Bankhistorisches Archiv Banking and Finance in Historical Perspective Band 35 • Heft 2 • 2009 © Franz Steiner Verlag, Stuttgart Hartmut Kiehling Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation – Die Kreditschöpfung und ihre Determinanten 1914 bis 1923 ABSTRACT: Reichsbank’s Monetary Policy during High and Hyperinflation – Credit Expansion and its Factors 1914–1923 The main purpose of this contribution is to explore money supply and other reasons for credit expansion during high and hyperinflation in Germany, and to compare it as accurately as possible with actual lending. Volume and time to maturity are particularly important factors behind credit expansion. These factors have been explored before to a very different degree. Foreign deposits have been examined previously extensively in relation to those of other depositors such as enterprises, private and public households. Further potential factors behind credit supply – such as money rates and monetary growth – have not, however, been explored until now. This is especially true for token money and near money during the last stages of German hyperinflation. Time series of money rates published to date are hampered by statistical breaks or flat markets. These subject areas will be covered in this paper. Considerable redeployment of credit extension took place from 1914–1923 between commercial banks and other financial intermediaries such as exchanges or mortgage banks. This has been explored before, but it is quantified in detail for the first time in this paper. Liquidity of the banking system and that of the overall economy is another important factor behind credit expansion. Such factors changed greatly during the period under examination. Changes are represented in this paper month by month. This detailed investigation has several goals: first, a better classification of periods both of money supply respectively credit lending and of general economic development. This is especially important during the sudden crises of spring 1920, autumn 1921 and during the second half of 1922. The liquidity of banks and the overall economy has not been explored sufficiently to date. Second, this paper aims to answer two questions in this regard: to which extent did the Reich’s subsidies during “Ruhrkampf” feed German money markets, and how much token money and near money was circulating at that time? Lastly, this paper examines whether Reichsbank’s policy was really as accommodating as many authors suppose it to have been, or whether its policy followed certain rules. Seit seiner Novellierung 1939 fasst das Gesetz über das Kreditwesen (kurz: Kreditwesengesetz – KWG) Banken und Sparkassen unter dem Begriff „Kreditinstitute“ zusammen. In diesem offensichtlich wohlweislich gewählten Begriff manifestiert sich die besondere Bedeutung der Kreditvergabe als eine der wesentlichen Kernfunktionen des Bankengeschäfts.1 Das Kreditgeschäft bindet – mehr noch als das Einlagen-, Zahlungsverkehrs- und Wertpapiergeschäft – in besonderem Maße Betriebsmittel, andererseits trägt es in aller Regel aber auch wesentlich zum Unternehmenserfolg bei. Eine Grundvoraussetzung für das Kreditgeschäft der Banken ist die Verfügbarkeit ausreichender liquider Mittel. Mit anderen Worten: Die Banken sind Händler von Liquidität unterschiedlicher Fristigkeit. In vorliegender Untersuchung sollen das Geldangebot sowie die übrigen Faktoren der Kreditschöpfung während der großen deutschen Inflation von 1914/18 bis 1923 be1 Abweichend vom KWG werden die Begriffe „Banken“ und „Kreditinstitute“ im Folgenden synonym verwandt. