Eine elementare Einführung Günter Aumann

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Günter Aumann
Kreisgeometrie
Eine elementare Einführung
Springer-Lehrbuch
Günter Aumann
Kreisgeometrie
Eine elementare Einführung
Günter Aumann
Bretten, Deutschland
ISSN 0937-7433
ISBN 978-3-662-45305-6
DOI 10.1007/978-3-662-45306-3
ISBN 978-3-662-45306-3 (eBook)
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Vorwort
Für Platon war die – später euklidisch genannte – Geometrie ein unverzichtbarer Bestandteil der Bildung. Diese Stellung behauptete sie bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts.
Die renommiertesten Mathematiker widmeten sich ihr und bereicherten sie um neue, oft
überraschende Erkenntnisse. Später erhielt diese Geometrie das Attribut elementar. Das
meinte allerdings nicht, dass sie als grundlegend für die Mathematik betrachtet wurde
(wie dies für die Elementarteilchen in der Chemie oder Physik zutrifft); sie galt vielmehr
als trivial und damit keiner weiteren Betrachtung wert. Sie wurde in die Schulen und (im
günstigsten Fall) die Ausbildung der Lehrer abgeschoben. Inzwischen ist sie auch dort
nurmehr rudimentär vertreten.
Andererseits gab es noch nie so viele Geometrien wie heute. Dies ist zum einen der
Physik geschuldet, für deren mathematische Fundierung die euklidische Geometrie längst
nicht mehr ausreicht. Zum anderen tragen aber viele Teilgebiete der Mathematik die Geometrie im Namen, deren geometrischer Gehalt für den Laien nicht und für den Fachmann
kaum erkennbar ist. Dass dort nicht mehr im eigentlichen Sinn geometrisch argumentiert wird, verwundert nicht. Doch auch in der Elementargeometrie geschieht dies immer
weniger. Während Felix Klein noch Ende des 19. Jahrhunderts in seinem berühmten „Erlanger Programm“ den eigenständigen Wert der geometrischen Argumentation und der
damit verbundenen räumlichen Anschauung hervorhob, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts geometrische Beweisführung immer mehr von algebraischer oder analytischer
verdrängt. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war es dann sogar möglich,
Bücher über Elementargeometrie zu schreiben, die keine einzige Abbildung enthielten.
Während früher Generationen von Geometern voller Stolz ihren Hörern in eindrucksvollen Tafelbildern den ästhetischen Wert gelungener geometrischer Illustrationen vor Augen
führten, kokettieren heute „Geometer“ damit, keine korrekte Skizze zustande zu bringen.
Der Wert eines rein abstrakten Vorgehens soll keineswegs geleugnet werden. Es ist
für die Weiterentwicklung der Mathematik unverzichtbar. Bedenklich ist allerdings die
von seinen Vertretern beanspruchte Ausschließlichkeit. Natürlich empfinden Mathematiker auch einen eleganten abstrakten Beweis als „schön“. Doch lässt sich diese Schönheit
– im Unterschied zur Schönheit einer geometrischen Figur – Nichtmathematikern nur
schwer vermitteln. Indem sie elementargeometrische Argumentation durch analytische
und algebraische ersetzten, verschlossen die Mathematiker Außenstehenden jenes TeilgeV
VI
Vorwort
biet, das den einladendsten Zugang zu ihrem Reich bietet. Leichtfertig wird dadurch eine
Chance vertan, Interesse an dieser interessanten Wissenschaft zu wecken und ihr kaltes
Image durch wärmere Töne anziehender zu gestalten.
