt erfassen will (vgl. Gudjons,
201211, S. 32). Hermeneutische Verfahren dienen
also dazu, die Bedeutung, den Sinn der Wirklichkeit zu erfassen und zu verstehen, es wird
nicht nach Ursachen oder Gründen gefragt.
Doch wie uns das Gegebene erscheint, stimmt
in der Regel nicht mit dem überein, wie es seinem tatsächlichen Wesen entspricht. Wir
­betrachten eine bestimmte Sache nicht unvoreingenommen, Erfahrungen, Vorurteile, Interpretationen, Wertungen und Ähnliches lassen
sie uns anders erscheinen, als sie wirklich ist.
„Weil das erzieherische Verhältnis von
einer spezifischen Qualität ist, ist es letzt­
lich in dieser Qualität nur hermeneutisch
zugänglich; insofern wird verständlich,
warum der ‚pädagogische Bezug‘ ein ent­
scheidender Grundbegriff der geistes­
wissenschaftlichen Pädagogik geworden
(Danner, 20065, S. 108)
ist.“
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Hermeneutik ist die Bezeichnung für alle
methodischen Verfahren der rationalen und
­
überprüfbaren Auslegung und Interpretation
der Wirklichkeit mit dem Ziel, Sinn- und Bedeutungszusammenhänge dieser zu erfassen
und zu verstehen.
Eine Sache, wie sie uns
erscheint
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Der Phänomenologie will nun die „Erscheinungen“ (Erfahrungen, Vorurteile, Wertungen, Interpretationen und dergleichen) in den
Griff bekommen, um zum Wesen der Sache,
so wie sie wirklich ist, vorzudringen. Es geht
also darum, von einer Sache, wie sie uns erscheint, zum Wesen dieser Sache, wie sie
wirklich ist, zu kommen.
Am Beispiel Schule bedeutet dies, alle Voreingenommenheit, Deutungen usw. zu erfassen,
um sie „ausschalten“ zu können und zum Wesen, was Schule wirklich ist, zu kommen.
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Es gilt also, eine Sache auf das „Wesentliche“
zurückzuführen. Der Ausspruch „Zurück zu
der Sache“ kann als Maxime der Phänomenologie gesehen werden.
Rückführung
das Wesen dieser Sache
auf
Bei der Phänomenologie als geisteswissenschaftliche Methode geht es um die Rückführung einer Sache auf ihr eigentliches Wesen,
um sie so beschreiben zu können, wie sie
wirklich ist, und nicht, wie sie uns erscheint.
Es wird deshalb auch von einer Wesensschau
gesprochen. Bei ihr geht es darum, das Konstante, das Allgemeine einer Sache herauszu1
In einem Gespräch über Schule zum Beispiel
wird bald deutlich, dass „Schule“ von jedem
anders gesehen wird. Sie wird von jedem so
gesehen, wie sie seinem Bewusstsein erscheint.
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herme-neúein (griech.): auslegen, aussagen
kristallisieren. „Dieses Unveränderliche, Konstante, Allgemeine ist das Wesen einer
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Sache.“ (Zierer u. a., 2013, S. 33)
Das Beispiel der Pisa-Studie zeigt deutlich,
wie ihre Ergebnisse ideologisch und voreingenommen interpretiert werden. Der eine sieht
hierin eine Bestätigung für die Gesamtschule,
der andere für eine längere gemeinsame
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Kapitel 1
Schulzeit usw. Die Phänomenologie will nun
die einzelnen Daten mit anderen Daten in Beziehung setzen, um zum Kern, zum Wesen
der Sache zu kommen. So könnte etwa deutlich werden, dass die ideologischen und voreingenommenen Deutungen gar nicht zutreffen (vgl. Zierer u. a., 2013, S. 37 f.).
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Die Dialektik
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Die Dialektik1 als geisteswissenschaftliche
Methode dient der Erkenntnisgewinnung
durch das Aufdecken von Widersprüchen
und Gegensätzen. Widerspruch und Gegensatz drängen nach einer Auflösung. Diese besteht in der Aufhebung des Gegensatzes.
Aufheben besagt einmal ein Beseitigen des
Gegensätzlichen und Widersprüchlichen und
zum anderen ein Festhalten am Gemeinsamen, Übereinstimmenden. Auf diese Weise ist
es möglich, das Wesen der Dinge zu erhellen
und zu Erkenntnissen zu kommen.
Die Schule beispielsweise soll den Einzelnen optimal fördern, zugleich hat sie eine Auslesefunktion, weil die Gesellschaft auf qualifizierten
Nachwuchs angewiesen ist. Beide Positionen
erweisen sich als zutreffend und notwendig,
sind aber widersprüchlich. Dieser anfängliche
Widerspruch geht in eine Synthese über, bis sich
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Dialektik
These
Antithese
Synthese
neue
These
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dieser „Widerspruch“ als nur scheinbar auflöst.
Ähnlich verhält es sich mit der heute sehr intensiv diskutierten Frage, ob Erziehung von der Familie oder von öffentlichen Erziehungseinrichtungen wie Kindertagesstätten übernommen
werden soll. Dieser Widerspruch verlangt als
Synthese nach einer Lösung, die ihn ­aufhebt.
Dialektik ist eine geistes­wis­sen­schaft­liche
Methode der Er­kennt­nis­ge­winnung durch
das Aufdecken und Aufheben von Widersprüchen und Gegensätzen.
Der erste methodische Schritt der Dialektik
besteht im Setzen einer These, die durch eine
Antithese verneint wird. Diese Verneinung
kann ein Widerspruch oder ein Gegensatz sein
und ist in­halt­lich an die These gebunden, die
sie „auf­zu­heben“ versucht. Der zweite Schritt
will die Aufhebung des Ge­
gen­
satzes in der
Synthese, die ein Be­sei­ti­gen des Ge­gen­sätz­li­
chen und Wi­­der­sprüch­­lichen sowie ein Be­­
wah­ren des Über­­einstimmenden dar­stellt und
einen neu­en, der Erkennt­nis­ge­win­­nung nä­he­
ren Zu­sam­men­hang er­­öff­net. Der Pro­zess
setzt sich fort, in­dem die Synthese zu einer
neuen The­se wird, die wie­de­rum durch eine
An­ti­the­se verneint wird und in einer ­er­neu­ten
Synthese en­det. Auf die­se Wei­se kommt man
der Er­kennt­­nis­ge­win­nung immer nä­her.
Karl Marx geht in seiner Theorie des Historischen Materialismus2 ebenfalls dialektisch
vor: Dieser beginnt bei der ursprünglichen
Einheit der Menschheit (= These) und entwickelt sich hin zu einem Zustand der Entfremdung – die Menschheit befindet sich in einem
Gegensatz zur Natur (= Antithese). Daraus
entfaltet sich dann auf einer höheren Ebene
die Synthese des Sozialismus als Übergangsstadium zum Kommunismus.
In der Pädagogik spielt die Dialektik eine große
Rolle, weil sie es insbesondere bei der Setzung
von Erziehungszielen oft mit Gegensatzpaaren,
Antinomien3, zu tun hat. Erst die Synthese von
solchen Gegensatzpaaren bringt eine neue
­Erkenntnis, wie die Erziehung aussehen kann.
dialektike´ (griech.): Kunst der Gesprächsführung
Nach der Theorie des Historischen Materialismus, der auf Karl Marx (1818–1883) zurückgeht, wird
das Leben durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, insbesondere durch die private Verfügung über die Produktionsmittel, wodurch die Mehrheit der Bevölkerung gezwungen ist, ihre
­Arbeitskraft zu verkaufen.
3 anti (griech.): gegen; nomos (griech.): Gesetz
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Beispiele für solche Antinomien sind Individualität – Gemeinschaftsfähigkeit, Selbstverwirklichung – Anpassung oder Freiheit – Bindung (vgl. Zierer u. a., 2013, S. 43).
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Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun veranschaulicht diese
Antinomie anhand des von Nicolai Hartmann
kreierten Wertequadrats, das von Paul Helwig
(1967, S. 65 ff.) bekannt gemacht wurde. Dieses erfordert ein dialektisches Denken. Kein
Wert – so Hellwig – ist an sich allein schon, was
Individualität
er sein soll, er braucht hierzu den positiven
Gegenwert. Ein Wert für sich allein verkommt
(vgl. Pörksen/Schulz von Thun, 2014, S. 118).
Individualität für sich allein verkommt beispielsweise zum Egoismus, sie braucht den
Gegenpol der Gemeinschaftsfähigkeit. Gemeinschaftsfähigkeit allein würde zur Aufgabe der eigenen Persönlichkeit führen. Nur
­Individualität – das Ich – und Gemeinschaftsfähigkeit – das Wir – zusammen bezeichnen
ein positives Ergänzungsverhältnis.
Gegenpole
verkommt ohne
Gemeinschaftsfähigkeit
zum
Egoismus
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Gemeinschaftsfähigkeit
verkommt ohne
Individualität zur
Aufgabe der
Persönlichkeit
4. Qualitative Forschung
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Qualitative1 Methoden zielen darauf ab, Le­
bens­welten2, soziales Handeln oder Le­bens­
geschichten in den verschiedensten Bereichen von Erziehung und Bildung zu untersuchen. [...] Kennzeichen qualitativ-empirischer
Forschung ist vielmehr, dass sie sich am Ziel
einer möglichst gegenstandsnahen Erfassung der ganzheitlichen Eigenschaften (qualia) sozialer Felder orientiert. Charakteri­stisch
für qualitative empirische Forschung ist
zudem, dass sie versucht, durch einen möglichst unvoreingenommenen, unmittelbaren
1
2
Zugang zum jeweiligen so­
zialen Feld und
unter Berücksichtigung der Weltsicht der dort
Handelnden, aus­gehend von dieser unmittelbaren Erfahrung, Beschreibungen, Rekonstruktionen oder Struk­
turgeneralisierungen
vorzunehmen. Das bedeutet auch, dass sie im
Ge­gensatz zu dem streng theorie- und hypothesengeleiteten Vor­gehen der quantita­tiven
empirischen Forschung bemüht ist, Abstraktionen aus Erfahrung zu gene­rieren und dabei
einen Rückbezug auf diese Erfahrungen kontinuierlich aufrecht­zuerhalten. [...]
qualitas (lat.): die Beschaffenheit, die Eigenschaft
Lebenswelt ist derjenige Ort, an dem das Individuum handelt und ihm gesellschaftliche Verhältnisse widerfahren (vgl. Kapitel 13.1.3).
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Kapitel 1
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Es wird unterschieden zwischen Gegenstandsannahmen, dar­aus resultierenden forschungsmethodischen Konsequenzen sowie
Vorstellungen über den pragmatischen1 Nutzen qualitativer Methoden [...]. Qualitative
Forschung geht von einem Gegenstandsverständnis aus, das die soziale Welt als eine
durch interaktives1 Handeln konstituierte2
Welt begreift, die für den Einzelnen, aber auch
für Kollektive2 sinnhaft strukturiert ist. Wenn
die soziale Welt als sinnhaft strukturierte,
immer schon als gedeutete erlebt wird, so ist
es im Rahmen von Sozialforschung, die sich
am Handeln der Men­
schen orientiert, zunächst wichtig, die soziale Welt aus der Perspektive der Han­delnden selbst zu sehen, d. h.
subjektive Sinnstrukturen nachzuzeichnen.
Manche Formen qualitativer Forschung beschränken sich hierauf, andere wiederum
über­schreiten die Ebene dieses Nachvollzuges, indem sie Regeln, Muster oder Struk­
turen zu erkennen suchen, die die Ebene des
subjektiven Sinns überschreiten und insofern
dem Handelnden nicht mehr bewusst sind,
1
2
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gleichwohl aber folgenreiche Bedeutung für
sein Handeln haben. [...]
Zielt der qualitative Forschungsansatz auf
eine möglichst authentische und komplexe3
Erfassung der Perspektiven der Handelnden,
so ist zweitens die Offenheit des Feldzuganges eine zentrale Voraussetzung. Qualitative
Forschung will dem je­weiligen Gegenstandsbereich keine vorab formulierten Theorie­
konzepte überstül­pen, sondern Verallgemeinerungen und Modelle aus der möglichst
unverstellten Er­
­
fahrung des Forschers im
­Un­ter­suchungsfeld selbst gewinnen. Der For­
schungspro­zess ist zwar durch Fragestellungen angeleitet, diese werden jedoch im Verlauf des Untersuchungsprozesses ständig
modifiziert und erweitert. Theorien sind aus
dem Erfahrungsprozess, aus dem Material
sich entwickelnde Konstruktionen und somit
gegenstandsbezogene Theorien. [...]
Quelle: Krüger, 20126, S. 204 ff.
pragmatisch (griech., pragmatikós): auf das Handeln bezogen, der Praxis dienend
interaktiv (lat., interactio): aufeinander bezogenes Handeln zwischen zwei oder mehreren
Personen
konstituiert (lat., constituere: aufstellen, einsetzen): gegründet, ins Leben gerufen
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Kapitel 2
Materialien Kapitel 2
1.Wie schlechte Förderung die kindliche Hirnentwicklung
­beeinflusst
Interview von Miriam Hoffmeyer mit Anna Katharina Braun1
SZ: Die Bildungsforscher richten ihre Auf­
merksamkeit in letzter Zeit verstärkt auf den
Kindergarten und die Grundschule. Ist das aus
Ihrer Sicht richtig?
Braun: Absolut richtig! Erfahrungen und
Lernprozesse hinterlassen im kindlichen Ge­
hirn viel massivere und dauerhaftere Spuren
als bei Erwachsenen. In den ersten vier bis
sechs Lebensjahren entwickelt sich sozusa­
gen die Architektur des Gehirns. Damit wird
die emotionale und kognitive Leistungsfä­
higkeit im späteren Leben vorgeprägt. Man
könnte das mit der Formatierung einer Fest­
platte vergleichen. Damit kommt der vor­
schulischen und der frühen schulischen Bil­
dung eine viel größere Bedeutung zu als frü­
her angenommen. Eltern, Erzieher und Leh­
rer müssen sich darüber im Klaren sein, dass
ihr Tun organische Veränderungen im kind­
lichen Gehirn auslöst.
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SZ: Ist der Aufbau des Gehirns denn nicht ge­
netisch festgelegt?
Braun: Der grobe Schaltplan schon. Aber
viele Bereiche des Gehirns werden in ihrer
Funktion erst nach und nach perfektioniert,
darunter auch das limbische System und der
präfrontale Cortex. Diese Hirnregionen sind
für die Wahrnehmung und Steuerung von
Emotionen zuständig und außerdem auch
für Lernen und Gedächtnisleistung. Schon
vor der Geburt beginnen die Nervenzellen
damit, Kontakte zu anderen Nervenzellen
auszubilden, die sogenannten Synapsen.
Indem das Kind Sinneseindrücke verarbeitet,
Erfahrungen macht, etwas lernt, entstehen
nach und nach komplexe neuronale Netz­
werke. Im Alter von etwa vier Jahren ist die
Zahl der Synapsen im Gehirn am Höchsten,
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1
danach sinkt sie wieder. Denn Synapsen, die
nur selten genutzt werden, verkümmern und
werden schließlich abgebaut. Das geht nach
dem Motto: Use it or lose it.
SZ: Welchen biologischen Sinn hat das?
Braun: Das Gehirn jedes Menschen passt sich
auf diese Weise an seine Umwelt an. Das bie­
tet natürlich Vorteile. Ein Kind, das in der afri­
kanischen Wüste aufwächst, muss andere
Verhaltensweisen und Fertigkeiten erlernen
als ein Großstadtkind und entwickelt deshalb
auch andere Nervennetzwerke. Leider passt
sich das junge Gehirn aber auch perfekt an
ungünstige Umweltbedingungen an. Defizi­
täre Elternhäuser und mangelhafte Bildungs­
systeme wirken sich zwangsläufig auf die
Hirnentwicklung aus. Wenn ein Kind in den
ersten Jahren emotional vernachlässigt wird,
kann das zu hirnorganischen Schäden führen.
So wurde bei einer Adoptionsstudie an rumä­
nischen Waisenkindern eine dauerhaft ver­
minderte Aktivität der Zellen im Präfrontal­
cortex nachgewiesen. Leider sind solche
­Fehlentwicklungen bisher so gut wie irrever­
sibel.
SZ: Wie könnte man die Hirnentwicklung
denn z. B. im Kindergarten optimal fördern?
Momentan wird viel diskutiert, ob den Kindern
mehr Programm geboten werden sollte oder ob
sie beim Freispiel am meisten lernen.
Braun: Eigentlich sucht sich das kindliche Ge­
hirn seine Anregungen selbst. Auch scheinbar
sinnloses Spiel wird später in sinnvolle Zu­
sammenhänge einbezogen. Deshalb sollten die
Erzieherinnen zwar ab und zu etwas anbieten,
aber kein ununterbrochenes Animationspro­
gramm veranstalten. Das Hauptproblem liegt
nna Katharina Braun erforscht die biologischen Grundlagen des Lernens. Die Professorin für ZooA
logie und Entwicklungsbiologie an der Universität Magdeburg versucht herauszufinden, wie Umweltreize auf die Gehirnentwicklung wirken.
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Kapitel 2
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woanders: Die Erzieherinnen sind in
­Deutschland zu schlecht ausgebildet, und sie
sind für viel zu viele Kinder zuständig. Sie
müssen viel besser auf das einzelne Kind ein­
gehen können. Wenn Erzieherinnen darin ge­
schult würden, Kinder gezielt zu beobachten,
könnten sie frühzeitig Defizite etwa beim
Spracherwerb oder im emotionalen-sozialen
Bereich erkennen. Dann könnte man diese
Kinder präventiv fördern, noch bevor sie in die
Schule kommen, wo eine Lese-RechtschreibSchwäche oder Verhal­
tensprobleme heute
normalerweise erst entdeckt werden. Die früh­
zeitige Förderung ist so essenziell, weil sie in­
nerhalb der Zeitfenster stattfindet, in denen
die synaptischen Netzwerke noch gut formbar
sind. Deshalb wäre es auch sehr wichtig,
schon im Kindergarten auf die besonderen Ta­
lente jedes Kindes einzugehen.
SZ: Wichtig für die Hirnentwicklung?
Braun: Ja. Im Tierexperiment konnte in den
letzten Jahren gezeigt werden, dass Lern­
erfolge zu einem Glücksgefühl führen, wel­
ches über die Ausschüttung körpereigener
„Glücks­drogen“ wie zum Beispiel Dopamin
vermittelt wird. Auch dieses körpereigene
Belohnungssystem entwickelt sich in den
ersten Lebensjahren. Es wirkt als Lernmoti­
vation für das ganze Leben. Deshalb brau­
chen K
­ inder das Selbstbewusstsein, dass sie
irgendetwas besonders gut können. Wenn
Kinder ständig nur auf ihre Schwächen hin­
gewiesen werden, kann die Ausbildung des
Belohnungssystems im Hirn gestört werden.
Diese Kinder könnten sich längerfristig zu
Lernversagern entwickeln.
SZ: Und wenn die Motivation stimmt – wie
lernt das Gehirn am effektivsten?
Braun: Durch Üben und Wiederholen. Haus­
aufgaben sind nützlich! Das kann man sehr
gut mit bildgebenden Verfahren sichtbar ma­
chen. Ein neuer Gedächtnisinhalt ist zu­
nächst noch instabil. Wenn das Gelernte
nicht innerhalb von 24 Stunden wiederholt
wird, ist die Gefahr groß, dass es im Ge­
dächtnis sozusagen überschrieben wird.
Wenn ein Schüler also am Nachmittag Fern­
sehsendungen oder Computerspiele konsu­
miert, die in keinem Zusammenhang mit den
Lerninhalten des Schulvormittages stehen,
ist es recht wahrscheinlich, dass er das Ge­
lernte gleich wieder vergisst. Das ist übri­
gens ein gutes Argument für die Ganztags­
schule.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr. 139, 20.06.2006, S. 45
2. Welche Menschen braucht die heutige Gesellschaft?
−− Die heutige Gesellschaft ist eine Wissensgesellschaft. Von diesem (Nicht-)Wissen
hängt das wirtschaftliche Wohlergehen der
Gesellschaft und des Einzelnen ab. Das
hierzu notwendige Wissen muss das Kind
bzw. der Jugendliche im Laufe seines Lebens erlernen.
−− Sie ist eine globalisierte Gesellschaft, das
bedeutet eine über die Grenzen hinaus wirkende und vernetzte Wirtschaft, Kultur und
Politik. Dadurch ist der einzelne Arbeitnehmer auf sich selbst gestellt und muss erlernen, mit den Veränderungen der Globalisierung umzugehen.
−− Sie ist eine multikulturelle Gesellschaft.
Menschen aus unterschiedlichen kulturellen
Lebenskreisen leben in einer Gesellschaft.
Erzieherisch belangvoll ist, dass K
­ inder und
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Jugendliche interkulturelle Kompetenzen
erwerben und lernen, respektvoll und tolerant miteinander umzugehen.
−− Sie ist eine dynamische, plurale und offene
Gesellschaft. In ihr existieren vielgestaltig
und nebeneinander Wert- und Normvorstellungen sowie verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichen Interessen.
Der Jugendliche muss lernen, damit umzugehen, und aus dieser Vielfalt bestimmte
Werte und Normen für sich verbindlich zu
machen. Ebenso muss er Kritikfähigkeit er-
lernen, um Interessensmanipulationen
nicht zu unterliegen.
−− Sie ist eine Leistungsgesellschaft, die darauf angewiesen ist, durch Prüfungen und
Zertifikate eine bestimmte Ausbildung zu
haben und damit für den Fortbestand und
Weiterentwicklung unserer Gesellschaft zu
sorgen. Die Leistung bestimmt in der Regel
auch die berufliche Platzierung und das
Einkommen des Einzelnen.
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Quelle: Wiater, 2013, S. 30 ff. und S. 59
3. Weitere Beispiele von verwilderten Kindern
Beispiel 1
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Ein Beispiel für einen solchen Verlauf ist
Anna, das uneheliche und unerwünschte
Kind einer Bauerntochter. Nachdem Annas
Mutter vergeblich versucht hatte, ihr Kind in
einem Pflegeheim unterzubringen, sperrte sie
es in ein fensterloses Zimmer auf dem Dachboden. Sie gab ihm gerade genug Milch zu
trinken, dass es am Leben blieb, sprach aber
nur selten mit ihm, nahm es nie in die Arme
und spielte nie mit ihm. Fünf Jahre dauerte
dieser entsetzliche Zustand, bis Sozialarbeiterinnen Anna entdeckten. Anna war so apathisch, dass sie zuerst glaubten, sie sei taub,
geistig zurückgeblieben oder beides. Sie
konnte weder gehen noch reden, sich weder
allein anziehen noch selbst essen und nicht
einmal kauen. Sie lachte oder weinte nie. Beobachter meinten, sie habe etwas Unmenschliches an sich. Und das stimmte. Annas Sozialisation begann erst mit sechs Jahren, als sie
zu einer Pflegestelle kam. Dort erhielt sie Fürsorge und Aufmerksamkeit, so dass sie langsam anfing zu reden, zu laufen und mit anderen Kindern zu spielen. Sie lernte auch, für
sich selbst zu sorgen. Kurz, sie entwickelte
allmählich menschliche Interessen und Fähigkeiten. Doch sie überwand nie ganz die
ersten Jahre der Vernachlässigung. Schließlich starb sie mit elf Jahren an Hepatitis.
20
25
30
Quelle: Geulen, 20073, S. 140.
Beispiel 2
35
Im Jahre 1970 brachte eine Frau ein ängstliches Kind auf ein Sozialamt in Los Angeles,
welches weder sprechen noch stehen und gehen konnte. Nachforschungen ergaben, dass
das Kind sein bisheriges Leben angebunden auf einem Toilettenstuhl verbrachte (vgl.
Scheunpflug, 2001, S. 53).
Beispiel 3
Urwaldfrau nach Jahren eingefangen
45
50
Phnom Penth (AP) In Kambodscha ist nach
19 Jahren eine Frau aufgetaucht, die die ganze
Zeit über in der Wildnis gelebt hat. Dorfbewohner stellten der Frau nach und brachten sie
zu ihren Eltern. Rochom P’ngieng ist jetzt 27
Jahre alt und kann nicht mehr sprechen, so
dass sie selbst bislang keine Auskunft zu ihrem
Schicksal geben konnte,
„Sie ist wie ein halber Mensch und ein halbes
Tier“, sagte der Polizeichef des Bezirks Oyadao
40
in der Provinz Rattanakiri, Mao San. „Sie ist
verdreht. Sie schläft tagsüber und steht nachts
auf. “ Der Vater von Rochom P’ngieng sagte, er
habe seine Tochter an ihren Gesichtszügen und
an einer Narbe am Rücken wiedererkannt.
Vater Sal Lou ist Dorfpolizist und gehört zur
ethnischen Minderheit der Pnong.
Seine Tochter verschwand nach gestrigen Polizeiangaben im Alter von acht Jahren, als sie in
der abgelegenen Dschungelregion im
Nordosten von Kambodscha Rinder hütete.
55
60
11
Kapitel 2
65
70
­ ntdeckt wurde sie am 13. Januar von einem
E
Dorfbewohner, der einen Korb mit Nahrungs­
mitteln in der Nähe seines Bauernhofs vergessen
hatte. Als er ihn holen wollte, war ein Teil der
Nahrungsmittel verschwunden. „Der Mann be­
schloss, die Gegend abzusuchen und entdeckte
einen nackten Menschen“, sagte der Polizist
Chea Bunthoeun. Der Dorfbewohner holte seine
Freunde, und die Gruppe fing die Frau im
Dschungel ein.
„Ihre Eltern hatten schon die Hoffnung auf­
gegeben, sie je wiederzusehen“, sagte Chea
Bunthoeun. „Der Vater weinte und umarmte
sie, als er wieder mit seiner Tochter zusam­
mentraf.“ Die junge Frau hat nach Angaben
von Mao San jedoch immer noch große
Schwierigkeiten, sich an das Leben im Dorf
zu gewöhnen.
75
80
Quelle: Donaukurier, 19.01.2007, S. 6
Beispiel 4
2009 wurde in Chita (Sibirien) ein etwa 5-jähriges Mädchen entdeckt, das unter Hunden
aufwuchs und hundeähnliches Verhalten angenommen hatte.
85
4. Misshandlung und Vernachlässigung in Deutschland
5
10
15
Im ersten Lebensjahr sterben in Deutschland
mehr Kinder infolge von Vernachlässigung
und Misshandlung als in jedem späteren
Alter. Auch seelische Misshandlung hinter­
lässt ihre Spuren: Fehlende Zuwendung, Ge­
ringschätzung und massive Kritik schaden
dem Selbstwertgefühl sowie der sozialen und
emotionalen
Entwicklung. Die betroffenen Kinder sind
später leicht reizbar und impulsiv, neigen ver­
mehrt zu Kriminalität, Lernstörungen und
psychosomatischen Beschwerden. Misshand­
lung und Vernachlässigung wurzeln meist in
einer Überforderung der Eltern und ihrer feh­
lenden Sensibilität für kindliche Signale.
−− Rund jedes zweite Kind in Deutschland er­
lebt minderschwere Formen von Vernachläs­
sigung, 11 Prozent schwere körperliche und
7 Prozent schwere emotionale Vernachlässi­
gung.
−− 15 Prozent erleiden minderschwere und 1,6
Prozent schwere seelische Misshandlungen.
−− Die Mehrheit der Eltern wendet körperliche
Gewalt in Form von leichten Ohrfeigen oder
einem Klaps an; 10 bis 15 Prozent schwer­
wiegendere und häufigere körperliche
­Strafen.
−− Jährlich werden 3000 bis 4000 Kinder unter
drei Jahren in fremde Obhut gegeben.
(www.fruehehilfen.de)
20
25
30
12
Kapitel 3
Materialien Kapitel 3
1. Bereiche der Umwelt
Bezüglich der Umwelteinflüsse lassen sich
vier erzieherisch bedeutsame Bereiche unterscheiden: die natürliche, die kulturelle, die
ökonomische und die soziale Umwelt.
5
−− Mit natürlicher Umwelt bezeichnet man die
belebte und unbelebte Natur, in der der
Mensch lebt, zum Beispiel die Art der Landschaft, das Klima, die Ernährung sowie
tages- und jahreszeitliche Rhythmen.
10
−− Die kulturelle Umwelt meint die vom Menschen geschaffene bzw. veränderte Welt.
Dazu gehören beispielsweise Formen der
Verständigung wie die Sprache, Wert- und
Normvorstellungen, Sitte und Brauchtum,
Weltanschauungen und Überzeugungen,
Massenmedien, Zeitgeist, Trends, Spielzeug oder Bücher.
15
−− Die ökonomische Umwelt bezeichnet die
wirtschaftlichen Gegebenheiten wie etwa
Wohnverhältnisse, Wohnbezirk, Wohnraum, Wohneinrichtung, Vermögensverhältnisse und Einkommen.
−− Die soziale Umwelt umfasst den Menschen
in seinen verschiedenen Organisationsformen und Beziehungen wie beispielsweise
in der Familie mit ihren Verhältnissen (etwa
vollständige oder unvollständige F
­amilie,
Geschwisterkonstellation) im Bekanntenund Freundeskreis, in bestimmten Einrichtungen (zum Beispiel im Kindergarten, im
Jugendzentrum, in der Schule), in der Gemeinde, im Stadtteil und in der Gesellschaft.
Diese genannten Umweltbereiche überschneiden sich zum Teil und sind ständig Veränderungen unterworfen. Häufig werden die
­kulturellen und sozialen Faktoren zusammengenommen und als soziokulturelle Faktoren
­bezeichnet.
20
25
30
35
Umwelt
bedeutet alle Einflüsse, denen ein Lebewesen von der Befruchtung der Eizelle bis zu seinem Tod
von außen her ausgesetzt ist
natürliche Umwelt
umfasst die belebte
und unbelebte
Natur, in der der
Mensch lebt
kulturelle
Umwelt
umfasst die vom
Menschen geschaffene
bzw. veränderte Welt
ökonomische
Umwelt
umfasst die wirtschaftlichen Gegebenheiten
soziale
Umwelt
umfasst den Menschen in
seinen verschiedenen
Organisationsformen und
Beziehungen
2. Gefälscht und manipuliert
5
0,771 – mit dieser Zahl konnte einfach etwas
nicht stimmen. Der britische Schulpsychologe
Cyril Burt1 hatte jahrzehntelang versucht, die
Erblichkeit von Intelligenzleistungen einzuschätzen. [...]
1
Bei seinen Studien machte sich Burt die Tatsache zunutze, dass eineiige Geschwister genetisch zu beinahe 100 Prozent, zweieiige
dagegen nur zu etwa 50 Prozent übereinstimmen. [...] Obwohl Burt im Lauf der Zeit
yril Lodowic Burt (1883–1971) war zunächst Dozent für experimentelle Psychologie und für PhysioC
logie an der Universität Liverpool, 1913 trat er den Dienst im London County Council bei der Schulaufsichtsbehörde an. Zu seinen Schülern gehören Hans Jürgen Eysenck und Arthur Jensen.
10
13
Kapitel 3
15
20
25
immer mehr Zwillingspaare für seine Forschung heranzog, kam er mit erstaunlicher
Regelmäßigkeit auf einen Wert von 0,771 [...],
welcher beschrieb, wie sehr sich eineiige
Zwillinge in ihrer Intelligenz ähnelten. Damit
schien die hohe Erblichkeit der Geistesgaben
klar belegt zu sein. Rein statistisch war ein
solcher Grad an exakter Reproduzierbarkeit
bis auf die dritte Nachkommastelle allerdings
extrem unwahrscheinlich.
Burt galt als Pionier auf dem Gebiet der Zwillingsforschung und wurde für seine Verdienste sogar geadelt. Doch kurz nach seinem Tod
stieß der amerikanische Psychologe Leon
Kamin auf die verdächtige Konstante. Nach
Kamins Einschätzung hatte Cyril Burt ausgehend von dem gewünschten Ergebnis – einer
hohen Erblichkeit der Intelligenz – seine
Daten vermutlich rückwirkend schöngerechnet.
Das Ganze hatte offenbar den Zweck, die
britische Sozial- und Bildungspolitik zu beeinflussen – was Burt auch gelang. Der Forscher hatte sich vehement dafür eingesetzt
und schließlich durchgesetzt, dass britische
Schüler auf Grundlage von IQ-Tests frühzeitig selektiert und verschiedenen Bildungseinrichtungen zugeführt wurden. Nach Burts
Tod waren seine Rohdaten vernichtet worden, die Manipulationsvorwürfe gegen ihn
ließen sich daher nie mit Gewissheit klären.
Auf Grundlage seiner Arbeiten blieb jedenfalls Millionen Briten ein Universitätsstudium verwehrt.
30
35
40
Quelle: Wolf, 2013, S. 32 f. 45
3. Der freie Wille eines Menschen
5
10
15
Selbststeuerung darf nicht mit Selbstbestimmung gleichgesetzt werden. Selbststeuerung
sagt aus, dass das Individuum „von sich aus“
seine Entwicklung beeinflusst, unabhängig
davon, ob die Selbststeuerung ein Produkt
von Anlage- und Umweltfaktoren ist oder ob
in ihr auch ein freier Wille zur Geltung kommt.
Es kann beispielsweise möglich sein, dass
der Mensch seine eigene Entwicklung von
sich aus so und nicht anders beeinflusst, weil
er aufgrund seiner Anlagen und den gemachten Umwelterfahrungen gar nicht anders
kann. Demnach wäre die Selbststeuerung
eine Funktion von Anlage und Umwelt. In diesem Fall liegt keine Selbstbestimmung vor,
die als subjektiv erlebte Freiheit wäre ­Illusion.
In der Entwicklung eines Menschen kann aber
auch ein freier Wille vorhanden sein. Diese
Annahme wird als Selbstbestimmung bezeichnet im Sinne von freier Entscheidung
gegenüber äußeren und inneren Einflüssen
eines Menschen. Anlage und Umwelt würden
also nicht festlegen, wie der Einzelne seine
Entwicklung beeinflusst, die Selbststeuerung
wäre eine Funktion des freien Willens.
Die Frage der Selbstbestimmung wird in
jüngster Zeit – wieder – heftig diskutiert. Wie
in Abschnitt 3.1.2 angemerkt, vertreten e
­ inige
Neurowissenschaftler die These, dass der
Mensch ein biologisch festgelegtes Wesen
ist, dessen Gehirn alle Entscheidungen trifft.
Der Mensch verfüge nach neurowissenschaftlichen Erkenntnissen über keinen freien Willen, Handlungen würden von Hirnarealen
Selbststeuerung
kann eine Funktion sein
von
Anlage und Umwelt
oder
des freien Willens,
der Selbstbestimmung
20
25
30
14
Kapitel 3
35
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45
50
55
­ esteuert, deren Impulse nicht bewusst kontg
rollierbar seien (vgl. Saß, 2010, S. 38). Dabei
wird aus der Beobachtung, dass nicht der
„freie Wille“ die neuronale Aktivierung einleitet, sondern umgekehrt diese Aktivierung vor
dem Willensakt stattfindet, geschlossen, das
menschliche Handeln sei durch Verschaltungen im Gehirn vorherbestimmt.
Diese These ist jedoch nicht unumstritten
und die meisten Psychologen sind sich darüber einig, dass sich eine solche Frage nicht
allein auf der Grundlage der Erforschung der
natürlichen Funktionsweisen des Gehirns
beantworten lässt. Man wird dem Menschen
in seinem Wesen und seiner Ganzheit nicht
gerecht, würde man ihn lediglich auf physikalische und chemische Prozesse reduzieren. Und: Es ist nicht das Gehirn, das denkt
und entscheidet, es ist der Mensch. Zudem
können Individuum und sein Hirn nicht als
zwei getrennte Einheiten betrachtet werden.