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 96 Hartmut Kiehling stimmt und der tatsächlichen Kreditgewährung gegenübergestellt werden. Zu den übrigen Faktoren der Kreditschöpfung zählen die Entwicklung der Einlagen, ihre Volumina und Fristigkeit. In diesem Zusammenhang interessieren vor allem das Verhalten der großen Einlegergruppen des Auslandes sowie der inländischen öffentlichen Haushalte, Unternehmen und Privaten. Dabei stehen die Privateinlagen im Mittelpunkt, die üblicherweise wegen ihres Volumens und ihrer Stetigkeit von besonderer Bedeutung für die Kreditgewährung sind. Während die Zu- und Abflüsse von Auslandsgeldern in der Forschung bereits intensiv untersucht wurden, sind dagegen andere mögliche Faktoren des Kreditangebots in der deutschen Inflation, wie die Entwicklung der Geldmenge und der Geldmarktzinsen, bislang kaum erforscht. Das gilt vor allem für die Not- und Quasigeldvolumina, denen 1923 eine hohe Bedeutung zukam. Die bereits veröffentlichten Zeitreihen zu den Geldmarktsätzen haben gravierende Schwächen, da sie Brüche aufweisen und ihnen zeitweise kaum Umsätze zugrunde lagen. In der Zeit zwischen 1914 und 1923 kam es zu erheblichen Umschichtungen zwischen der Kreditgewährung der Banken und derjenigen der übrigen Finanzintermediäre (insbesondere der Hypothekenbanken und der organisierten Kapitalmärkte). Diese Entwicklungen wurden zwar in der Literatur gelegentlich angesprochen, bisher jedoch weder quantifiziert noch zeitlich genau eingegrenzt. Die Liquiditätsausstattung der Banken wie auch der Volkswirtschaft im Allgemeinen wies im Laufe des Untersuchungszeitraums außerordentliche Schwankungen auf, die im Folgenden Monat für Monat nachvollzogen werden sollen. Das galt vor allem für die krisenhaften Zuspitzungen der Liquiditätssituation bis zum Frühjahr 1920, im Herbst 1921 sowie im zweiten Halbjahr 1922. Von besonderem Interesse ist jedoch die Liquiditätssituation im Jahr 1923, die – bislang noch unzureichend erforscht – folgende Fragen aufwirft: Inwieweit flossen die Unterstützungsgelder des Reiches für das Ruhrgebiet auf den deutschen Geldmarkt zurück und in welchem Umfang waren im Zeitablauf Notund Quasigeldbestände im Umlauf? In diesem Zusammenhang soll der Versuch einer Neubewertung der Reichsbankpolitik unternommen werden, deren vermeintlich passiv akkommodierende Vorgehensweise in der Literatur bisher nahezu einheitlich auf Kritik gestoßen ist. Während die organisatorische Vorbereitung und Durchführung der Währungsstabilisierung durch die Einführung der Rentenmark weitgehend unberücksichtigt bleiben soll, hat die folgende Untersuchung dennoch eine primär wirtschaftshistorische Zielsetzung – etwa im Gegensatz zu den vorwiegend volkswirtschaftlichen Arbeiten mehrerer angelsächsischer Autoren, die Hyperinflationen der Vergangenheit als Gelegenheit begriffen, die Gesetzmäßigkeiten der Geldnachfrage und des Geldangebots unter extremen Umständen näher zu untersuchen. Zugleich möchte die vorliegende Arbeit einen ergänzenden Beitrag leisten zu den volkswirtschaftlichen Studien der letzten Jahrzehnte, die sich primär mit dem Geldangebot in der Hyperinflation befassten, und insbesondere im dritten Kapitel über das Geld- und Kreditangebot der Banken unter dem Aspekt der volkswirtschaftlichen Theorie Eingang in die Untersuchung einfließen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 97 I. Das Datenmaterial Viele der in dieser Untersuchung herangezogenen Daten liegen lediglich mit Stand zum Jahresultimo vor. Darüber hinaus wird soweit wie möglich auf monatliche Werte zurückgegriffen, da nur so die Mikrostruktur der Marktbewegungen erfasst werden kann, die es erlaubt, den zeitlichen Ablauf in der hektischen Inflationszeit zu erfassen und Zusammenhänge besser zu rekonstruieren. Allerdings unterliegen diese Monatswerte oft großen Verzerrungen. Soweit es sinnvoll und möglich ist, werden diese jedoch benannt und quantifiziert. Flussgrößen