Das vorliegende Buch versucht, hier ein Stück weit gegen den Strom zu schwimmen,
indem es die geometrische Argumentation in den Mittelpunkt stellt. Dies zeigen nicht zuletzt die mehr als 250 Abbildungen, die die Beweise begleiten. Dabei geht es nicht darum,
akribisch alle möglichen Fälle abzuarbeiten. Es sollen vielmehr die Beweisideen deutlich
und insbesondere deren geometrischer Kern transparent werden. Um dies zu erreichen,
werden die mathematischen Fachbegriffe auf ein Minimum beschränkt und neben den Resultaten, die im Buch hergeleitet werden, nur wenige Sätze der Schulgeometrie verwendet,
die in jeder Formelsammlung zu finden sind. Auch wird nur selten intensiver algebraisch
argumentiert. Meist geht es dabei um weiterführende Resultate, deren Beweis beim ersten
Lesen übersprungen werden kann.
Die Kreisgeometrie ist das ideale Gebiet, Interessierten den Reichtum der Geometrie zu
erschließen. Kreise sind neben Dreiecken die vertrautesten geometrischen Objekte. Während jedoch die Dreiecksgeometrie (wegen der Erinnerungen an die Schulzeit?) den Ruf
hat, langweilig zu sein, bietet die Kreisgeometrie ein großes Feld geometrisch interessanter, vielfach aber kaum bekannter Resultate. Diese dem Leser nahezubringen, ist das Ziel
dieses Buches.
Den Auftakt bildet ein Kapitel, das zeigt, dass sich allein schon mit dem Satz des Pythagoras – dem wohl bekanntesten aller geometrischen Sätze – eine Vielzahl kreisgeometrischer Aussagen beweisen lässt, deren Bedeutung weit über die Geometrie hinausreicht.
Im Kap. 2 werden die aus der Schule bekannten, über 2000 Jahre alten klassischen Sätze der Kreisgeometrie nochmals vorgestellt und bewiesen. In der Schulgeometrie bilden
sie meist den Schlusspunkt geometrischer Betrachtungen, hier dienen sie als Ausgangspunkt für weite Wanderungen durch das Gebiet der Kreisgeometrie.
Einen kräftigen Schub erfuhr die Kreisgeometrie im 19. Jahrhundert, als die Geometer – etwa der geniale Autodidakt Jacob Steiner – neue Werkzeuge entwickelten. Sie
erlaubten es, das Areal der Kreisgeometrie weiter zu erschließen und neue Wege zu beeindruckenden Aussichtspunkten und bisher unerreichbaren Gipfeln anzulegen. Die damals
geschaffenen Instrumente stehen im Mittelpunkt der Kap. 3 und 4.
Die Mächtigkeit dieser Werkzeuge zeigt sich in den weiteren Kapiteln, die ein breites Spektrum kreisgeometrischer Themen behandeln. Vielen berühmten Kreisen wird der
Leser dabei begegnen, viele prominente Sätze kennenlernen.
G. Aumann
Inhaltsverzeichnis
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
1.1 Der bekannteste Kreis . . . . . . . . . .
1.2 Der gotische Spitzbogen . . . . . . . . .
1.3 Pässe und Fischblasen . . . . . . . . . .
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. 1
. 3
. 4
. 10
2
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Die klassischen Sätze der Kreisgeometrie
2.2 Kreise und Ähnlichkeit . . . . . . . . . . .
2.3 Orthozentrische Quadrupel . . . . . . . . .
2.4 Beschränkte Bereiche . . . . . . . . . . . .
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15
15
20
29
32
3
Potenzgerade und Kreisbüschel . . .
3.1 Potenzpunkte und Potenzgeraden
3.2 Kreisbüschel . . . . . . . . . . . . .
3.3 Das konjugierte Büschel . . . . . .
3.4 Erste Anwendungen . . . . . . . .
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39
40
45
49
53
4
Krummes soll gerade werden – die Inversion am Kreis
4.1 Definition und grundlegende Eigenschaften . . . . . .
4.2 Inversion und Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 Inversion und Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Geradführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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57
58
68
72
80
5
Berühmte Kreise . . . . .