Dies wäre ein Rückfall auf einen schon überwunden geglaubten Leib-Seele-Dualismus.
Ob das Hirn unser Handeln oder das Handeln
unser Gehirn beeinflusst, dürfte aus ganzheitlicher Sicht zweitrangig und unerheblich
sein.
„Der Mensch ist ein Bioautomat, zwar
hoch komplex und niemals ganz zu erfas­
sen, doch es gibt in diesem System prinzi­
piell keinen Zufall, keinen Einbruch ir­
gendeines nicht durch Naturgesetze erklär­
(Caspary, 2010, S. 42 f.)
baren Prinzips.“
Der freie Wille eines Menschen muss in einer
Gesellschaft vorausgesetzt werden, auch
wenn er nicht beweisbar ist. Ansonsten würden Phänomene wie Verantwortung und
Schuld ihren Sinn verlieren. Ein Mensch wäre
dann für seine Handlungen nicht verantwortlich, ein Straftäter wie zum Beispiel ein Mörder könnte dann rechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
60
65
70
75
Kapitel 3
4.Begünstigende und einschränkende Bedingungen der
­Erziehbarkeit
5
Erziehung ist unterschiedlichen Umweltfaktoren ausgesetzt, die sie unterstützen oder
ihr entgegenwirken können.
Solche Bedingungen liegen jedoch nicht nur in
der Umwelt, sie sind auch beim Erzieher und
beim zu Erziehenden zu suchen. Letztlich ist
es auch die Beziehung zwischen Erzieher
und zu Erziehendem, die die Erziehbarkeit
begünstigen oder einschränken kann.
begünstigende Bedingungen
der Erziehbarkeit
einschränkende Bedingungen
der Erziehbarkeit
Umweltfaktoren
günstige Familienverhältnisse:
harmonische Familienatmosphäre
gute ökonomische Verhältnisse
günstige Wohngegend
kindgerechter Wohnbezirk und -raum
anregender Einfluss der Bezugsgruppe
günstige gesellschaftliche Verhältnisse
ungünstige Familienverhältnisse:
spannungsgeladene Familienatmosphäre
schlechte ökonomische Verhältnisse
ungünstige Wohngegend
kinderfeindlicher Wohnbezirk und -raum
negativer Einfluss der Bezugsgruppe
ungünstige gesellschaftliche Verhältnisse
Erzieher
positive Einstellung zum Kind
realistische Einstellung zur Erziehung
­(„pädagogischer Realismus“)
negative Einstellung zum Kind
pessimistische Einstellung zur Erziehung
(„pädagogischer Pessimismus“)
zu Erziehender
gute anlagemäßige Disposition
besondere Begabungen
Gesundheit
positive Einstellung zu sich und der Welt
(„optimistische Lebensgrundeinstellung“)
starke Vitalität, Willensstärke
begrenzte anlagemäßige Disposition
geistige und/oder körperliche Behinderungen
Krankheit
negative Einstellung zu sich und der Welt
(„pessimistische Lebensgrundeinstellung“)
schwache Vitalität, Willensschwäche
Beziehung zwischen
Erzieher und zu
­Erziehendem
positive emotionale Beziehung:
emotionale Wärme und Geborgenheit,
hohe Wert­schätzung und Verständnis
viele Anregungen und Lernhilfen
negative emotionale Beziehung:
emotionale Kälte, Geringschätzung
und Verständnis­losigkeit, Ablehnung
und Vernachlässigung
wenig Anregung und Lernhilfen
15
16
Kapitel 4
Materialien Kapitel 4
1.Der Begriff „Erziehung“ nach Wolfgang Brezinka
Als Erziehung werden jene Sozialen Handlungen bezeichnet, durch die versucht wird, das
psychische Dispositionsgefüge anderer Men­
schen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu ver5 bessern oder (hinsichtlich jener Bestandteile,
die als wertvoll angesehen wer­den, aber gefährdet sind) zu erhalten. Die neu eingeführten
Merk­
male dieser vorläufigen Begriffsbestimmung müssen [...] einzeln er­läutert werden.
−− Die Sozialen Handlungen, die als Erziehung
bezeichnet werden, zielen auf die psychischen Dispositionen anderer Menschen.
Wer erzieht, will [...] die Persönlichkeit des
Educanden in irgendei­ner Hinsicht ändern.
[...] Es wird nicht an aktuelle seelische Er­l15
ebnisse oder Verhaltensweisen gedacht,
[...], sondern an das Ge­füge relativ dauerhafter psychischer Bereitschaften eines
Men­schen, die wir als seinem Erleben und
Verhalten zugrunde liegend denken. Eine
20
solche aus dem wahrnehmbaren V
­ erhalten
erschlossene Bereitschaft zum ­
Vollzug
haltens­
bestimmter Erlebnisse oder Ver­
weisen wird „psychische Disposi­
tion“
genannt. Kenntnisse, Hal­tungen, Einstellun­
25
gen, Handlungsbereitschaften, Gefühls­
bereit­
schaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten,
Interessen usw. müssen als Dispositionen
angesehen werden. [...] Es ist [...] von großer
Wich­tigkeit, einzusehen, dass sie nicht auf
30
das flüchtige Erleben und (oder) Verhalten,
sondern auf Bereitschaften zum Erleben
und (oder) Verhalten abzielt. [...]
10
−− Die Sozialen Handlungen, die als „Erziehung“ bezeichnet werden, zielen darauf ab,
in anderen Menschen psychische Dispositionen zu schaffen, vorhandene Dispositionen zu ändern oder (unter bestimm­ten Umständen) zu erhalten und den Erwerb un40
erwünschter Disposi­tionen zu verhüten. [...]
35
−− Die Sozialen Handlungen, die als „Erziehung“
bezeichnet werden, sind Versuche, das psychische Dispositionsgefüge anderer Men­
schen zu ändern oder (unter bestimmten
Umständen) einige seiner Kompo­nenten zu
erhalten. Es ist [...] von größter Bedeutung,
schon in die Begriffsbestimmung das Merkmal aufzunehmen, dass mit Er­
ziehung ein
Versuch gemeint ist: eine Handlung, durch
die der Handelnde versucht, die Persön­
lichkeit des Educanden zu ändern. [...] Ob er
mit seinem Handeln tatsächlich eine Änderung bewirken wird, ist zum Zeitpunkt dieses
Handelns ungewiss. [...] Es gibt un­
beabsichtigte Wirkungen der Erziehung, ja
sogar unerwünschte Wir­kungen oder Nebenwirkungen, die [...] als schädlich oder nach­
teilig für den Educanden zu werten sind. [...]
−− Die Sozialen Handlungen, die „Erziehung“
genannt werden, sind durch die Absicht gekennzeichnet, die Persönlichkeit anderer
Menschen zu fördern, sei es, sie zu verbessern, sei es, ihre wertvollen Komponenten
zu erhalten. [...] Sein Dispositionsgefüge
soll nicht bloß irgendwie verändert, sondern
in seinem Wert ge­steigert werden. [...] Erziehen heißt in der Absicht handeln, die Persönlichkeit des Educanden zu fördern. [...]
45
50
55
60
65
−− Die Adressaten der Erziehung können
Men­schen in jedem Lebensal­ter sein.
70
−− Erzieher kann jeder Mensch sein, der imstande ist, Soziale Handlungen zu vollbringen, die
den Zweck haben, die Persönlich­keit anderer
Menschen zu verbessern (bzw. sie in ihren
wert­vollen Komponenten zu erhalten).
75
Quelle: Brezinka, 19905, S. 79–95, gekürzt
17
Kapitel 4
2. Lob der Disziplin1
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40
45
Das Wechselspiel von Disziplin und Selbstdisziplin begleitet den Menschen von der
Wiege bis zur Bahre. Mit Recht ist die Spannung zwischen Disziplin und Selbstdis­ziplin,
zwischen Zwang und Freiheit ein zentrales
Thema aller Erziehung. [...] Disziplin heißt
Unterordnung. Ein disziplinierter Mensch ist
bereit, seine Triebe und seine Wünsche zugunsten eines höheren Zwecks zu zügeln.
Dafür übt er sich in Tu­genden, die deswegen
Sekundärtu­gen­den genannt werden, weil sie
ihren Wert erst durch den Zweck erhalten,
dem sie dienen. Disziplin beginnt immer
fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt
enden, aus Disziplin soll immer Selbstdisziplin werden.
Sekundärtugenden bilden das Fundament
aller Kultur, der Kultur des Alltags wie der großen Meister­
werke eines Volkes. Ordnungssinn, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Fleiß –
­niemand kann leugnen, dass ohne solche Tugenden das Zusammen­leben der Menschen
unerträglich wird und keine schöpferische
Leis­
tung zustande kommt. Die Gründe,
warum Disziplin in Verruf gekommen ist, liegen in un­
serer Geschichte und sind jeder­
mann bekannt. Die Zeit scheint gekommen zu
sein, dass wir wieder beginnen können,
selbstverständlich über Autorität, Disziplin
und Ordnung zu sprechen. [...]
Das Thema „Autorität, Disziplin und Ordnung“ ist seit den siebziger Jahren selten aufgegriffen worden. Wer es tat, galt als konservativ, was bei aufgeklärten Pädagogen so viel
hieß wie rückwärtsgewandt, undif­ferenziert,
flach in der Argumenta­tion. Ich bekenne mich
zu dieser kon­servativen Haltung. Sie beruht
auf der Auffassung, dass Erziehung Füh­rung
heißt, dass Autorität und Diszi­plin das Fundament aller Erziehung bilden und dass es vor
allem darauf ankommt, welchem Menschenbild die Erziehenden folgen.
Mein Menschenbild ist christlich inspiriert:
Der Mensch ist nicht gut von Natur – wer kann
an die Güte des Menschen überhaupt noch
1
2
ernst­haft glauben nach den Erfahrungen des
20. Jahrhunderts, einem Jahrhundert, dem die
Aufklärung vor­anging? –, wir sind eine „gefallene“ Natur, beschädigt von Geburt an und
bedürfen der Erziehung, um „kulti­
viert“ zu
werden, um zu mensch­
lichen Menschen
heranzuwach­sen. Gut und Böse schlummern
in der menschlichen Natur. Durch Er­ziehung
sollen wir junge Menschen stärken, das Gute
in sich zu wecken und das Böse zu zügeln.
­Erziehung bleibt immer eine Gratwanderung
zwischen Disziplin und Liebe. Lie­be muss das
Movens2 jeder Erziehung sein, denn Disziplin
rechtfertigt sich nur durch Liebe zu Kindern.
Aber Liebe allein genügt nicht. Heranwachsende Kinder und Ju­gendliche bedürfen der
Disziplin, das heißt, sie müssen sich einem
äu­ßeren Zwang unterordnen, um in die Kultur
ihres Volkes und dessen Moral hineinzuwachsen. Erziehung bedeutet dann auch Gewöhnung, unendliche Wiederholung und Ein­
übung. Damit es nicht zu Dressur ab­gleitet,
müssen die Erziehenden sich als höchstes Ziel
setzen, die jungen Menschen zu Selbstdisziplin zu füh­ren. [...]
Eltern sollten Kinder und Jugend­liche selbstverständlich verpflich­
ten, Konzerte mit ihnen zu
besu­chen, Wanderungen zu machen, aber auch
Pflichten in Haus und Garten zu übernehmen.
Ebenso sollten wir in Schulen und Internaten
Schüler au­ßerhalb des Unterrichts verpflichten,
an Schulkonzerten, Theater­auf­füh­rungen und
Vorträgen teilzunehmen. [...] Dieses „Erziehungsmuster“, dass ein Verhalten angeordnet
wird und dann zu einer neuen Einstellung
gegenüber der zunächst erzwun­genen Tätigkeit
führt, gilt nach mei­ner Auffassung für die Einführung in Kultur jeder Art: Musik lernt man kennen und schätzen durch Üben und durch angeordnete Be­
suche von Konzerten, Zugang zur
bildenden Kunst durch fürsorglich „erzwungene“ Besuche in Museen, Nächstenliebe durch
die Ver­pflich­tung, anderen zu helfen. [...]
Junge Menschen können aber nur erfolgreich
Verantwortung über­nehmen, wenn ihre Haupt-
er ehemalige langjährige Leiter der Schule „Schloss Salem“ am Bodensee hat mit seinem Buch
D
„Lob der Disziplin“ (Bernhard Bueb: Lob der Disziplin: Eine Streitschrift, Berlin, List Verlag, 2006)
heftige Diskussionen ausgelöst.
movere (lat.): bewegen
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Kapitel 4
95
aufgabe nicht darin besteht, täglich Ordnung
und Disziplin herzustellen. Wir ha­ben auch in
Salem unsere Schüler in den letzten Jahrzehnten überfor­dert, weil die Übernahme von Ver­
antwortung in zu hohem Maß die Herstellung
von Disziplin und Ord­nung bedeutete. Außerdem mangel­
te es ihnen selbst an Disziplin.
Denn die Fähigkeit, Disziplin und Selbst­
disziplin zu üben, hing zu sehr von der persön-
lichen Biografie ab. [...] Auch Salem wird sein
Ziel nur er­reichen können, wenn die Sekundär­
tugenden wieder selbstverständlich anerkannt
werden. Die Wieder­
ent­
deckung der Disziplin
wird es vielen pädagogischen Einrichtungen
erst ermöglichen, ihre Ziele zu verwirk­lichen.
100
105
Quelle: Bueb, 2007, S. 11–14, gekürzt
3. Soziologische Theorien der Sozialisation
a) Die struktur-funktionale Theorie
Bei der struktur-funktionalen Theorie [...]
werden Strukturen (statischer Teil des Systems) und Funktionen (dynamischer Teil des
5 Systems) in ihrer Bedeutung für die Stabilität
des Gesamtsystems betrachtet. Es interessieren hier Abläufe in Sub­systemen und der
Austausch zwischen ihnen im Hinblick auf
Funk­tionieren oder Gefährden des Systems.
10 Der Bestand einer Gesell­
schaft hängt nach
Parsons maßgeblich vom Normensystem als
Grundlage des Miteinanders der einzelnen
Mitglieder der Gesellschaft ab. Danach sind
sowohl die Grundwerte [...] als auch spezielle
15 Normen, wie z. B. Rücksicht­nahme gegenüber
alten Menschen, Halten von Ordnung. Es
geht also beim Sozialisationsprozess darum,
dass die nachwachsende Gene­
ration das
Normensystem übernimmt (internalisiert)
20 und nach und nach zu Motiven eigenen Handelns macht.
Der Sozialisationsprozess bringt die Übernahme von unterschiedli­chen Rollen mit sich. Hierdurch verinnerlicht der Mensch gesellschaftli25 che Normen und Werte. Aber: Rollen als Erwartungen der Gesellschaft werden nicht einfach
im Sinne eines Musters für das ei­gene Handeln
übernommen! Sie werden vielmehr – auch
wegen ih­
rer Unschärfe, interpretiert. Der mit
30 der Fähigkeit zur Reflexivität ausgestattete
Mensch, der sich selbst zum Objekt eigener
Überle­gungen machen kann, modifiziert daher
natürlicherweise nach eige­nem Verständnis die
an ihn herangetragenen Normen und Erwar­
35 tungen. Ggf. distanziert er sich auch von ihnen.
Was bedeutet dieser Ansatz Parsons für das
1
2
pädagogische Handeln? Eine solche Theorie bezeichnet z. B. Verhaltensauffälligkeiten eines Jugendlichen als d
­ ysfunktionale
Erscheinungen1. Ihnen muss durch entsprechende Maßnahmen und evtl. durch besondere Institutionen (z. B. Heime der stationären Jugendhilfe) entgegengewirkt werden.
40
b) Der symbolische Interaktionismus
Beim Ansatz des symbolischen Interaktionismus2 [...] steht die alltägliche, zumeist
über Sprache (d. h. über Symbole der Verständigung) vermittelte Interaktion im Mittelpunkt. Ausgangspunkt ist hier also die Mikroebene mit den Kontakten und Austauschprozessen von Menschen. Ihrem Handeln gilt das
beson­dere Interesse. Welche Bedeutung Situationen, Verhaltensweisen, ja auch Gegenstände und Strukturen haben, das wird in Interaktions- ­
und Kommunikationsprozessen
wahrgenommen, definiert, bestrit­
ten und
ausgehandelt. Diese Prozesse beeinflussen
die ­Per­sönlich­keitsentwicklung und machen
sinnbezogenes Handeln erst mög­lich.
Beim symbolischen Interaktionismus geht es
auch darum, dass menschliches Handeln maßgeblich an die Übernahme von Rollen gebunden ist; im Zusammenhang mit diesen Rollen
entwickelt sich das menschliche Selbst. Als
forschungstheoretisch wichtigeres Thema gilt
aber: Der Prozess des Aufbaus von Iden­tität
des Individuums geschieht über symbolische
Interaktionen. Hierbei wird nicht von einer
schematischen Übernahme von Rollen, verbunden mit bestimmten Wertmaßstäben ausgegangen, sondern von einem Prozess mit
ysfunktionale Erscheinungen sind unangemessene, nicht realitätsgerechte, selbstschädigende
D
und nicht zielführende Erscheinungen.
siehe auch Abschnitt 4.1.2
45
50
55
60
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70
19
Kapitel 4
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produktiven Leistungen des Individuums. Bei
der Interaktion gilt die Aufmerksamkeit maßgeblich den Motiven des jeweils anderen. Der
Einzelne stellt sich hierbei als „Ich“ dar, das
von der Situation geprägt wird („me“), aber
auch selbst auf die Si­
tuation prägend wirkt
(„I“). Zudem sind Interaktionen stets eingela­
gert in spezifische Lebenswelten, die eigene
Strukturmerkmale (z. B. Erwartungen, Deutungsmuster, Muster des Handelns) aufweisen.
c) Die Kritische Gesellschaftstheorie
85
90
Die Kritische Gesellschaftstheorie [...] hat vor
allem im Blick, wie durch Fördern einer zwangfreien Kommuni­kationsgemeinschaft aller, die
sich über umfassende Lebenswerte verständigt, eine Auffassung überwunden werden
kann, welche Umwelt und Mitwelt nur (sozial)
technokratisch begreifen kann. Habermas betont die Entwicklung des sprachlich handelnden Subjekts, das unter bestimmten gesell-
schaftlichen Bedingungen Ich-­Identität, kommunikative Kompetenz sowie Einfühlungsvermögen (Empathie) erwerben muss. Er schließt
damit an die Kernüberlegungen des symbolischen Interaktionismus an. Nach seiner Auffassung ist davon auszugehen, dass nur derjenige, der seine Lebensgeschichte in die
eigene Hand nimmt, die Verwirklichung seiner
selbst schaffen kann. [...]
Die Persönlichkeitsentwicklung in kritischer
Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich
bewirkten Lebensbedingungen setzt be­stimmte
Grundqualifikationen voraus, die erworben werden müs­sen: Frustrationstoleranz, Unklarheiten
und Mehrseitigkeiten von Rollenerwartungen
(Ambiguität1) ertragen können, ein reflektieren­
des Verhältnis gegenüber den Rollen gewinnen,
verbunden mit der ­
Fähigkeit zur Distanz von
einer Rolle.
95
100
105
110
Quelle: Knapp, 20034, S. 153 ff.
4. Nicht das Leben, nur die Bildung bildet
Über unsere Ausgangsfrage, was man lernen
müsse, wenn man künftige Anforderungen
nicht hinreichend voraussehen kann, hat man
nämlich schon im frühen 19. Jahrhundert nach5 gedacht, als die moderne Industriegesellschaft
sich gegen die alte Ordnung durchzusetzen
begann und deshalb die Zukunft ungewiss
wurde. Die Antwort – vorgetragen vor allem
von Wilhelm von Humboldt – lautete: Bildung.
10 [...] Sie beruht auf einer simplen Einsicht: Wenn
man, wie bis dahin üblich, den Menschen lediglich für seine künftig erwarteten spezifischen Funktionen – etwa als Bauer, Handwerker, Geschäftsmann – ausbildet, dann läuft er
15 Gefahr, Veränderungen in seinem Beruf nicht
mehr gewachsen zu sein. Erteilt man ihm jedoch eine grundlegende Bildung im Sinne
einer „Allgemeinbildung“, wird er in den Stand
gesetzt, auf Veränderungen flexibel zu reagie20 ren. Er verfügt dann über das dafür erforderliche geistige Potenzial. Allgemeinbildung kann
ein Mensch in seiner Lebensumwelt allein jedoch nicht erwerben. Sie ergibt sich nicht aus
der Summe dessen, was jemand für seine all1
täglichen Funktionen lernt – nicht aus den Erfahrungen der „Lebenswelt“, wie man heute
sagen würde. Im Gegenteil: Je allgemeiner jemand gebildet ist, umso mehr kommt dies
auch seinen speziellen Tagesaufgaben, etwa
im Beruf, zugute. [...] Fazit: Die Schule kann
sich nicht allein danach richten, was etwa die
Wirtschaft von ihren Absolventen erwartet;
denn auch die Unternehmen müssen sich auf
ihre gegenwärtige Einschätzung verlassen und
können künftige Entwicklungen nicht hinreichend voraussehen.
Nicht vom täglichen Leben aus, sondern in
Dis­tanz dazu sollen also die allgemeinen Fähigkeiten des Menschen, die die Grundlage
für die Erfüllung aller einzelnen Lebensanforderungen bilden, entwickelt werden, und das
kann nur durch einen Unterricht geschehen,
der dazu anleitet, angemessene Vorstellungen über die Welt zu entwickeln. Das ist die
grundlegende didaktische Idee der Bildung.
Der Schüler soll sich durch einen „allgemein
bildenden“ Unterricht einerseits die Grundlagen der natürlichen und kulturellen Welt zu
Ambiguität (lat., ambiguitas): Mehr-, Doppeldeutigkeit
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eigen machen und andererseits dabei seine
wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kom­
men lassen. Das ist nur möglich, wenn der
Schüler in Distanz tritt zu seinen lebensaktuellen Rollen und Erwartungen, also nicht da­
rauf fixiert bleibt.
Nicht das Leben bildet, sondern nur die Bildung bildet, nämlich als Versuch, sich die objektive Welt – erforscht durch die Wissenschaften – in ihrem Zusammenhang vorzustellen und anzueignen. [...] Es geht um
grundsätzlich gleichberechtigte Teilnahme an
allem, was die Gesellschaft zu bieten hat –
keineswegs nur um berufliche Qualifizierung.
[...] Wenn sich aber erst in der Zukunft entscheidet, in welchem beruflichen und kulturellen Rahmen das Kind sich als Jugendlicher
oder Erwachsener bewegen wird, entsteht
eine eigentümliche Unschärfe. Das Bildungsangebot für alle Kinder muss dann nämlich
relativ abstrakt entworfen werden, denn es
zielt – z
­ umindest am Anfang – auf den künftigen Philosophieprofessor ebenso wie auf den
ungelernten Arbeiter, [...]. Diese Unsicherheit ist der Preis, der für eine
demokratisierte Bildung zu zahlen
ist. [...]
Wie also kann ein Schulunterricht
aussehen, der solche Wahlmöglichkeiten nicht der Willkür oder dem Zufall überlässt? Damit ist die Frage
nach der Werteerziehung unter den
Bedingungen des Pluralismus aufgeworfen. Dafür ist offensichtlich gerade die Distanz des Bildungskonzeptes zum aktuellen Leben von großer
Bedeutung, weil sie gleichsam eine
Vogelperspektive schafft, von der
aus die Optionen gesichtet, überprüft und erörtert werden können. [...] Bildend ist ein
Unterricht also nur dann, wenn er sich nicht
auf abfragbares Wissen beschränkt [...]. Vielmehr geht es darum, den Schülern eine Aneignung zu ermöglichen, die ihrer inneren
Vorstellungswelt zugute kommt. Der bildende
Unterricht muss also Zeit, Nachdenklichkeit
und Gelassenheit zulassen. Daran mangelt es
durchweg, weil die Lehrpläne von der Stofffülle her entworfen werden, als komme es nur
darauf an, sich eine bestimmte Menge davon
in einer bestimmten Stundenzahl einzuverleiben. Bildender Unterricht wird andererseits
aber auch verfehlt, wenn die Orientierung am
Schüler übertrieben wird, als könne nur er
selbst herausfinden, was für ihn zu lernen
wichtig sei. [...]
Quelle: Giesecke, 1999, S. 54–59, gekürzt
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Kapitel 5
Materialien Kapitel 5
1. Der klinische Fall der Anna O.
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„Als das erste Mal durch ein zufälliges, unprovoziertes Aussprechen in der Abendhypnose eine Störung verschwand, die schon länger bestanden hatte, war ich sehr überrascht.
Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze
gewesen, und die Patientin hatte sehr arg
durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund
angeben zu können, war es ihr plötzlich unmöglich geworden zu trinken. Sie nahm das
ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber sowie
es die Lippen berührte, stieß sie es weg wie
ein Hydrophobischer. [...] Als das etwa sechs
Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal
in der Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte
dann mit allen Zeichen des Abscheues, wie sie
auf deren Zimmer gekommen sei und dass
deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus
einem Glase getrunken habe. Sie habe nichts
gesagt, denn sie wolle höflich sein. Nachdem
sie ihrem steckengebliebenen Ärger noch
energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu
trinken, trank ohne Hemmung eine große
Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen. Die Störung
war damit für immer verschwunden.“
Quelle: Josef Breuer1, 20117
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Später stellte sich [...] heraus, dass die Geschichte der Anna O. gar nicht so verlaufen
war wie in den „Stu­dien über Hysterie“ dargestellt. Als Freud von „ei­
ner glücklichen Heilung“ sprach und be­haup­te­te, Anna sei „ge-
sund und effizient“ daraus her­vor­ge­gangen,
hatte er nicht die Wahrheit gesagt. Ber­tha
Pappenheim war nicht geheilt, sie erlitt Rück­
fäl­
le und musste sogar ins Krankenhaus
eingelie­fert werden. Später jedoch wurde sie
auf dem Ge­biet der Sozialarbeit sehr aktiv und
engagierte sich ins­besondere in der Frauenfrage. Als Frau­en­recht­le­rin wurde sie so berühmt, dass die Bundesrepublik Deutschland
1954 ihr zu Ehren eine dunkelblaue Sondermarke mit ihrem Porträt herausbrachte. Ideengeschichtlich gesehen ist der Fall Anna O.
recht beunruhigend und wirft starke Schatten
auf die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse. [...]
Sollen wir nun empört sein? Angefangen von
Ptolemäus über Galilei und Gregor Mendel,
den Begründer der Genetik, bis zum Nobelpreisträger David Baltimore hat es immer
wieder Wissenschaftler gegeben, die „geschummelt“ haben. Dafür prägte Richard
­Westfall, der über einige unbekümmerte Operationen von Isaac Newton berichtet, den Begriff „fudge factor“: ein Faktor, den man in die
Berechnungen einfügt, damit sie stimmen.
Bei Newton spielte dieser Faktor eine entscheidende Rolle. Aufgrund rein spekulativer
Theorien „wusste“ er, wie die Ergebnisse aussehen mussten, folglich änderte er den Wert
der fraglichen Parameter so lange, bis er das
gewünschte Resultat erhielt. Auf diese Weise
berechnete er die Schallgeschwindigkeit.
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Quelle: Speziale-Bagliacca, 2000, S. 44 ff.
2.Bruder Eichmann – Auszug aus der 5. Szene des gleichnamigen Schauspiels von Heinar Kipphardt
Adolf Eichmann (1906–1962) war SS-Ober­
sturm­bannführer und Leiter des Referats für
die Or­ganisation der Vertreibung und Deportation der Ju­den. Er war als zentrale Figur mit1
verantwortlich für die Ermordung der Juden
im weit­gehend be­setz­ten Europa. 1960 wurde
er von israelischen A­gen­ten aus Argentinien
entführt und nach Israel ge­
bracht. Ein Jahr
J osef Breuer (1842–1925) war ein österreichischer Arzt und Philosoph. Neben Sigmund Freud gilt er
als Mitbegründer der Psychoanalyse.
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später wurde er zum Tode ver­ur­teilt und durch
den Strang hingerichtet. Heinar Kipp­­
hardt
schrieb 1982 ein Schauspiel über den Pro­zess
von Adolf Eichmann, welches 1983 ur­auf­ge­
führt wurde.
Eichmanns Zelle.
Eichmann und die Psychiaterin Frieda Schilch.
Bewachung wie beschrieben.
EICHMANN: Von der Kinderstube angefangen, war bei mir der Gehorsam etwas Unumstößliches, etwas nicht aus der Welt zu Schaffendes.
SCHILCH: Warum?
EICHMANN: Aus meiner Erziehung, strenge
Erziehung, Frau Doktor, von meinem seligen
Vater. Trotz liebevoll­ster Zuneigung und Freude an mir, war er sehr streng ge­wesen, gab es
keine Widerworte, musste gehorcht werden.
SCHILCH: Erinnern Sie sich an bestimmte Sachen?
EICHMANN: Bei den Mahlzeiten, zum Beispiel,
Tischgebet, Reichen der Speisen, hieß es von
Anfang an, was auf den Tisch kam, musste
gegessen werden. Wer etwas nicht aß, bekam
es bei der nächsten Mahlzeit wieder, bis er es
auf­gegessen hatte. So lernten wir Genügsamkeit.
SCHILCH: Konnten Sie Wünsche äußern, was
Sie gern aßen?
EICHMANN: Nein. Wir waren ja acht Kinder,
sieben Söhne, eine Tochter. Es war den Kindern nicht erlaubt, während des Essens zu
sprechen, nur wenn ein Kind direkt etwas gefragt wurde, durfte es antworten. Wegen
schlechter Haltung, um die Arme anzulegen,
aß ich eine Zeit mit Kochlöffeln zwischen den
Armen und dem Oberkörper. [...]
[...] Der Vater war immer die bestimmende
Figur gewesen, auch in der zweiten Ehe, und
stets von großem Ansehen begleitet. Sehr
prinzipienfest und willensstark.
SCHILCH: War es für Sie schwer, seinen Erwartungen zu genügen?
EICHMANN: Wie ich noch ganz klein war, hatte
ich eine Kinderlähmung, Polio, und ich musste
neu gehen lernen. Einmal in der Woche prüfte
er meine Fortschritte. Ich war sehr bedrückt,
wenn er fand, dass ich nicht genug geübt
hatte. Das ist meine erste Erinnerung, ziemlich
meine erste. Auch in der Schule, lernen, ler-
nen, hat es mich oft gequält, dass ich ihm
nicht entspreche, als einzi­ger der Söhne, die
Matura nicht erreichte, das Abitur.
SCHILCH: Was für Strafen gab es?
EICHMANN: Schuhputzen, Strafarbeiten, Ausgangssperre, Taschengeldentzug, Stubenarrest –. Das Schlimme für mich war nicht, wenn
er schimpfte, sondern von seiner Enttäuschung sprach. [...]
SCHILCH: – Wurden Sie strenger als Ihre Geschwister erzo­gen?
EICHMANN: Strenger. Obwohl ich kein schwer
erziehbares Kind gewesen sein soll, sondern
das gerade Gegenteil da­
von, leicht lenkbar
und folgsam. Weil ich der Älteste war vielleicht, der Vornamensträger, Adolf oder – ist
mir nicht klar warum.
SCHILCH: Fanden Sie das ungerecht?
EICHMANN: Glaub ich nicht. Ich anerkannte
meinen Vater als absolute Autorität, wie ich
später auch meine Lehrer und Vorgesetzten als
Autorität anerkannte. Als ich zur Truppe kam,
schien mir das Gehorchen keinen Deut schwerer als das Gehorchen der Kinderstube. Auch in
der Schule, auch in den Berufsjahren, auch da.
SCHILCH: Wenn Sie sich von jemandem ungerecht behan­delt fühlten, wie haben Sie da reagiert?
EICHMANN: Ich möchte als ein Beispiel erwähnen, was ich später oft den mir unterstellten Offizieren und Unteroffi­
zieren erzählte.
Das war in Kloster Lechfeld gewesen, Truppenübungsplatz damals, da war irgendein
Vor­kommnis gewesen in der Kompanie, das
Bataillon wollte es herauskriegen und fing mit
Strafexerzieren an, mit Strafexerzieren und,
wie das so üblich war, war es das Robben.
SCHILCH: Robben?
EICHMANN: Robben.
SCHILCH: Von der Robbe?
EICHMANN: Robben, das später verboten
wurde.
Er macht es vor.
Vorwärtsbewegung nur auf den Ellbogen, in
diesem har­ten, schilfähnlichen Gewächs dort,
Kieselsteine, nur Kieselsteine – eine ehemalige
Moräne gewesen scheint‘s, und schon nach den
ersten Übungen hatten sich die ersten Leute
zum Revier gemeldet, sich d. u. schreiben lassen.
SCHILCH: Was ist d. u.?
EICHMANN: Dienstunfähig, dienstunfähig,
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schon nach ein, zwei Stunden, war sehr hart
gewesen. Ich hatte damals vor Ingrimm und
Zorn – weil ich glaubte, es geschähe uns Unrecht – habe ich verbissen weitergerobbt,
gleichgültig, ob ich der Letzte war, denn der
Letzte musste immer wieder noch mal ran,
und so hatte ich mir meine Ellbogen durchgerobbt, hatte auf Verbinden verzichtet, und
mich nach der Mittagspause habe ich mich
wieder gemeldet, nachmittags wieder Straf­
exerzieren. Kaum hatten wir die er­
sten
­Robbereien gemacht, waren meine notdürftigen Pflästerchen, die ich drauf hatte, wieder
weggerobbt, und die beiden Ellbogen waren
frei von Haut, lief das Blut heraus. Kurz und
gut, ich blieb hier stur und robbte in meinem
Zorn weiter, und so war‘s, da fiel man auf, und
da avancierte ich dann nachher.
SCHILCH: Wenn ich Sie recht verstehe, Sie
wehrten sich gegen ein Unrecht, indem Sie
rücksichtslos gehorchten?
EICHMANN: Es wäre denkbar gewesen, dass
das berühmte Kamel durch das Nadelöhr geht,
aber undenkbar, dass ich mir gegebenen Befehlen nicht gehorcht hätte, damals. [...]
SCHILCH: Gaben Sie denn so nicht klein
bei? [...]
EICHMANN: Nein, denn ich machte ja immer
so weiter. [...] Ich wurde in dieser Zeit Unterscharführer, bekam ein Sternchen, Unteroffizier also.
SCHILCH: Wollten Sie das damit erreichen?
EICHMANN: Nein, nein, nein, ich hatte einen
145
solchen Zorn –
SCHILCH: Wenn ich Ihre Haltung einmal zu
klären versuche, da war erstens, dass sie,
trotz aller Wut, gehorchten, das heißt, Sie
zeigten der Autorität, dass Sie sie anerkennen
– so sehr, dass Sie ihr sogar gehorchten, wenn 150
sie im Unrecht ist, selbst wenn das Sie vernichten würde. Sie signalisierten mit Ih­
rer
rück­­halt­losen Unterwerfung gleichzeitig, dass
Sie einen Anspruch darauf hätten, von ihr er­
hoben zu werden, zu avancieren, ein Teil der 155
­Autorität zu werden. Kann man das so sagen?