und Bestände sind im Folgenden ausschließlich in Goldmark (GM) wiedergegeben, um die realen Verhältnisse abzubilden. Als besonderes Problem jeglicher wertbeständiger Rechnung erweist sich jedoch die Berücksichtigung der zurückgestauten Inflation der Kriegsjahre. Alternativ wäre es möglich, an die Entwicklung eines nominalen Geldmengenaggregates anzuknüpfen. Dabei käme insbesondere die Geldbasis infrage, die zwar in monatlichen Daten vorliegt, jedoch um die Veränderung eines Einkommensaggregats der Volkswirtschaft zu korrigieren wäre. Da für den Untersuchungszeitraum jedoch eine solche Größe nicht zur Verfügung steht, müssten die jährlichen Werte der Industrieproduktion herangezogen und interpoliert werden. Eine solche Inflationsbereinigung der Nominalwerte über die Geldmenge bereitet im Untersuchungszeitraum jedoch besondere Schwierigkeiten. Dazu zählen insbesondere die Quantifizierung und zeitliche Einordnung der Versorgung der während des Krieges besetzten Gebiete mit deutscher Währung2 sowie des Währungsrückflusses und der Bargeldhortung. Es bleibt daher notgedrungen bei der Inflationsbereinigung über die Goldmark. Unter „Goldmark“ verstand man in der Kriegs- und Nachkriegszeit die Mark vor 1914 bzw. deren Äquivalent.3 Zur Umrechnung – damals „Reduzierung“ genannt – verwandte man entweder die offizielle Parität von 4,198 Mark/US-Dollar oder den Großhandelsindex (Basis meist 1913 = 100). Im Folgenden wurde durchgängig die Umrechnung der Markbeträge über den Dollar gewählt, da sich die Banken im Laufe der Inflationszeit 2 3 Zu den wenigen Studien, die hierzu vorliegen, zählt Reinhold Zilch, Okkupation und Währung im Ersten Weltkrieg. Die deutsche Besatzungspolitik in Belgien und Russisch-Polen 1914–1918. Goldbach 1994. Die Reichsbank schätzte die Ende 1916 in fremden Gebieten umlaufende Notenmenge auf zwei Milliarden M, die belgische Regierung den Umlauf in ihrem Land nach Kriegsende auf sieben bis acht Milliarden M. Vgl. Franz Eulenburg, Inflation. Zur Theorie der Kriegswirtschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 45 (1919), S. 493 f. Bei diesen Zahlen ist allerdings der Notenschmuggel nach Belgien zu berücksichtigen, wo deutsche Zahlungsmittel nach den Waffenstillstandsbedingungen zu pari einzulösen waren. Vgl. Hermann Bente, Die deutsche Währungspolitik von 1914–1924, in: Weltwirtschaftliches Archiv 23 (1926), S. 143*; Die Bank 16 (1923), S. 145*, 160*. Streng genommen war die Mark seit 1910 „Papiermark“. Zum 1. Januar 1910 trat die Novelle zum Bankgesetz vom 1. Juni 1909 in Kraft, nach der neben den Reichsgoldmünzen auch die Reichsbanknoten zu gesetzlichen Zahlungsmitteln wurden. Dies hatte zunächst jedoch kaum praktische Bedeutung, da die Reichsbanknoten bereits zuvor allgemein akzeptiert worden waren und bis zum Juli 1914 jederzeit in Gold eingelöst werden konnten. Vgl. Knut Borchardt, Währung und Wirtschaft, in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975. Frankfurt am Main 1976, S. 3–55, hier S. 50 f. Im Lichte der späteren Entwicklung betrachteten die Zeitgenossen die Banknovelle von 1909 jedoch als den ersten Schritt auf dem Weg zur Zerrüttung der deutschen Währung. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 98 Hartmut Kiehling zunehmend auf das Ausland hin orientierten.4 Diese (auch damals übliche) Umrechnung hat jedoch einige Nachteile. So liefen der Binnen- und der Außenwert der Mark in der Zeit von 1919 bis Mitte 1923 deutlich auseinander,5 sodass diese Umrechnungsmethode aus binnenwirtschaftlicher Sicht zu einer deutlichen Unterzeichnung der Bankenliquidität führt. Die Änderungen der Kurse auf den Devisenmärkten waren zudem volatiler als die der inländischen Preise. Dies führte zusätzlich zu einer Überzeichnung der kurzfristigen Schwankungen der