5.1 Apollonios-Kreise .
5.2 Der Feuerbach-Kreis
5.3 Der Pferchkreis . . .
5.4 Die Malfatti-Kreise .
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85
85
93
100
104
6
Vielecke in und um Kreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6.1 Sehnenvielecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
6.2 Der Schmetterlingssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
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VII
VIII
Inhaltsverzeichnis
6.3
6.4
Tangentenvielecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Sehnentangentenvielecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
7
Auch Geraden sind Kreise – die konforme Ebene
7.1 Kreisbüschel in der konformen Ebene . . . . .
7.2 Kreisverwandtschaften . . . . . . . . . . . . . . .
7.3 Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.4 Die stereographische Projektion . . . . . . . . .
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143
144
148
160
163
8
Das Apollonische Berührproblem
8.1 Die zehn Probleme . . . . . . .
8.2 Vom Nutzen der Inversion . . .
8.3 Apollonios auf der Kugel . . .
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169
169
177
181
9
Kreisketten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1 Steiner-Ketten . . . . . . . . . . . . .
9.2 Ein Sieben-Kreise-Satz . . . . . . .
9.3 Pappus-Ketten und Schustermesser
9.4 Ketten in Kreissegmenten . . . . . .
9.5 Miquel-Ketten . . . . . . . . . . . . .
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183
183
191
193
200
202
10
(K)eine runde Sache – Kurven konstanter Breite
10.1 Reuleaux-Polygone . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.2 Stützgeraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.3 Der Satz von Barbier . . . . . . . . . . . . . . . .
10.4 Ausgezeichnet: Kreis und Reuleaux-Dreieck .
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207
208
211
219
222
11
Konstruktionen – ohne Kreis(e) geht es nicht
11.1 Der Zirkel genügt . . . . . . . . . . . . . . .
11.2 Napoleonische Probleme . . . . . . . . . .
11.3 Wann genügt das Lineal? . . . . . . . . . .
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231
231
237
240
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
Wir beginnen unseren Spaziergang durch die Kreisgeometrie mit der Konstruktion einiger
interessanter und in der Kunst vielfach auftretender Figuren, die sich aus Kreisbögen zusammensetzen. Die theoretischen Grundlagen, die wir hierfür benötigen, sind sehr gering:
Es genügt der Satz des Pythagoras. Zuvor werfen wir einen kurzen Blick auf die in diesem
Buch verwendeten Bezeichnungen (siehe Abb. 1.1).
Die Gerade g durch die Punkte A und B bezeichnen wir mit AB, die Strecke mit den
Endpunkten A und B mit AB. Jede Gerade ist die Trägergerade der auf ihr liegenden Strecken. Punkte P; Q; R : : : auf einer Geraden heißen kollinear. Jeder Punkt einer Geraden
AB teilt diese in zwei, in diesem Punkt beginnende Halbgeraden. Die in A beginnende
Halbgerade durch B bezeichnen wir mit ABC .
Die Länge der Strecke AB ist der Abstand der Punkte A und B, den wir als d.A; B/
schreiben. Da Missverständnisse nicht zu befürchten sind, werden wir bisweilen auch vom
Verhältnis zweier Strecken sprechen, wenn wir das Verhältnis ihrer Längen meinen. Der
C
F
B
S
S
S
A
g
Abb. 1.1 Grundbegriffe
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
G. Aumann, Kreisgeometrie, Springer-Lehrbuch, DOI 10.1007/978-3-662-45306-3_1
1
2
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
Q
Sehne
P
M
M
Durchmesser
k
k
A
Abb. 1.2 Begriffe am Kreis
Abstand d.C; g/ eines Punktes C von einer Geraden g ist die Länge der Strecke CF,
wobei F der Fußpunkt des von C auf g gefällten Lotes ist.