EICHMANN: Ich bin da nicht der nötige Fachmann, Frau Doktor, der diese Sa­chen erklären
kann. Ich habe damals stur meinen Befehlen
eben Gehorsam geleistet, und darin habe 160
ich – meine Erfüllung gefunden.
SCHILCH: Auch wenn Ihnen ein Befehl ganz
falsch oder Sie in Gewissenskonflikte brachte?
EICHMANN: Hatte ich ihn nicht zu deuten, 165
hatte ich ihn auszuführen, denn die Verantwortung, das Gewissen, muss ja der Befehlsgeber haben, letztlich also die S
­ taatsspitze.
Wenn man mir um jene Zeit, in diesem, wie
es hieß, Schicksalskampf des deutschen Vol- 170
kes gesagt hätte: Dein Vater ist ein Verräter,
also mein eigener Vater ist ein Verräter, und
ich hätte ihn zu töten, hätte ich das auch
getan. [...]
Quelle: Kipphardt, 1988, S. 29–34, gekürzt
3.Narzissmus
a) Die Allergrößten
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[...] Als narzisstisch gelten
Menschen, die besonderen
Wert darauf legen, vor anderen als überlegen, großartig
und unerreichbar dazustehen. Sie reden fast ausschließlich von sich, ihren
Ideen und Erfolgen. Dagegen bringen sie dem,
was andere zu berichten haben, wenig Interesse
oder sogar offene Geringschätzung entgegen.
Weil sie sich offensichtlich für etwas Besseres
halten – und das andere auch gerne spüren las-
sen –, werden sie oft als „arrogant“, „überheblich“ oder „eingebildet“ angesehen. [...]
Die American Psychiatric Association (APA)
hat in ihrem Diagnostischen Manual DSM-IV
festgelegt, welche Verhaltensmerkmale eines
Menschen die Diagnose einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung begründen:
1.ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit
2.
eine starke Beschäftigung mit Fantasien
von Erfolg, Macht, Schönheit
3.der Glaube, „besonders“ zu sein und nur mit
„ebenbürtigen“ Personen verkehren zu können
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4.ein Verlangen nach übermäßiger Bewunderung
5.
eine Anspruchshaltung, etwa auf bevorzugte Behandlung
6.
eine ausbeuterische, manipulative Beziehungsgestaltung
7. mangelndes Einfühlungsvermögen
8.
häufige Neidgefühle oder die Überzeugung, andere seien neidisch
9.ein arrogantes, überhebliches Auftreten.
Durch diese Kategorien wird ein Typ Mensch
beschrieben, der in der Realität nur selten in
voller Ausprägung anzutreffen ist. Für die
Diagnose genügt es daher, wenn mehr als die
Hälfte der Merkmale, also mindestens fünf
vorhanden sind. [...]
Was die Ursachen dieser Störung betrifft, so
konkurrieren im Wesentlichen zwei Theorien
miteinander: Die eine besagt, die betroffenen
Personen seien in der Kindheit verhätschelt
und von den Eltern vor den Einschränkungen
und Enttäuschungen des täglichen Lebens
bewahrt worden. Daher richteten sie auch als
Erwachsene noch entsprechende Erwartungen an ihre Umwelt: Sie haben schlicht keine
Erfahrung mit solchen Situationen, in denen
es einmal nicht nach ihrer Nase geht. Wie
selbstverständlich fordern sie daher – aus
­Gewohnheit – Sonderrechte für sich.
Die andere Theorie der Narzissmusentstehung betont dagegen die Abwehrfunktion des
arroganten Verhaltens: Kinder haben ein starkes, natürliches Bedürfnis, von den Eltern
wahrgenommen und anerkannt zu werden.
Ob die Eltern diesem Bedürfnis in hinreichender Weise entsprechen, ist von zentraler Bedeutung für eine gesunde Selbstwertentwicklung. Wer jedoch in dieser Hinsicht geschädigt
wurde, etwa durch andauernde Kränkung,
Zurücksetzung und Missachtung, der kann
sich unter bestimmten Umständen die Strategie aneignen, sich mit Gewalt Achtung zu verschaffen. Der Betroffene dreht gewissermaßen den Spieß um: Anstatt sich minderwertig,
schwach und unterlegen zu fühlen, mobilisiert
er enorme Kräfte, um zu beweisen, dass er
Anerkennung verdient, mithalten kann, vielleicht sogar anderen überlegen ist. Nach dieser Auffassung handelt es sich um eine Überlebensstrategie im Umgang mit einem sehr
fragilen Gefühl für den eigenen Wert.
Beide Erklärungsansätze sind reine Hypothesen und einer wissenschaftlichen Überprüfung nach den strengen Kriterien der
empi­
rischen Psychologie nur schwer zugänglich. Mehrere Beobachtungen sprechen
jedoch dafür, dass ohne ein erhebliches
Ausmaß von Schädigung keine ausgewachsene narzisstische Persönlichkeitsstörung
entstehen kann. [...]
80
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Quelle: Leising, 2004, S. 30 ff.
b) Das Zeitalter der Narzissten
Folgt man etwa Christopher Lasch und seinem
Buch „Das Zeitalter des Narzissmus“ (1999),
dann soll der dominierende Typus unserer Zeit
der narzisstische Charakter sein. Er entstand,
weil im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Modernisierung die Menschen aus den direkten
Sozialformen der industriellen Gesellschaft –
Klasse, Schicht, Familie – entlassen und in ein
Netz institutio­
nalisierter Gesundheits- und
Wohlfahrtsinstitutionen übergeben wurden.
Die damit erzeugten bürokratischen Abhängigkeiten, „die Aushöhlung des Selbstvertrauens und der normalen bürger­lichen Fähigkeiten durch das Anwachsen gigantischer
Körper­
schaften und der Staats­
bürokratie“
(Lasch, 1999, S. 284) führ­ten zu einem kalten,
selbstbezogenen Charakter ohne emotio­nale,
moralische oder soziale Bin­dungen.
Dazu Lasch (1999, S. 288) selbst: „Unsere Gesellschaft ist also in doppeltem Sinne narzisstisch. Menschen mit narzissti­
scher Persönlichkeitsstruktur spielen [...] in der zeitgenössischen Wirklichkeit eine auffällige Rolle und
bringen es häufig zu beträchtlichem beruflichem Ansehen [...]. Die moderne kapitalisti­
sche Gesellschaft [...] kitzelt auch bei jedermann narzisstische Züge heraus und gibt
ihnen Nahrung.“ Unter solchen Lebens­
um­
ständen müssen sich auf Dauer ausgeprägt
ich­
bezogene Persönlichkeiten entwickeln,
öko­nomische und organisatorische Veränderungen fordern geradezu die Entstehung dessen, was in der Psychologie als narzisstische
Persönlichkeit beschrieben wird.
Übernehmen wir diese Zeitdiagnose für den
Moment und behaupten also: Der Narzisst ist
der neue Sozialcharakter, seine Emotionalität
prägt die Gefühlskultur der Gegenwart. Auch
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nach Berichten von Therapeuten und Unternehmensberatern nehmen narzisstische Störungen in der klinischen Praxis gegenwärtig
zu. [...]
Der Narzisst also als neuer Sozialcharakter?
Eher nicht, denn diesen Typus hatte ja schon
Wilhelm Hauff im Sinn, seine Eigenschaften
beschreiben präzise den Charakter des Peter
Munk nach seiner Herztransplantation. Der
Narzisst ist der Sozialcharakter der industriellen Gesellschaft.
135
Quelle: Winterhoff-Spurk, 2005, S. 34 ff.
4. Kritische Würdigung der Psychoanalyse
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Sigmund Freud hat nicht nur die Psychologie
insgesamt und vor allem den Be­reich der Entwicklung der Persönlichkeit sehr stark beeinflusst, sondern auch das intellektuelle Leben
in unserer Kultur. Für die damalige Zeit waren
seine Ideen erschreckend und zugleich aufrüttelnd. Viele andere Theorien wurden zumindest teilweise als Reaktion auf die Psychoanalyse entwickelt. Es ist Sigmund Freuds großes
Verdienst, die Erkenntnis von unbewussten
Pro­zessen und inneren Kräften für die Entstehung und das Verständ­
nis von psychischen
Fehlentwicklungen ausgewertet zu haben. Die
Psychoanalyse besitzt einen hohen Erklärungswert, sie ist eine umfassende Theorie,
die das komplexe mensch­
liche Erleben und
Verhalten erschöpfend beschreiben und erklä­
ren kann. Sie stellt eine systematische und
umfassende Kon­zeption dar, die sich zur Analyse von psychischen Vorgängen her­vorragend
bewährt hat. Zudem hat sie mit ihren Erkenntnissen über die Veränderung von seelischen
Zuständen und Fehlentwicklungen einen großen Einfluss auf die Pädagogik und insbesondere auf die Thera­pie ausgeübt.
−−
−−
−−
Doch die Psychoanalyse ist auch vielen Kritiken ausgesetzt, welche ihren Erklärungswert
einschränken:
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−− Freud räumt dem Unbewussten einen sehr
großen Raum ein, das Bewusstsein habe lediglich die Funktion eines „Pressesprechers
des Gehirns“ inne (vgl. Dijsterhuis, 2014,
S. 28 f.). Das Bewusstsein ist auf diese Weise
lediglich eine Marionette, deren Fäden vom
Unbewussten gezogen werden.
−− Sie sieht den Menschen als reines Triebwesen. Diese Sichtweise ist jedoch zu sehr ver­
engt; die heutige Psychologie weiß, dass der
Organismus nicht nur deshalb aktiv wird,
−−
um Triebwünsche möglichst um­fassend zu
befrie­digen und in­nere Spannungen zu vermindern.
Sehr umstritten ist die Annahme eines
­Todestriebes mit seinen aggressiven Äußerungsformen, zumal Freud keine innere
organische Quelle bzw. keine psychi­
sche
Energie für diesen ange­ben konnte. Modernere Untersuchungen weisen darauf
hin, dass Ag­gressionen insbesondere auf
Erfahrungen zurückgehen.
Die Annahme, dass jedes Erleben und Verhalten determiniert sind, ist nicht nachweisbar und auch sehr umstritten. Zudem wird
dem Menschen durch das Fest­
gelegtsein
seines Verhaltens so gut wie keine Selbst­
steuerung und Autonomie zu­gestanden.
Dem Ich wird in der Psychoanalyse eine
schwache Position zugestanden. Das Ich
ist, wie es August Flammer (20094, S. 87 f.)
formuliert, „wie ein schwacher Politiker,
der dauernd Kompromisse eingehen muss,
um zu überleben.“ Es ist nicht – wie Freud
selbst sagt – „Herr im eigenen Haus“. Heutige Psychoanalytiker haben diesen Punkt
aufgegriffen und die Freud‘sche Theorie
um eine „Ich-Psychologie“ erweitert. Auch
das ursprünglich psychoanalytische Grund­
verständnis vom Kind als einem passiven,
hilflosen Wesen hat sich gewandelt hin zu
einem aktiven Indi­viduum.
Die ursprüngliche Psychoanalyse geht von
der primären Feindse­ligkeit der Menschen
untereinander aus. Schon der Säugling sei
unsozial, potenziell gefährdet und ausschließlich von Trieben gesteuert. Indem
die Umwelt, die ja die Feind­schaft verbietet, Beschränkungen auferlegt und Sank­
tio­nen ausübt, lernt man als Reaktion auf
die frustrie­renden Ein­wirkungen der Umwelt, sich sozial zu verhalten.
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Freud vertritt das Bild eines Kampfplatzes,
auf welchem sich Triebe und gesellschaftliche Werte attackieren. Erst heutige
Psycho­ana­lytiker korrigieren das Bild vom
Menschen als „asoziales“ Wesen.
„Homo homini lupus1; wer hat nach all
den Erfahrungen des Lebens und der Ge­
schichte den Mut, diesen Satz zu bestrei­
ten? [...] Infolge dieser primären Feindse­
ligkeit der Menschen gegeneinander ist
die Kulturgesellschaft beständig vom Zer­
fall bedroht. [...] Die Kultur muss alles
aufbieten, um den Aggressionstrieben der
Menschen Schranken zu setzen, [...].“
(Freud, 2012, S. 102)
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−− Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Freuds
nicht haltbare Ansichten über Frauen und
die weibliche Sexualität. Er führt beispielsweise die „Minderwertigkeit“ der Frau
gegenüber dem Mann auf die Penislo­
sigkeit zurück und sieht Persönlichkeitseigenschaften wie Abhän­gigkeit von anderen, Unterwürfigkeit und dergleichen als
typisch „weibliche“ Eigenschaften an, die
sich aufgrund von biologischen Einflüssen
und des Erlebens der Penislosigkeit entwickeln.
−− Für viele Wissenschaftler sind die Aussagen der Psychoanalyse zum Teil nicht wissenschaftlich fundiert: Es wird angeführt,
dass sich zum einen aus dem Studium von
nur sehr wenigen klinischen Fällen und zum
anderen aus den Beobachtungen an einer
sehr eng umschriebenen Gruppe von Menschen keine allgemeingülti­gen Gesetzmäßigkeiten für das normale Verhalten ableiten lassen. Ihre Aussagen beruhen größtenteils auf Einzelbeobachtungen und
gehen mit ihren spekulativen Annahmen
weit über den Einzelfall hinaus, ohne dafür
Belege zu erbringen (vgl. Hautzinger/
Thies, 2009, S. 6). Zudem sind viele Aussa-
1
gen nicht nachweisbar, sondern lassen sich
lediglich durch Interpretation und Deutungen von Be­
richten erschließen, die nicht
überprüfbar sind. Viele Prozesse gehen unbewusst vor sich, sodass wissenschaftlich
nicht festgestellt werden kann, ob es sie
tatsächlich gibt.
Es lässt sich neben der Annahme eines
­Todestriebes mit seinen aggressiven Äußerungsformen auch das Festgelegtsein
sämtlicher Verhaltensweisen durch seelische Pro­zesse nicht belegen. Vor allem die
Libidoentwicklung wird wegen ihrer offenkundigen Schwächen zunehmend auch von
heutigen Psychoanalytikern abgelehnt wie
etwa die orale Befriedigung durch Nahrungsaufnahme, der Säugling als passives
und asoziales Wesen, das ausschließliche
Erlernen der Thematik des Hergebens und
Festhaltens im übertragenen Sinne, die
Kastrationsangst, der Penisneid oder der
Ödipuskonflikt bzw. -komplex.
Freuds Lehre wurde immer wieder kritisiert,
und sie ist auch heftig umstritten. Doch neuere
Untersuchungen der Hirnforschung bestätigen
viele Aussagen der Psychoanalyse. Das Vorhandensein von unbewussten Prozessen und
der Verdrängung sowie vieles, was Freud über
den Traum und die Traumdeutung geschrieben
hat, findet heute wissenschaftliche Bestätigung. Aufgrund neurobiologischer Erkenntnisse der jüngsten Zeit leugnet heute kein Wissenschaftler mehr die prägende Rolle der
Kindheit oder die Existenz des Unbewussten;
Gedächtnisforscher arbeiten derzeit ebenso
wie Freud mit dem Begriff der Verdrängung,
und auch die schon tot geglaubte Annahme,
Wünsche seien die Quelle der Träume, hat wissenschaftliche Bestätigung gefunden.
Heutige Psychoanalytiker betonen mehr die
Entwicklung der Ich-Funktionen, die Entwicklung des Selbstbildes und die Rolle früher Beziehungen, vor allem zu den Eltern bzw.
lat.: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf; diese Aussage geht angeblich auf den englischen Philosophen und Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679) zurück.
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­nderen Bezugspersonen (Objektbeziehuna
gen). Zudem rücken sie den sozialen Gedanken mehr in den Vordergrund.
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Mit dieser neuen Entwicklung nähern sich
Psychoanalytiker jedoch mehr und mehr anderen Richtungen der Psychologie an wie
etwa der humanistischen Psychologie oder
der Individualpsychologie von Alfred Adler,
der sich gerade wegen dieser kritisierten
Punkte von Freud trennte. Selbst Eva Jaeggi,
eine Psychoanalytikerin, die „nach wie vor
fasziniert“ ist von den vielfältigen Möglichkeiten, die das psychoanalytische Theoriesystem bietet (Jaeggi, 2011, S. 16), schreibt,
1
dass viele neue Positionen der Psychoanalyse1 in so vielen Punkten von der Freud’schen
Konzeption abwichen, dass sie eher in den
Bereich der Humanistischen Psychologie hineinreichten als in den der psychoanalytischen
(vgl. Jaeggi, 2011, S. 97). So stellt sich die
Frage, warum hier von „Weiterentwicklung
der Psychoanalyse“ gesprochen wird, wenn
Gedankengut aus anderen psychologischen
Schulen – möglicherweise in etwas abgewandelter Form – übernommen wird und sich die
Psychoanalyse auf diese Weise anderen Richtungen, insbesondere der Individualpsychologie, angleicht.
ls Beispiele seien hier genannt Heinz Kohut (1913 – 1981) als der Begründer der Selbstpsychologie,
A
Heinz Hartmann (1894–1970) mit seiner psychoanalytischen Ich-Psychologie und die Objektbeziehungstheorie, deren Pionierin Melanie Klein (188 –1960) ist. Eva Jaeggi bezieht ihre Äußerungen auf
Heinz Kohut.
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Kapitel 6
Materialien Kapitel 6
1.Die Geschichte vom kleinen Albert und der weißen Ratte1
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Von Albert wird berichtet, dass er von Geburt
an gesund und eines der am besten entwickelten Kinder war, die je an diesem Hospital
untersucht wurden. Zu Beginn der Untersuchung war er neun Monate alt und emotional
sehr stabil, weswegen man ihn auch für diese
Untersuchung ausgewählt hatte. Bei zahlreichen Tests, bei denen er mit einer weißen
Ratte, einem Kaninchen, einem Hund, einem
Affen, Masken mit und ohne Haar, Baumwolle
usw. konfrontiert wurde, zeigte er niemals
Angst. Es wird berichtet, dass das Kind praktisch nie schrie. Lediglich durch laute Geräusche und plötzliches Wegziehen der Unterlage
konnte Angst ausgelöst werden. Das laute Geräusch wurde erzeugt, indem man mit einem
Hammer auf eine hängende Eisenstange
schlug. [...]
Im Alter von elf Monaten wurde dem kleinen
Albert eine weiße Ratte gezeigt. In dem Augenblick, als das Kind mit der linken Hand
nach der Ratte greifen wollte, wurde hinter
seinem Rücken auf die Eisenstange geschlagen. Das Kind zuckte heftig zusammen, fiel
nach vorn und verbarg sein Gesicht in der
Matratze. Als später die rechte Hand die
Ratte berührte, wurde wieder auf die Eisenstange geschlagen. Das Kind erschrak wieder
sehr und begann zu wimmern. Nach einer
Woche wurde eine ähnliche Versuchsserie
durchgeführt, an deren Ende Albert sofort zu
schreien begann, sobald die Ratte nur gezeigt wurde. [...]
Nach fünf Tagen entwickelte Albert ähnliche
(teilweise schwächere) Angstreaktionen auch
beim Anblick eines Kaninchens, eines Hundes, eines Pelzmantels, bei Baumwolle usw.
Die Reaktion konnte wohlgemerkt ausgelöst
werden, ohne dass in diesem Versuchsdurchgang auf die Eisenstange geschlagen wurde.
[...]
Nach einem Monat wurde Albert noch einmal
untersucht. Dabei konnte man feststellen, dass
sich die bedingten emotionalen Reaktionen erhalten hatten. Lediglich war die Stärke mancher
Reaktionen etwas geringer geworden. [...]
Albert wurde aus dem Hospital genommen.
Deswegen konnte ein Abbau nicht ausprobiert werden.
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Quelle: Edelmann/Wittmann, 20127, S. 64 f., gekürzt
2. Verhaltenstherapeutische Techniken
5
Psychotherapeutische Techniken können nur
von ausgebildeten Fachleuten an­
ge­
wandt
werden. Der ver­ant­wor­tungs­vol­le Umgang mit
solchen Techniken er­
fordert eine f­undierte
psy­cho­lo­gi­sche Ausbildung.
der eine Re­aktion auslöst, die mit der un­an­ge­
nehmen bzw. un­er­wünschten emo­tio­nalen
Verhal­tens­weise un­ver­ein­bar ist.
Zahnarztpraxis Dr. Kiefer
a) Auf der Grundlage des klassischen Konditionierens Gegenkonditionierung
10
Nicht erwünschte emotionale Re­ak­ti­­o­nen und
Verhaltensweisen können ab­gebaut bzw. erwünschte auf­ge­­baut wer­den, indem Personen, Ob­­jekte oder Situationen, die diese un­­­
an­ge­neh­me bzw. nicht er­wünsch­te Re­ak­ti­on
auslösen, mit einem Reiz ver­bun­den werden,
1
„Ich will meinem Sohn einfach die Angst vorm
Bohrer nehmen!“
Dieses Experiment wurde 1920 von den beiden Psychologen John B. Watson und Rosalie Rayner
durchgeführt.
15
29
Kapitel 6
Peter, ein dreijähriger Junge, hatte Angst vor
pelzartigen Gegenständen wie zum Beispiel
einem Kaninchen. Um ihm diese Angst zu nehmen, wurde er in einen hohen Stuhl gesetzt
und bekam Süßigkeiten, über die er sich sehr
freute. Gleichzeitig wurde ihm ein Kaninchen
gezeigt. Hatte Peter anfangs noch Angst, wenn
das Kaninchen im Raum war, so konnte er dieses am Schluss auf den Schoß und sogar in die
Hände nehmen.
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Die Psychologie bezeichnet diese Vorgehensweise als Gegenkonditionierung. Von einer
solchen spricht man, indem man mehrmals
zeitlich und räumlich gleichzeitig den Reiz,
der eine unerwünschte Reaktion zur Folge
hat, mit einem Reiz koppelt, dessen Wirkung mit dieser nicht erwünschten Reaktion
unvereinbar ist.
Desensibilisierung
Um die erwünschte Reaktion zu erhalten, hat
es sich als sinnvoll erwiesen, den Reiz, der die
unerwünschte Reaktion zur Folge hat, schrittweise an den neu­
en Reiz anzunähern, der
eine Reaktion erzeugt, die mit diesen unerwünschten Emotionen unvereinbar ist.
So wird Peter immer dann, wenn er Süßigkeiten er­hält, ein Kaninchen schrittweise nähergebracht: Be­
findet sich das Kaninchen anfangs noch am Raumende, so wird es ihm bei
Erhalt von Sü­ßigkeiten allmählich immer nähergebracht, bis er dieses am Schluss auf den
Schoß und sogar in die Hände nehmen kann.
45
50
­sogenannten virtuellen Realität durchgeführt
wer­den. Eine Spinnenphobie1 kann beispiels­
weise geheilt werden, indem man dem Klienten in einer Reihe von Sitzungen zu­nehmend
besser erkennbare Bilder von Spin­nen zeigt,
die zunächst weiter weg und sehr klein, dann
aber immer näher und grö­ßer abgebildet sind.
Diese Vorgehensweise wird als sy­ste­ma­ti­
sche Desensibilisierung bezeichnet und bedeutet die schrittweise An­nä­he­rung ei­nes
Reizes, der das nicht erwünschte Ver­halten
bzw. Erleben zur Folge hat, an den Reiz,
des­
sen Re­
aktion mit dem unerwünsch­
ten
Ver­­halten bzw. Erleben unvereinbar ist.
Gegenkonditionierung und syste­ma­ti­sche Desensibilisierung bedingen sich ge­
genseitig
und werden in der Therapie grund­sätzlich mit­
einander angewandt.
Eine solche Therapie kann sowohl in der Re­
alität als auch mithilfe von Medien in einer
1
2
Spinnenphobie: Angst vor Spinnen
Klient (lat.: cliens): der Hilfesuchende
„Lassen Sie uns allein! Ich bin Verhal­tens­
therapeut und helfe meinem Pa­ti­en­ten, seine
Höhenangst zu überwinden!“
Reizüberflutung
Eine in letzter Zeit sehr häufig benutzte
Vorgehensweise zum Abbau unerwünschter
­
emotionaler Reaktionen ist die Reizüberflutung. Hierbei geht der Therapeut im Vergleich
zum sys­
te­
matischen Desensibilisieren den
um­
gekehrten Weg. Man konfrontiert den
handlung
Klienten2 gleich zu Beginn der Be­
mit stark Angst ­aus­lö­sen­den Reizen und lässt
ihn dabei die Er­fahrung machen, dass seine
Be­
fürch­
tungen unbegründet sind und nicht
eintreten. Die Behandlung kann mit­hilfe einer
gedanklichen Kon­fron­ta­tion mit den jeweiligen Angstreizen er­
folgen oder indem der
Klient die­sen in der Realität gegenübertritt.
Ein Mann, der Angst hat, über Brücken zu ge­
hen, weil er befürchtet, diese würden einstürzen, muss sich immer wieder unter therapeutischer An­leitung lange auf Brücken aufhalten, bis sich die Erfahrung ihrer Ungefährlichkeit fest in ihm verankert und er die Angst vor
ihnen verloren hat.
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Kapitel 6
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b) Auf der Grundlage des operanten Konditionierens Verhaltensformung
zu entsprechen, bis schließlich das Endverhalten gezeigt wird.
Bei komplexen Verhaltensweisen ist es für ein
Kind unmöglich, diese schon beim ersten Versuch perfekt auszuführen. Deshalb sollte man
jedes Verhalten, das auch nur annähernd in
die gewünschte Richtung geht, positiv verstärken. Eine solche Verstärkung kleiner Teilschritte bezeichnet man als Verhaltensformung bzw. Shaping. Es bedeutet den schrittweisen Aufbau eines Verhaltens, indem man
bereits kleine Schritte in Richtung des erwünschten Endverhaltens systematisch verstärkt.
Das Kind kann die Schleife allein binden.
Verhaltensformung lässt sich folgendermaßen durchführen:
−− Nach der Formulierung des gewünschten
(End-)Verhaltens wird jedes Verhalten,
das dem gewünschten Endverhalten irgendwie ähnelt, sofort und regelmäßig
verstärkt.
Soll das Kind als Endverhalten das Schuhebinden beherrschen, dann wird es bereits
verstärkt, wenn es mit jeder Hand ein Schuhband halten kann.
115
−− Wird allmählich das erwünschte Verhalten
verstärkt gezeigt, das innerhalb der gewünschten Verhaltenssequenz einen Schritt
bedeutet, so wird es sofort verstärkt.
Kann das Kind die Schuhbänder zu einer
Schleife übereinanderlegen, erfolgt eine erneute Verstärkung.
120
−− Nun werden die Verhaltensweisen verstärkt, die der letztlich erwünschten nahe-
−− Dabei werden die Teilschritte und letztlich das Endverhalten so lange regelmäßig – also immer – verstärkt (kontinuierliche Verstärkung1), bis das jeweils gewünschte Verhalten gezeigt wird. Anschließend wird zu seiner Festigung zu
einer gelegentlichen Verstärkung übergegangen (intermittierende Verstärkung1), bis sie schließlich ganz überflüssig wird und das Verhalten aufgrund von
Gewöhnung gezeigt wird.
Das Kind beherrscht schließlich irgendwann,
unterstützt von den jeweiligen Verstärkungen, das Schuhebinden. Ab diesem Zeitpunkt
wird es nur noch nach jedem zweiten, dritten
oder vierten Mal für seine Leistung verstärkt.
Nach und nach wird das Schuhebinden für
das Kind keine besondere Handlung mehr,
sondern Routine geworden sein. Nun verzichtet der Erzieher ganz auf die Verstärkung.
−− Die Teilschritte und das erwünschte Endverhalten werden durch Übung und Wiederholung gefestigt.2
Kinder können die einzelnen Teilschritte, die
sie für das Schuhebinden benötigen, trainieren, indem sie zum Beispiel die 24 Säckchen
bei einem Adventskalender zuschnüren, nachdem sie in jedes der Säckchen eine kleine Aufmerksamkeit gegeben haben. Manche Kindergärten verfügen über sogenannte Schnürrahmen, mit denen sich das Binden einer Schleife
ebenfalls üben und wiederholen lässt.
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3. Schöne neue Welt
5
Päppler blieb im Entkorkungszimmer zurück,
als der BUND und die Studenten mit dem
nächstgelegenen Aufzug ins fünfte Stockwerk fuhren. KLEINKINDERBEWAHRANSTALT.
NEO-PAWLOWSCHE NORMUNGSSÄLE, verkündete ein Schild an der Tür. Der Direktor
öffnete. Sie betraten einen großen kahlen
1
2
vgl. Abschnitt 6.2.5
vgl. Frequenzgesetz in Abschnitt 6.2.1
Raum, sehr hell und sonnig; die ganze Südwand war ein einziges Fenster. Sechs Pflegerinnen [...] waren soeben dabei, Schalen voller
Rosen in langer Reihe auf den Boden zu stellen [...]. Die Pflegerinnen standen stramm, als
der BUND eintrat.
„Stellen Sie die Bücher auf!“, befahl er kurz.
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Kapitel 6
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Schweigend gehorchten sie. Zwischen die Rosenschalen wurden Bücher gestellt, eine
Reihe Kinderbücher [...].
„Nun bringen Sie die Kinder!“
Die Pflegerinnen eilten hinaus und kehrten
nach ein paar Minuten zurück; jede schob so
etwas wie einen hohen stummen Diener vor
sich her, dessen vier drahtvergitterte Fächer
mit acht Monate alten Kindern beladen waren
[...].
„Setzen Sie sie auf den Boden!“
Die Kinder wurden abgeladen.
„Nun wenden Sie sie so, dass sie die Blumen
und Bücher sehn können!“
Kaum war das geschehen, als die Kinder verstummten und auf die seidig schimmernden
Farbklumpen, die bunt leuchtenden Bilder auf
den weißen Buchseiten loszukrabbeln begannen. [...] Aus den Reihen der krabbelnden Kinder ertönten kleine aufgeregte Schreie, freudiges Lallen und Zwitschern. [...] Der Direktor
wartete, bis alle seelenvergnügt beschäftigt
waren. „Und nun passen Sie auf!“, sagte er
und gab mit erhobener Hand ein Zeichen.
Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des
Saals vor einem Schaltbrett stand, drückte
einen kleinen Hebel nieder.
Ein heftiger Knall. Gellendes und immer gellenderes Sirenengeheul. Rasendes Schrillen
von Alarmklingeln.
Die Kinder erschraken und schrien auf, die
Gesichtchen von Entsetzen verzerrt.
„Und jetzt“, brüllte der Direktor, denn der
Lärm war ohrenbetäubend, „werden wir die
Lektion mittels eines elektrischen Schlägelchens einbläuen.“
Er winkte abermals, die Oberpflegerin drückte
einen zweiten Hebel nieder. Das Plärren der
Kinder hörte sich plötzlich anders an. Verzweiflung, fast Wahnsinn klang aus diesen
durchdringenden Schreikrämpfen. Ihre Körperchen wanden und steiften sich, ihre Glieder zuckten wie von unsichtbaren Drähten
gezogen.
„Wir können durch diesen ganzen Streifen
des Fußbodens elektrischen Strom schicken“,
brüllte der Direktor erklärend. „Aber jetzt
genug!“, bedeutete er der Pflegerin.
Die Detonationen hörten auf, die Klingeln verstummten, das Sirenengeheul erstarb Ton für
Ton. Die zuckenden Kinderleiber lösten sich
aus ihrem Krampf, das irre Stöhnen und
Schreien ebbte zu einem gewöhnlichen
Angst­geplärr ab.
„Geben Sie ihnen nochmals die Blumen und
Bücher!“
Die Pflegerinnen gehorchten, aber bei der leisesten Annäherung der Rosen, beim bloßen
Anblick der bunten Miezekatzen, Hottehü­
pferdchen und Bählämmer wichen die Kinder
schaudernd zurück; ihr Geplärr schwoll sogleich wieder zu Entsetzensgeschrei an.
„Beachten Sie das, meine Herren“, sagte der
Direktor triumphierend, „beachten Sie das
wohl!“ Bücher und Getöse, Blumen und elektrische Schläge – schon im kindlichen Geist
waren diese Begriffspaare nun zwanghaft
verknüpft, und nach zweihundert Wiederholungen dieser oder ähnlicher Lektionen waren
sie untrennbar. Was der Mensch zusammenfügt, das kann Natur nicht scheiden.
„So wachsen sie mit einem, wie die Psychologen zu sagen pflegten, ‚instinktiven‘ Hass
gegen Bücher und Blumen auf. Wir normen
ihnen unausrottbare Reflexe an. Ihr ganzes
Leben lang sind sie gegen Druckerschwärze
und Wiesengrün gefeit.“ Der Direktor wandte
sich an die Pflegerin. „Schaffen Sie sie hinaus!“
Quelle: Huxley, 200966, S. 35 ff., gekürzt
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Kapitel 6
4.Kritische Würdigung der Konditionierungstheorien
5
10
Die Forschungs­ansätze des klassi­schen und
operanten Konditionierens werden dem
Behavioris­mus1, einer von mehreren psychologischen Schulen, zuge­
rechnet. Dieser hat
die Psychologie insgesamt und vor allem den
Bereich des Lernens nachhaltig beeinflusst.
Die Konditionierungstheorien können ein großes Spektrum von Verhaltensweisen ­erklären
und besitzen eine große Bedeutung für die Erziehung, die Beratung und die Therapie.
Das Menschenbild des Behaviorismus
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„Die Ratschläge an den Erzieher, die man
aus dem von der ‚Lerntheorie‘ entworfenen
Bild des Menschen ableiten kann, laufen
unmittelbar und zwingend auf eine Ehren­
rettung des alt überlieferten Grundsatzes
von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ hinaus. Dass
man neuerdings aufgrund von schlechten
Erfahrungen (auch an Tieren) das Zucker­
brot der Peit-sche vorzieht [...], versüßt [...]
zwar das Leben, aber es ändert nichts
daran, dass nach diesem Grundsatz mani­
(Metzger, 19763, S. 21)
puliert [...] wird.“
Der Mensch erscheint nach „reiner“ behavioristischer Auffassung als ein Wesen, das n
­ ahezu Es muss jedoch erwähnt werden, dass sich
ausschließlich von Umweltrei­
zen beherrscht die Konditionierungstheorien weiterentwiwird. Einerseits „wartet“ der Mensch, bis er mit ckelt haben und dem Menschen auch kognitiReizen konfrontiert wird, auf die er dann ent- ve Prozesse zugebilligt werden. In jüngster
sprechend reagiert; andererseits richtet er sein Zeit gehen auch die Lerntheoretiker davon
Verhalten nach Belohnungen und Bestrafun- aus, dass Menschen einen kognitiven Zusamgen, die aus der Umwelt kommen. Aus dieser menhang zwischen Reizgegebenheiten und
Sichtweise ist der Mensch von Natur aus ein dem eigenen Verhalten bilden (vgl. Reinecker,
„faules Wesen“, das erst durch bestimmte An- 20053, S. 91).
reize aktiviert wird (vgl. Mietzel, 20078, S. 323).
Nahezu jegliches Verhalten ist nach behavioDementsprechend findet eine einsei­tige Be- ristischer Ansicht erlernt und kann wieder vertonung der Bedeutung von Umweltfaktoren lernt werden. Burrhus F. Skinner beschreibt in
für die Entwick­lung statt. Damit berücksich- seinem Buch „Jenseits von Freiheit und Würde“
tigt der Behaviorismus nicht die Möglichkeit, (1982, S. 220) seine Vision einer Gesellschaft,
dass der Mensch eine aktive Selbststeuerung in der die Umweltbedingungen so manipuliert
besitzt, die ihn aus der passiven Haltung der sind, dass sie das menschliche Verhalten forUmwelt gegenüber herausführt in den Bereich men. Damit verbunden ist eine optimistische
der aktiven Auseinandersetzung mit ihr.
Grundhaltung im Sinne einer weitgehenden
Die Behavioristen haben eine eher mechanisti- Machbarkeit menschlichen Lebens. Entspresche Vorstellung vom menschlichen Verhalten, chend sind die Behavioristen der Auffassung,
welches grundsätzlich mit dem „Reiz-­dass Umwelt und Erziehung alles vermag.
Reaktions-Schema“ erklärt werden kann: Der
Mensch „funktio­niert“ reaktiv, durch Reize aus„Gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlge­
gelöst oder auf Verstärkung hin fixiert, ohne
bildeter Kinder und meine eigene Umwelt,
sich selbst einbringen zu können. Sinn, Wille
in der ich sie erziehe, und ich garantiere,
und Motiv als Handlungsgründe des Menschen
dasß ich jedes nach dem Zufall auswähle
werden geleugnet. Skinner ging deshalb auch
und es zu einem Spezialisten in irgendei­
davon aus, dass Menschen keinen freien Willen
nem Beruf erziehe, zum Arzt, Richter,
besitzen und dieser nur Illusion sei.
Künstler, Kaufmann oder zum Bettler und
Dieses Menschenbild brachte der VerhaltensDieb, ohne Rücksicht auf seine Begabun­
therapie oft die Kritik ein, sie gleiche einer
gen, Neigungen, Fähigkeiten, Anlagen und
„Dressur“, in der der Mensch wie ein Tier mit
die Herkunft seiner Vorfahren.“ (­Watson,
Lob und Strafe konditioniert werde.
1997, S. 123)
1
ehavior (engl.): das Verhalten; Anhänger des Behaviorismus erforschen ausschließlich das
b
­Ver­halten.
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Der Erklärungswert der Konditionierungs­
theorien
Die Konditionierungs­
theorien haben einen
großen Erklärungswert. Viele menschliche
Verhaltensweisen und Emotionen sind das Ergebnis von Konditionierungen. Emotionale
Reaktionen wie etwa Angst oder Furcht werden auf der Grundlage des Konditionierens
erlernt. Auch die Werbung bedient sich seiner,
wenn sie ein Produkt mit positiven und begehrenswerten Gefühlen koppelt, um einen
Kaufanreiz zu schaffen.
Die Bedeutung von Lob und Belohnung, Anerkennung und Erfolg wird von keiner Seite infrage gestellt. Insofern sind die Konditionierungstheorien imstande, eine große Vielfalt von Erlebens- und Verhaltensweisen erklären zu können.
Der Erklärungswert des klassischen Konditionierens bleibt jedoch auf solche Lernprozesse begrenzt, bei denen das Verhalten
unter der Kontrolle eines vorausgehenden
Reizes steht. Alle Lernprozesse, bei denen
eine auf das Verhalten folgende Konsequenz
die entscheidende Rolle spielt, können nicht
mithilfe des klassischen Konditionierens erklärt werden. Der Erklärungswert des operanten Konditionierens zeigt sich bei jenen
Lernprozessen, bei denen die Verhaltenskonsequenzen von entscheidender Bedeutung sind. Die Konditionie­
rungstheorien
können also nur Lernprozesse aufgrund erfahrener Reize bzw. Verstärkungen erklären.
Die Tatsache, dass Menschen durch Be­
obachtung anderer oder durch Einsicht ler-
nen, findet im „reinen“ Be­ha­vi­o­ris­mus keine
Berücksichtigung.
Annahmen über Gefühle, Motive oder Gedanken, die Verhalten beeinflussen, sind nicht
unmittelbar beobachtbar und da­
her vom
behavioristischen Forschungsinteresse aus­
­
ge­schlos­­sen. Diese Beschränkung auf beobachtbares Verhalten blendet jedoch Gedanken, Gefühle und Motive menschlichen Handelns völlig aus. Inne­re Vorgänge, wie etwa
Gedan­ken und Gefühle, bleiben „im Dunkeln“
verborgen, wie in einer schwarzen Schachtel.
Wie jedoch schon erwähnt, haben sich die
Konditionierungstheorien
weiterentwickelt
und heute werden dem Menschen auch kognitive Prozesse zugebilligt.
Eine weitere Schwäche des Behaviorismus
liegt in der Vorgehensweise, die aus Tierexperimenten gewonnenen Forschungsergebnisse
bedenkenlos auf das menschliche Verhalten zu
übertragen. Wie jedoch anthropologische Befunde deutlich hervorheben, bestehen grundlegendste Unterschiede zwischen Mensch und
Tier, die eine „Gleichsetzung“ von menschlichem und tierischem Verhalten nicht zulassen.
Konsequent werden aus ­diesem Grund auch in
der behavioristischen Schule kognitive Vorgängen wie etwa das ­
Erkennen, Be­
greifen,
Urteilen und Denken schwer vernachlässigt.
Ein Tatbestand, der der Spezies Mensch auf
keinen Fall gerecht wird.
Quelle: Hobmair, Band 1, 20113, S. 158 ff., verändert
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Kapitel 7
Materialien Kapitel 7
1.Banduras Menschenbild und seine Abgrenzung
zum Behaviorismus
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In der Zeit des radikalen Behaviorismus wurden die lerntheoretisch orientierten Ansätze
mit einem ganz bestimmten „Image“ assoziiert, das ihnen in der Vorstellung vieler Menschen auch heute noch anhaftet. Wenn
­Lerntheoretiker die Einflüsse der Umweltgegebenheiten auf das Verhalten von (meist tierischen) Organismen studierten, begriffen sie
die Umweltgegebenheiten a priori1 als „unabhängige“, dem jeweiligen Organismus unausweichlich vorgegebene Einflussfaktoren, die in
ganz einseitiger Weise das Verhalten zu „konditionieren“ vermochten. Das klassische Forschungsparadigma2 war die Skinner-Box. Hier
demonstrierten die Experimentatoren, dass sie
das Verhalten ihrer Versuchstiere (meist Ratten
oder Tauben) durch gezielte Manipulationen
von Hinweisreizen und Reaktionskonsequenzen unter nahezu totale Kontrolle von außen
bringen konnten. Es entstand die Vision vom
Organismus als einer „Lernmarionette“.
Da innerpsychische Vorgänge ebenso wie
Prozesse der wechselseitigen Einflussnahme
zwischen Individuen und ihrer Umwelt zunächst nahezu völlig ausgeklammert blieben,
gerieten die Lerntheoretiker zunehmend in
das Zwielicht eines absoluten Umweltdeterminismus. Zu diesem Image trugen vor allem
Watson und Skinner durch entsprechende
Manifeste und zahlreiche Buchveröffentlichungen auch selbst aktiv bei.
Inzwischen ist die Forschung längst differenzierter geworden. Albert Bandura gehört zu
den führenden Köpfen einer neuen Forschungsrichtung, die sich in drei wesentlichen
Punkten vom herkömmlichen behavioristischen Ansatz unterscheidet:
1
2
3
1.Lernen wird an Menschen untersucht und
als aktiver, kognitiv gesteuerter Verarbeitungsprozess gemachter Erfahrungen verstanden. Die hierbei wirksamen kognitiven
Operationen stellen in allen ihren Einzelheiten den Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Forschungsarbeit dar. Ein besonderes Schwergewicht liegt auf der Fähigkeit der Menschen zum symbolischen
Lernen und zum „stellvertretenden“ Lernen aus dem Miterleben der Erfahrungen
anderer.
2.Das aktuelle Verhalten von Menschen wird
nicht mehr als automatisches konditioniertes Reagieren auf determinierende Kontingenzen3 seitens der äußeren Umwelt verstanden. Das Handeln der Menschen wird
vielmehr als aktiver Prozess begriffen, bei
dem Motivationen, emotionale Empfindungen und komplexe Denkprozesse eine entscheidende Rolle spielen.
3.Da die Menschen nicht mehr als rein passiv
formbare Marionetten äußerer Umwelteinflüsse beschrieben werden, ergibt sich ein
optimistischeres Menschenbild. B
­andura
analysiert gewissermaßen stärker aus der
Perspektive des handelnden Menschen
selbst als aus der Perspektive des manipulierenden Experimentators. Dem Menschen
wird vom Psychologen Albert Bandura
nicht mehr die Rolle eines reinen Forschungsobjekts zugewiesen, das man nach
Belieben durch Einsatz gezielter Techniken
manipulieren kann, ohne sich vorher mit
ihm selbst beraten zu haben.
Quelle: Bandura, 1991, S. 7 f.
a priori: von vornherein, ohne Erfahrungsgrundlage
Forschungsparadigma heißt Forschungsbeispiel.
„Determinierende Kontingenzen“ bedeutet in diesem Zusammenhang „einflussreiche Beziehungen zwischen Verhalten und den nachfolgenden Konsequenzen“.
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Kapitel 7
2. Rocky: ein klassisches Experiment
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An den Einzelversuchen nahmen je 33 Jungen
und Mädchen im Alter von dreieinhalb bis
sechs Jahren teil, die alle den gleichen Kindergarten besuchten. Zu Beginn des Experiments
wurden die Kinder nach dem Zufallsprinzip in
drei Gruppen mit je elf Jungen und Mädchen
eingeteilt. Ein weiblicher Versuchsleiter führte
alle Experimente durch.
−− In der ersten Phase, der Lernphase (Beobachtungsphase), sah jedes Kind einen
speziell für diesen Zweck gedrehten Film,
der mithilfe technischer Tricks über den
Fernsehschirm ablief. Alle Kinder sahen
den gleichen Film; lediglich der Ausgang
des Films war für jede der drei Gruppen
verschieden. Der Film enthielt vier physische und vier verbale Aggressionsäußerungen, also acht Aggressionen; diese
wurden im Film zweimal wiederholt.
(1 + 2)
„Rocky“, die Modellperson, ging
auf eine lebensgroße aufgeblasene
Plastikpuppe zu, setzte sich darauf
und boxte sie mehrmals auf die
Nase. Die begleitende verbale Aggression dazu war: „Puh, direkt auf
die Nase, bum-bum.“
(3 + 4)Rocky stellte die Puppe senkrecht
auf und schlug mit einem großen
Holzhammer auf ihren Kopf ein.
Dazu die Worte: „Verdammt … bleib
stehen.“
(5 + 6)Mit gut gezielten Fußtritten beförderte er die Puppe quer durch den
Raum. Sein Kommentar dazu, in
aggressivem Tonfall: „Flieg weg.“
(7 + 8)Schließlich warf Rocky Gummibälle
nach der Puppe und rief lauthals
bei jedem Wurf: „Päng!“
Der Film fand, je nach experimenteller
Gruppe, ein anderes Ende.
• D
ie elf Kinder der ersten Gruppe sahen,
dass Rockys Aggressionen belohnt wurden, d. h., ein Erwachsener überschüttete ihn mit Süßigkeiten und lobenden
Worten („großer Held“, „starker Champion“ usw.).
• Bei der zweiten Gruppe wurde Rocky
bestraft: Der Erwachsene schlug ihn mit
einer aufgerollten Zeitung, bezeichnete
ihn als „brutalen Kerl“.
• Bei der dritten Gruppe blieben Rockys
Aggressionen ohne jegliche Konsequenz: Er wurde weder bewundert und
gelobt noch bestraft.
−− In der zweiten Phase (spontane Imitationsphase) wurden die Kinder einzeln in
ein Spielzimmer gebracht, in dem sich
neben neutralem Spielzeug (Plastiktiere,
Puppenstube usw.) auch die Gegenstände
befanden, die vorher im Film zu sehen gewesen waren (lebensgroße aufblasbare
Plastikpuppe, drei Gummibälle, Holzhammer). Jedem Kind wurde ausdrücklich erklärt, dass es mit allen Gegenständen
spielen dürfe. Daraufhin verließ der Versuchsleiter den Raum und ließ das Kind
zehn Minuten lang durch eine Einwegscheibe von einer Person beobachten, die
nicht wusste, zu welcher experimentellen
Gruppe das Kind gehörte.
Ergebnisse
kein Ansporn
Mittelwert der Ausführung verschiedener Nachahmungsreaktionen
positiver Ansporn
4
3
2
1
0
Jungen
Mädchen
belohntes Modell
Jungen
Mädchen
bestraftes Modell
Jungen
Mädchen
ohne Konsequenzen
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Kapitel 7
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−− In der dritten Phase (Verstärkungsphase)
forderte der Versuchsleiter das Kind ausdrücklich auf, Rockys Aggressionsverhalten zu imitieren; außerdem wurde ein motivierender Anreiz gesetzt, d. h., für jede
imitative Reaktion erhielt das Kind ein hübsches Abziehbild usw. Die Befunde (=
durchschnittliche Anzahl der imitierten aggressiven Verhaltensweisen) zeigen deutlich, dass in der spontanen Imitationsphase (Phase 2) weniger Aggressionen aufge-
treten sind als in der Verstärkungsphase
(Phase 3), obwohl die Kinder keine Gelegenheit gehabt hatten, den Film zwischen
diesen beiden Phasen noch einmal zu
sehen. Dieser Unterschied wird bei den
Mädchen der zweiten Experimentalgruppe
(Modellperson wird bestraft) besonders
deutlich.
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Quelle: Bredenkamp u. a., 1985, S. 9
3.Kognitive Strategien zur Entlastung des Gewissens im Rahmen der Selbst­regulierung
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Selbstabschreckende Konsequenzen werden im
Allgemeinen dann am stärksten aktiviert, wenn
die ursächliche Verbindung zwischen tadelnswertem Verhalten und seinen schädlichen Auswirkungen eindeutig zutage tritt. Es gibt jedoch
verschiedene Wege, wie sich ­
kritikwürdiges
Verhalten gelegentlich gegen selbstbewertende
Konsequenzen abschirmen lässt.
Zuallererst kann durch kognitive Umstrukturierung schuldhaften Verhaltens der Anschein
der Rechtschaffenheit verliehen werden. Eine
Möglichkeit, tadelnswertes Verhalten zu
einem persönlich und sozial akzeptablen Verhalten umzudefinieren, besteht darin, es so
darzustellen, als diene es moralischen Zwe-
1
2
„Euphemistisch“ heißt „beschönigend“.
„Rabulistisch“ heißt „haarspalterisch“.
cken. Im Laufe der Zeit haben ehrenhafte,
moralische Menschen namenlose Grausamkeiten im Zeichen religiöser Grundsätze,
hochmoralischer Ideologien und der sozialen
Ordnung verübt. Handlungen, die die Person
selbst gutheißt, lassen sich auch dadurch
rechtfertigen, dass man sie mit schlimmeren
Vergehen gegen die Menschlichkeit vergleicht. Je übertriebener die Vergleichspraxis,
umso geringfügiger werden die eigenen tadelnswerten Handlungen erscheinen. Auch
euphemistische1 Ausdrucksweisen sind sehr
geeignet, tadelnswerte Tätigkeiten zu maskieren oder ihnen sogar einen achtbaren Status zu verschaffen. Durch rabulistische2
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Kapitel 7
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Gedankenführung lässt sich aus bösartigem
Verhalten wohlmeinendes machen. Wer zu
diesem Mittel greift, braucht sich nicht als Urheber der Tat zu fühlen.
Moralische Rechtfertigungen und beschönigende Darstellungen sind besonders wirksame Enthemmungsfaktoren, weil sie nicht nur
selbstgeschaffene Abschreckungsmittel aus
dem Wege räumen, sondern die Selbstbelohnung in den Dienst unmenschlichen Verhaltens stellen. Was eben noch moralisch untragbar war, wird durch solche Umdefinitionen zu einer Quelle der Selbstachtung.
Es gibt noch eine weitere Gruppe von Wegen,
wie man sich selbst vor Selbstkritik bewahren
kann. Man kann beispielsweise die Beziehung
zwischen den eigenen Handlungen und den
Wirkungen, die diese hervorrufen, verschleiern
oder entstellen. Menschen verhalten sich auf
eine Weise, die sie normalerweise ablehnen,
wenn eine gesetzliche Autorität ihr Verhalten
sanktioniert und die Verantwortung für die
Handlungskonsequenzen übernimmt. [...]
Nach Abschiebung der Verantwortung haben
Menschen das Gefühl, man könne ihnen ihre
Handlungen nicht persönlich zur Last legen.
Auf diese Weise umgehen sie die negative
Selbstzensur. Ebenso wenig Grund zur
Selbstkritik liegt vor, wenn die Verbindungen
zwischen einem Verhalten und seinen sozialen Konsequenzen dadurch verschleiert werden, dass die Verantwortung für das schuldhafte Verhalten vernebelt wird. Durch Arbeitsteilung, Zersplitterung der Verantwortung
und kollektives Handeln können Menschen
sich schädlich verhalten, ohne dass irgendjemand sich persönlich verantwortlich fühlen
muss. Deshalb handeln sie unbedenklicher,
wenn die Verantwortung durch kollektive
Zweckdienlichkeit verschleiert wird. [...]
Verhaltenshemmende Selbstbestrafungsreaktionen lassen sich ferner dadurch schwächen, dass man sich ein falsches Bild von den
Konsequenzen seines Handelns macht. Wenn
sich Menschen um des persönlichen Nutzens
willen oder aus anderen Gründen für Handlungsweisen entscheiden, die sie missbilligen, neigen sie dazu, den Schaden zu verharmlosen, den sie verursachen. Solange sie
sich um die schädlichen Auswirkungen ihres
Verhaltens nicht kümmern, werden selbstkritische Reaktionen kaum aktiviert werden.
Die Stärke von Selbstbewertungsreaktionen
hängt zum Teil davon ab, welches Bild sich die
Handelnden von den Menschen machen, auf
die sich ihr Handeln richtet. Die Misshandlung
von Menschen, die gar nicht als Menschen
angesehen oder die abgewertet werden, wird
weniger Selbstmissbilligung wachrufen, als
wenn den Opfern Menschenwürde zugebilligt
wird. Werden Menschen als minderwer­
tige
Geschöpfe wahrgenommen, werden sie für
gefühllos gehalten: Sie brauchen eine grobe
Behandlung, damit sie überhaupt reagieren.
Die Entmenschlichung der Opfer dient also
dazu, die Selbstbestrafung für grausames
Handeln zu vermindern [...].
70
75
80
85
90
95
Quelle: Bandura, 1991, S. 159 f., gekürzt
4.Ein Modell menschlicher Informationsverarbeitung
5
Im Folgenden soll ein Grundmodell mensch­licher
Informationsverarbeitung entwickelt werden. In
dem Modell werden drei Abschnitte unterschie­
den, die eng miteinander zusammenhängen,
sich ge­genseitig beeinflussen und nur analytisch
voneinan­der getrennt wer­den können:
−− Aneignung
−− Speicherung
−− Abruf
10
Die Phase der Aneignung, in der Infor­
mations­aufnahme und -verarbeitung stattfin-
den, wird auch als Lernen im engeren Sinn,
die Phase der Speicherung als Ge­dächtnis im
engeren Sinn und die abgerufene Information
als Leistung (Performanz) bezeichnet.
Am Anfang dieser Sequenz steht die Wahrnehmung der Außenreize. Wahrnehmung ist kein
passiver Pro­zess, vergleichbar einer fotografischen Aufnahme. Wenn man von einer Organisation der Wahrneh­
mungsprozesse spricht,
dann bedeutet dies besonders psychische Verarbeitung der Eindrücke aufgrund früherer Erfahrungen. Hierbei sind Wissen, Gefühle und
15
20
38
Kapitel 7
25
30
Motive gleichermaßen bedeutsam. Wahrneh­
mung ist häufig bedürfnisgesteuert und s
­ elektiv.
Auch wenn das Material nach dieser aktiven
Bear­
beitung (Enkodierung) im Langzeitgedächtnis ge­speichert ist, unterliegt es weiteren Veränderungen. Im Gedächtnis erfolgt
nicht nur eine mentale Re­
präsentation von
Sachwissen, es ist zudem die Vor­aussetzung
für die Verhaltensregulation. Entwickelt und
Input
(Reiz)
Informations-Informationsverarbeitungspeicherung
Aneignung
45
gespeichert werden auch Handlungskonzepte. Solche Handlungspläne beeinflussen ihrerseits wie­der die Informationsaufnahme.
Ein erfolgreicher Abruf (Dekodierung) der
Gedächt­nisinhalte nach einer mehr oder minder langen Zeit­spanne hängt eng mit der Art
der Verarbeitung bei der Aneignung (Enkodierung) zusammen. Da das Material sehr häufig
nicht mehr in allen Einzelhei­ten erinnert wer-
Speicherung
den kann, ist eine (aktive) Rekon­
struktion
notwendig. Lernen, Gedächtnis und Leis­tung
nach dem Modell eines Videorekorders zu
sehen, ist demnach völlig verfehlt.
Ältere Theorien beschreiben das Gedächtnis
Output
Leistung
Abruf
als einen eher passiven Speicher und die heutigen Auf­fassungen sehen Gedächtnis als Teil
der Informa­ti­ons­ver­ar­beitung.
Quelle: Edlemann/Wittmann, 20127, S. 104 f.
35
40
39
Kapitel 8
Materialien Kapitel 8
1.Verschiedene Sichtweisen zur Setzung von Erziehungszielen
5
10
15
20
Wie in Kapitel 1.3.2 ausgeführt, kann man
kaum von der Pädagogik schlechthin sprechen, sondern allenfalls von dieser oder jener
Auffassung, die uns als Richtungen bzw. Schulen der Pädagogik bekannt sind. Dies hat auch
zu unterschiedlichen Sichtweisen im Hinblick
auf die Setzung von Erziehungszielen geführt.
skriptive) Aussagen treffen. Pädagogische Ziele
und Normen können damit weder verbindlich
gesetzt noch b
­ egründet werden, sie sind jedoch kritisch überprüfbar.
1. Erziehungsziele in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik1
Sowohl der geisteswissenschaftlichen als
auch der empirischen Erziehungswissenschaft
wurde vorgeworfen, dass sie bei der Bearbeitung pädagogischer Zielfragen von einseitig
bejahenden Positionen ausgehen und ideologiekritische Fragestellungen unberücksichtigt
lassen. Diese beiden Probleme werden von
der sogenannten Kritischen Erziehungswissenschaft thematisiert. Die Hauptrepräsentanten der Kritischen Pädagogik sind zum Beispiel Wolfgang Klafki und Hermann Giesecke.
Bei allen unterschiedlichen Auffassungen der
Kritischen Erziehungswissenschaft lassen sich
folgende Gemeinsamkeiten feststellen:
−− Sie wollen vorgegebene Lebens- und Erziehungsverhältnisse nicht bejahend überliefern, sondern vorrangig kritisch erneuern und dabei auch Erziehung zur Kritik,
zum Ungehorsam und Widerstand einbeziehen. Im Vordergrund steht dabei aber
nicht der Konsens, sondern vielmehr die
Konfliktaustragung.
−− Sie stellen übereinstimmend eine enge
Verschränkung von Gesellschaft (Wirtschaft) und Erziehung, von Politik (Macht)
und Pädagogik fest.
−− Sie nehmen die besseren Alternativen zur
Lebens- und Erziehungsrealität vorweg.
Sie möchten die idealen (utopischen) Leitvorstellungen mündiger Menschen in einer
mündigen Gesellschaft durch Demokratisierung verwirklichen.
Die geisteswissenschaftliche Pädagogik interessiert sich für die erzieherische Praxis und
ist für sie verantwortlich. Sie soll die jeweils
schon vorhandene Erziehungspraxis und ihre
Ziele gemäß den Prinzipien und Regeln der
Hermeneutik2 auslegen mit der Absicht, die
pädagogisch wichtigen Phänomene und Zusammenhänge, auch die Erziehungsziele und
Bildungsideale, besser zu verstehen und den
Erziehungspraktikern zum Sinnverständnis
und zur Orientierung ihres pädagogischen
Handelns zu verhelfen.
2. Erziehungsziele in der erfahrungswissenschaftlichen (empirischen) Pädagogik1
25
30
35
Die empirische Pädagogik ist eine rein beschreibende Erfahrungswissenschaft. Sie kann
über ihren Forschungsgegenstand nur informieren, das heißt beschreibende, erklärende
und vorhersagende Aussagen machen. Sie
kann nur Tatsachen feststellen, die an der Wirklichkeit durch empirische Forschungsmethoden
objektiv überprüfbar sind. Alle wertenden bzw.
normativen Aussagen werden dagegen der Erziehungspraxis und der Erziehungsphilosophie
überlassen bzw. zugewiesen. Dieser durch
Wolfgang Brezinka vertretene Ansatz der Pädagogik kann folglich nur beschreibende (deskriptive), aber keine ­
vorschreibenden (prä-
1
2
siehe Kapitel 1.3.2
Hermeneutik: vgl. Kapitel 1, Materialien 3
40
3. Erziehungsziele in der emanzipatorisch
ideologiekritischen Pädagogik1
45
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Kapitel 8
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−− Sie betrachten es als zentrale Aufgabe,
Ideologien (im Sinne falschen Bewusstseins), vor allem bei den Andersdenkenden, zu entlarven.
−− Sie plädieren für Emanzipation als oberstes Prinzip und Regulativ der Erziehungsvorgänge und -ziele.
−− Sie befassen sich vorrangig mit pädagogischen Zielfragen, dies aber nicht ­wertneu­tral,
sondern durch eigenes wertendes Stellungnehmen und Parteiergreifen.
vgl. Weber, 19998, S. 464–473, gekürzt und verändert
2. Erziehungsziele von Eltern heute
%
%
Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit
89
88
Verantwortungbewusstsein, Verantwortung
für das eigene Handeln übernehmen
85
83
Höflichkeit und gutes Benehmen
84
77
Gute, vielseitige Bildung
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32
Durchhaltevermögen, Sachen zu Ende bringen
78
29
Sicheres Auftreten, Selbstbewusstsein
78
56
Hilfsbereitschaft
78
71
Toleranz
69
46
Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz
69
27
Pünktlichkeit
69
29
Gesunde Lebensweise
68
48
Selbstständigkeit
66
72
Sorgfalt, Dinge ordentlich und gewissenhaft tun
63
30
Sparsam mit Geld umgehen
58
33
Neugier, Wissensdurst
56
55
Das Leben genießen
44
54
Freude an Büchern haben, gern lesen
42
28
Technisches Verständnis, mit der modernen
Technik umgehen können
37
15
Religiosität, Glaube an Gott
23
8
Interesse für Politik
22
7
Eltern von unter 12-jährigen Kindern in Deutschland
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 6241, Mai/Juni 2012
Zahlen: BMFSFJ 2012 (Hrsg.): Familienreport 2012, S. 117 , online abrufbar unter: http://
www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Familienreport2012,property=pdf,­bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
85
41
Kapitel 8
3.Der Wandel von Erziehungszielen aufgezeigt an der
­„Frauenerziehung“
a) Aus „Rat an eine Dame von Stand wegen
der Erziehung ihrer Tochter“ von Francois
de la Salignac de Lamotte-Fénelon (1651–
1715), Erzbischof:
5
10
15
20
25
30
35
40
45
„Sie (die Tochter) muss einen Abscheu
haben vor der Lektüre verbotener Bücher
und nicht einmal die Ursache des Verbotes
ergründen wollen. Sie soll lernen, misstrauisch gegen sich selbst zu sein [...], sie mache
sich zur Aufgabe, in aller Demut zu Gott zu
beten, arm im Geiste zu werden, oft in sich
selbst Einkehr zu halten, unwandelbar zu
gehorchen, durch vernünftige und wohlwollende Leute selbst in ihren festesten Meinungen sich zurechtweisen zu lassen und
zu schweigen, indem sie die andern reden
lässt. [...] Beschäftigen Sie Ihre Tochter mit
einer weiblichen Arbeit, welche für das Haus
von Nutzen ist und sie dran gewöhne, den
gefährlichen Verkehr mit der Welt zu entbehren. [...] Das wackere Weib spinnt,
schließt sich in seinen Haushalt ein,
schweigt, glaubt und gehorcht.“
Aus „Émile“ von Jean-Jacques Rousseau
b) (1712–1778):
Der Mann „muss aktiv und stark“, die Frau
„passiv und schwach“ sein. „Aus diesem festgesetzten Prinzip folgt, dass die Frau eigens
dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen
[...]. Da die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, muss sie sich
dem Mann liebenswert zeigen [...]. Darum ist
es nicht nur von Bedeutung, dass die Frau
treu ist, sondern dass sie vor ihrem Gatten,
vor ihren Nächsten und vor jedermann auch
als treu erscheint; sie muss bescheiden, aufmerksam und zurückhaltend sein [...]. Bei der
geistigen Unterschiedlichkeit der Geschlechter leitet sich aus diesen Prinzipien ein neues
Motiv für Pflicht und Anstand ab, das besonders den Frauen die gewissenhafteste Achtsamkeit über ihr Verhalten, ihr Benehmen und
ihre Haltung vorschreibt. Mit der allgemeinen
Behauptung, die beiden Geschlechter seien
gleich und ihre Pflichten die gleichen, verliert
man sich in leeren Reden, womit man gar
nichts sagt, solange man auf unsere Behauptungen nicht zu antworten vermag.“
c) Wilhelm Freiherr von Humboldt (1767–
1835) gibt die „polaristische Geschlechterphilosophie“ des deutschen Idealismus
wieder:
Die Selbsttätigkeit ist „das erste Kennzeichen
der männlichen, Empfänglichkeit das der weiblichen Kraft. Beide Kräfte sind nicht ausschließlich auf die Geschlechter verteilt, sie müssen
auch innerhalb eines Menschen wirken, wenn
etwas Neues entstehen soll. ,Nur die verschiedene Richtung unterscheidet die männliche
Kraft von der weiblichen. Die erstere beginnt
vermöge ihrer Selbsttätigkeit mit der Einwirkung, nimmt aber vermöge ihrer Empfänglichkeit die Rückwirkung auf. Die letztere geht gerade den entgegengesetzten Weg. Mit ihrer Empfänglichkeit nimmt sie die Einwirkung auf und
erwidert sie mit Selbsttätigkeit’. Das männliche
Prinzip ist Kraft, Tätigkeit [...] und sucht außerhalb seiner selbst Stoff zur Wirksamkeit. Das
weibliche Prinzip ist Einheit in sich selbst, Fülle
und unbestimmte Sehnsucht [...].“
50
55
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65
70
d) Friedrich Schlegel (1772–1829) zeigt in
seinen Gedanken schon „Emanzipationsideen der Frauenbewegung“ auf:
„Was ist hässlicher als die überladene Weiblichkeit, was ist ekelhafter als die übertriebene
Männlichkeit, die in unseren Sitten, unseren
Meinungen, ja auch in unserer besseren Kunst
herrscht!“ – „ In der Tat sind die Männlichkeit
und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit, welche
nach einer alten Sage in der Mitte einheimisch
ist, und doch nur ein harmonisches Ganzes sein
kann, welches keine Absonderung leidet. Nur
sanfte Männlichkeit, nur selbstständige Weiblichkeit sei die rechte, wahre und schöne. Ist
dem so, so muss man den Charakter des Geschlechts, welches doch nur eine angeborene
natürliche Profession ist, keineswegs noch
mehr übertreiben, sondern vielmehr durch starke Gegengewichte zu mildern suchen [...].“
e) Helene Lange (1848–1930), eine der führenden Personen der Frauenbewegung,
schreibt zu diesem Problem:
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„Aber noch eins unterscheidet die Frau unserer Tage von der der Vergangenheit“, in der
„die Frau noch dem Berufsmenschen“ gegenübergestellt wurde. „Das ist anders geworden
und wird in Zukunft noch weit mehr anders
werden. Zum ersten Male stehen wir in größerer Menge innerhalb eines bestimmten Berufes. Das heißt, wir stehen nicht mehr nur dem
Hause, sondern dem öffentlichen Leben verantwortlich gegenüber.“
f) Gertrud Bäumer (1873–1954) legt in ihrer
Abhandlung „Das Problem der Frauenbildung“ dar:
„Nun ist aber eines sicher: Durch keinerlei
Spekulationen kann vorherbestimmt werden,
welche zu irgendeiner Zeit ausschließlich von
Männern ausgeübten Kulturtätigkeiten auch
der Frau ,liegen’. Die Arbeitsteilung zwischen
Mann und Frau in der Kultur folgt sicherlich
nicht genau der spezifischen Beanlagung der
Geschlechter. Sie gehorcht oft äußerem wirtschaftlichem und sozialem Druck. Es ist deshalb nicht gesagt, dass diese oder jene Arbeit
der Frau nicht gemäß sei, weil sie während
eines – vielleicht sogar sehr langen – geschichtlichen Zeitraums diese Arbeit nicht
ausgeübt hat [...]. Und deshalb ist jede Theorie, die im Voraus einen Teil der lebendigen
Menschheit auf bestimmte Wirkensweisen
festlegt, von Übel. Weil die Frauen in bestimmten gegebenen geschichtlichen Situationen
durch diesen oder jenen geistigen Typus ihre
Art am vollendetsten ausgesprochen haben
[...], ist nicht gesagt, dass unter veränderten
sozialen und geistigen Bedingungen der gleiche Typus zustande kommen und noch weniger, dass er wiederum den Gipfel, das Höchsterreichbare bedeuten muss. Die Kon­sequenz
ist, dass auch der Frau prinzipiell die Bewegungsfreiheit, die innere Voraussetzungslosigkeit für das Suchen nach ihrer Kulturleistung zugestanden werden muss, die für den
Mann selbstverständlich und nie in Frage gestellt sind.“ „Summa: Jeder Begriff der ,weiblichen Eigenart‘ ist ein höchst unsicherer Boden
für pädagogische Theorien.“
g) Aus „Bildung des Mädchens im technischen Zeitalter“ von Anne Banaschewski
(1960):
145
„1. Die heutige Gesellschaft bietet in Bezug
auf die Rolle der Frau ein sehr heterogenes
Bild: Niemand bezweifelt mehr, dass die
Frauen in das Arbeitsleben einzugliedern
sind. Jedes junge Mädchen nimmt nach der
Schulzeit heute eine irgendwie geartete Berufsvorbereitung oder Arbeit auf. Zunehmend
bleiben immer mehr verheiratete Frauen im
Beruf. Durch ihre anthropologische Rolle besteht jedoch für die Frau eine noch nicht gemeisterte Doppelbelastung, die im Ganzen
dahin wirkt, sie von den leitenden Positionen,
ja, sogar von bescheidenen Führungsaufgaben im Betrieb auszuschließen. In die gleiche
Richtung wirken traditionelle Vorstellungen
vom Wesen der Frau und ihren Interessen.
Beide ­
Phänomene: Doppelbelastung und
Ausschluss von Führungsaufgaben sind
heute ­
drängende Probleme ,der‘ Frau, die
zwar je nach Berufsgruppen verschieden
­gelagert sind, die aber grundsätzlich alle angehen [...].