Zwei Halbgeraden mit dem gemeinsamen Anfangspunkt S bilden einen Winkel mit
dem Scheitel S. Zwei Geraden durch S erzeugen somit vier Winkel, von denen je zwei
gegenüberliegende (als Scheitelwinkel) gleich groß sind und zwei benachbarte sich zu
180ı ergänzen. Kennt man also einen Winkel, so kennt man alle. Wir sprechen daher kurz
vom Schnittwinkel zweier Geraden. Handelt es sich bei den Geraden um die Tangenten
zweier Kurven in einem gemeinsamen Punkt S, so ist dies auch der Schnittwinkel dieser
Kurven. Beträgt er 0ı (oder 180ı ), so berühren sich die Kurven.
In einer Ebene ist ein Kreis k durch seinen Mittelpunkt M und seinen Radius r festgelegt als Ort aller Punkte der Ebene, die von M den Abstand r haben. Die Verbindungsstrecke zweier Kreispunkte heißt Sehne des Kreises, ist sie doppelt so lang wie ein Radius,
auch Durchmesser (siehe Abb. 1.2). Besitzt ein Kreis den Durchmesser AB, so sprechen
wir kurz vom Kreis über AB. Jede Sehne teilt die Kreisfläche in zwei Segmente.
Einen durch zwei Radien MP und MQ ausgeschnittenen Kreisbogen und dessen Länge
(siehe Abb. 1.2). Es gibt davon zwei, die wir zueinander kombezeichnen wir mit PQ
plementär nennen. Die beiden Halbgeraden MPC und MQC schließen den zugehörigen
Mittelpunktswinkel oder Zentriwinkel ein. Wählen wir einen (von P und Q verschiedenen)
komplementären Bogen, so liefern die Halbgeraden
Punkt A auf dem zu einem Bogen PQ
C
C
Wenn
AP und AQ einen Umfangswinkel oder Peripheriewinkel über dem Bogen PQ.
klar ist, welcher Bogen mit den Endpunkten P; Q gemeint ist, sprechen wir bisweilen
auch vom Umfangswinkel über der Sehne PQ.
Schließlich nennen wir zwei Kreise mit gleichem Mittelpunkt konzentrisch. Die Gerade
durch die Mittelpunkte zweier nicht konzentrischer Kreise ist deren Zentrale.
1.1
Der bekannteste Kreis
3
1.1 Der bekannteste Kreis
Der wohl bekannteste Kreis ist nach Thales benannt, der etwa von 625 bis 547 v. Chr. in
Milet, einer Stadt an der Westküste Kleinasiens, lebte. In seiner weitestgehenden Formulierung lautet der entsprechende Satz wie folgt.
Satz 1.1 (Satz des Thales) Das Dreieck ABC besitzt genau dann bei C einen rechten
Winkel, wenn der Punkt C auf dem (Thales-)Kreis über AB liegt.
Da die Winkelsumme im Dreieck 180ı beträgt, ergeben in einem rechtwinkligen Dreieck
die nicht rechten Winkel zusammen 90ı . Hat also das Dreieck ABC bei C einen rechten
Winkel, so kann man diesen durch eine Strecke CD so teilen, dass im Dreieck ADC zweimal der Winkel ˛ und im Dreieck BCD zweimal der Winkel ˇ auftritt (siehe Abb. 1.3a).
Da ein Dreieck mit zwei gleichen Winkeln gleichschenklig ist, folgt hieraus
d.A; D/ D d.C; D/ D d.B; D/ ;
weshalb die Punkte A; B; C auf einem Kreis mit Mittelpunkt D liegen.
Liegt umgekehrt C auf dem Kreis über AB, so gilt für den Mittelpunkt M der Strecke
AB
d.A; M / D d.B; M / D d.C; M /
(siehe Abb. 1.3b). Also sind die Dreiecke MCA und MBC gleichschenklig, weshalb ihre
Basiswinkel jeweils gleich groß sind. Somit gilt
˛ C ˇ D 180ı W 2 D 90ı :
a
b
C
C
˛ ˇ
˛ ˇ
ˇ
˛
A
D
Abb. 1.3 Der Satz des Thales
ˇ
˛
B
A
M
B
4
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
1.2 Der gotische Spitzbogen
Mit der Gotik löste der Spitzbogen den romanischen Rundbogen ab. Er ermöglichte den
Bau höherer Kirchen, deren Lichtarchitektur Gott, die Quelle allen Lichts, erfahrbar machen sollte. Die farbigen Fenster dieser Kirchen faszinieren den Betrachter bis heute. Als
erstes Bauwerk der Hochgotik gilt die Kathedrale von Chartres (siehe Abb. 1.4). Begonnen
wurde mit ihrem Bau im Jahre 1194, nachdem ein Stadtbrand den romanischen Vorgängerbau zerstört hatte. Offiziell eingeweiht wurde die Kirche erst 1260. Die Gesamtfläche
ihrer Fenster beträgt rund 5000 m2 , was etwa der Fläche eines Fußballfeldes entspricht.
Ein gotisches Kirchenfenster besteht aus einem Rechteck, das nach oben durch die so
genannte Kämpferlinie begrenzt ist (rot in Abb. 1.5). Ihre Endpunkte heißen die Kämpferpunkte. Darüber erhebt sich das von zwei Kreisbögen (mit gleichem Radius) begrenzte
Bogenfeld. Wir betrachten im Folgenden ausschließlich den Fall, der in Abb. 1.5a zu sehen ist. Hier fallen die Mittelpunkte der Kreisbögen mit den Kämpferpunkten zusammen.
Diese Konstruktion der Spitzbögen kann man variieren, indem man die Mittelpunkte der
Kreise nach außen (überhöhter Spitzbogen; siehe Abb. 1.5b) oder innen (gedrückter Spitzbogen; siehe Abb. 1.5c) verschiebt.
Das Bogenfeld ist meist reich mit Maßwerk, also durch die filigrane Arbeit von Steinmetzen, verziert (siehe Abb. 1.6). Noch aufwendiger waren diese Verzierungen in den
Abb. 1.4 Die Kathedrale von Chartres (Olvr / Wikimedia Commons)
1.2
Der gotische Spitzbogen
a
5
b
c
Abb. 1.5 Kirchenfenster
Abb. 1.6 Bogenfeld in Fontfroide (bei Narbonne)
prächtigen runden, im Durchmesser bisweilen mehr als 10 Meter großen Fenstern über
dem Hauptportal oder in den Fassaden des Querschiffes, die als Fensterrosen oder Rosetten bekannt sind. Die Abb. 1.7 zeigt ein reich verziertes Kirchenfenster mit einer Randkurve, die aus dem Rahmen fällt. Im Kap. 10 werden wir auf diese Randkurve zurückkommen.
6
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
Abb. 1.7 Fenster in der Kathedrale von Bilbao
Wir sehen, dass sich das Maßwerk aus verschiedenen geometrischen Formen zusammensetzt, bei denen der Kreis eine wichtige Rolle spielt. Wie sich solche Formen konstruieren und ihre Maße berechnen lassen, sehen wir uns in diesem Kapitel an einigen
Beispielen an.
Zunächst betrachten wir Maßwerk in einem Spitzbogen. Dabei gehen wir stets davon
aus, dass dieser Spitzbogen von der Kämpferlinie AB der Länge R und von zwei Kreisbögen mit den Mittelpunkten A und B begrenzt wird.
Als erstes füllen wir den Spitzbogen mit einem Kreis (siehe Abb. 1.8a). Wie lassen sich
der Mittelpunkt M und der Radius r dieses Kreises bestimmen?