2. In der sozialen Selbstdeutung der Frau finden wir gelegentlich noch den Glauben, dass
es zu den Aufgaben der Frau gehöre, die Gesellschaft von den strukturellen Nachteilen der
Zivilisation zu erlösen. Hier liegt eine Verkennung der Sachgesetze der Arbeitswelt und
eine Nachwirkung des romantischen Frauenbildes vergangener Generationen vor, dem wir
uns nur allzu gerne wohlig hingeben. Jedoch
übernehmen wir uns mit einer solchen fantastischen Zielsetzung. Unsere moderne Daseinsapparatur ist geschlechtsneutral. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass nicht die Frau sie
umformen wird, sondern sie die Frau. Wir sollten uns bemühen, stärker den Gewinn dieses
Wandels – den wir ja unmittelbar erleben –
auch in der Reflexion zu betonen und die notwendigen Konsequenzen für die Erziehung daraus zu ziehen.“ „Das aber heißt, dass das
Mädchen in klarer Sicht auf alle Konsequenzen
auf ihren spezifischen Doppelberuf (Ehefrau
und Mutter auf der einen Seite, ,geschlechtsneutraler Berufsmensch‘ auf der anderen;
d. Verf.) vorbereitet werden muss.“
h) Aus „Emma“, Sonderband, Artikel von
Ursula Ott (1991):
Unter den 32 befragten Neuntklässlerinnen
sind nur fünf, bei denen bei der Frage „Wie
wünscht Ihr Euch Eure Zukunft?“ der Beruf nicht
auf der Hitliste steht. Einige sind wild entschlossen, einen „Männerberuf“ zu ergreifen, eine will
stramm „zur Bundeswehr und danach viel Geld
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verdienen, um die Zukunft abzusichern. Und
vielleicht dann eine Familie“. Auf jeden Fall aber
wollen die Mädchen „keine typische Hausfrau
werden“, „nicht als Heimchen am Herd enden“,
„nicht vom Ehemann abhängig sein“. Abhängig
sein, so wie die Mutter vom Vater – das ist echt
das Allerletzte. Eine 14-Jährige stellt klar: „Als
Erstes möchte ich einen Beruf erlernen, damit
ich nicht von einem Mann abhängig bin. Heiraten habe ich eigentlich nicht vor, weil ich dann
zu viel von einem Mann abhängig bin.“ Und ihre
Klassenkameradin erklärt auf die Frage nach
der Zukunft kurz und bündig: „Zurzeit: Heirat
erst ab 35. Kinder nur vielleicht. So viel verdienen, dass man unabhängig ist!“ „Auf jeden Fall
will ich etwas dazu ­beitragen, dass wir mehr
Gleichberechtigung bekommen“, verspricht
eine aus der 9b. Denn: „Im Moment denke ich,
dass ich erst mal eine Art Karriere mache. Also
nicht so früh Kinder zu bekommen. Ich möchte
viel Geld verdienen und auch Einfluss in der Gesellschaft haben. Das möchte ich durch Arrangement und Stärke erreichen.“ Aber ja nicht
durch die Frauenbewegung – „die hört sich albern an. Es sollten lieber super Frauen etwas
vollbringen, was Männer noch nie geschafft
haben.“ Allerdings, so hat auch die junge Superfrau schon gemerkt: „Man muss Selbstbeherrschung haben, wenn die Männer einen aus der
Fassung bringen mit ihren Sprüchen, dass sie
besser sind.“ Genau, zeig’s ihnen!
220
225
Quelle: a–g: Klafki u. a., 19702, S. III/35 ff.;
Quelle: h: Ott, in: „Emma“, Sonderband: 20 Jahre
Frauenbewegung, 1991, S. 40 f.
4.Möglichkeiten der Umsetzung der pädagogischen Mündigkeit
Herstellen positiver emotionaler Beziehungen
5
Im Mittelpunkt der Erziehung muss die positive emotionale Beziehung stehen. Dazu gehört
zum Beispiel, dass die Kinder als Person angenommen und akzeptiert werden, dass ein
liebevolles und warmherziges Verhältnis zwischen Erzieher und zu Erziehendem existiert.
Raum der Freiheit und der eigenen Entscheidung gewähren
10
15
20
Es ist wichtig, dass Eltern und Erzieher genügend Spielraum lassen, in dem die Kinder
eigene Entscheidungen treffen können und
vor allem lernen, die Folgen dieser Entscheidungen erleben und tragen zu können. Der
Raum der Freiheit und der eigenen Entscheidungen muss für den zu Erziehenden von
vornherein so groß wie möglich gegeben sein
und entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand ständig erweitert werden. In diesem Raum der Freiheit muss das Kind selbstständig entscheiden, erforschen, experimentieren und sich bestätigen können.
Grenzen setzen
25
Der Freiheitsraum des Kindes findet dort
seine Grenzen, wo ein Schaden entstehen
kann, wo die Freiheit der anderen beginnt und
ein reibungsloses Zusammenleben nicht
mehr gewährleistet ist. Gebote und Verbote
sind wichtige Bestandteile jeder Erziehung.
Freiräume allein reichen nicht aus, um Kinder
verantwortungsvolles Verhalten zu lehren. Sie
müssen auch Grenzen erleben und erfahren,
damit ihnen die Zusammenhänge zwischen
ihrem Verhalten und den möglichen Folgen
deutlich werden. Durch klare Regeln, ­sinnvolle
Grenzen und konsequentes Erzieherverhalten
vermitteln Eltern und andere Erzieher ihren
Kindern zugleich stabile Werte, die ihnen im
späteren Leben „Leitsystem“ für die (Nicht-)
Richtigkeit ihres Verhaltens geben (Nuber,
2009, S. 22).
30
35
40
Begründung und Rechtfertigung der erzieherischen Einflussnahme
Der Erzieher handelt nicht willkürlich („Weil ich
es so will!“, „Weil ich es gesagt habe!“); seine
Einflussnahme auf den zu Erziehenden lässt
sich von der Sache, die Erziehung notwendig
macht, und von den Ordnungen des Zusammenlebens her begründen. Erziehungsmaßnahmen sollten für das Kind nachvollziehbar
begründet werden. Erst dadurch wird es für
den zu Erziehenden möglich, aufgrund eigener
Überlegung und Vernunft die Entscheidung des
Erziehers nachzuvollziehen und zu verstehen.
45
50
44
Kapitel 8
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60
Beim Kleinkind muss die Einsicht erst hervorgebracht werden. Entscheidend ist zunächst,
dass der Erzieher vor sich selbst seine Einflussnahme sachlich begründen kann, die er
dann dem Kind – soweit möglich – nachvollziehbar macht.
Entfaltung des kindlichen Neugierdebedürf­nis­
ses
65
70
Erziehung, die als Ziel pädagogische Mündigkeit anstreben will, nimmt jede Gelegenheit
wahr, die kindliche Neugier und Wissbegierde
sowie die Initiative des Frage- und Problemstellens zu erhalten und zu fördern. Das Kind
soll lernen, Probleme der Welt wahrzunehmen und selbstständig bewältigen zu können. Es soll das Bedürfnis und den Mut
aufbringen zum lebenslangen Weiter- und
­
Umlernen.
Förderung des Zusammenlebens
75
Durch Erziehung soll das Kind die Fähigkeit
erwerben, Absichten, Meinungen und Verhal-
tensweisen anderer zu verstehen und dieses
Verstehen nach außen erkennbar zu machen;
es soll die Fähigkeit erwerben, sich für andere
einzusetzen, ihnen zu helfen, ihre Lage zu
verbessern; es soll lernen, soziale Konflikte
auf demokratischem Weg zu regeln und auszutragen. Dabei ist eine Lösung erforderlich,
die für alle am Konflikt beteiligten Personen
befriedigend ist.
80
85
Entfaltung des schöpferischen Denkens
Im Besonderen ist damit die Erziehung zu Ideen
und Einfällen gemeint, die zu neuen und originellen Problemlösungen führen, die für das Individuum, für die Gruppe oder für die Gesellschaft eine Bereicherung darstellen können.
Diese Möglichkeiten sind „Leitlinien“, die es
im jeweiligen Einzelfall und in der jeweiligen
erzieherischen Situation unterschiedlich umzusetzen gilt.
90
45
Kapitel 9
Materialien Kapitel 9
1. Die Erziehungsstile nach Kurt Lewin u. a.
Merkmale des autoritären Führungsstils (vgl.
Weber, 19868, S. 236 f.)
5
−− Der Gruppenleiter legt alle Richtlinien fest,
sodass es nur einen Weg zur Erreichung
des Zieles gibt.
−− Er entscheidet über sämtliche Maßnahmen
„Tut mit leid, Frau Direktor, aber wir haben
darüber ab gestimmt!“
10
−−
−−
15
−−
−−
20
−−
25
30
−−
und bestimmt das gesamte Vorgehen,
indem er von Fall zu Fall die einzelnen Tätigkeiten, Techniken und Teilaufgaben vorschreibt.
Den Kindern ist ihr zukünftiges Tun meist
nicht bekannt.
Der Leiter übernimmt allein die Verantwortung für das Verhalten der Kinder und das
Gelingen des Vorhabens.
Er bildet die Arbeitsgruppen und ordnet
an, wer mit wem zusammenzuarbeiten
hat.
Häufig greift der Leiter durch Befehle und
unterbrechende Kommandos in das Geschehen ein.
Lob und Tadel sind meist persönlich gehalten, das heißt auf die Person und nicht auf
die Sache bezogen. Seine nicht k
­ onstruktive
Kritik erfolgt ohne objektive Begründung.
Die Haltung des Leiters der Gruppe gegenüber ist eher geringschätzend und verständnislos, aber auch unpersönlich.
Merkmale des demokratischen Führungsstils
(vgl. Weber, 19868, S. 237ff.)
−− Der Leiter gibt der Gruppe einen Überblick
über die Gesamttätigkeit und das Ziel.
−− Die Festlegung der Richtlinien und Arbeitsabschnitte, die Wahl der Techniken und
Maßnahmen sind Angelegenheiten von
Gruppendiskussionen und -entscheidungen, an denen der Gruppenleiter nur anregend und ermunternd mitwirkt.
−− Alle wichtigen Entscheidungen werden in
der Gruppe diskutiert.
−− Die Gruppe trägt die Verantwortung für
das Vorgehen und das Resultat.
−− Die Gruppenmitglieder können selbst bestimmen, mit wem sie zusammenarbeiten
wollen.
−− Der Leiter greift nur äußerst sparsam ein
und will die Selbstständigkeit der Kinder
provozieren.
−− Ge- und Verbote sowie Anweisungen werden vom Leiter sachlich begründet.
−− Der Leiter unterstützt und ermutigt die
Gruppenmitglieder aktiv.
−− Bei der Erteilung von Lob und Tadel ist er
objektiv orientiert, das heißt, er gibt nur
sachbezogene Hinweise und bemüht sich
um konstruktive Kritik. Lob und Tadel erfolgen sachbezogen.
−− Bei technischen Problemen gibt der Leiter
immer mehrere Lösungsmöglichkeiten, die
Auswahl und Entscheidung liegen dann bei
den Kindern.
35
40
45
50
55
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46
Kapitel 9
65
−− Die Haltung des Leiters ist von hoher Wertschätzung und Verstehen gekennzeichnet.
−− Der Leiter ist zu persönlichen Gesprächen
mit den Kindern über ihre Probleme bereit.
Merkmale des Laissez-faire-Führungsstils (vgl.
Weber, 19868, S. 239f.):
70
75
80
−− Der Leiter verhält sich weitgehend passiv,
er macht nur minimale Vorgaben.
−− Die Rolle des Leiters beschränkt sich weitgehend auf das Anbieten unterschiedlicher
Materialien.
−− Er gewährt völlige Freiheit hinsichtlich der
Aktivitäten und Entscheidungen sowohl
des Einzelnen als auch der Gruppe.
−− Das gesamte Vorgehen wird allein den Kindern überlassen.
−− Die Kinder erhalten nur auf ihr ausdrückliches Verlangen hin Informationen durch
den Leiter, stets aber nur in einem Ausmaß,
in dem sie Auskunft gewünscht haben.
−− Die Verhaltensweisen und Arbeitsprodukte
der Kinder werden vom Leiter weder provoziert noch qualifiziert.
„Müssen wir heute schon wieder spielen, was
wir wollen?“
−− Die Arbeitsergebnisse werden kaum bewertet.
−− In seinem Erziehungsverhältnis zu den
Gruppenmitgliedern verhält er sich mehr
neutral.
85
Das typologische Konzept nach Kurt Lewin u. a.
autoritärer
Erziehungsstil
demokratischer
Erziehungsstil
laissez-faire
Erziehungsstil
2. Die Postulate der Bindungstheorie
5
10
Ihre Grundannahmen heben die Bindungstheorie als eine Theorie der normalen und pathologisch abweichenden Entwicklung von
anderen Theorien der Persönlichkeitsentwicklung und Psychopathologie ab. Die fünf
wichtigsten Postulate sind:
1.Für die seelische Gesundheit des sich entwickelnden Kindes ist kontinuierliche und
feinfühlige Fürsorge von herausragender
Bedeutung.
2.Es besteht die biologische Notwendigkeit,
mindestens eine Bindung aufzubauen,
deren Funktion es ist, Sicherheit zu geben
und gegen Streß zu schützen. Eine Bindung wird zu einer erwachsenen Person
aufgebaut, die als stärker und weiser empfunden wird, so daß sie Schutz und Versorgung gewährleisten kann. Das Verhaltenssystem, das der Bindung dient, existiert
gleichrangig und nicht etwa nachgeordnet
mit den Verhaltenssystemen, die der Ernährung, der Sexualität und der Aggression dienen.
15
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Kapitel 9
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3.Eine Bindungsbeziehung unterscheidet sich
von anderen Beziehungen besonders darin,
daß bei Angst das Bindungsverhaltenssystem aktiviert und die Nähe der Bindungsperson aufgesucht wird, wobei Erkundungsverhalten aufhört [das Explorationsverhaltenssystem wird deaktiviert). Andererseits hört bei Wohlbefinden die Aktivität
des BindungsVerhaltenssystems auf und
Erkundungen sowie Spiel setzen wieder ein.
4.Individuelle Unterschiede in Qualitäten von
Bindungen kann man an dem Ausmaß
unterscheiden, in dem sie Sicherheit vermitteln.
5. Mit Hilfe der kognitiven Psychologie erklärt
die Bindungstheorie, wie Irüh erlebte Bindungserfahrungen geistig verarbeitet und
zu inneren Modellvorstellungen (Arbeitsmodellen) von sich und anderen werden.
Obwohl die Bindungsforschung zunächst nur
das Verhalten kleiner Kinder bei Trennung
untersuchte, wurde sie im Laufe der Zeit, wie
die Theorie es vorsieht, auf die ganze Lebensspanne „von der Wiege bis zum Grabe ausgeweitet.
Die Bindungstheorie erweist sich stets dort
als tragfähig, wo eine schwächere Person
unabhängig von ihrem Alter den Schutz und
die Fürsorge einer vertrauten stärkeren Person braucht (Bowlby). Im höheren Alter wird
jedoch das Bindungsverhalten wahrscheinlich an Jüngere gerichtet werden, die dann
als stärker und weiser empfunden werden.
45
50
55
Quelle: Grossmann/Grossmann, 20125, S. 70 f.
3. Bindungstypen
5
10
Mary Ainsworth untersuchte zusammen mit
Barbara Wittig in der berühmt gewordenen
Baltimore-Studie unterschiedliche Bindungsverhaltensweisen zwischen Bezugsperson
und Kleinkind und ihre Auswirkungen auf es.
Sie gingen der Frage nach, ob und wie ein
Kleinkind seine Bezugsperson – in den Versuchen die Mutter – nach einer kurzen Trennung
beim Wiedersehen als Sicherheitsbasis sieht,
um zu einer ausgeglichenen Gefühlslage zurückzufinden.
Mary Ainsworth (1913–1999) war US-amerikanische Entwicklungspsychologin und arbeitete in London mit John Bowlby, dem Pionier
der Bindungsforschung, zusammen. Auf sie
geht das Konzept der Feinfühligkeit zurück,
und sie untersuchte über längere Zeiträume
hinweg das Interaktionsverhalten zwischen
Mutter und Säugling. Bekannt wurde Ainsworth durch ihre Untersuchungen in Baltimore – deshalb Baltimore-Studien –, in denen
es um die Reaktionen von Kleinkindern auf die
Trennung von der Bezugsperson geht.
Ainsworth und Wittig ermittelten vier Bindungstypen (vgl. Grossmann/Grossmann,
20064, S. 136 ff.; Brisch, 201010, S. 52f.):
−− Die sicher gebundenen Kinder, die ein
deutliches Bindungsverhalten zeigen und
bei ihrer Rückkehr zu ihrer Mutter laufen,
sich freuen, ihr die Arme hinstrecken, auf
den Arm genommen und getröstet werden
wollen. Sie beruhigen sich aber dann nach
kurzer Zeit und wenden sich erneut dem
Spielen zu.
1
ambivalent (lat.): in sich widersprüchlich; zwiespältig
15
20
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48
Kapitel 9
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50
−− Die unsicher-vermeidend gebundenen
Kinder, die kein deutliches Bindungsverhalten zeigen und ihre Mutter beim Wiedersehen ignorieren. Sie wollen nicht auf
den Arm genommen und getröstet werden,
sie wenden sich eher von ihr ab.
−− Die unsicher-ambivalent1 gebundenen
Kinder, die einerseits Kontakt mit der Mutter haben wollen, ihn aber zugleich wieder
ablehnen und sich ärgerlich zeigen (Strampeln mit den Beinen, Schlagen, Stoßen
oder Wegwollen). Sie können auch wenig
beruhigt werden und benötigen längere
Zeit, um wieder in einen emotional stabilen
Zustand zu kommen.
−− Die (unsicher-)desorganisiert gebundenen
Kinder, die erkennen lassen, dass sie ihre
Mutter nur wenig sicherheitsgebend empfinden und sich auch nicht von ihr trösten
und beruhigen lassen. Sie zeigen Unterbre-
chungen, Zurückweichen oder Vermeidung
vermischt mit Ärger und Verzweiflung (zum
Beispiel auf den Boden schlagen) während
der Annäherung zur Mutter, aggressives
Verhalten gegenüber Gegenständen oder
auch gegenüber der ­Bindungsperson (sich
schreiend verstecken, brüllend neben der
Mutter sitzen, ohne Kontakt aufnehmen zu
wollen).
„Während der desorganisierte Bindungstyp heute die volle Aufmerksamkeit in der
Klinischen Praxis für gestörte MutterKind-Beziehungen erhält, gehören die rest­
lichen drei Bindungstypen zur normalen
Bandbreite der Bindungsbeziehungen, die
ein Kind zu seiner Mutter entwickelt.“ (Ahnert, 2010, S. 53)
55
60
65
70
Bindungstypen
sicher gebundene
Kinder
unsichervermeidend
gebundene Kinder
unsicherambivalent
gebundene Kinder
unsicherdesorganisiert
gebundene Kinder
4.Die Merkmale des pädagogischen Bezugs nach Herman Nohl
5
10
Der pädagogische Bezug wird nach Herman
Nohl durch sechs Merkmale bestimmt:
der Verwirklichung bestimmter wirtschaftli­
cher, politischer, persönlicher oder anderer
Interessen zu dienen haben. Erziehung hat in
jedem Augenblick nur dem Wohle des zu Er­
ziehenden zu dienen, die den jungen Menschen vor Inbeschlagnahme und M
­ anipulation
zu bewahren hat; sie hat Orientierungshilfe
zu sein, die dem zu Erziehenden im späteren
Leben Selbstbestimmung, Verantwortung
und relative Autonomie ermöglicht.
Erziehung geschieht um des zu Erziehenden w
­ illen.
Erziehung unterliegt historischem Wandel.
Kinder und Jugendliche dürfen in der Erziehung nicht zu Mitteln werden, die dem Zweck
Was als Wohl des zu Erziehenden anzusehen
ist, darüber muss unter den Eltern und a
­ nderen
Herman Nohl (1879–1960) war deutscher Pädagoge, Philosoph und Professor zunächst an
der Universität Jena, später in Göttingen.
Während des Nationalsozialismus durfte er
seine Professur nicht ausüben. Nohl war ein
Hauptvertreter der geisteswissenschaftlichen
Pädagogik (vgl. Kapitel 1.3.2).
15
20
25
49
Kapitel 9
Erziehern immer wieder neu diskutiert wer­den,
da sich Wert- und Normvorstellungen im Laufe
der Zeit immer wieder ändern und Erziehung
deshalb einem historischen Wandel unterliegt.
30
35
Das pädagogische Verhältnis ist ein Verhältnis
der Wechsel­wirkung.
Die Beziehung zwischen Erzieher und zu Erziehendem darf nicht als einseitiges Beeinflussungsverhältnis aufgefasst werden, in welchem
der Erwachsene auf einen nur ­aufnehmenden,
reagierenden jungen Menschen einwirkt; es ist
von vornherein ein Verhältnis der We­chsel­wir­
kung.
40
Das pädagogische Verhältnis kann nicht erzwungen werden.
45
Die Beziehung zwischen Erzieher und dem zu
Erziehenden muss auf Freiwilligkeit beruhen
und darf nicht durch Täuschung und Tricks
oder gar mit Zwang und Gewalt herbeigeführt
werden.
Das pädagogische Verhältnis strebt danach,
sich aufzulösen und überflüssig zu machen.
Erziehung hat vom ersten Tag an die Aufgabe,
den jungen Menschen selbstständig zu machen. Daraus ergibt sich als Forderung, dass
die Bindung des zu Erziehenden an den Erwachsenen von Anfang an als vorläufig betrachtet und auch so gestaltet werden muss,
dass der junge Mensch lernt, sich aus dieser
Beziehung schrittweise zu lösen sowie selbstständig und mündig zu werden.
50
55
Im pädagogischen Verhältnis akzeptiert der
Erzieher den zu Er­ziehenden und fördert ihn
nach seinen Möglichkeiten.
Der Erzieher muss seinen zu Erziehenden annehmen, so wie er ist, mit all seinen Schwächen und Fehlern, versucht aber alles irgend­
wie Mögliche zu tun, um ihn entsprechend
seinen Möglichkeiten optimal zu fördern.
(vgl. Klafki u. a., Band 1, 1986, S. 58–65)
60
50
Kapitel 10
Materialien Kapitel 10
1. Belohnung vermeiden
5
10
15
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25
Kinder brauchen keine Bestechung, um gut zu
sein. Sie wollen selber gut sein. Gutes Benehmen des Kindes resultiert aus dem Bestreben
dazuzugehören, nützliche Beiträge zu leisten
und mitzuarbeiten. Bezahlen wir ein Kind für
gutes Betragen, zeigen wir ihm nur, dass wir
seinen guten Absichten nicht trauen. Das ist
aber eine Form der Entmutigung.
Belohnung gibt einem Kind nicht das Gefühl
des Dazugehörens. Sie kann ein Zeichen elterlicher Anerkennung sein, aber nur für einen
Augenblick. Und dann? Sind Vater und Mutter
immer noch mit mir einverstanden? Wenn wir
an die Zahl der Augenblicke denken, haben
wir bald keine Belohnung mehr zur Verfügung. Geben wir aber keine besondere Belohnung, glaubt das Kind, seine Bemühungen
verschwendet zu haben. Eltern sehen sich
einem ernsthaften Problem gegenüber, wenn
das Kind sich weigert, mitzuarbeiten, weil es
auf die Frage „Was schaut für mich dabei he­
raus?“ keine Antwort erhält. Warum sollte es
sich bemühen, wenn es nichts dafür bekommt? Und so entwickelt sich diese materielle Einstellung mehr und mehr – es wird unmöglich, den Appetit nach Bereicherung zu
befriedigen. Ein völlig falscher Weg wurde
festgelegt, schließlich nimmt der Jugendliche
an, dass die Welt ihm alles schuldet. Wenn
nicht automatisch etwas dabei herausschaut,
wird er es „ihnen schon zeigen“. Das ist das
Gefühl des Achtzehnjährigen, in dessen Wertsystem die Befolgung von Verkehrs- und
Geschwindigkeitsregeln keinen Raum hat.
­
Warum sollte er ihnen gehorchen? Wo ist die
Belohnung? Er hat seinen Wagen. Es macht
Spaß, möglichst viel Aufregendes zu erlernen
und zu zeigen, was für ein toller Kerl man ist,
wenn man tut, was man will, und dabei nicht
geschnappt wird. Und falls man gefasst und
bestraft wird? Die Aufregung ist es wert. Vater
wird auf jeden Fall bezahlen.
Das ist die Wirkung von Belohnung und Bestrafung: „Sie haben mir dafür nichts gegeben, ich werde sie dafür bestrafen. Wenn sie
mich bestrafen, werde ich mich rächen. Ich
werde es ihnen schon zeigen.“
Befriedigung verschafft Beitragen und Mitwirken – ein Gefühl, das unseren Kindern im
System der materiellen Belohnung verwehrt
ist. Mit unseren fehlerhaften Bemühungen,
Mitarbeit durch Bezahlung zu erreichen, versagen wir unseren Kindern die grundlegenden Befriedigungen des Lebens.
30
35
40
45
50
Quelle: Dreikurs/Soltz, 201218, S. 88 f.
2. Ich-Botschaften und das aktive Zuhören
5
10
Thomas Gordon (2014, S. 88) schlägt als Alternative zum Lob bzw. zur Belohnung IchBotschaften und ein aktives Zuhören vor.
Ich-Botschaften sind Äußerungen eines
Menschen, die persönliche Empfindungen,
Gefühle, Bedürfnisse und dergleichen ausdrücken. Dadurch teilt der Erzieher dem zu
Erziehenden mit, was er fühlt und denkt und
welche Wirkung das Verhalten des Kindes bei
ihm ausgelöst hat. Der zu Erziehende erfährt
bei Ich-Botschaften, welche Wirkung sein
Verhalten beim Erzieher hat, jedoch ohne sich
bewertet zu fühlen; er kann sein (Fehl-)Ver-
halten selbst beurteilen und die Verantwortung dafür übernehmen.
Aktives Zuhören ist nach Otto Marmet (20144,
S. 93) eine Haltung, die sich in folgenden
­Eigenschaften äußert:
−− sich auf den anderen einstellen und aufmerksam verfolgen, was er zu sagen hat
−− Bereitschaft zum Zuhören signalisieren,
welche sich in nonverbalen Signalen wie
zum Beispiel Kopfnicken, zugewandter
freundlicher Blick oder das Hinwenden des
Körpers ausdrückt
15
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51
Kapitel 10
30
−− schweigen können und abwarten, bis der
andere ausgesprochen hat, auch wenn
man glaubt, ihn schon verstanden zu
haben
−− sich in seine Welt einfühlen und sich mit
dem befassen, was er kundtun will
Das Zuhören zeigt dem zu Erziehenden, welche Gefühle der Erzieher an ihm wahrnimmt;
er fühlt sich besser verstanden und weiß,
dass seine Gefühle akzeptiert werden.
35
„Ein gutes Gespräch besteht zur H
­ älfte
(Ernst Ferstl1)
aus Zuhören.“
Quelle: Hobmair, 2009, S. 115
3. Logische Konsequenzen
5
10
Entscheidend sind dann logische Konsequenzen. Also nicht nur zu reden und womöglich
das Gesagte auch noch ständig mit drohendem Unterton zu wiederholen, sondern zu
handeln. Etwa anzukündigen, dass man den
Geschwistern das Puzzle wegnimmt, wenn sie
weiterhin ständig beim Spielen streiten. Und
dies nach ein paar Sekunden Wartezeit dann
auch zu tun. [...] Beschreiben Sie zunächst das
Problem: „Du hast den Hund nicht gefüttert,
obwohl es vereinbart war.“ Und dann die Konsequenz, über die Sie das Kind schon im Vorfeld informiert haben: „Dafür gehst Du heute
Abend 30 Minuten eher ins Bett.“ [...] Diskutieren Sie diese Entscheidung nicht, sondern setzen Sie sie ruhig und bestimmt um. Das ist
ganz wichtig: Man darf Konsequenzen nicht
nur androhen, denn Kinder lernen sehr schnell,
Drohungen zu ignorieren, wenn daraus nichts
folgt. [...] Und jede Inkonsequenz in der Umsetzung erschwert es Kindern, einzuschätzen,
was Eltern von ihnen wollen. Konsequenz hingegen führt dazu, dass sie die Verantwortung
für ihr Handeln übernehmen können.
15
20
Quelle: Hahlweg, 2014, S. 29 f.
4. Kinder lernen im Spiel
5
10
15
Der vierjährige David zieht einen schweren,
weit verzweigten Ast hinter sich her. Er
nimmt die gesamte Breite des Waldweges
ein, Wald sammelt sich an den Zweigen.
[...] Dabei kommentiert er sein Handeln:
„Ich zieh den Rasenmäher jetzt hier. Der ist
ganz schön schwer, aber ich kann das.“
Sein älterer Bruder Jonathan [...] wird einbezogen: „Jonathan, mach mal Platz, ich
muss weiterlaufen. Hol dir doch auch einen
Rasenmäher. [...]“
Kinder spielen im Wald. Nicht weiter vertiefenswert – oder vielleicht doch? Was können wir beobachten? David ist körperlich
aktiv. Es kostet ihn viel Anstrengung, aber er
hört nicht auf, denn offensichtlich ist es für
ihn sinnvoll, einen Ast durch den Wald zu
schleifen. Die Erlebnisse mit seinem Onkel
baut er in sein Spiel ein. Er macht sich zum
1
Hauptakteur. Seinem Bruder Jonathan erklärt
er, was dieser zu tun hat. Sie führen ein Fachgespräch über die Beschaffenheit ihrer Rasenmäher. David will nicht aufgeben, aber er
merkt, dass sein Rasenmäher allmählich
schwer wird. Also fordert er die Erzieherin auf,
ihn zu unterstützen. Die drei Spielpartner gestalten nun ihr gemeinsames Handeln unter
der Regie von David und führen Gespräche
über Vergangenes und Zukünftiges.
20
Kinder im Kindergarten nehmen sich nicht bewusst vor, ihren Wortschatz zu erweitern oder
ihren Umgang mit anderen Kindern zu trainieren, um sozial kompetent zu werden. Trotzdem lernen sie es: Sie lernen es beiläufig
während des Handelns. Indem sie ihre Umgebung mit allen Sinnen erkunden, alle Möglichkeiten ausprobieren und in Aktion treten, erfahren sie etwas über sich und die Welt. Sie
30
Ernst Ferstl (*1955) ist ein österreichischer Autor von Gedichten und Aphorismen.
25
35
52
Kapitel 10
eignen sich nach und nach Fertigkeiten an,
um in dieser Welt zurechtzukommen, selbstständig und eigenverantwortlich zu agieren.
Und sie können im Spiel auch belastende
Themen verarbeiten und erleben dadurch,
dass Situationen zu bewältigen sind. Doch
was macht diese Szene für David und die beiden anderen Mitakteure so wertvoll? David
lernt, denn er setzt sich intensiv mit verschiedenen Themen auseinander und eignet sich
dabei sein Welt-Wissen an.
Quelle: Evanschitzky, 2013, S. 8 f.
40
45
Kapitel 11
Materialien Kapitel 11
1. Nutzung von Medien
www.mpfs.de
Geräte-Ausstattung im Haushalt 2014 (Auswahl)
100
100
Handy
99
99
Computer/Laptop
98
97
Fernseher
98
97
Internetzugang
94
Smartphone
81
91
90
Radio
90
91
Digitalkamera
77
MP3-Player
83
72
Feste Spielkonsole
76
62
64
DVD-Player (nicht PC)
58
59
Tragb. Spielkonsole
2014, n=1.200
52
DVD-Rekorder
2013, n=1.200
57
48
Tablet-PC
36
40
DVD-Rekorder mit Festplatte
37
0
25
50
75
100
Quelle: JIM 2014, JIM 2013, Angaben in Prozent
Basis: alle Befragten
Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de
www.mpfs.de
Gerätebesitz Jugendlicher 2014
99
Handy
96
91
92
90
Internetzugang
Smartphone
87
73
Computer/Laptop
78
71
MP3-Player
61
55
Fernsehgerät
58
58
Radio
53
Mädchen
64
Digitalkamera
Jungen
42
49
Tragb. Spielkonsole
46
34
Feste Spielkonsole
56
23
22
DVD-Player (nicht PC)
20
21
Tablet-PC
18
16
DVD-Rekorder ohne Festplatte
5
DVD-Rekorder mit Festplatte
8
0
25
50
75
100
Quelle: JIM 2014, Angaben in Prozent
Basis: alle Befragten, n=1.200
Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de
53
54
Kapitel 11
www.mpfs.de
Medienbeschäftigung in der Freizeit 2014
Internet*
81
Handy
13
87
Fernsehen*
6
57
MP3
26
59
Radio*
18
53
Digitale Fotos machen
20
25
Musik-CDs/-kassetten
27
30
Computer-/Konsolen-/Onlinespiele
16
20
Bücher
25
22
Tageszeitung
18
DVD/Video
Computer (offline)
22
11
14
8
Tageszeitung (online)
7
Zeitschriften (online)
6
Digitale Filme/Videos machen
3
Hörspielkassetten/-CDs
5
E-Books lesen
mehrmals pro Woche
14
10
Zeitschriften/Magazine
täglich
18
13
7
7
8
6
3 2
Kino 1
0
25
50
75
100
Quelle: JIM 2014, Angaben in Prozent; *egal über welchen Verbreitungsweg
Basis: alle Befragten, n=1.200
Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de
www.mpfs.de
Wege der Internetnutzung 2012 - 2014
- in den letzten 14 Tagen 86
Handy/Smartphone
73
49
82
Computer/Laptop
87
96
22
Tablet-PC
12
8
2014 (n=1.163)
12
Spielkonsole
2013 (n=1.138)
7
7
2012 (n=1.154)
2
MP3-Player/iPod
4
7
5
Fernseher
3
2
0
25
50
75
100
Quelle: JIM 2012 - JIM 2014, Angaben in Prozent
Basis: Befragte, die mind. alle 14 Tage das Internet nutzen
Quelle: JIM-Studie 2014, Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de
55
Kapitel 11
Klick-Clique
Smartphone-NutZer werden immer jünger, die derate
prägen spätestens von der fünften Klasse an die Kindheit.
Ohne klare Regeln der Eltern ist das riskant
5
10
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40
Für ein Kind im Jahr 2015 ist es anscheinend
so: Entweder man liest die äußerst schwer
auffindbaren Allgemeinen Geschäftsbedingungen im Handy – und stellt dann fest, dass
man das Chat-Programm Whatsapp gar nicht
installieren darf, weil man noch nicht 16 Jahre
alt ist. Oder man pfeift drauf und beginnt
munter zu chatten. Mit Freunden, Fremden
oder den Jungen aus der letZten Reihe, die
über Whatsapp auch solche Videos ver­
schicken, die ein flaues Gefühl im Magen auslösen und die man zu Hause nie sehen dürfte.
Wer hätte es gedacht: Der Nachwuchs entscheidet sich in aller Regel für die zweite
Möglichkeit. 82 Prozent aller Kinder, die ein
Handy mit Apps besitzen, haben Whatsapp installiert.
Das belegt eine Untersuchung, die sogenannte
KIM-Studie 2014, zum Umgang von sechs- bis
13-jährigen Kindern mit Medien, die der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest kommende Woche veröffentlicht. 1200
Kinder und ihre Eltern wurden befragt. Die
Studie zeigt deutlich, dass Smartphones inzwischen von immer jüngeren Kindern genutzt
werden – jene Handymodelle bieten. Der Anteil der Sechs- bis 13-Jährigen, die ein Smartphone haben, ist innerhalb der vergangenen
zwei Jahre von sieben auf 25 Prozent gestiegen.
Innerhalb dieser Gruppe sin des die älteren,
die Fünftklässler, die richtig loslegen – unter
den Zwölfjährigen hat heute fast jeder ein
Handy, die Hälfte ein Smartphone. Wer
­gerade erst eingeschult wurde, besitzt laut der
Studie eher noch kein Gerät, viele ältere
Grundschüler müssen mit wenig opulenten
Modellen, oft den alten Handys der Eltern,
vorliebnehmen.
Dabei ist ein eigenes Gerät nicht nur der
Wunsch vieler Kinder, sondern häufig auch
einer der Eltern. Das vermutet Sabine Feierabend von der SWR-Medienforschung, die
an der Studie beteiligt war. Je größer der Aktionsradius eines Kindes wird, desto wichtiger ist eine gute Erreichbarkeit für Eltern –
denn sie bietet ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Der Sprung zum Smartphone, der oft
zeitlich mit dem Wechsel auf eine weiterführende Schule zusammenfällt, ist allerdings
Segen und Fluch. Möglich wird dadurch
nämlich nicht nur der brave Anruf bei den
besorgten Eltern, sondern auch die besagte
Whatsapp-Kommunikation und jeder Blödsinn, der im Internet vorhanden ist. Und
davon gibt es seine ganze Menge.
Spätestens dann sind im Elternhaus Gespräche angebracht über die Risiken des Alleskönners in der Hosentasche. Neben den Inhalten, die auf die Kinder einströmen, von
anderen Schülern, von Facebook, Twitter
und Instagram, muss es auch um die Daten
gehen, die Kinder selbst zurück ins Netz schicken. Die meisten Apps und Handys sind
neugierig und interessieren sich für die Aufenthaltsorte und Bewegungen der Nutzer –
die Technik macht dabei keinen Unterschied
zwischen Erwachsenen und Kindern. Angebote wie schau-hin info helfen mit Rat; so
sollten Eltern und Kinder etwa gemeinsam
die Einstellungen zum Datenschutz festlegen.
Ein Anfang. Man muss ja nicht gleich verlangen, dass der Nachwuchs die Allgemeinen
Geschäftsbedingungen liest.
JULIANE VON WEDEMEYER
Quelle: von Wedemeyer, 2015, S. 1
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60
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56
Kapitel 11
2.Wenn Kinder im Netz verletzt werden: Gefahr Cybermobbing
Üble Nachrede, Beleidigungen und Nacktbilder im Internet — Experten
informierten über die Quälerei im virtuellen Raum und deren reale F
­ olgen
VON ULRIKE LÖW
5
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20
25
30
Die Gefahr, im NetZ schikaniert zu warden, ist gerade für Kinder und
Jugendliche groß: Eine Diskussionsrunde informierte über Cybermobbing.
Sachverstand auf der Bühne, eine gut gefüllte Aula im
Fürther Helene-Lange-Gymnasium, eine engagierte Diskussion, kompetent geleitet von Redakteur Johannes
Alles – der ­Besuch der Veranstaltung, organisiert von
der Schule, dem Elternbeirat sowie dem Fürther Sicherheitsbeirat, lohnte.
Der traurige Fakt: Im Internet geht Beleidigen besonders leicht und weil viele Teenager Computer und
Smartphones besitzen, holt sie der Stress vom Schulhof auch zu Hause ein.
Klaus Lutz, Pädagoge und Medienfachberater des Bezirks Mittelfranken, will Cybermobbing nicht als eigenständiges Phänomen – in Abgrenzung zu Mobbing –
sehen: Spannungen zwischen Schülern stammen aus
dem echten Leben, und so wird morgens in der Schule
und nachmittags eben im Netz gepöbelt, schließlich
kennen sich Opfer und Täter meist. Er schildert, wie in
einer Klasse ein Streit begann, als zwei Schüler heimlich
spickten. Ein Dritter ärgerte sich und lief petzend zum
Lehrer – die Schüler wurden bestraft, der Streber später
von Klassenkameraden beschimpft. Als ihn auch zu
Hause feindselige Nachrichten auf dem Handy erreichten, schlugen seine Eltern bei der Cybermobbing wurde
der Klasse der Ausflug ins Schullandheim gestrichen.
Lutz kritisiert: Häufig nehmen Erwachsene nur die
Spitze des Eisberges wahr, dabei müsse die ganze Geschichte gesehen werden. Herrsche an der Schule ein
respektvolles Klima, übertrage sich dies auch in die
Freizeit und die Dialoge im Chat.
Solche Konflikte sind freilich nicht neu, doch neu ist,
dass fiese Schmähungen im Internet ständig und von
jedem zu lesen sind – und nur schwer wieder zu tilgen.
„Cybermobbing“, so Gernot Rochholz, V
­ ize-Chef der
Polizeiinspektion Fürth, „ist kein Straftatbestand“ –
aber in Cybermobbing vereinigen sich einzelne Straftaten. Meist sei den Jugendlichen nicht einmal bewusst,
dass böse Sprüche im Chat mit harmlosen Blödeleien
nichts gemein haben. Beleidigung, üble Nachrede, Bedrohung – und immer wieder ist von Kinderpornografie die Rede, wenn die Vorwürfe Akten füllen und auf
dem Schreibtisch von Staatsanwalt Matthias Engelhardt landen. Es sei regelrecht ein Trend, dass sich Jugendliche, quasi als Vertrauensbeweis, Nacktbilder
schicken, sagt er. Nicht selten landen die Bilder im Netz.
Mit dramatischen Folgen für die Opfer, weiß Kurt Stiermann von der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Er
schildert, wie ein Mädchen, nachdem ihr Nachtfoto veröffentlicht wurde, wochenlang online attackiert wurde:
„Sie hat nicht mehr gegessen, sie fing an, sich zu ritzen.
Erst dann wurden ihre Eltern aufmerksam.“
Was also tun gegen Cybermobbing? Ist es sinnvoll,
das Handy der eigenen Kinder zu prüfen? Jurist Engelhardt weiß, dass es häufig die Kontrollen wohlmeinender Eltern sind, die Straftäter auffliegen lassen.
Doch Pädagoge Lutz warnt vor derartigen Tabubrüchen und empfiehlt offene Gespräche: Wer nicht sicher sei, verhindern zu können, dass der Nachwuchs
Aktfotos verschickt, könne zumindest dazu raten,
dabei das eigene Gesicht nicht zu zeigen. Und hat das
Kind in der virtuellen Welt Mist gebaut, solle man
nach Lösungen suchen, statt das Kind abzukanzeln.
Darin steckt eine gute Nachricht: Denn dies meint
auch, dass Eltern den irrsinnigen technischen Fortschritt nicht verstehen müssen, um Verständnis für
ihre Kinder zu haben.
Ebenfalls gut: In Kooperation mit dem Weißen Ring werden an der Helene-Lange-Schule Medienscouts ausgebildet, die ihre Mitschüler über Stolpersteine im Internet
aufklären sollen. So können sich Betroffene auch Gleichaltrigen anvertrauen.
Quelle: Löw, 2015, S. 14
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60
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Kapitel 11
Risiken
Chancen
3.Kategorisierung von Chancen und Risiken der Internetnutzung
»Content«
Kind als Rezipient
»Contact«
Kind als Teilnehmer
»Conduct«
Kind als Akteur
Bildung, Lernen und
digitale Kompetenz
Bildungsressourcen
Kontakt mit Gleichgesinnten
Eigeninitiative oder
gemeinsames Lernen
Teilnahme und
soziales Engagement
Allgemeine Informationen
Austausch in Interesensgruppen
Konkrete Formen sozialen
Engagements
Kreativität und
Selbstdarstellung
Ressourcenvielfalt
Eingeladen/inspiriert
werden, kreativ zu sein oder
mitzumachen
Erstellung von benutzergenerierten Inhalten
Identität und soziale
Beziehungen
Bertung (Persönliches/
Gesundheit/Sexualleben
usw.)
Soziale Netzwerke,
Erfahrungen mit anderen
teilen
Ausdruck eigener Identität
Kommerzielle
Interessen
Werbung, Spam,
Sponsoring
Verfolgung/Sammlung von
persönlichen Informationen
Glücksspiel, illegale
Downloads, Hacken
Aggression/Gewalt
Gewaltverherrlichende/
grausame/volksverhetzende Inhalte
Mobbing, Belästigung oder
Stalking
Andere mobben oder
belästigen
Sexualität
Pornografische/
schädliche Inhalte
Treffen mit Fremden,
missbräuchliche Annäherungsversuche
Erstellen/Hochladen von
pornografischem Material
Werte
Rassistische/verzerrte
Information/Raschläge
(z. B. Werbung für
Drogen)
Selbstverletzung,
­ungewolltes Zureden/
Überredung
Ratschläge z. B. zu
Selbstmord/Magersucht
geben
Quelle: Lampert, 2014, S. 433
4. Fernsehzeiten für Kinder
Im Vorschulalter höchstens eine halbe Stunde am Tag
Für die täglichen Fernsehzeiten gelten folgende Empfehlungen:
5
–bis 3 Jahre: kein Fernsehen, höchstens im
Ausnahmefall;
–3 bis 5 Jahre: maximal eine halbe Stunde;
–5 bis 7 Jahre: maximal 45 Minuten;
–8 bis 10 Jahre: maximal eine Stunde;
–10 bis 12 Jahre: maximal 90 Minuten;
10
–12 bis 14 Jahre: maximal 100 Minuten;
–ab 14 Jahre: maximal zwei Stunden.
Was sonst noch wichtig ist:
1.
Sorgen Sie für genügend Ausgleichszeiten. Faustregel: So lange wie ein Kind
fernsieht, so viel Zeit sollte es auch mit
Bewegung oder Spielen verbringen.
2.Kein Fernsehen morgens vor der Schule
beziehungsweise vor dem Kindergarten.
3.Kinder unter 14 Jahren brauchen keinen
Fernseher in ihrem Zimmer.
4.Der Fernsehraum sollte nicht dunkel sein,
sondern so hell, dass bei dem Licht auch
noch gelesen werden könnte.
5.Der Gebrauch des Fernsehers sollte sich
unserem Tagesrhythmus anpassen, nicht
umgekehrt.
Quelle: Donaukurier Nr. 62, 13.03.2008, S. 45
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58
Kapitel 12
Materialien Kapitel 12
1. Kinder im „Staatsbesitz“?
5
10
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20
25
Um es gleich vorab zu sagen: Kinderkrippen
wurden geschaffen, um die Bedürfnisse von
Familien zu erfüllen, in denen beide Elternteile
arbeiten wollen oder müssen, und sie dienen
zugleich dem wachsenden Bedarf der
­Gesellschaft und der Wirtschaft an Erwerbstätigen. Sie wurden nicht eingerichtet, um die
Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen. Dennoch
ist es vielen Ländern gelungen, die Qualität
dieser Institutionen so weiterzuentwickeln,
dass sie den Entwicklungsbedürfnissen der
Kinder Rechnung tragen. Man sollte auch
nicht vergessen, dass etwa zehn Prozent aller
Kinder, die Krippen und Kindergärten besuchen, von diesen Institutionen allein deshalb
profitieren – und vielleicht auch eine etwas
glücklichere Kindheit haben –, weil ihnen auf
diese Weise ermöglicht wird, bis zu zehn
Stunden unter der Woche von ihren dysfunktionalen Familien getrennt zu sein.
Politisches Ziel der EU und anderer politischer
Organisationen wie etwa der OECD1 ist es
heute, so viele Kinder im Alter von 1 bis 6
Jahren wie möglich in Tageseinrichtungen
­
unterzubringen, was für mich eher einer
1
2
Zwangsmaßnahme gleichkommt und mit demokratischen Gepflogenheiten nichts zu tun
hat. Die Argumentation ist eindeutig, die Absicht leicht zu durchschauen: Es geht um das
politische Interesse des jeweiligen Landes, 30
ökonomisch mit anderen Ländern Schritt zu
halten und konkurrieren zu können. Weshalb
es notwendig ist, dass Eltern bereits kurze Zeit
nach der Geburt wieder produktiv arbeiten
können und wir deshalb die Kinderbetreuung 35
am besten gleich in eine fünfjährige Vorschulzeit umwandeln. Das erinnert sehr an die Zeit
der frühen Industrialisierung, als die Fabrikbesitzer von einer direkten Verknüpfung zwischen Mensch und Maschine geträumt haben. 40
Kinder werden zu Investitionsobjekten, und
wie bei jeder beliebigen Investition muss auch
diese für den Investor profitabel sein! Die
„Empfehlungen“ der EU sind natürlich schöner
verpackt und präsentieren sich in einer ganz 45
anderen Sprache, aber die Zielvorgabe ist
glasklar.
Das wirft eine wichtige Frage auf: Gehören
die Kinder dem Staat oder ihren Eltern? Natürlich gehören sie niemandem, nur sich 50
selbst, aber wen interessiert das schon! Es
bleibt abzuwarten, ob es den Politikern gelingt, die Eltern davon zu überzeugen, sich
diesem Industrialisierungsmodell anzupassen. Unsere historischen Erfahrungen mit Kin- 55
dern in „Staatsbesitz“, die in ideologisch fundierten, pädagogisch konformen Tageseinrichtungen großgezogen wurden, sind nicht gerade vielversprechend – um nicht zu sagen
beängstigend. Wie zum Beispiel die Einrichtun- 60
gen in der ehemaligen Sowjetunion, der DDR
oder das Konzept der israelischen K
­ ibbuzim2.
Juul, 20122, S. 5 ff.
ECD (engl.: Organisation for Economic Cooperation and Development): Organisation für wirtO
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Kibbuz(im) (hebr.) bezeichnet eine ländliche Gemeinschaftssiedlung vorwiegend in Israel mit
kollektiver Wirtschaft und gemeinsamen Eigentum (vgl. Hobmair, 2009, S. 263).
59
Kapitel 12
2.Probleme der erzieherischen Arbeit in Kindertagesstätten
a) Probleme der Krippenerziehung
5
10
Die Diskussion um die Betreuung in Kinderkrippen wird sehr ideologisch geführt. „Es ist
ein Glaubenskrieg“, stellen Andrea Brandt
u. a. (2008, S. 42) fest und schreiben weiter,
dass jeder sein eigenes Lebensmodell rechtfertigen möchte.
Ein Problem von Kinderkrippen kann die Instabilität in der Betreuung, wie zum Beispiel
Krankheitsausfälle oder Urlaub des Personals, sein. Oder die Einrichtung bietet keine
optimalen Bedingungen.
Nur drei Prozent der Kinderkrippen in
Deutschland werden laut einer Studie für gut
befunden (vgl. Bartsch u. a., 2013, S. 23).
15
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25
30
35
Zu einer Schwierigkeit kann es auch kommen,
wenn das Kleinkind als Voraussetzung eine
unsichere Bindung mitbringt oder die Eingewöhnungszeit nicht ausreichend ist. Sie wird
nach Wilfried Datler vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien völlig falsch eingeschätzt und Lieselotte Ahnert,
renommierte Bildungsforscherin, ebenfalls an
der Universität Wien, appelliert: „Nehmt euch
genug Zeit für die Eingewöhnung!“ (Ahnert,
2013, S. 16).
Eine Studie ergab, dass es mit den vorhandenen Betreuungsangeboten nicht gelingt, die
Chancengleichheit zu erhöhen und bildungsferne Schichten zu unterstützen. Die Unterstützung nützt vor allem den gut gebildeten
Mittel- oder Oberschichtsfamilien (vgl. Bartsch
u. a., 2013, S. 23). Viele Eltern aus unterprivilegierten Schichten können die Kosten für
eine Kindertagesstätte nicht aufbringen, sodass gerade diejenigen Kinder, die von ihr am
meisten profitieren könnten, diese nicht besuchen können.
40
b) P
robleme der erzieherischen Arbeit im
Kindergarten
45
−− Probleme können entstehen, wenn sich die
Erwartungen des Träger des Kindergartens
und der Erziehungsberechtigten widersprechen.
−− Probleme können auch entstehen, wenn
1
vgl. Kapitel 10.4.4
die Weltanschauung des Personals bzw.
des Träger und die der Erziehungsberechtigten stark voneinander abweichen, sodass eine sinnvolle Zusammenarbeit zum
Wohle des Kindes kaum mehr möglich ist.
−− Das Elternengagement und das Interesse
der Eltern am Kindergarten sind nicht immer
befriedigend; Erzieherinnen beklagen sich
oft über mangelndes Interesse der Eltern
oder über nur mäßig besuchte ­Elternabende.
Die Praxis in vielen Kindergärten belegt,
dass Elternabende oder ähnliche Veranstaltungen von den Eltern besucht werden, die
sich in der Regel viele Gedanken über die Erziehung ihrer Kinder machen. Gerade Eltern,
bei deren Kindern Probleme wie zum Beispiel
Sprachstörungen oder Kontaktschwierigkeiten auftreten, erscheinen nur selten.
−− Viele Eltern verlangen von ihren Kindern im
Vorschulalter schulische Leistungen in Unkenntnis darüber, dass das freie Spiel das
Kind mehr fördert als geplante Aktivitäten.
Ein Spiel selbst zu gestalten, fordert und fördert das sich entwickelnde Gehirn ungleich
mehr, als vorgegebene Regeln zu übernehmen.1 Wissenschaftler und der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte warnen
deshalb auch davor, Kindergartenkinder mit
Vorschulangeboten zu überfordern.
„Nichts kann das Kind in seiner Entwicklung beschleunigen. Und nichts kann das
Kind in seiner Entwicklung verbessern. Alles
passiert von selbst. Man kann das Rattenrennen ums Superkind getrost absagen.“
(Largo, in: Kullmann, 2009, S. 47, online abruf-
50
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65
70
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80
bar unter; http://www.spiegel.de/spiegel/print/
d-66284679.html)
−− Probleme können sich auch ergeben, wenn
im Kindergarten ein anderer Erziehungsstil
angewandt wird als im Elternhaus.
−− Mögliche Defizite, die sich aus der unterschiedlichen Herkunft der Kinder mit ihren
unterschiedlichen Voraussetzungen ergeben können, werden Erzieherinnen in den
seltensten Fällen ausgleichen können.
Folglich kann bei Schuleintritt nicht von
Chancengleichheit gesprochen werden.
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Kapitel 12
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−− Eine weitere Grenze der pädagogischen
Arbeit im Kindergarten liegt in den sehr
großen Kindergartengruppen. Häufig besuchen 20 bis 25 Kinder – teils sogar
mehr – eine Kindergartengruppe, die in der
Regel nur von einer Erzieherin und einer
Kinderpflegerin betreut wird.
−− Die Träger der meisten Kindergärten in der
Bundesrepublik Deutschland sind die Kirchen;
jedoch besuchen auch viele ausländische Kinder den Kindergarten, deren Grundsätze,
auch aufgrund ihres Glaubens (zum Beispiel
bei Muslimen), von denen der christlichen
Kirchen in manchen P
­ unkten abweichen.
−− Vor allem viele ausländische Kinder haben
keine ausreichende Kenntnis der deutschen
Sprache; es treten Sprachprobleme auf.
−− Verhaltensauffällige bzw. „schwierige“
Kinder überfordern häufig die Erzieher. Die
Erzieher und Kinderpfleger sind jedoch
verpflichtet, sich um alle Kinder ihrer Gruppe zu kümmern. Die Grenze der pädagogischen Arbeit im Kindergarten ist dort, wo
sonderpädagogische Maßnahmen notwendig wären. Eine solche Arbeit kann der
Kindergarten jedoch nicht leisten.
110
115
3. Probleme der schulischen Arbeit
5
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Keine erzieherische Einrichtung zieht so viel
Kritik auf sich und ist mit Problemen erzieherischer Arbeit behaftet wie gerade die Schule.
Jede Schulart hat ihre spezifischen Probleme.
Streitfragen wie beispielsweise die hierarchische Struktur der Schule und ihre zunehmende Bürokratisierung, „Mammutschulen“, zu
wenig Lehrkräfte, zu große Klassen, zu viele
Hausaufgaben für die Schüler, immer mehr
Unterricht am Nachmittag, mit Lerninhalten
überfrachtete Lehrpläne, häufiger Stundenausfall oder unzureichende Förderung von
benachteiligten Kindern sind hinlänglich bekannt. Nur auf einige Probleme kann näher
eingegangen werden:
−− Die Hauptschule hat vor allem in den
Städten einen schlechten Ruf und taucht
in den Medien gelegentlich mit dem
Schlagwort „Restschule“ oder „Sackgasse” auf. Ungleiche Chancen vor allem von
Unterschichtskindern,
schlechte
Zukunftsaussichten der Jugendlichen auf
dem Arbeitsmarkt, eine mangelnde Integration von Schülern mit Migrationshintergrund oder Probleme in der Familie
machen Hauptschulen zu „Brennpunktschulen“. Manche namhafte Pädagogen
fordern inzwischen die „Abschaffung der
Hauptschule“ – so auch die OECD1, die
eine Zusammenlegung von Haupt- und
Realschule anmahnt – oder benennen die
Hauptschule um, etwa in ­
Mittelschule.
Doch der Professor für Schultheorie und
-forschung, Dr. Achim Leschinsky (2008,
1
S. 399) meint hierzu: „Ein Ende vielleicht
der Hauptschule, aber nicht des
­Problems“.
„Keine Schule wird allein dadurch besser,
dass man die Klassen mischt und am Eingang ein neues Schild aufhängt.“
(Dahlkamp u. a., 2009, S. 145)
−− Schule orientiert sich primär an der Mittelschicht, sodass diejenigen Kinder „bevorzugt“ werden, die aus diesem Milieu kommen. Kinder aus unteren Schichten haben
es schwerer, vor allem in einer höheren
Schule mitzukommen (vgl. Giesecke, 2009,
S. 90 f.).
−− Oft geben Lehrer der Selektion Vorrang
gegenüber der Förderung von Kindern und
Jugendlichen. Oftmals ist dies „von oben“
erwünscht.
−− Auch die frühe „Qual der Schulwahl” nach
der 4. Jahrgangsstufe wird heftig kritisiert,
da Schule in vielen Bundesländern damit
mehr und mehr zum Ausleseinstrument
wird und bei den Kindern die Angst erzeugt
zu versagen. Oft kann nach vier Schuljahren noch gar keine fundierte Entscheidung
für den weiteren schulischen Weg des Kindes getroffen werden.
−− Viele Bundesländer haben die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre verkürzt und
das Abitur wird bereits nach der 12. Jahrgangsstufe abgelegt. Man spricht vom G8,
welches wegen der sehr hohen Stunden-
arl Theodor Jaspers (1883–1969) war deutscher Psychiater, der als Philosoph weit über DeutschC
land hinaus bekannt wurde. Er galt als herausragender Vertreter der Existenzphilosophie
35
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Kapitel 12
zahl und der immensen Stofffülle in Kritik
geraten ist.
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−− Kritisiert wird heute mehrfach, dass
Schule nicht mehr in erster Linie der Bildung, sondern lediglich nur noch der
Ausbildung dient1. Der Jugendforscher
Bernhard Heinzlmaier meint, dass Lerninhalte seit Jahren nach ihrer Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt ausgewählt
werden, echte Bildung bliebe auf der
Strecke. Der Verzicht auf sie werde die
demokratische Grundordnung gefährden,
weil politische Urteilsfähigkeit und Kritikfähigkeit fehlten. Kinder werden so zu unkritischen und angepassten Lernmaschinen erzogen, die in das vorhandene Wirtschaftssystem eingepasst werden. Hierzu
hat vor allem PISA beigetragen2. Bildung
darf jedoch nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen werden,
sondern dient in erster Linie der Ausgestaltung des Menschseins, die Zeit benötigt. Diesem Gesichtspunkt muss die
Schule Rechnung tragen.
„Nicht Menschen werden [in der Schule]
erzogen, sondern ‚Humankapital‘3 herge(Wieczorek, 2009, S. 264)
stellt.“ 1
−− Ausgelöst durch PISA4 hat sich eine inzwischen wieder aufgeflammte, unversöhnliche Diskussion um die richtige Schulform
entfacht, die sehr ideologisch geführt wird
und mehr an einen „Glaubenskrieg“ erinnert. Dabei steht die Art des Schulsystems
im Mittelpunkt des Streits (mehrgliedriges
Schulsystem auf der einen und Gesamtbzw. Einheitsschule auf der anderen
Seite).3 Vertreter dieser oder jener Schulform nehmen für sich in Anspruch, Kinder
in „ihrer“ Schulform optimal fördern zu
können und gleiche Bildungschancen zu
ermöglichen. Doch solche Äußerungen
sind mit Vorsicht zu genießen, da es zu
diesem Thema sehr widersprüchliche,
zum Teil auch methodisch fragwürdige
Untersuchungen gibt. Auch die PISA-Studie gibt hierüber keine wissenschaftlich
fundierte Auskunft. Generell ist nur die
Aussage möglich, „dass nicht die Schulform per se eine entscheidende Determinante der Schuleffektivität ist, sondern
die jeweilige Ausgestaltung der Lernkultur
in jeder einzelnen Schule“ (Köller, 2005,
S. 484).
−− Die Forderung nach Chancengleichheit in
der Schule brachte auch Probleme mit sich.
Es wird oft der Einwand vorgebracht, dass
Niveau und Bildungsqualität abgesenkt
würden und auch „Nicht Geeignete“ weiterführende Bildungseinrichtungen b
­ esuchen.
Nicht ganz unschuldig daran ist die OECD,
die immer wieder fordert, eine möglichst
hohe Abiturientenquote zu erreichen. Die
Grundschule wird deshalb immer mehr zu
einer Fabrik, die dazu da ist, „aus Kindern
Gymnasiasten zu machen“. Doch „der Zweck
der Grundschule ist nicht vorrangig die Herstellung zukünftiger Abiturienten“ (Goos,
2014, S. 50).
vgl. Kapitel 4.3.2
Man muss bedenken, dass PISA – so der der Journalist und Parteienforscher Thomas Wieczorek –
kein Vorhaben eines Humanistischen Bildungsvereins ist, sondern eines der Weltwirtschaftsorganisation OECD, die „Wachstum, Liberalisierung der Finanzmärkte sowie des Handels mit Gütern
und Dienstleistungen, außerdem Deregulierung und Privatisierung auf ihre Fahnen geschrieben“
hat (Wieczorek, 2009, S. 252).
3 Unter Humankapital wird der Wert der Qualifikation (Wissen, Fähigkeiten, Kenntnisse, Können und
dergleichen) einer Arbeitskraft für Gesellschaft und Unternehmen verstanden (vgl. Hobmair,
20143, S. 295).
4 siehe Abschnitt 12.3.3
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Kapitel 12
Doch solche Erscheinungen dürfen nicht
gegen die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit ausgespielt werden.
−− Es wird heute eine inklusiven Erziehung gefordert, die eine gemeinsame Erziehung
und Unterrichtung von allen Kindern und Jugendlichen von vornherein vorsieht1. Doch
die Lehrer sind hierfür (noch) gar nicht ausgebildet und überfordert. Auch die Rahmenbedingungen für ein inklusives Unterrichten
sind (noch) nicht gegeben. Festgestellt wird
dabei auch, dass die Schulen zwar inklusiv
werden sollen, Beeinträchtigte wie Menschen mit Behinderungen aber von den
Testungen wie PISA, TIMSS ausgeschlossen und ihre Leistungen in den Ergebnissen
nicht berücksichtigt werden (vgl. Hörmann/
Hopmann, 2011, S. 105).
−− Bildungsforscher bedauern, dass Lehrbzw. Bildungspläne oft der Quantität und
nicht der Qualität den Vorrang geben. Man
spricht hier gelegentlich von Bulimie-Lernen: Der Schüler wird schnell und mit viel
Lernstoff gefüttert, welcher dann in Prüfungsarbeiten wieder von sich gegeben
und danach wieder vergessen wird. Bildung ist aber mehr, als nur auswendig Gelerntes wiederzugeben.
−− Lehrer beklagen sich – wie eine Umfrage
ergab –, dass sie das System „Schule“
mürbe macht. Sie können ihre Schüler aufgrund der ständig zunehmenden Bürokratisierung und (unnötiger) Zwänge des
Schulalltags nicht so individuell fördern,
wie sie das gern tun würden und es den
Begabungen der Schüler entspricht. Viele
Lehrer haben den Eindruck, im Mittelpunkt
stünde die Verwaltung von Schule und
nicht die Schüler. Sie fühlen sich in ihrem
Engagement ausgebremst, weil sie ständig an ihre Grenzen stoßen. Schul- und
Dienstordnungen, Lehrplanvorgaben, von
oben erlassene Vorschriften ohne Beteiligung der Betroffenen sowie Verplanung
und Sanktionierungen bei Fehlverhalten
lassen so gut wie keinen Freiraum für
Selbstentfaltung sowohl für Lehrer als
auch für Schüler (vgl. Wiater, 2013, S. 36 f.).
1
2
−− Dazu kommt, dass durch von oben ständig verordnete „Reformen“ immer wieder neue Unruhe in die Schulen gebracht wird, statt Lehrer in
ihrem Kerngeschäft, dem Unterrichten, zu
unterstützen (vgl. Felten/Stern, 2012, S. 143).
−− Die Schulen leiden unter einem Lehrermangel, der in Zukunft dramatisch sein
wird. Oft kann der reguläre Unterricht in
der vorgegebenen Stundenzahl gar nicht
abgedeckt werden. Schulexperten erwarten wegen der Unterdeckung in den Kollegien eine gewaltige Bildungskrise.
„Das Schicksal einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, wie sie ihre Lehrer ach(Carl Jaspers1)
tet.“
−− Auf der anderen Seite sind die Erwartungen an die Schulpädagogen sehr hoch. Es
kommen zudem auf die Schule immer mehr
erzieherische Aufgaben zu, die früher vom
Elternhaus erfüllt wurden und mit denen
sie zwangsläufig überfordert sein muss:
Diese Aufgaben reichen von der Sozialerziehung, Anstands-, Umwelt-, Medien­
erziehung und wirtschaftlichen Verbraucherbildung (Schüler sollen den Umgang
mit Geld lernen) bis hin zur Friedenserziehung. Zudem werden gesellschaftliche
Probleme wie Alkohol- und Drogenmiss­
brauch, soziale Auffälligkeiten und Ausländerfeindlichkeit zum Aufgabenbereich der
Schule erklärt (vgl. Stein, 2009, S. 73).
„Bildung wird zunehmend als Sozialpolitik
verstanden, und das hat Auswirkungen auf
die Leistungsanforderungen: Sie sinken [...]
Die Standards gehen verloren, das Niveau
(Dahlkamp u. a., 2009, S. 145 f.)
sinkt.“
−− Auch die Hochschule erfährt aufgrund der
Einführung des Bachelor- und Masterabschluss2 Kritik: Sie sei zu sehr wirtschaftlich orientiert, zu sehr verschult, und es
gehe an den Universitäten nicht mehr um
Bildung, sondern nur noch um Ausbildung.
Dieter Lenzen von der Universität Hamburg
vgl. Kapitel 14.5.3
Der Bachelor ist ein „erster berufsqualifizierender Hochschulabschluss“, der die Grundlagen vermittelt.
Er ist Voraussetzung für den Master, ein forschungs- oder anwendungsorientierter „zweiter Hochschulabschluss“, welcher auf dem Bachelor aufbaut. Bachelor und Master gehen auf den BolognaProzess zurück, welcher die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums beabsichtigt.
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Kapitel 12
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stellt fest, dass die Hochschule Absolventen produziert, die nicht über den eigenen
Tellerrand hinausblickten und fordert, dass
sich die Universität wieder auf klassische
Bildungsideale zurückbesinnen und selbstständige, kritische Persönlichkeiten formen müsse, anstatt reine Lernfabriken zu
betreiben (vgl. Lenzen, 2014). In vielen Studienfächern brechen nicht weniger, sondern mehr Studierende ihr Studium ab.
−− Zudem wird vor allem das zu geringe Alter
an der Hochschule und beim Verlassen
dieser beklagt. Studenten sind oft erst 17
Jahre alt, wenn sie an die Hochschule
kommen und verlassen sie wieder mit 21
(vgl. Lenzen, 2014, S. 33 f.). Und eine Tageszeitung betitelte einen Artikel über das
immer niedriger werdende Eintrittsalter
der Studierenden mit: „Mit Mama an die
Hochschule“.
240
245
Studentwohnungen
Eltern suchen für ihre Tochter eine
Studentenunterkunft (Zi. od. Ap.)
zum 15.8.
4.
Probleme der Heimerziehung und der Kinder- und Jugendarbeit
a) Probleme der Heimerziehung
−− Wenige professionelle Erzieher betreuen
meist zu viele Kinder. Problematisch ist,
dass den Kindern oder Jugendlichen oft
eine feste Bezugsperson fehlt; deshalb
5
kann sich kein Gefühl der Sicherheit und
Geborgenheit entwickeln. Dieses Problem
wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass
nach getaner Arbeit die einen Erzieher
gehen und die anderen Erzieher kommen
10
(große Fluktuation des Erzieherpersonals).
−− Sozial auffällige Kinder oder Jugendliche beeinflussen die anderen ungünstig. Da Kinder/Jugendliche in Heimen in Gruppen zu15
sammenleben, können möglicherweise verhaltensgestörte Kinder/Jugendliche einen
negativen Einfluss auf die anderen ausüben.
−− Die Heimordnung ist manchmal wichtiger
als ein Erfolg in der Erziehung. Sinnloses
20
Festklammern der Erzieher an Regeln der
Heimordnung, die für Kinder/Jugendliche
schwer oder gar nicht zu verstehen sind,
steht einem Erziehungserfolg manchmal
25
im Weg.
−− Heimkindern fehlt oft die notwendige
Spontaneität. Der starre Tagesablauf, der
geplante Wechsel der Erzieher, die Massenpflege usw. begünstigen, dass Kindern/Jugendlichen Kreativität und Spontaneität genommen werden.
−− Eine Heimeinweisung erfolgt häufig zu
spät. Bis das Jugendamt eine Heimeinweisung anordnet, verstreicht viel Zeit und
das sozial abweichende Verhalten kann
sich verfestigt haben.
−− In manchen Heimen fehlen gut ausgebildete professionelle Fachkräfte und es stehen
nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung, sodass beispielsweise notwendiges
pädagogisches Material nicht besorgt werden kann.
−− Heime haben oft keinen guten Ruf. Dies
liegt zum Teil daran, dass Heime häufig als
„sehr streng“ bekannt sind und man ins
Heim kommt, wenn die Eltern mit ihrem
Kind „nicht mehr fertigwerden“ („Dann
kommst du ins Heim!“). Zum anderen
haben manche Heime in letzter Zeit durch
Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfe Vertrauen in der Bevölkerung eingebüßt.
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Kapitel 12
b) Probleme der Kinder- und Jugendarbeit
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Probleme der Kinder- und Jugendarbeit entstehen einerseits bei den Kindern und
­Jugendlichen selbst, andererseits bei den Mitarbeitern in der Kinder- und Jugendarbeit
oder ihren Trägern.
−− Ein zunehmendes Desinteresse vor allem
von Jugendlichen an Angeboten und Veranstaltungen der Kinder- und Jugendarbeit kann festgestellt werden. Nach
Herrmann (2004) sind die angebotenen
Freizeitaktivitäten der Kinder- und Jugendarbeit aufgrund einer zunehmenden Ausbreitung der elektronischen Medien –
Fernsehen, Computer u. a. – in allen Bereichen für die angestrebten Zielgruppen uninteressant. Zudem werden die Wünsche
von Kindern und Jugendlichen spezieller,
die Kinder- und Jugendarbeit kann oft auf
die Vielzahl unterschiedlicher Wünsche nur
unzureichend reagieren.
−− Wie vielfältig und abwechslungsreich die
Angebote der Kinder- und Jugendarbeit
sind, hängt auch von den finanziellen Mitteln ab, die ihr oft nicht in ausreichendem
Maße zur Verfügung stehen.
−− Wie viele hauptamtliche und nebenamtliche Mitarbeiter bei den jeweiligen Trägern
der Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt
werden können, hängt ebenfalls von den
finanziellen Mitteln ab. Häufig ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, ausreichend Personal zu haben, was auf Kosten
der Qualität in der Kinder- und Jugend­
arbeit geht.