a
b
r
r
M
M
A
B
R
A
B
R=2
Abb. 1.8 Einbeschriebener Kreis
r
1.2
Der gotische Spitzbogen
7
Abb. 1.9 Einfache
Konstruktion
D
P
M
A
C
m
B
Die Abb. 1.8b zeigt die Lösung. Da der Mittelpunkt aus Symmetriegründen auf der
Mittelsenkrechten der Strecke AB liegt, gilt für das gelbe rechtwinklige Dreieck nach dem
Satz des Pythagoras
2
R
2
C r2 :
.R r/ D
2
Hieraus folgt
3
r D R:
8
Wie man den Kreismittelpunkt leicht konstruktiv findet, sagt ein altes Anleitungsbuch für Steinmetze (siehe Abb. 1.9): Schneidet der Kreis mit dem Radius R um den
Mittelpunkt C der Kämpferlinie deren Mittelsenkrechte im Punkt D, so trifft die Mittelsenkrechte m der Strecke AD die Mittelsenkrechte der Kämpferlinie im gesuchten Mittelpunkt M .
Ist nämlich M der gesuchte Mittelpunkt, so hat dieser wegen
d.A; M / D d.A; P / d.M; P / D d.C; D/ d.M; C / D d.M; D/
von den Punkten A und D den gleichen Abstand. Also liegt M auf der Mittelsenkrechten
m der Strecke AD.
Wir fügen nun in den Spitzbogen zwei weitere Kreise ein (siehe Abb. 1.10a). Um den
Radius s und die Mittelpunkte dieser Kreise zu bestimmen, wenden wir zweimal den Satz
des Pythagoras an. Zunächst zeigt das gelbe Dreieck in Abb. 1.10b
2 2
3
3
3
RCs R s D Rs :
x2 D
8
8
2
Da im blauen Dreieck die größere Kathete die Länge
p
p
.R s/2 s 2 D R2 2Rs
besitzt, gilt ferner
p
p
R 2
5
2
R 2Rs D R2 2Rs R R2 2Rs :
x D
2
4
2
8
1
a
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
b
3
R
8
Cs
3
R
8
s
x
s
Abb. 1.10 Zwei weitere Kreise
Zusammen zeigt dies
p
7
5
s C R D R2 2Rs :
2
4
Quadrieren liefert
sD
p
R
.27 ˙ 12 2/ :
98
Da s kleiner als 38 R ist, erhält man schließlich
sD
p
R
R
.27 12 2/ :
98
10
Nun setzen wir zunächst zwei Halbkreise (mit dem Radius R4 ) auf die Kämpferlinie
und anschließend in die Restfläche einen berührenden Kreis (siehe Abb. 1.11a). Gesucht
sind der Radius r und der Mittelpunkt dieses Kreises.
Wenden wir wieder zweimal den Satz des Pythagoras an, erhalten wir (siehe Abb.
1.11b)
2 2
R
R
R 2
D rC
:
h2 D .R r/2 2
4
4
a
b
r
R
h
R
4
Abb. 1.11 Zwei Halbkreise
R
2
r
1.2
Der gotische Spitzbogen
9
Abb. 1.12 Drei und vier Bögen
Hieraus folgt
1
3 2
R C r 2 2Rr D r 2 C Rr ;
4
2
was
3 2
5
R D Rr
4
2
und schließlich
rD
3
R
10
ergibt.
Dass man auch mehr als zwei Halbkreise auf die Kämpferlinie setzen kann, zeigen die
Spitzbögen aus dem Kreuzgang des ehemaligen Klosters Fontfroide (bei Narbonne), die
in Abb. 1.12 zu sehen sind.
Nun setzen wir in den Spitzbogen erst zwei weitere Bögen mit halbem Radius und dann
einen Berührkreis ein (siehe Abb. 1.6 und Abb. 1.13a).
a
b
r
M
r
R
2
R
2
R
2
Abb. 1.13 Spitzbögen im Spitzbogen
R
R
4
10
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
Die Abb. 1.13b zeigt, dass sich der Radius r dieses Kreises sehr einfach berechnen
lässt. Es gilt nämlich
R
C 2r D R ;
2
also
R
rD :
4
Der Mittelpunkt M des Kreises ist damit Schnittpunkt der Mittelsenkrechten der Kämpferlinie mit dem Kreis um einen Kämpferpunkt mit dem Radius
3
R
Cr D R:
2
4
1.3 Pässe und Fischblasen
Die Kreise, die wir im vorigen Abschnitt in die Spitzbögen gesetzt haben, lassen sich natürlich weiter verzieren. In den Abbildungen 1.6 und 1.7 haben wir hierfür bereits Beispiele gesehen. Ein weiteres Beispiel aus der Kathedrale von Narbonne zeigt die Abb. 1.14.