−− Kinder- und Jugendarbeit orientiert sich an
den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Jugendlichen. Für die Mitarbeiter
bedeutet dies, dass sie keine fest geregelte
Arbeitszeit haben, sodass dieser Beruf vor
allem für verheiratete Mitarbeiter mit Kindern nicht sehr attraktiv ist.
−− In der Kinder- und Jugendarbeit sind neben
Hauptamtlichen viele nebenamtliche und
ehrenamtliche Mitarbeiter tätig. Doch nur
das hauptamtliche Personal, welches meist
in der Minderzahl ist, hat eine spezielle
Ausbildung zum Erzieher bzw. Sozialpädagogen, was bei den Nebenamtlichen und
Ehrenamtlichen nicht der Fall ist. Die Ansprüche in der Kinder- und Jugendarbeit
sind jedoch in der heutigen Zeit sehr hoch,
sodass diese nur von professionell ausgebildetem Personal erfüllt werden können.
−− Die hauptamtlichen Sozialpädagogen bzw.
Erzieher sind oft mit Verwaltungstätigkeiten wie beispielsweise Rechenschaftsberichte, Anträge auf Bewilligung von Mitteln
u. a. beschäftigt, Zeit, die zwangsläufig von
der Arbeit mit den Kindern bzw. Jugendlichen eingespart werden muss. Sozialpädagogen und Erzieher beklagen den immensen bürokratischen Aufwand, der nur
auf Kosten der eigentlichen Arbeit betrieben werden kann.
−− Die Erwartungen der Träger, der Mitarbeiter und der Kinder bzw. Jugendlichen an
die Kinder- und Jugendarbeit sind meist
sehr unterschiedlich, können oft nicht
„unter einem Hut gebracht“ werden und
widersprechen sich manchmal.
−− Der Kinder- und Jugendarbeit wird oft mit
Vorurteilen begegnet, was eine effektive
pädagogische Arbeit erschwert.
„Jugendarbeit ist ein geeigneter Platz zum
Drogenkonsum“ ist ein solches in der Öffentlichkeit weitverbreitetes Vorurteil, das vor allem Jugendzentren und Jugendtreffs betrifft.
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Kapitel 13
Materialien Kapitel 13
1.Zugänge Leistungsberechtigter zu Hilfen nach dem Kinderund Jugendhilfegesetz
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Grundsätzlich steht Eltern, Kindern und Jugendlichen ein breites Spektrum allgemein fördernder und unterstützender Angebote [...] zur
Verfügung, die sie selbstständig und nach
eigenem Ermessen nutzen. Zu diesen Leistungen gehören die offene Kinder- und Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Kindertageseinrichtungen Erziehungs- und Familienberatung,
Jugendberatung, Familienbildung sowie die Beratung und Unterstützung für alleinerziehende
Eltern u. a. Diese Angebote stellen wichtige Sozialisations- und Bildungsorte für Kinder und
Jugendliche bzw. deren Eltern u. a. dar und
übernehmen damit auch präventive Funktionen, indem sie das Ziel verfolgen, Problemlagen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig
Unterstützungsmöglichkeiten zu schaffen. Der
Zugang zu diesen Angeboten ist abhängig von
einigen Faktoren: Die Kinder, Jugendlichen, Eltern u. a. sollten gut über die Angebotsvielfalt
informiert sein, die Zugänge sollten von Freiwilligkeit geprägt und die Angebote gut erreichbar und niederschwellig angelegt sein. Die
Infrastruktur ist in den Kommunen und Landkreisen sehr unterschiedlich ausgestaltet.
Im Falle von schwerwiegenden sozialen Problemen, Not-, Krisen- bzw. Belastungs- oder
Überlastungssituationen oder wenn das Wohl
des Kindes oder Jugendlichen nicht mehr gewährleistet ist, müssen erzieherische Hilfen
[...] zum Tragen kommen. Treten solche
schwerwiegenden Problem- und Krisensituationen ein, gibt es grundsätzlich drei Wege, auf
denen Kinder, Jugendliche oder Erziehungsund Sorgeberechtigte den Weg zu einer erzieherischen Hilfeleistung finden können:
−− Selbstmelder
−− Hinweise Dritter
−− Zusatz- oder Anschlusshilfen
Selbstmelder: Eine Zugangsmöglichkeit besteht darin, dass sich ein Kind oder ein
­Jugendlicher oder die Erziehungs- und Sorgeberechtigten selbst an das zuständige Jugendamt wenden. In Notfällen und in akuten
Krisensituationen, die von Kindern oder Ju-
gendlichen selbst angezeigt werden, müssen Kinder oder Jugendliche auch im Sinne
einer Notaufnahme kurzfristig in Obhut genommen werden (§ 42 SGB VIII/KJHG). In
Gesprächen mit der zuständigen SozialarbeiterIn im Allgemeinen Sozialen Dienst des
Jugendamtes wird gemeinsam mit dem Kind
oder Jugendlichen herausgearbeitet, welche
Probleme vorliegen und welche Veränderungs- bzw. Lösungsmöglichkeiten, ggf.
auch mit Unterstützung durch Leistungen
der Kinder- und Jugendhilfe, initiiert werden
können.
Hinweise Dritter: Demgegenüber kann der
Fall eintreten, dass Gefährdungsmomente
dem Jugendamt von Dritten angezeigt werden. In dieser Situation muss der Allgemeine
Soziale Dienst tätig werden und prüfen, ob
ein Hilfebedarf bei der benannten Familie besteht. Im Falle einer erheblichen Gefährdung
des Kindeswohls müssen sofort Interventionen zum Schutz des Kindes oder des Jugendlichen geleistet werden. Diese können ggf.
auch gegen den Willen der Eltern erfolgen.
Zusatz- oder Anschlusshilfen: Eine weitere
Möglichkeit besteht darin, dass die Familie
dem Jugendamt bereits bekannt ist, weil sie
z. B. bereits Beratungen oder erzieherische
Hilfen gemäß § 27 ff. SGB VIII/KJHG in Anspruch genommen hat. Bei der Zusatzhilfe
werden zusätzliche erzieherische Hilfen
bspw. mit der gezielten Unterstützung eines
Kindes der Familie in die Hilfeplanung mit
aufgenommen. Bei der Anschlusshilfe wird im
Rahmen der bereits bestehenden Hilfeplanung ein anderes Hilfesetting im Anschluss
an eine bereits bestehende Hilfe geplant.
Dies geschieht bspw. beim Auszug eines Jugendlichen aus einer betreuten Wohnform,
wenn im A
­ nschluss an die stationäre Hilfe
gemäß § 34 SGB VIII/KJHG eine ambulante
Hilfe gem. §30 SGB VIII/KJHG geleistet wird.
Quelle: Rätz/Schröer/Wolff, 2014 S. 83
50
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Kapitel 13
2.Die ökologischen Systeme nach Urie Bronfenbrenner
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Urie Bronfenbrenner versteht Ökologie als
Lehre vom „Lebensraum“, der in einer wechselseitigen Beziehung mit den darin existierenden Individuen steht. Der Mensch ist in
ver­schiedene Systeme einge­bun­den, beeinflusst diese und wird seiner­seits von ihnen in
seinem Verhalten gelenkt. In den einzelnen
Sy­stemen zeigt sich seine soziale Eingebundenheit insbesondere dort, wo sie durch Tätigkeiten, zwischenmenschliche Beziehungen
und Rollen gekenn­
zeichnet ist. Insgesamt
unterscheidet Bronfenbrenner fünf ökologische Systeme:
−− das Mikrosystem,
−− das Mesosystem,
−− das Chronosystem,
−− das Exosystem und
−− das Makrosystem.
Das Mikrosystem1
20
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Das Mikrosystem stellt den un­
mittelbaren
Le­bensbereich des sich entwickelnden Menschen dar. Ein Lebensbereich ist dabei ein
Ort, an dem Personen leicht in Kon­takt miteinander treten können. Beispiele für solche
Lebensbereiche wären das Zim­mer, in dem
ein Kind spielt, die Klasse, in der ein Jugendlicher lernt, oder die Familie, in der er aufwächst.
Das Mesosystem2
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40
Die Umwelt eines Menschen setzt sich aus
vielen Mi­krosystemen wie Familie, Nachbarschaft, Kinder­garten, Schule und Arbeitsplatz
zusammen. Diese verschiedenen Mikro­
systeme bestehen jedoch nicht isoliert voneinander, sondern ste­hen miteinander in Verbindung und beeinflussen sich gegenseitig.
Besucht ein Kind den Kindergarten, so entstehen vielfältige Kontakte zwischen den beiden
Lebensbereichen, Eltern­haus und Kindergarten, die gegenseitige Beeinflussungen nach
sich ziehen. So legt die Erzieherin zum Beispiel Wert auf die Einhal­tung der Gruppenregeln und der Öffnungszeiten. Das Kind bringt
bestimmte Wün­
­
sche, Bedürfnisse und Per1
mikrós (griech.): klein
mésos (griech.): Mitte
3 chrónos (griech): die Zeit
4 éxo¯ (griech): außen, heraus
2
sönlichkeitsmerkmale mit, auf die die Erzieherin eingehen muss. Diese Wechselbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Lebensbereichen, an denen eine Person beteiligt ist, werden Mesosysteme genannt.
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Das Chronosystem3
50
Während ihrer Entwicklung treten Personen
immer wieder in neue Lebensbereiche ein und
übernehmen neue Rollen. Der Eintritt in Kindergarten, Schule, Be­rufsleben, aber auch Heirat oder Scheidung sind Beispiele dafür. Solche
„Lebensübergänge“ werden als Chronosysteme bezeichnet. Ein Chronosystem ist ein
„Lebens­
über­
gang [...], der stattfin­
det, wenn
eine Person ihre Position in der öko­logisch verstandenen Umwelt durch einen Wechsel ihrer
Rolle oder ihres Lebensbereichs verändert [...]“
(Bronfenbrenner, 19962, S. 77).
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Das Exosystem4
Einen weiteren Umweltausschnitt stellt das
Exosy­stem dar. Es gibt Lebensbereiche, die die
Entwicklung einer Per­
son beeinflussen, obwohl diese Person gar nicht an ihnen teilhat.
Umgekehrtes gilt genauso: Eine Person beeinflusst einen Le­
bensbereich, an dem sie gar
nicht teilnimmt. Die wechselseitige Beeinflussung er­folgt dabei über andere Personen. So
stellt zum Beispiel der Arbeitsplatz der Eltern
ein Exosystem für das Kind dar, da es an ihm
nicht beteiligt ist. Arbeitsbedingungen wie
Arbeitszeit, Lärm sowie körperliche und psychi­
sche Beanspruchung wirken sich auf die Eltern
aus und haben Einfluss auf das Erzieherverhalten der Eltern ihren Kindern gegenüber und
somit auf die kindliche Entwicklung. Andererseits können zum Beispiel Krankheiten des
Kindes die Eltern schwer belasten und sich auf
ihr Leistungsvermögen an ihrem Arbeitsplatz
niederschlagen. Unter Exosystem versteht
man also einen oder mehrere Lebensbereiche,
an denen die sich entwickelnde Person nicht
beteiligt ist, die aber indirekt diese Person
beein­flussen und umgekehrt durch diese Person ­beeinflusst werden.
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Kapitel 13
Das Makrosystem1
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In der Vielzahl von Mikro-, Meso- und Exosystemen, aus der sich unsere Kultur zusammensetzt, lassen sich Be­
standteile finden,
die gleich oder sehr ähnlich sind. Solche
­gemeinsamen Bestandteile können zum Beispiel politische oder religiöse Weltanschauungen sein, die Art und Weise, wie M
­ enschen
miteinander umgehen, wie Einrichtungen
funk­
tionieren usw. Solche typischen Übereinstimmungen oder Ähnlich­
keiten innerhalb einer Kultur oder eines ihrer Teilbereiche bil­
den das sogenannte Makrosystem.
Als Makrosystem bezeichnet man also die
grundsätzlich formalen und inhaltlichen
Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten, die
innerhalb einer Kul­tur oder einer Subkultur
bestehen.
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Makrosystem
= die formalen und inhaltlichen Übereinstimmungen
und Ähnlichkeiten in den Systemen
Exosystem
= Lebensbereiche, die indirekt das Individuum beeinflussen
und die durch das Individuum beeinflusst werden
Mesosystem
= Wechselbeziehungen zwischen den Mikrosystemen,
an denen sich das Individuum aktiv beteiligt
Mikrosystem
= der unmittelbare Lebensbereich,
in welchem das Individuum lebt
Chronosystem
= Lebensübergang, der durch einen Wechsel
eines Mikrosystems stattfindet
1
makrós (griech.): groß
3. Nische und Habitat
5
Durch die Austauschprozesse zwischen der
Person und ihrer Umwelt entsteht eine Nische. Sie kommt zustande durch das Einräumen von Handlungsmöglichkeiten. Nische ist
damit das gesellschaftlich zugestandene
Handlungsfeld einer Person, ihre Einflussmöglichkeit auf eine Gegebenheit.
Jeder Schüler hat in seiner Klasse ein bestimmtes Handlungsfeld, das mehr oder weniger groß sein kann; er übernimmt bestimmte Aufgaben, spielt Rollen usw.; es kann sein,
dass die Schule dem Schüler große Einflussmöglichkeiten einräumt, oder auch, dass der
Schüler so gut wie keine Möglichkeiten hat,
etwas zu verändern.
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15
1
makrós (griech.): groß
Nische bedeutet nicht wie üblich einen Rückzugswinkel, sondern das „Wirkungsfeld einer
Person“, ihr gesellschaftlich zugestandenes
Handlungsfeld – also, ob ein Mensch an
einem bestimmten Platz Einflussmöglichkeiten besitzt oder nicht.
Damit umschreibt der Begriff „Nische“ auch
das Netz sozialer Beziehungen einer Person,
deren aktives Handlungsfeld (vgl. Germain/
Gitterman, 19993, S. 29).
Das von der Gesellschaft zugestandene
Handlungsfeld einer Person kann groß bzw.
gering sein und entsprechend diesen Tatsa-
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Kapitel 13
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chen ­unterscheidet man zwischen einer guten
oder schlechten Nische: Bei einer schlechten
Nische hat das Individuum kaum die Möglichkeit, das Missverhältnis zwischen Person und
Umwelt zu ändern, bei einer guten Nische besteht diese Einflussmöglichkeit.
Gibt der Lehrer beispielsweise seinen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, etwa die
Auswahl des Lernstoffes oder andere wichtige
Entscheidungen in der Klasse diskutieren zu
lassen, und bezieht er ihre Meinung bei seinen
Entscheidungen mit ein, so liegt hier eine gute
Nische für den Schüler vor. Hat dagegen der
Schüler keinerlei Einflussmöglichkeit auf das
Schulleben, auf Lerninhalte und Ähnliches, so
handelt es sich um eine schlechte Nische.
Für den Sozialpädagogen/-arbeiter liefern die
Analyse der Nischenstruktur und die durch
das Individuum oder die Gruppe vorgenommene Bewertung wichtige Hinweise für das zu
planende helfende Eingreifen. Neue Nischen
entstehen dann durch die Begegnung mit herausfordernden Situationen.
Beispiele:
bauliche Gegebenheiten: Wohnhäuser, Architektur,
Fabriken, dörfliche Ansiedlung, „Wohn­
raum­
verdichtung“, soziale Einrichtungen, Ver­
kehrs­
verbindungen, Freizeit-, Arbeitsmöglichkeiten
soziale Gegebenheiten: verhaltensbeeinflussende Personen in Familie, Arbeit, im gesellschaftlichen Leben
kulturelle Einrichtungen: Bürgerhaus, Theater,
­Museen
Dieser verhaltensbeeinflussende Lebensraum
eines Menschen mit seinen baulichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten wird als
Habitat bezeichnet.
Habitat ist der unmittelbare Lebensraum,
der das Erleben und Verhalten eines Menschen beeinflusst.
Der Sozialpädagoge/-ar­bei­ter rich­tet sein Be­
mü­hen da­rauf, Defizite zu erkennen und zusammen mit den Bür­gern ein an­re­gendes und
un­ter­­stü­tzendes Ha­bitat zu ge­stal­ten, was
wie­derum gu­te Vo­raussetzungen für Ni­schen­
­bil­dungen bietet.
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Nische
das einer Person gesellschaftlich zugestandene Handlungsfeld,
die Einflussmöglichkeiten, die ein Mensch an einem Platz hat
gute Nische
Der Mensch hat große Handlungs- bzw. Einflussmöglichkeiten, eine bestimmte Situation zu ändern.
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Menschen „wohnen“ immer in einem bestimmten
Lebensraum, der ihr Erleben und Verhalten nicht
unerheblich beeinflusst. Dieser Lebensraum umfasst beispielsweise bauliche, soziale und kulturelle Gegebenheiten, die soziale Beziehungen und die
Gesundheit von Individuen sowohl ­
unterstützen
als auch beeinträchtigen ­können.
schlechte Nische
Der Mensch hat kaum Handlungs- bzw. Einflussmöglichkeiten, eine bestimmte Situation zu ändern.
Aufgaben zur Gestaltung eines Habitats kön­nen
zum Beispiel eine Tempo-30-Zone im Wohn­ge­
biet, die Einrich­tung ver­kehrsberuhigter Zo­nen,
kul­tu­rel­le Angebote auf dem Land und derglei- 85
chen sein.
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Kapitel 13
4. Empowerment
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In allen in der Literatur zu findenden Definitionsangeboten wird herausgestellt, dass
­Empowerment als Selbstbefähigung, Selbstbemächtigung und als Stärkung von Eigenmacht verstanden wird. Es bezeichnet biografische Prozesse, „in denen Menschen ein
Stück mehr Macht für sich gewinnen – Macht
verstanden als Teilhabe an politischen
Entscheidungsprozessen [...] oder aber als
­
gelingende Bewältigung alltäglicher Lebensbelastungen [...]“. In diesem weiten Sinne
markiert Empowerment also sowohl politische als auch psychosoziale Prozesse der
Selbstbemächtigung. Sie können nicht nur
von den Menschen selbstbestimmt, sondern
ebenfalls professionell – so auch durch die
Soziale Arbeit – initiiert und unterstützt werden. [...] Ausgehend von den Ressourcen ihrer
Adressatinnen und Adressaten soll sie [...] auf
deren Eigensinn beharren und dazu beitragen, dass sie ihre Lebensentwürfe verwirklichen können, sofern damit nicht Gefährdungen für sie selbst oder andere, wie Kinder,
verbunden sind. Insbesondere dieser emanzipatorische Anspruch einer so verstandenen
empowerment-basierten Sozialen Arbeit
stellt die Fachkräfte im erzieherischen Kinderund Jugendschutz vor Herausforderungen.
Denn aus einer kritischen Perspektive sind
Widersprüche zwischen dem EmpowermentKonzept auf der einen und dem im § 14 SGB
VIII geregelten erzieherischen Kinder- und Jugendschutz auf der anderen Seite zu verzeichnen. Solche Widersprüche finden sich in
allen Feldern der Sozialen Arbeit: Einerseits
werden der institutionelle Rahmen und damit
die Handlungsaufträge und -möglichkeiten
der Fachkräfte maßgeblich durch sozialpolitische Vorgaben bestimmt, die in die jeweils relevanten Sozialgesetze und Verordnungen
eingegangen sind [...]. Andererseits ist aber
für Empowerment [...] konstitutiv, dass für
Soziale Arbeit der Eigensinn der Subjekte und
ihre Lebensentwürfe handlungsleitend sein
sollen.
Optimistisches Menschenbild und Ressourcenorientierung
Für das Empowerment ist ein optimistisches
Menschenbild bestimmend. Danach sind alle
Menschen handlungsmächtig und -fähig und
können ihr Leben auch in prekären Lebenslagen mit belastenden Lebensbedingungen
selbst gestalten. Zwar wird die gesellschaftliche Bedingtheit der Menschen und ihrer Lebensbedingungen ausdrücklich berücksichtigt,
dennoch wird stärker ihre Selbstbestimmungsfähigkeit herausgestellt, mit der sie ihr Leben
kreativ und mit Eigensinn zu gestalten vermögen. [...] Pointiert formuliert werden [...] im
Empowerment-Konzept soziale Probleme individualisiert, indem ihre Lösung den betroffenen Menschen übertragen wird, anstatt die sozialstrukturellen Ursachen zu beseitigen. Übertragen auf die Elternarbeit im erzieherischen
Kinder- und Jugendschutz bedeutet dies, dass
Eltern und sonstige Erziehungsberechtigte
dazu befähigt werden sollen, positive Entwicklungsbedingungen für ihre Kinder zu schaffen.
Mit dem einseitigen Fokus auf Befähigung und
Handlungsmächtigkeit von Eltern geraten jedoch strukturelle Bedingungen wie Armut und
Arbeitslosigkeit aus dem Blick, die in erheblichem Maße die positive Entwicklung junger
Menschen gefährden können. So gesehen,
steht empowerment-orientierte Elternarbeit in
der Gefahr, die Eltern zur Lösung ihrer Probleme zu aktivieren und dabei die gesellschaftliche Bedingtheit von Problemlagen zu vernachlässigen. [...] Weitere Widersprüchlichkeiten
sind mit der Ressourcenorientierung verbunden. Aufgrund des optimistischen Menschenbildes ist konsequentes ressourcenorientiertes
Arbeiten für Empowerment konstitutiv. Ausgehend von einer ausführlichen Ressourcendiagnostik sollen die Adressatinnen und Adressaten nicht mehr länger mit einem Defizitblick
betrachtet, sondern in ihren personalen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen
umfassend gefördert werden. Prozesse der
Selbstbemächtigung können durch Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit wie Elterngespräche [...]
oder auch im Sozialraum durch Netzwerkbildung initiiert und unterstützt werden. Letzteres
z. B. in Form von Bürgerbeteiligung und sozialpolitischer Einmischung von Elterninitiativen in
die Kommunalpolitik. Eine so verstandene und
mit einem optimistischen Menschenbild begründete Ressourcenorientierung findet sich
jedoch nicht im Gesetz. Dort wird ausdrücklich
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Kapitel 13
der Schutzauftrag benannt. Ihm soll entsprochen werden, indem Eltern und andere Erziehungsberechtigte „besser“ dazu befähigt werden, ihre Kinder vor gefährdenden Einflüssen
zu bewahren (§ 14 Abs. 2, Satz 2). In dieser Formulierung wird ein Defizitbild von Eltern transportiert, das ihnen mangelhafte Erziehungskompetenzen unterstellt. Bezogen auf Empowerment eröffnet dieses Defizitbild zwei verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Zum einen
könnten sich die Fachkräfte vor ein Dilemma
gestellt sehen. Unter der Annahme, dass sie
durch die für ihre Arbeit geltenden gesetzlichen
Grundlagen in ihrem beruflichen Selbstverständnis und ihren Deutungsmustern beeinflusst werden, würde dann der Defizitblick im
Widerspruch zur Ressourcenorientierung und
der damit verbundenen Überzeugung stehen,
dass die Eltern über ausreichende Ressourcen
verfügen, um ihr Leben selbst gestalten zu
können. Zum anderen könnten die Fachkräfte
die Ressourcenorientierung als eine von den
Wertvorstellungen des Empowerments losgelöste Methode auffassen, die sie dazu nutzen,
die Erziehungskompetenzen der Eltern in ihrem
Sinne zu verbessern. Dann würde die Ressourcenorientierung auf eine sozialtechnologisch
anmutende Strategie reduziert, mittels derer
Eltern gezielter beeinflusst und in die von den
Fachkräften gewünschte Richtung „verbessert“
werden können. Gleichermaßen defizitorientiert ist das in § 14 SGB VIII anklingende Kindheitsbild. Dort werden Kinder und Jugendliche
„als schwache und hilfebedürftige Wesen“ [...]
angesprochen, die eines besonderen Schutzes
durch ihre Eltern oder andere Erziehungsberechtigte bedürfen. Vernachlässigt werden
dabei [...] häufig solche Schutzkonzepte, die
auf den Eigensinn und die Kompetenzen der
Kinder und Jugendlichen bauen und zur Verständigung darüber anregen, was als Gefahr
zu bewerten ist. In einer auf Empowerment basierenden Elternarbeit sind solche Überlegungen gemeinsam mit den Eltern zu diskutieren,
um sie zur Selbstbemächtigung und Selbstbestimmung ihrer Kinder anzuregen.
Quelle: Enggruber, 2015, S. 8 ff.
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Kapitel 14
Materialien Kapitel 14
1.Das Lebensrecht von Menschen mit B
­ ehinderung
und ökonomische Aspekte
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Das Lebensrecht [von Menschen mit Behinderung] wird gegenwärtig auch in Verbindung
mit ökonomischen Aspekten infrage gestellt.
Der gestiegene Kostendruck wird geltend gemacht. Dabei erhebt sich die Frage, ob tatsächlich im Behindertenbereich die Kosten
übermäßig gestiegen sind, ob wirklich eine
„Überförderung und Überbetreuung von Behinderten und Schwerstbehinderten“ vorliegt,
die beendet werden müsse, wie es ein Bezirkspräsident (1992) forderte. Es ist im Übrigen
nicht unmittelbar nachzuvollziehen, gerade
von einer Verminderung des Kostenaufwands
für Menschen mit Behinderung eine Lösung
der großen Finanzierungsprobleme zu erwarten.
Tatsche war und ist, wie sehr der ökonomische Faktor in der gesamten Behindertenszene bestimmend geworden ist, und wie unverhüllt die Notwendigkeit einer Kosten-NutzenPrüfung geltend gemacht wird. Es ist zu befürchten, dass dieser Druck vor allem den
Bereich treffen wird, in dem der rationale Nut-
zen-Nachweis am wenigsten möglich ist. Allein schon die Frage, ob sich der Aufwand
„lohne“, ist eine bedrohliche. Sie ist letztlich
nicht eingrenzbar und könnte eine gefährliche
Eigendynamik entfalten, die am Ende nicht
nur die Lebensqualität und das Lebensrecht
derer trifft, die am schwersten behindert sind
und am wenigsten zum Bruttosozialprodukt
beitragen können.
Die argumentative Verbindung von Ökonomie
und utilitaristischer Ethik ist nicht neu. Man
denke an die „unnützen Esser“ und „Ballastexistenzen“ bei Binding und Hoche, die davon
sprachen, dass deren „objektiver Lebenswert
für die Gesellschaft [...] unter Null sinken
könne“. Auch heute lassen sich a
­ naloge Folgerungen vernehmen.
So wird in einem 1990 erschienenen Buch
eines
deutschen
Rechtswissenschaftlers
(Th. Ramm) lakonisch gefordert: „Künftige
soziale Belastungen der Allgemeinheit sind
gering zu halten. Daher ist sowohl der Erzeugung oder Geburt [von Kindern mit Behinderung] entgegenzuwirken als auch eine übermäßige Belastung durch die Bildungspolitik
zu vermeiden. Maßstab für dieselbe ist, dass
jede Ausbildung dem Bedarf entsprechen
muss und andererseits der vorhandenen Begabung gerecht werden muss“ [...].
Auch E. Quambusch, ein anderer deutscher
Rechtswissenschaftler, macht in Bezug auf
Menschen mit geistiger Behinderung die finanziellen Grenzen jeder Gesellschaft geltend, die erreicht würden, wenn von ihr „materielle Solidarität zugunsten derjenigen abverlangt wird, die an der Erstellung des Sozialproduktes nicht nennenswert mitwirken“
[...].
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Kapitel 14
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Schon Binding und Hoche hatten nach dem
verlorenen Ersten Weltkrieg auf dieses Argument gesetzt: „Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige
Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des
Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es
­anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr befassen“ [...].
Haben wir es heute nicht auch mit einem verfließenden Wohlstand zu tun? Es wird ganz
offensichtlich das Lebensrecht von der wirtschaftlichen Prosperität abhängig gemacht.
Gegenwärtig kommen ökonomische Werte
vor allem bei der Anwendung der Gentechnologie stärker ins Spiel. Allein in den USA gab
es [...] schon vor Jahren etwa eintausenddreihundert Biotechnologiefirmen mit jährlichen
Einkünften von insgesamt dreizehn Milliarden Dollar und über einhunderttausend Beschäftigten. Da das genwissenschaftliche
Wissen sich alle zwei Jahre verdoppele, sei
mit enorm steigenden Wachstumsraten der
Pharma- und Bioindustrie zu rechnen. Uni­
versitätswissenschaft und Gentechnikfirmen
seien weithin miteinander verflochten; die
meisten Spitzenforscher seien nicht unbeträchtlich an der Gewinnausschüttung der
Firmen beteiligt. Ein weltweiter Wettlauf um
die kommerzielle Verwertung des menschlichen Genoms habe ­begonnen.
Was hier zugleich vor sich geht, ist ein Wandel
des Lebenswertes als eines universellen und
unbedingten Wertes zu einem Marktwert.
Menschliches Leben wird „kommerzielles
Gut“, das auf dem Markt gehandelt wird.
Dient dieser wirklich und nur der Verbesserung der Lebensqualität im Sinne von mehr
„Wohlstand“ – für alle? Baudrillard mahnt,
man könne das Gute nicht befreien, ohne
gleich auch das Böse freizusetzen.
Die liberale Gesellschaft will unter dem Gesichtspunkt der Sicherung ihrer eigenen Lebensqualität selber bestimmen, wem darin
Lebensrecht zukommt. Das Ja zum Leben
wird von Bedingungen abhängig gemacht; die
unbedingte Zugehörigkeit wird ausgehöhlt.
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Quelle: Speck, 20086, S. 154 f.
Gnadentod für Babys
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Ein britischer Medizinerverband hat sich für
Euthanasie an schwerstbehinderten Neugeborenen ausgesprochen. In bestimmten Fällen, so lautet ein Vorschlag des Royal College
of Obstetricians and Gynaecologists an die
Ärzteschaft, sollten Mediziner Babys aktiv
töten dürfen. Damit sollen den betreffenden
Familien unter anderem die emotionalen und
finanziellen Konsequenzen erspart werden,
die das Aufziehen eines sehr schwer behinderten Kindes zwangsläufig nach sich zöge.
Die Mediziner schweigen sich darüber aus,
welche konkreten Behinderungen ihrer Meinung nach die Tötung rechtfertigten. Der
Vorstoß hat Empörung ausgelöst bei vielen
Patientenvereinigungen, aber auch Zuspruch
gefunden. Aus den Niederlanden – wo Euthanasie unter bestimmten Umständen legal
ist – meldete sich der Mediziner Pieter Sauer
zu Wort. Nach seinen Angaben ist der Gnadentod auf der Neugeborenenstation auch in
Großbritannien längst nicht mehr so selten.
Es sei an der Zeit, dass darüber in der Gesellschaft offen gesprochen werde.
Quelle: DER SPIEGEL, Nr. 46/2006, S. 167
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Kapitel 14
2. Der Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderung
Tröster nennt eine Reihe von verhaltensrelevanten Aspekten, die mit der Art der Behinderung verknüpft sind:
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1. D
ie Auffälligkeit der Behinderung: Hier handelt es sich um eine bedeutsame Variable1,
die mehr meint als die bloße Sichtbarkeit.
Die Stufen können unterschieden werden:
–– Die Behinderung ist bereits vor der
­Kontaktaufnahme sichtbar, dann erfolgt
oft prophylaktische Interaktionsvermeidung2;
–– die Behinderung drängt sich erst beim
Kontakt überraschend auf, zum Beispiel
bei Hör- und Sprachbehinderungen;
–– die Behinderung kann zunächst verborgen und bei längerem und intensivem
Kontakt kontrolliert offenbart werden.
2. D
ie ästhetische Beeinträchtigung: Sie ist
meist wichtiger als die funktionale Beeinträchtigung, da sie ein möglicher Auslöser
für heftige affektive Reaktionen sein kann.
Ästhetische Attraktivität erleichtert generell soziale Kontakte.
3. D
ie funktionale Beeinträchtigung kommunikativer Fähigkeiten: Solche Menschen mit
Behinderung belasten Kontakt und Interaktion immer, unabhängig von der Einstellung des Menschen ohne Behinderung.
4. D
ie zugeschriebene Verantwortlichkeit: Bei
angenommener Schuld des Behinderten
für seinen Zustand wird die Interaktion erheblich erschwert, weil eine Ablehnung bis
1
2
hin zu Bestrafungen leichter zu rechtfertigen ist. Diese Variable ist unabhängig von
der Auffälligkeit.
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Interaktionen zwischen Menschen mit und
ohne Behinderung können aus verschiedenen
Gründen besonders belastet sein. Aus der
Sicht der Menschen mit Behinderung sind es
typische Reaktionsformen wie
40
−−
−−
−−
−−
Anstarren und Ansprechen,
diskriminierende Äußerungen,
Witze, Spott und Hänseleien (Ärgern),
Aggressivität bzw. Vernichtungstenden
zen.
Hier handelt es sich um ursprüngliche [...] Reaktionen bzw. um Formen von Triebabfuhr,
die Distanz schaffen sollen. Aber auch solche
Reaktionsformen, die auf den ersten Blick
„positiv“ erscheinen, dienen letzten Endes
fast immer der Abgrenzung, so etwa
Variable (lat., variare: verändern, verschieden sein): veränderliche Größe
prophylaktikós (griech.): vorbeugend; der Begriff „soziale Interaktion“ ist in Kapitel 4.1.2 geklärt.
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Kapitel 14
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−−
−−
Äußerungen von Mitleid,
aufgedrängte Hilfe,
unpersönliche Hilfe (Spenden),
Schein-Akzeptierung.
Festzuhalten bleibt, dass echtes Engagement
für Menschen mit Behinderung ohne ­implizite1
Abwertung, Entlohnung oder Dankbarkeitserwartung vergleichsweise selten vorkommt.
Auch freundliches Verhalten mit Sympathiebekundungen wird sehr oft als „Schein-Akzeptanz“ interpretiert und erhöht dann noch
die Ambivalenz. [...]
Eine wichtige Rolle im kulturhistorisch
­geprägten Verhältnis zu Menschen mit Behinderung hat immer die Frage nach der Zurechnung von Schuld für den unerwünschten
­Zustand gespielt. Das liegt an der Neigung
von Menschen, für alles im Leben eine Erklärung, einen Grund zu finden. Zurechnung
von Schuld seitens der Menschen ohne
­ ehinderung lässt sich mit der Entlastung
B
von eigenen Schuldgefühlen und Ängsten erklären. Die Projektion der eigenen Schuld auf
den Menschen mit Handicap unter Rückgriff
auf soziale Vorurteile hat Selbstschutzfunktion. Darüber hinaus dient dieser Mechanismus der Legitimation künftiger Aufgaben
negativer Tendenzen: Wer selbst Schuld hat,
braucht schließlich keine besondere Rücksichtnahme zu erwarten. Die Beziehung
zwischen Schuldgefühlen und negativen
­
­Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung ist eine wechselseitige. Die Stabilisierung über Ablehnung ist allerdings nur
vorübergehend; sie erzeugt gleichzeitig neue
Schuldgefühle und Schuldangst und führt so
zu einem verhängnisvollen Kreislauf.
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Quelle: Cloerkes, 2001, S. 196 f.
3. Menschen mit einer Behinderung in Deutschland
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Zum Jahresende 2013 lebten rund 7,5 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung in
Deutschland. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, waren das
rund 260.000 oder 3,6 % mehr als am Jahresende 2011. 2013 waren somit 9,4 % der gesamten Bevölkerung in Deutschland schwerbehindert. Etwas mehr als die Hälfte (51 %)
der Schwerbehinderten waren Männer. Als
schwerbehindert gelten Personen, denen von
den Versorgungsämtern ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt sowie ein
gültiger Ausweis ausgehändigt wurde.
Behinderungen treten vor allem bei älteren
Menschen auf: So war nahezu ein Drittel (31 %)
der schwerbehinderten Menschen 75 Jahre und
älter; knapp die Hälfte (45 %) ­gehörte der Altersgruppe zwischen 55 und 75 Jahren an. 2 %
waren Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Mit 85 % wurde der überwiegende Teil der Behinderungen durch eine Krankheit verursacht.
1
4 % der Behinderungen waren angeboren beziehungsweise traten im ersten Lebensjahr
auf. 2 % waren auf einen Unfall oder eine Berufskrankheit zurückzuführen.
Zwei von drei schwerbehinderten Menschen
hatten körperliche Behinderungen (62 %). Bei
25 % waren die inneren Organe beziehungsweise Organsysteme betroffen. Bei 14 %
waren Arme und Beine in ihrer Funktion eingeschränkt, bei weiteren 12 % Wirbelsäule
und Rumpf. In 5 % der Fälle lag Blindheit
beziehungsweise eine Sehbehinderung vor.
­
4 % litten unter Schwerhörigkeit, Gleichgewichts- oder Sprachstörungen. Der Verlust
einer oder beider Brüste war bei 2 % Grund für
die Schwerbehinderung.
Auf geistige oder seelische Behinderungen
entfielen zusammen 11 % der Fälle, auf zerebrale Störungen 9 %. Bei den übrigen Personen
(18 %) war die Art der schwersten Behinderung nicht ausgewiesen.
implicitum (lat.): mit enthaltend, mit inbegriffen, nicht ausdrücklich gesagt
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Kapitel 14
11,0
Körperbehinderung
Sehbehinderung und
Blindheit
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Sprachbehinderung,
Schwerhörigkeit und
Taubheit
62,0
Lernbehinderung und
geistige Behinderung
Quelle: Pressemitteilung vom 29. Juli 2014 – 266/2014, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2016;
In www.destatis.de / Pressemitteilungen; eigene Darstellung
4. „Mama, ich bin dumm“
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Vor einem Jahr beschloss Tina Brune, dass es
so nicht weitergehe. Die Mutter aus Plettenberg in Nordrhein-Westfalen saß bei der Klassenlehrerin ihres jüngsten Sohnes, um das
Deutschdiktat zu besprechen. „Die kleine
Hexe“ sollte die Überschrift lauten. Max, ein
lernbehinderter Junge mit Seh- und Hörstörungen, hatte nur drei Buchstaben zu Papier
gebracht: K, L, H.
Die Lehrerin erkannte darin Wortfragmente,
die Mutter aber einen Beleg für die hoffnungslose Überforderung ihres Sohnes. Sie
meldete ihn von der Schule ab. „Aus meinem
fröhlichen war ein trauriges Kind geworden“,
sagt die Krankenschwester. Max habe häufig
geweint, beim Aufstehen, auf dem Weg in die
Schule, beim Abholen, bei den Hausaufgaben.
Seine tägliche Klage: „Mama, ich bin dumm.“
Seit der achtjährige Max die Vier-Täler-­
Schule in Plettenberg besucht, eine Förderschule für Lernbehinderte, gehe es ihm besser, sagt seine Mutter. Diese Erfahrung hat sie
zu einer Kämpferin gemacht. „Frau Löhrmann, erhalten Sie die Förderschulen in
NRW“, so lautet ihr Onlineaufruf, den sie an
Nordrhein-Westfalens Schulministerin Sylvia
Löhrmann (Grüne) richtet. 8000 Unterstützer
haben bereits unterschrieben, im Herbst will
Brune die Petition dem Landtag übergeben.
Ihre Initiative rückt eine Schulform in den
Blick, die derzeit einen schweren Stand hat.
Angesagt ist Inklusion: Behinderte Schüler
sollen als Folge einer Uno-Konvention vermehrt an Regelschulen unterrichtet werden.
Förderschulen gelten als Einrichtungen von
gestern. Den Ton geben Betroffene wie die
Mutter des elfjährigen Henri aus BadenWürttemberg vor, die ihren Sohn aufs Gymnasium schicken will, obwohl der Junge mit
Down-syndrom dort dem Unterricht nicht
folgen könnte.
Als Henris Mutter vor awai wochen show von
Günther Jauch zu Gast war, flankierten sie
dort drei Inklusionsbefürworter und nur ein
Skeptiker. Die Redaktion hatte auch bei Tina
Brune angefragt, dann aber abgesagt. Andere
Gäste würden bereits die Position abdecken,
lautete Brune zufolge die Begründung.
Vielerorts löst die Inklusion indes Sorgen und
Spannungen aus. In Nordrhein-Westfalen
etwa tritt zum August ein verändertes Schulgesetz in Kraft, das behinderten Kindern einen
Rechtsanspruch auf einen Platz an einer Regelschule garantiert. Für Lern-Förderschulen wie
in Plettenberg gilt künftig eine Mindestgröße
von 144 Schülern, derzeit hat die Schule 92.
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Kapitel 14
Schüler mit
sonderpädagogischem
Förderbedarf ...
... an Förderschulen
355 000
300 000
200 000
100 000
... an Regelschulen
Quelle: Kultusministerkonferenz
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Kritiker dieser starren Größenvorgabe wie
Udo Beckmann, der Vorsitzende des Verbands
Erziehung und Bildung (VBE), sprechen von
einer „kalten Schließung“ der Förderschulen.
„Die Politik kann nicht einerseits den Elternwillen hochhalten und andererseits den Eltern die Optionen nehmen“, so Beckmann.
Eine VBE-Umfrage wies sinkende Zustimmungsraten zur Inklusion in NordrheinWestfalen aus. Und der Verband Sonderpädagogik berichtet von einer wachsenden Zahlernüchterter Inklusionseltern, die ihre Kinder
von den Regelschulen nehmen.
„Unser Sohn wurde behandelt wie alle anderen Kinder“, sagt Sonja Maibach aus Koblenz,
Sozialarbeiterin und Mutter des zwölfjährigen
Christian. „Aber er kann nicht alles leisten.
„Christian hat eine Lernbehinderung und eine
Entwicklungsverzögerung. In der Grundschule hielt er noch mit, doch als er in die Intergrationsklasse einer Realschule wechselte, begannen die Probleme: Der Schulalltag war ihm zu
hektisch, der Pausenhof zu laut, die Lehrer zu
ungeduldig. Wir sind von der Inklusion enttäuscht“, sagt seine Mutter. Seit Januar besuche Christian eine Förderschule; er habe dort
nur noch neun Mitschüler.
Marianne Schardt, Sprecherin des Verbands
Sonderpädagogik, fordert die Politik auf, die
Lehrer besser zu schulen – entsprechend der
Ausbildung der Sonderpädagogen. Es gehe
eher um die Stärkung des Kindes als nur
darum, Wissen zu vermitteln. Doch die Lehrer, die nun mit behinderten Kindern zu tun
haben, werden darauf oft nur in Crashkursen
vorbereitet.
Die Inklusion sei die „größte Herausforderung
für unsere Schulen“, sagt Mecklenburg -Vorpommerns BiIdungsminister Mathias Brodkorb (SPD). Seine Kollegin Löhrmann, derzeit
Präsidentin der Kultusministerkonferenz, appellierte unlängst an den Bund, „seiner Verantwortung bei der Umsetzung der schulischen Inklusion“ nachzukommen, also mehr
Geld zu spendieren.
Auch wir haben den Anspruch, unsere Schüler in die Gesellschaft zu integrieren“, sagt
Peter-Paul Marienfeld, Leiter der Vier-TälerSchule, Marienfeld verweist auf Werkräume
und Kurse zur Berufsvorbereitung. Er will
der Abwicklung seiner Schule dadurch entgehen, dass sie mit der Förderschule im 25 Kilometer entfernten Lüdenscheid fusioniert, als
Filiale muss die Schule nur 72 Schüler haben.
Doch angesichts des politischen Willens und
sinkender Schülerzahlen sei er sich nicht sicher, wie lange das Aufschub gewähre, sagt
­Marienfeld.
Hoffnung habe er auf lange Sicht. Alle Schüler ins Regelschulsystem zu integrieren sei illusorisch, sagt der Schulleiter. „In ein paar
Jahren wird uns die Politik wohl wieder einführen, unter neuem Namen.“
Quelle: Friedmann/Greiner, 2014, S. 47
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Kapitel 15
Materialien Kapitel 15
1. Da hilft nur der Keuschheitsgürtel
Zwei Jahrhunderte lang beschwor die Medizin
das Grauen der Selbstbefriedigung (Masturbation, oft auch – fälschlicherweise – Onanie
genannt).
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1710 erschien in England das anonym
­verfasste Pamphlet Onanie oder die abscheuliche Sünde der Selbstbefleckung und alle ihre
schrecklichen Folgen für beide Geschlechter,
betrachtet mit Ratschlägen für Körper und
Geist. Es stammt vermutlich von einem ehemaligen Pfarrer namens Bekker, der sich zu
dieser Zeit mit Quacksalberei und Wunderheilungen sein Geld verdiente.
Vor allem wegen der enormen Verbreitung
und Popularisierung dieser in verschiedenen
Sprachen übersetzten Schrift wurde die Masturbation alsbald überall in Europa heiß diskutiert und angeprangert. Es war also nur
eine Frage der Zeit, bis sich die Mediziner mit
den unterstellten gesundheitsschädigenden
Folgen der Selbstbefriedigung auseinandersetzen mussten. 1758 war es so weit. Unter
dem Titel Onanismus – oder eine Abhandlung
über Krankheiten, die durch Masturbation
entstehen veröffentlichte ein angesehener
Schweizer Arzt namens Samuel Auguste Tissot ein Buch mit spektakulärem Erfolg. Nach
Tissots Auffassung war die Onanie nicht nur
eine Sünde oder ein Verbrechen. Viel gefährlicher sei, dass sie schreckliche Krankheiten
wie Schwindsucht, Minderung der Sehkraft,
Störungen der Verdauung, Impotenz und
Wahnsinn verursachen könne.
Binnen weniger Jahre wurde Tissot als Auto­
rität auf diesem Gebiet anerkannt und als
Wohltäter der Menschheit gelobt. Zu Beginn
des 19. Jahrhunderts begannen Ärzte der gesamten westlichen Welt, die Wurzeln fast aller
körperlichen und seelischen Erkrankungen in
der Masturbation zu sehen.
1867 fügte Henry Maudsley, der größte britische Psychiater und Gerichtsmediziner seiner
Zeit, noch hinzu, dass der „Masturbationswahnsinn“ durch eine besondere „Perversion
der Gefühle“ charakterisierbar sei, die in frühen Stadien zu einer entsprechenden Verwirrung des Geistes führe. Später, wenn der
Selbstbefriedigung kein Einhalt geboten
würde, seien ein Versagen der Intelligenz,
nächtliche Halluzinationen, mörderische und
selbstmörderische Neigungen beobachtbar.
Fürderhin galt die Masturbation im fortgeschrittenen Stadium als unheilbar. Die einzige
Kunst der Medizin bestand in dem Versuch,
das Leid zu verhüten oder früh zu entdecken.
Eltern wurden angewiesen, ihren Kindern die
Hände am Bett festzubinden oder ihnen Fausthandschuhe überzuziehen. Bandagen und
„Keuschheitsgürtel“ sollten das Berühren der
Geschlechtsorgane verhindern. Und wenn alles
nichts half, wurden chirurgische Eingriffe empfohlen, wie zum Beispiel das Einsetzen eines
Metallrings zur Verhinderung der Erektion (Infibulation) oder das Herausschneiden der Klitoris. Gelegentlich wurde versucht, die Geschlechtsorgane mittels Durchtrennung oder
Verätzung von Nerven g
­ efühllos zu machen.
Erst beginnend mit der Wende zum 20. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass sich die
starre Haltung gegenüber der Masturbation
lockerte. Es sollte jedoch noch bis zur Mitte
des Jahrhunderts dauern, bis sich allgemein
durchsetzte, dass Masturbation keinerlei körperlichen oder geistigen Schaden verursacht.
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Quelle: Fiedler, 2007, S. 57
2. Erziehung und sexueller Missbrauch
Sexueller Missbrauch ist in den überwiegenden Fällen eine geplante und keine spontane
Tat. Die meisten Täter oder Täterinnen suchen
deshalb auch gezielt Opfer, die ihren Vorstellungen entsprechen. Dies sind nicht – entgegen vielen landläufigen Annahmen – ­äußere
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Merkmale. Für einen Großteil der Täter ist es
wichtig, dass sie mit möglichst wenig Entdeckungsrisiko vorgehen können und der Aufwand nicht allzu groß wird, dass der kindliche
Widerstand gering ist, die Eltern keine Gefahr
darstellen und das Kind nicht redet Welche
Kinder entsprechen nun am ehesten diesem
„Täterideal“? Bestimmte familiäre Konstellationen, pädagogische Botschaften, erzieherische Ideale und Praktiken können dazu
beitragen, dass das Risiko von Mädchen und
Jungen, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, erhöht wird […]
In Familien, in denen ein Kind sexuell missbraucht wird, findet sich häufiger eine traditionelle Geschlechtsrollenaufteilung. Das
heißt, in der Regel ist es der Vater oder ein anderer männlicher Familienangehöriger, der
sich als überlegen darstellt und dem häufig
von anderen Familienmitgliedern größere
Rechte zuerkannt werden […]
Auch ein sehr autoritärer Erziehungsstil kann
fatale Folgen haben. Wenn kindliche Bedürfnisse, Rechte oder Ansprüche ignoriert werden, die von Erwachsenen dagegen höchste
Geltung haben, lernen Mädchen und Jungen,
dass sie Erwachsenen grundsätzlich Gehorsam schulden. Sie leben häufig in Furcht und
Unterdrückung […]
Neben diesem familiären Hintergrund spielt
auch das Familienklima eine Rolle. Aus der Täterforschung ist bekannt, dass Täter sich häufig gezielt Mädchen und Jungen suchen, die
ihr Familienleben als unglücklich empfinden
und zu wenig Liebe, Aufmerksamkeit und Interesse bekommen […]
Täter suchen Kinder, die keine Freunde haben
und bieten ihnen Kontakt, Interesse und
­ eziehung – zuerst einmal. Manche Kinder
B
sind so unendlich bedürftig, dass sie die sexuelle Gewalt ertragen, um die „Freundschaft“
nicht zu verlieren […]
Selbstbewusstsein Eigensinn, Durchsetzungsvermögen sind Schlüsselqualifikationen für Mädchen und Jungen. Fehlen diese,
so können Kinder weniger gut ihre Interessen vertreten, sich gegen Erwachsene
durchsetzen oder von diesen Unterstützung
einfordern […]
Alltagsmythen, die Kindern vermittelt werden,
verstärken das Unterlegenheitsgefühl. Aussagen wie „Kinder müssen Erwachsenen gehorchen“, „Kinder verstehen das nicht“, „Ich
weiß schon, was für dich gut ist …“ dienen der
Disziplinierung und Unterordnung der Kinder
– und schwächen sie in ihrer Persönlichkeitsbildung […]
In manchen Familien herrscht ein eher sexualfeindliches Klima. Das heißt, es wird beispielsweise nicht über Sexualität gesprochen,
altersgemäße kindliche Sexualäußerungen
werden tabuisiert oder gar bestraft, Körperlichkeit ist mit Scham und Schuldgefühlen
verknüpft. Kinder, die so aufwachsen, haben
zu wenig oder gar keine Informationen über
sexuelle Vorgänge, Verhaltensweisen oder
Körperfunktionen. Sie sind neugierig, dürfen
aber nicht fragen. Natürlich fällt es ihnen sehr
viel schwerer, einen sexuellen Übergriff einzuordnen. Vor allen können sie sich niemandem anvertrauen, weil sie gelernt haben,
nicht über sexuelle Dinge zu sprechen […]
Viele Erwachsene machen sich nicht bewusst,
dass sie die körperliche Selbstbestimmung
von Kindern nicht respektieren. Sie berühren
wildfremde Kinder auf der Straße, im Bus, im
Supermarkt, kneifen in Wangen oder streichen über Haare. In Familien werden Mädchen und Jungen gegen ihren Willen auf den
Schoß genommen, geküsst und umarmt, in
der Luft geschwenkt und liebkost. All dies
mag wohlmeinend sein, aber es ist vor allem
auch respektlos. Kinder lernen: „An meinen
Körper darf jeder dran, ob ich will oder nicht
spielt keine Rolle, wenn ich mich wehre, bin
ich unartig und kriege Ärger“ […]
Quelle: Braun, 2002, S. 69 ff. (stark gekürzt)
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Kapitel 15
3. Was kann ich tun, wenn ich sexuellen Missbrauch vermute?
  1.Ruhe bewahren, überhastetes Eingreifen
schadet nur!
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 2.
Kollegin oder andere Vertrauensperson
suchen, mit der man über die eigenen
Unsicherheiten und Gefühle sprechen
kann.
  3.Den Kontakt zum Mädchen/Jungen vorsichtig intensivieren, um eine positive
Beziehung herzustellen.
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  4.Das Kind immer wieder ermutigen, über
Probleme und Gefühle zu sprechen.
In der Gruppe das Thema „Gute und
 5. schlechte Geheimnisse“ erarbeiten. Gute
Geheimnisse machen Spaß; alle Geheimnisse, die schlechte, komische oder schreckliche Gefühle machen, sind schlechte Geheimnisse. Über sie darf (muss) man sprechen!
 6.
In der Gruppe das Thema „Angenehme
und unangenehme Berührungen“ ansprechen.
  7.In der Gruppe (im Spiel, innerhalb der Sexualaufklärung, im Sportunterricht) das
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
und das Thema „Sexueller Missbrauch“
vorsichtig ansprechen und damit signalisieren: „Ich weiß, dass es sexuellen Missbrauch gibt … Mit mir kannst du darüber
reden … Ich glaube betroffenen Mädchen
und Jungen.“
 8.
Wenn möglich, eine Mitarbeiterin einer
Selbsthilfeinitiative oder einer Beratungsstelle hinzuziehen, um mehr Sicherheit zu
gewinnen.
 9.Hinweise auf den sexuellen Missbrauch
aufschreiben (Tagebuch über Verhaltensweisen des Mädchens/Jungen führen).
10.
Wenn möglich, Kontakt zur Mutter/Bezugsperson intensivieren, um Belastbarkeit der Mutter/Bezugsperson besser einschätzen zu können (z. B. Zusammenarbeit
bei der Vorbereitung von Kindergartenfesten, Gespräche am Elternsprechtag).
11.Kontakt zum Jugendamt aufnehmen (ggf.
ohne Namensnennung).
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12.
HelferInnenkonferenz anstreben, damit
alle, die die Familie kennen, gemeinsam
eine Strategie absprechen.
13.Niemals eine Familie mit dem Missbrauch
konfrontieren, ehe eine räumliche Trennung von Opfer und Täter vorbereitet
und möglich ist.
14.Eine eventuelle Anzeige mit einer Anwältin zuvor durchsprechen und gut vorbereiten. Niemand ist zur Anzeige v
­ erpflichtet!
Quelle: Enders, 1990, S. 69 f.
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Kapitel 15
4. „Altes“ und „neues“ Aids
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Das heutige Erscheinungsbild der Krankheit
AIDS, hat sich durch die medi­zinischen Möglichkeiten der Behandlung stark verändert
bat. Hierdurch ha­ben sich parallel die Bedürfnisse und der Alltag der Betroffenen gewandelt. Das ,neue‘ AIDS ist aber vor allem eine
Realität westlicher Industrieländer. In weiten
Teilen der Welt erhält nur ein Bruchteil der Betroffenen eine ange­
messene medizinische
Versorgung – dort haben HIV und AIDS ein
völlig anderes Erscheinungsbild als bei uns.
AIDS ist eine schwere, durch eine Infektion
mit dem HI-Virus hervorgeru­
fene Schwächung des Immunsystems. Eine solche Infektion verläuft gene­rell zunächst unspezifisch,
das heißt viele Symptome können, müssen
aber nicht auftreten. Sind Symptome vorhanden, so kann von diesen nicht auto­matisch
auf HIV geschlossen werden. Eine Infektion
lässt sich nach circa zwölf Wochen mit einem
HIV-Antikörper-Test nachweisen.
Nach einer Infektion mit HIV können innerhalb
weniger Wochen unspezifi­sche, Grippe-ähnliche Symptome wie z. B. Fieber, Kopf- und
Glieder­
schmerzen, Hautausschläge und geschwollene Lymphknoten auftreten. Häufig
werden diese Symptome als solche nicht erkannt, bei vielen treten sie auch gar nicht auf.
Der weitere Krankheitsverlauf kann über Jahre
be-schwerdefrei sein. Jedoch schädigt das
Virus in dieser Zeit weiter das Im­munsystem.
Unbehandelt wird der Körper immer anfälliger
für jede Art von Krankheit; sonst harmlose Infektionen können schwere Erkrankungen hervorrufen. Es kommt gehäuft zum Auftreten
von Lungenentzündungen (PcP), Infektionen
mit Pilzen und weiteren Viren sowie durch
Viren verur­sachten Krebsarten wie dem Kaposi-Sarkom oder dem Gebärmutterhals-krebs
– in diesem Stadium spricht man von AIDS.
Das ‚neue‘ AIDS meint nun den durch Therapie stark veränderten Verlauf der Krankheit.
Durch die derzeit zur Verfügung stehenden
Medikamente kann eine HIV-Infektion nicht
geheilt werden. Das Virus verbleibt weiterhin
im Körper und es besteht dadurch eine blei-
bende Ansteckungsgefahr für andere. Jedoch
kann der Zustand des Immunsystems weitestgehend stabilisiert bzw. wieder verbessert werden. Die Viruslast kann zwischenzeitlich sogar unter die Nachweisgrenze des entsprechenden Testverfahrens sinken. Mit den
Medikamenten kann ein HIV-positiver Mensch
meist viele Jahre lang wei testgehend beschwerdefrei leben. Jedoch haben die Medikamente besonders nach längerer Einnahmezeit zum Teil starke Nebenwirkungen. Hierzu
zählt unter anderem das Lipodystrophie-Syndrom, welches eine Stoffwechsel- und Fettumverteilungsstörung beschreibt, bei der sowohl die inneren Organe lei­den als auch eine
optische Veränderung des Körpers stattfindet. Trotz der Nebenwirkungen sind die derzeit verfügbaren Medikamente eine Erleichte­
rung und Lebenisverlängerung für jene, die
sie erhalten. Sie ermöglichen ein relativ normales Leben mit der Krankheit, wenngleich
die Ungewissheit über den weiteren Krankheitsverlauf immer auch ein Teil dieser Lebensrealität ist.
HIV überträgt sich über Blut, Samen- und
Scheidenflüssigkeit sowie Mut­termilch. Wenn
eine dieser Flüssigkeiten in den Körper oder
auf Schleimhäute gelangt, kann es zu einer
Ansteckung kommen. Der mit Abstand häu­
figste Infektionsweg ist ungeschützter Sex.
Der zweithäufigste ist in Deutschland die gemeinsame Nutzung von Spritzbestecken bei
Drogennut­zem. Das Risiko einer Mutter-KindÜbertragung kann hierzulande durch medizinische Behandlung, Kaiserschnitt und Verzicht
auf die Gabe von Muttermilch auf unter zwei
Prozent gesenkt werden. In vielen anderen
Ländern ist dies jedoch aufgrund mangelnder
medizinischer und finanziel­
ler Möglichkeiten
ein häufiger Übertragungsweg.
In Deutschland lebten Ende 201 1 rund 73.000
Menschen mit HIV/AIDS, jährlich kommt es
schätzungsweise zu 2.700 Neuinfektionen‘.
Quelle: Corsten, 2013, S. 510 ff. (stark gekürzt, in der
Reihenfolge verändert)
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Kapitel 16
Materialien Kapitel 16
1. Reformpädagogische Schulkonzepte
Die Arbeitsschule
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Die Arbeitsschule zur Bildung breiter Bevölkerungsschichten geht auf Georg ­Kerschensteiner1
zurück und will dem Schüler die Lerninhalte
durch manuelle Selbsttätigkeit vermitteln. Heute
spielt sie keine Rolle mehr, Elemente der Arbeitsschule finden sich aber im handlungsorientierten Unterricht wieder. Entsprechend wird unter
Arbeitsunterricht ein Unterricht verstanden, der
sich durch eigenständiges Umgehen der Schüler mit gegebenen oder selbst ausgewählten
Materialien und selbstständiges Finden von Ergebnissen auszeichnet.
Die Einheitsschule
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Die Einheitsschule entstand aus den Forderungen der Bildungseinrichtung für alle Menschen und der Erziehung ohne Trennung der
Geschlechter (Koedukation) und der Konfessionen. Heute ist sie eine Form der Gesamtschule, in der das System der beweglichen
Leistungsgruppen mindestens bis zur 9. Jahrgangsstufe etabliert ist.2
Der Jenaplan
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Der Jenaplan stammt von Peter Petersen3 und
enthält eine Form schulischen Lernens, welche
die Nachteile der herkömmlichen Schule überwinden will: Auflösung der Jahresklassen
­zugun­sten von Gruppen, die drei Jahrgangsstufen umfassen, sowie Absteckung der Lerninhalte durch einen Wochenarbeitsplan (kein
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nach Fächern geordneter Stundenplan). Gruppenbezogenes Lernen, Gespräch, Arbeit, Spiel
und Feiern nehmen einen hohen Stellenwert im
Unterricht ein. Zudem werden über die Lernvorgänge im Schuljahr Berichte statt Zeugnisse
angefertigt. Schulen, die den Jenaplan verwirklichen, werden Jenaplan-­Schulen ­genannt.
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Die Daltonplan-Schulen
Daltonplan-Schulen gehen auf den Daltonplan
– genauer: Dalton Laboratory Plan – von Helen
Parkhurst4 zurück, der ein möglichst hohes
Maß an In­di­vi­du­a­li­sie­rung und Diffe­ren­zie­rung
im Unterricht fordert. Die Jahrgangsklassen
werden durch Fach- und Arbeitsgruppen ersetzt, um sich an den Neigungen, Interessen
und Fähigkeiten des Schülers zu orientieren.
Der Schüler kann unter verschiedenen Angeboten und Unterrichtsmaterialien unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades auswählen sowie
Zeitvorgaben, Form der Zusammenarbeit und
der Leistungskontrolle selbst bestimmen (freedom). Zu­
dem wird die Zusammenarbeit der
Schüler sehr betont (cooperation). Und letztlich
spielt das Erlernen der selbstständigen Planung und Organisation des Lernens eine große
Rolle (budgeting time). Die erste DaltonplanSchule im deutschsprachigen Raum war die
Steyrer Handelsschule, in der unter der Leitung
von Helga Wittwers und Georg Neuhausers der
Daltonplan umgesetzt wurde.
eorg Kerschensteiner (1854–1932), Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in
G
München, war von 1895 bis 1919 Stadtschulrat in München.
vgl. Kapitel 12.3.3
Peter Petersen (1884–1952) war Professor an der Universität Jena.
Helen Parkhurst (1887–1973) machte als Lehrkraft an einer Landschule in Waterville (USA) die
ersten „Experimente“ für die späteren Daltonplan-Schulen („Waterville-Experiment“). Später
wurde sie Direktorin der grundschuldidaktischen Abteilung am „Central Teachers College“ in
Wisconsin (USA). 1920 erfolgt die Umsetzung ihrer Ideen – ihres Planes – an der Public High
School Dalton (deshalb Daltonplan).
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Kapitel 16
2. Das didaktische Material
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Das kleine Kind hat das intensive Bedürfnis
nach tätigen Sinneseindrücken. Wir bieten
dem Kind Gegenstände dar, die ihm die
Möglichkeit geben, viel klarer und viel leichter zu einer Befriedigung dieses Bedürfnisses zu kommen. Wir wissen, dass das Kind
mit allen seinen Sinnesorganen die Umgebung erforscht und die Bilder mit Auswahl in
sich aufnimmt und ordnet. Da wir aber auch
wissen, dass die zu komplizierte Umgebung,
die viele und ungeordnete Reize bringt, dem
Kind die geistige Arbeit erschwert, kommen
wir ihm zu Hilfe, indem wir ihm Bilder darbieten, die geordnet sind und ihm bei der
Ordnung helfen. Wir lehren das Kind, indem
wir ihm einen Führer geben, der mit seinen
instinktiven Bedürfnissen übereinstimmt
und der ihm ein Gefühl der Freude gibt, weil
er ihm zu befriedigender Arbeit verhilft. Wir
bieten dem Kind mit dem Material geordnete
Reize an und lehren also nicht direkt, wie
man es sonst mit kleinen Kindern zu tun
pflegt, sondern vielmehr durch eine Ordnung, die im Material liegt und die das Kind
sich selbstständig erarbeiten kann. Wir
müssen alles in der Umgebung, also auch
alle Gegenstände, so weit für das Kind vor-
bereiten, dass es jede Tätigkeit selbst ausführen kann.
Wir werden oft damit angegriffen, dass Pädagogen und Psychologen behaupten, unser
Material sei darum nutzlos für ein Kind, weil
es naturentgegengesetzt sei. Dem Kind
müsse alles so natürlich angeboten werden,
wie es sich in der Umwelt finde, und wenn
man eine Farbe gäbe, so dürfe man die Aufmerksamkeit nicht auf die Farbe selber lenken, weil es ja immer ein Gegenstand sei,
dem diese Farbe eigen sei. Farbe und Gegenstand gehörten zusammen, und das Kind
müsse die Farbe als eine der vielen Eigenschaften dieses einen Gegenstandes betrachten. Unser Material soll kein Ersatz für
die Welt sein, soll nicht allein die Kenntnis der
Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir
isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern
wir geben ihm ein Rüstzeug, die ganze Welt
und ihre Kultur zu erobern. Es ist wie ein
Schlüssel zur Welt und ist nicht mit der Welt
selbst zu verwechseln.
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Quelle: Montessori, 20154, S. 23
3. Kritische Würdigung der Montessori-Pädagogik
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Montessori-Einrichtungen haben in den vergangenen Jahrzehnten ein verstärktes Interesse erfahren. Dies liegt unter anderem daran,
dass dieser Ansatz sowohl in seinen theoretischen Grundlagen als auch im praktischen erzieherischen Handeln eine akzeptable Alternative zur herkömmlichen Pädagogik darstellt. Montessori betonte von Anfang an eine
„Pädagogik vom Kinde aus“, in der die zu Erziehenden im Mittelpunkt aller Überlegungen
und allen pädagogischen Arbeitens ­stehen.
Dabei scheint die Montessori-Pädagogik ein
ideales Erziehungskonzept in unserer rationalen, den mündigen Bürger fordernden Lebensund Arbeitswelt zu sein, da sie einen deutlichen
Schwerpunkt auf die Förderung kindlicher
Selbstständigkeit legt. Sie schafft konsequent
eine vorbereitete Umgebung, in der die Übungen des praktischen Lebens und didaktische
Materialien dem kindlichen Streben nach Selbsttätigkeit und Autonomie entgegenkommen.
In diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit
der sogenannte Freiarbeit ein Kernstück der
Montessori-Schule. Im Verlauf des Vormittags
dürfen sich die Schüler für zwei bis drei Unterrichtsstunden nach eigenem Interesse mit einem
Thema beschäftigen. Dadurch kann das Kind
weitgehend sein eigenes Lerntempo bestimmen, der Lehrer hält sich in dieser Zeit möglichst
zurück. So wird den Kindern ein sehr hohes Maß
an Eigenständigkeit erlaubt, das sich deutlich
und positiv von der Regelschule unterscheidet.
Die Sinnesmaterialien helfen dem Kind, seine
alltäglich gewonnenen Eindrücke zu ordnen.
Gleichzeitig erfahren Heranwachsende durch
das Hervorheben einer Materialeigenschaft
wie Farbe, Form, Oberflächenbeschaffenheit
und dergleichen immer wieder neue geistige
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Anregungen und Motivation, mit den Materialien zu experimentieren. Daneben überzeugen
mathematisches Material und Sprachmaterialien durch ihre Anschaulichkeit. Auf diese
Weise leistet die Montessori-Pädagogik einen
gelungenen Beitrag zur kindgerechten intellektuellen Förderung des Heranwachsenden.
Diese auffällige Schwerpunktsetzung hat der
Montessori-Pädagogik aber auch den Vorwurf eingebracht, die Kreativitätserziehung
der Kinder in den musischen und musikalischen Bereichen zu vernachlässigen.
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4. Kritische Würdigung der Waldorfpädagogik
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Vergegenwärtigt man sich den Vorwurf des
Vernachlässigens musisch und musikalischer
Kreativitätserziehung innerhalb der Montessori-Pädagogik, so scheint die Waldorfpädagogik diesen Versäumnissen gebührend
Rechnung zu tragen. Sie betont bereits für
den Kindergarten die Notwen­dig­keit und die
vielfältigen Möglichkeiten einer Kreativitätserziehung im künstlerisch-musi­schen Bereich
sowie im Spiel und greift dabei konsequent
auf Fantasie anregende Naturmaterialien und
Alltagsgegenstände zurück.
Im Bereich der Schule stellen Wortgutachten
eine sinnvolle Alternative zu den abstrakten
Zeugnisnoten der Regelschule, insbesondere
für jüngere Kinder, dar. Das Klassenlehrerprinzip bietet den Vorteil einer jahrelangen Zusammenarbeit zwischen Kindern, Lehrern und
Eltern, kann aber bei gegenseitigen Spannungen oder Antipathien auf Dauer sehr belastend für alle Beteiligten werden. Während der
Epochenunterricht ein differenziertes Auseinandersetzen mit einzelnen Themenbereichen
ermöglicht, birgt er auch die Gefahr, dass
Schüler im Falle von Krankheit ganze Epochen
versäumen, deren Inhalte im laufenden Schuljahr nicht mehr aufgegriffen werden.
Die Waldorfschule differenziert nicht – wie
das staatliche Schulsystem – in Haupt-, Real-
schule und Gymnasium, sondern unterrichtet
ihre Schüler bis zum 14./15. Lebensjahr einheitlich. Diese Vorgehensweise erfährt ein geteiltes Echo. Einerseits wird hier der Gefahr
einer für den einzelnen Schüler zu frühen
Weichenstellung seiner Schullaufbahn begegnet, für andere Schüler mag diese relativ
späte Ausrichtung des Unterrichts an einem
höheren Bildungsabschluss vielleicht schon
­
zu spät kommen. Da Steiner eine Erziehung
des Verstandes und der Urteilskraft erst mit
der Geburt des Astralleibs im dritten Jahrsiebt
empfiehlt, wird der Waldorfpädagogik vorgeworfen, sie betreibe bis in die Pubertät eine
weltfremde, antiintellektuelle Erziehung.
Die Waldorf-Pädagogik steht der Benutzung
von elektronischen Medien, insbesondere
dem Fernsehen, ablehnend gegenüber. In
erster Linie sieht sie die Gefahr einer permanenten Manipulation der Kinder, deren
Urteilsvermögen und Werthaltungen entwicklungsbedingt noch nicht gefestigt sind.
Diese Haltung hat ihr den Vorwurf einer teilweise „weltfremden Pädagogik“ eingebracht.
­Darüber hinaus kritisieren Gegner der Anthroposophie deren mystischen, kosmischübersinnlichen theoretischen Annahmen, die
wissenschaftlich nur schwer erfassbar bzw.
beweisbar seien.
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