Besonders beliebte Motive waren dabei Fischblasen und Drei- oder Vierpässe. Mit ihnen werden wir uns in diesem Abschnitt beschäftigen.
Wir beginnen mit dem Vierpass und der vierschweifigen Fischblase. Dazu setzen wir in
einen Kreis k mit Radius R vier kongruente berührende Kreise (siehe Abb. 1.15). Indem
man die Berührkreise geeignet abschneidet, erhält man unterschiedliche Figuren. In der
Abb. 1.14 Pässe und Fischblasen
1.3
Pässe und Fischblasen
11
Abb. 1.15 Vierpass und vierschweifige Fischblase
Mitte sehen wir den Vierpass, rechts die vierschweifige Fischblase. Beide Figuren sind
auch – reich verziert – in der Abb. 1.14 zu sehen. Wie groß ist der Radius r der vier
Berührkreise?
Der Satz des Pythagoras liefert im gelben Dreieck der Abb. 1.16a
.2r/2 D 2 .R r/2 ;
also
r 2 C 2Rr D R2
oder
.r C R/2 D r 2 C 2Rr C R2 D 2R2 :
Da r positiv ist, ergibt dies
p
r D R C R 2 :
a
b
r
k
R
r
k
9
>
=
r
r
Abb. 1.16 Berechnung und Konstruktion
>
;
R
r
12
1
Ouvertüre: Kreise in gotischem Maßwerk
Die Abb. 1.16b zeigt, dass die Konstruktion dieser Größe sehr einfach ist. Ein Berührquadrat des Kreises k hat die Seitenlänge 2R.pDie halbe Diagonale des Quadrats hat daher
nach dem Satz des Pythagoras die Länge R 2. Zieht man hiervon R ab, so erhält man
nach unserer Rechnung den Radius r der vier Berührkreise. Der Kreis um eine Quadratecke, der den Kreis k von außen berührt, hat somit den gesuchten Radius r. Auch der
Abstand R r der vier Kreismittelpunkte vom Mittelpunkt des Kreises k lässt sich direkt
ablesen.
Die Abb. 1.6 zeigt, dass bisweilen auf die vier Kreise ein fünfter gesetzt wird. Geht er
(wie der gestrichelte Kreis in Abb. 1.16b) durch die vier Berührpunkte der einbeschriebenen Kreise, so ist er zu diesen kongruent (man betrachte im gelben Dreieck der Abb. 1.16a
die Höhe auf die Hypotenuse).
Wir kommen nun zum Dreipass und zur dreischweifigen Fischblase. Dazu setzen wir
in unseren Kreis k mit Radius R drei kongruente berührende Kreise (siehe Abb. 1.17).
Durch geeignetes Abschneiden enthält man wieder unterschiedliche Figuren, in der Mitte
den Dreipass, rechts die dreischweifige Fischblase.
Wie groß ist der Radius r der drei Berührkreise?
p
s
Da ein gleichseitiges Dreieck mit der Seitenlänge s den Umkreisradius
p 3 3 besitzt,
besitzt ein gleichseitiges Dreieck mit Umkreisradius R die Seitenlänge R 3. Daher liefert
der 2. Strahlensatz (man betrachte in Abb. 1.18 die gelbe Figur)
p
.R r/ W R D 2r W R 3 :
Dies ergibt den Radius
p
r D .2 3 3/R
und die für die Konstruktion der Mittelpunkte interessante Größe
p
R r D .4 2 3/R :
Abb. 1.17 Dreipass und dreischweifige Fischblase
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