Bankenliquidität. In der letzten Phase der Hyperinflation kam hinzu, dass die Berliner Devisenkurse seit der Jahresmitte 1923 keine reinen Marktkurse waren, da die Kursfeststellung über die Reichsbank erfolgte,6 die gegen Ende der Hyperinflation die einzige Anbieterin von Goldmark war, jedoch während des gesamten Untersuchungszeitraums die Devisennachfrage nicht annähernd erfüllen konnte.7 Andererseits wurden die außerhalb des deutschen Devisengebietes (wie bis Mitte 1923 in Berlin) exzessiven Dollarkursschwankungen durch die offizielle Kursfeststellung deutlich geglättet und die Marktkurse schwenkten schließlich seit Anfang Dezember 1923 auf die administrierten Kurse ein. Es scheint daher gerechtfertigt, in der vorliegenden Arbeit durchgängig die offiziellen Berliner Kurse zu verwenden. Die Nachteile einer Umrechnung über den Dollarkurs kann man vermeiden, wenn es gelingt, „dimensionslose“ Kennzahlen zu errechnen, also etwa „Reichsbankeinlagen zu Abrechnungsvolumina“ oder die „Liquiditätsquote der Banken“. Dies ist jedoch nicht in jedem Fall möglich. Des Weiteren wird im Folgenden auf aggregierte Bankbilanzen zurückgegriffen, die für den größten Teil des Untersuchungszeitraums für die Berliner Großbanken, die Provinzund Hypothekenbanken sowie die Deutsche Girozentrale – Deutsche Kommunalbank – (DGZ) und die Preußische Zentralgenossenschaftskasse8 vorliegen. Darüber hinaus sind Einlagen- (und Kredit-)volumina von Sparkassen und gewerblichen Kreditgenossenschaften bekannt,9 deren Berechnungsweise und die damit verbundene Problematik im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Zum einen war den Banken kein bestimmtes Bilanzierungsschema und damit auch kein Zuordnungsschema für einzelne Vermögensgegenstände vorgeschrieben.10 Eine Ausnahme waren seit 1912 die Aktienkreditbanken,11 4 In diesem Zusammenhang sei auf die bereits früh einsetzende Kapitalflucht ebenso verwiesen wie auf die Abwicklung des sich bereits 1920 erholenden Außenhandels, die Anlage der 1919 bis 1921 spekulativ in Deutschland angelegten Auslandsgelder, die daraus folgende Internationalisierung des Wertpapier- und Konsortialgeschäfts (Pakethandel, Auslandsemissionen, Wertpapierkundengeschäft etc.) sowie die gegen Ende der Inflationszeit mehr und mehr erfolgte Anlage der liquiden Mittel der Banken in Devisen, Sorten und wertbeständigen Zahlungsmitteln. 5 Wirtschaft und Statistik 1 (1921), S. 192 f., 284 ff.; 2 (1922), S. 234 ff., 341–344; 3 (1923), S. 28 f. 6 Notverordnung vom 22. Juni 1923, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1923/I, S. 401. Vgl. zu den abweichenden Kursen der Kölner und Amsterdamer Börsen Rüdiger Dornbusch, Lessons from the German Inflation Experience of the 1920s, in: ders. (Ed.), Macroeconomics and Finance. Essays in Honor of Franco Modigliani. Cambridge, Mass. 1987, S. 355 ff. 7 Karl Elster, Von der Mark zur Reichsmark. Die Geschichte der deutschen Währung in den Jahren 1914 bis 1924. Jena 1928, S. 212. 8 Spitzeninstitute des Sparkassen- und des Genossenschaftssektors. 9 Deutsche Bundesbank, Deutsches Geld- und Bankwesen in Zahlen 1876–1975. Frankfurt am Main 1976, S. 53–122. 10 Ebd., S. 55. 11 In der Bilanzstatistik waren die so genannten „Aktien-Kreditbanken“ die gängige Bezeichnung für die Berliner Großbanken und die Provinzbanken. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 99 die nach einer Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 30. Juli 191112 für ihre Zweimonatsbilanzen ein einheitliches Formblatt benutzen mussten.13 Damit waren im Großen und Ganzen auch die Inhalte der einzelnen Positionen festgelegt.14 Nach diesem Gliederungsschema richteten sich die Banken mit einigen Ausnahmen (so zum Beispiel die Berliner Handels-Gesellschaft) auch bei der Erstellung ihrer Jahresbilanzen. Zum anderen unterlagen die Bilanzdaten verschiedenen Bewertungsmaßnahmen, die mehr oder weniger große Abweichungen von den aktuellen Marktwerten bewirkten. So stellten die veröffentlichten Bilanzen in der Inflationszeit eine Mischung aus Papier- und Goldmarkbeträgen dar.15 Insbesondere bei Substanzwerten (Immobilien, Beteiligungen, Aktien etc.) führte das Anschaffungskostenprinzip zu ausgeprägten Unterbewertungen. Allein die Bankgebäude der Berliner Großbanken hatten nach Berechnungen Alfred Lansburghs Ende 1923 einen Marktwert von mindestens 300 Mio. GM. In den Mark-Schlussbilanzen summierten sie sich jedoch lediglich auf umgerechnet 1.464 GM.16 Mit fortschreitender Geldentwertung brachen zudem einige Banken die herkömmlichen Bilanzierungsgrundsätze, um einer rechnerischen Überschuldung zuvorzukommen.17 Vermutlich bezog sich die volumenmäßig wichtigste Abweichung zwischen Bilanzansätzen und Marktwerten dennoch auf die Substanzwerte. Von diesen interessieren im Zusammenhang der Fragestellung vorliegender Studie lediglich die Sorten, deren Unterbewertung zumindest Ende 1922 zu einem zu geringen Ausweis der Barreserven führte, während andere Bilanzpositionen (wie eigene Wertpapiere, Konsortial- und dauernde Beteiligungen) angesichts eines immer schnelleren Umschlages nur relativ geringen Bewertungsspielräumen (dies galt sowohl für die Kreditoren als auch für die Debitoren) unterlagen und kaum von Interesse sind. Zudem gibt es zu den Bilanzdaten in einigen Fällen keine Alternative. Über diese hinaus wurden soweit wie möglich Zeitreihen zu Rate gezogen, die nicht oder nicht wesentlich durch Bewertungsmaßnahmen verzerrt 12 Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger 183/1911. 13 Seit 1910 waren Zweimonatsbilanzen im Falle einer Börsenzulassung verpflichtend. Vgl. Luise Schaeffer, Die Zweimonatsbilanzen der Großbanken, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 13 (1919), S. 102–123. 14 P. Barret Whale, Joint Stock Banking in Germany. A Study of German Credit Banks before and after the War. London 1930, S. 143–156; Wilhelm Kalveram, Bankbilanzen, Leipzig 1922, S. 35–110; Walter Hook, Die wirtschaftliche Entwicklung der ehemaligen Deutschen Bank im Spiegel ihrer Bilanzen. Heidelberg 21956, S. 26–77. 15 Alfred Lansburgh, Die Berliner Großbanken im Jahre 1921, in: Die Bank 15 (1922), S. 548; ders., Bankenwende, in: Die Bank 17 (1924), S. 361–376, hier S. 361 f. 16 Ebd., S. 363, 368. Das Beispiel aus dem Jahr 1923 ist symptomatisch für die gesamte Inflationszeit. Es fiel jedoch aufgrund der Hyperinflation besonders extrem aus. Als Bilanzzahlen für das Jahr 1923 wurden daher im Folgenden die Werte der Goldmark-Eröffnungsbilanz per 1. Januar 1924 gewählt, die größtenteils auf Neubewertungen zurückgingen. Vgl. Eugen Schmalenbach, Die Goldmarkbilanz, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 18 (1924), S. 1–20. 17 Vgl. zu derartigen Bilanzierungspraktiken Richard Buxbaum, Abschreibung, Erneuerung und Geldwert, in: Die Bank 13 (1920), S. 686–696; Alfred Lansburgh, Goldmark-Schulden, in: Die Bank 15 (1922), S. 853–858; Walter Mahlberg, Weltteuerung und Bilanzbewertung, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 18 (1924), S. 556–573; Eugen Schmalenbach, Geldwertausgleich in der bilanzmäßigen Erfolgsrechnung, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 15 (1921), S. 401–417; Ernst Walb, Tageswert und Anschaffungswert in der Bilanz, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 18 (1924), S. 228–240. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 100 Hartmut Kiehling sind. Es sind dies insbesondere die Zahlen der Reichsbank sowie einige Finanzstatistiken (Zinssätze, Platzierungs- und Zahlungsverkehrsvolumina etc.). Die vorliegenden Bilanzstatistiken – vor allem der Jahre 1921 und 1922 – weisen in der Regel Lücken auf. Dennoch liegen für einzelne Institute durchgehende Datenreihen vor, so zum Beispiel für die Berliner Großbanken, die DGZ, die Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank sowie für die Sparkassen von Berlin und München. Anhand dieser Daten können die Bilanzpositionen auch für die übrigen Banken(-gruppen) mit hinreichender Sicherheit extrapoliert werden. Zudem sind für die Jahre 1913, 1924 und 1925 – mit Ausnahme der Privatbankiers – die Daten sämtlicher Banken bekannt. Anhand dieser Zahlen wird deutlich, dass diejenigen Bankengruppen, deren Werte auch für die Jahre von 1914 bis 1923 vorliegen, jeweils einen hohen Prozentsatz der entsprechenden Bilanzposition auf sich vereinigten. 1913 sind dies 79,1 Prozent der Einlagen. Dieser Prozentsatz ging bis 1924/25 bei allen untersuchten Positionen deutlich zurück – bei den Einlagen auf 65,2 bzw. 62,0 Prozent. Dies ist offenkundig auf eine Bankengruppe zurückzuführen: Die Spezial- und Hausbanken,18 die in der fraglichen Zeit als einzige nicht erfasste größere Bankengruppe einen spürbaren Bedeutungszuwachs erfahren haben. Ausweislich der Gründungszahlen19 vollzog sich diese Entwicklung in erster Linie in den Jahren 1920/21 bis 1923, sodass hinsichtlich der Hochrechnung der Daten der erfassten Banken bis 1919 zunächst ein gleichbleibender und danach einen kontinuierlich steigender Marktanteil dieser Institute angenommen werden kann. Dieses Verfahren ist naturgemäß mit einigen Unsicherheiten behaftet, denn gerade in den Jahren 1921 bis 1923 belaufen sich die maximalen Fehler bei der Ermittlung der Einlagen der Nichtbanken wegen des Geldwertschwunds auf wenige zehn Millionen GM und lassen sich daher recht gut an den bekannten Zahlen der Reichsbank (Wechselankauf, Einlagen der Privaten etc.) messen. Durch Plausibilitätskontrollen und den Abgleich mit Bilanzbesprechungen sowie Marktkommentaren lässt sich zusätzliche Sicherheit gewinnen. Diese Berechnungsweise wird im Folgenden für sämtliche der untersuchten Bilanzpositionen angewandt.20 18 Die so genannten „Spezial- und Hausbanken“ waren eine Bankengruppe der offiziellen Bankenstatistik. Die „Hausbanken“ umfassten, im Gegensatz zur heutigen Terminologie, konzerneigene Institute von Industrie- und Handelsunternehmen. 19 Von den 221 neuen Aktienbanken der Jahre 1921–23 gehörten insgesamt 61 dieser Gruppe an. Vgl. Karl Erich Born, Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der Weimarer Republik (1914–1933), in: Deutsche Bankengeschichte. Hrsg. im Auftrag des Instituts für bankhistorische Forschung e. V. von seinem wissenschaftlichen Beirat, Bd. 3: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1983, S. 15–146, hier S. 56. 20 Die Berechnung ist damit etwas differenzierter als die Cagans, der lediglich die (nahezu) vollständigen Werte der „commercial banks“ Ende 1913 und 1923 berücksichtigt, diese für die Jahre 1920 und 1921 linear interpoliert und anhand der Daten der Berliner Großbanken adjustiert. Die Werte der öffentlich-rechtlichen, der genossenschaftlichen und der Realkreditinstitute hat Cagan aufgrund ihrer niedrigen relativen Positionen Ende 1913 und vor allem 1924 vernachlässigt. Vgl. Phillip Cagan, The Monetary Dynamics of Hyperinflation, in: Milton Friedman (Ed.), Studies in the Quantity Theory of Money. Chicago, Il. 1956, S. 104 ff. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 101 II. Die Geldnachfrage Je nach Definition werden zur Geldmenge unterschiedliche Aggregate gezählt, die jedoch in jedem Fall das Bargeld und die Sichteinlagen der Nichtbanken umfassen. Die Geldmenge in dieser Abgrenzung bezeichnet man als M1. M2 umfasst darüber hinaus die Termineinlagen, M3 ferner die Spareinlagen. Bei allen genannten Abgrenzungen werden die Einlagen der Nichtbanken beim gesamten Bankensystem, also einschließlich der Notenbanken erfasst.21 Das Geldangebot der Banken hängt maßgeblich von der Struktur und vom Umfang der Bankenliquidität und diese wiederum vom Verhalten der Notenbank und den Portfolioentscheidungen der Nichtbanken ab. Da das Geldangebot der Banken somit in starkem Maße von der Geldnachfrage der Nichtbanken bestimmt wird, ist es sinnvoll, auch auf die Geldnachfrage und deren Determinanten einzugehen. Nach Milton Friedman ist die Geldnachfrage preisbereinigt durch folgende Funktion bestimmt: ( ) Y ⎞ M ⎛ = f ⎜ rb ,rc ,P*; w; ; u ⎟ . ⎝ P ⎠ P Die Nachfrage nach Realkasse richtet sich also nach:22 rb = rc = P* = w = Y = P u = Zins am Rentenmarkt, Dividendenrendite, erwartete Preisänderungsrate, Verhältnis zwischen nicht-menschlichem und menschlichem Vermögen, Realeinkommen, alle Variablen, die zu Präferenzänderungen der Geldnachfrager führen. Dabei hat Friedman unterstellt, dass die Verzinsung der Einlagen vernachlässigbar ist – dies ist im Folgenden ebenfalls zu prüfen. Hinsichtlich des von Friedman gewählten Ansatzes muss ferner berücksichtigt werden:23 ■ ■ Während der deutschen Inflation gewann die Realverzinsung als Grenzertragsrate der Ersparnis besondere Bedeutung, da diese wegen der unreagibelen Nominalzinsen bei steigenden Inflationsraten sehr bald negativ wurde. Die laufende Verzinsung am Renten- und Aktienmarkt bildete nur einen geringen Teil der dort erzielbaren Erträge ab, sodass die Gesamtperformance auf diesen Märkten berücksichtigt werden muss. 21 Mit dem Geldangebot der Notenbank beschäftigt sich schwerpunktmäßig Kapitel XI. 22 Otmar Issing, Einführung in die Geldtheorie. München 142006, S. 38. 23 Eine Reihe von Ansätzen wurde speziell auf die Verhältnisse von galoppierenden und Hyperinflationen abgestimmt. Sie bringen über die sehr allgemeine Formulierung Friedmans hinaus lediglich Präzisierungen, die jedoch an dieser Stelle nicht notwendig erscheinen. Vgl. die Zusammenstellung der betreffenden Arbeiten in Steven B. Webb, Money Demand and Expectations in the German Hyperinflation. A Survey of the Models, in: Nathan Schmuckler/Edward Marcus (Eds.), Inflation through the Ages. New York 1983, S. 435–449, hier S. 436–440. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 102 ■ ■ ■ Hartmut Kiehling Als Alternativanlagen kommen neben Investments am Aktien- und Rentenmarkt auch solche in Sachaktiva sowie Sorten und Devisen harter Währung in Frage. Sie werden daher in die Betrachtung einbezogen. Des Weiteren bewegte sich während der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg ein großer Teil der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums,24 sodass die Einkommenskomponente in obiger Gleichung sinnvollerweise besser durch einen Vergleich der Nominaleinkommen mit den Existenzminima als durch die Realeinkommensentwicklung erfolgt.25 Die im Allgemeinen als vergleichsweise stabil angesehene Umlaufgeschwindigkeit des Geldes variierte in Zeiten der galoppierenden und der Hyperinflation oft beträchtlich.26 Sie ist daher in die Betrachtung einzubeziehen. Die Realverzinsung hemmte das Kontensparen während des gesamten Beobachtungszeitraums. Zwar gab es bis zum Jahr 1918 sowie in der Zeit zwischen April 1920 und Mai 1921 immer wieder Monate, in der die reale Verzinsung der Bankkonten positiv ausfiel, per saldo war diese jedoch – mit Ausnahme von 1916 – in jedem Jahr des Betrachtungszeitraums negativ.27 1919, zu Jahresbeginn 1920 und seit Mitte 1921 galt dies in einem Maße, das jegliches Kontensparen sinnlos machte. Dabei wurde jeweils in der zweiten Hälfte der Jahre 1921, 1922 und 1923 eine neue Dimension negativer Realverzinsung erreicht (siehe Abbildung 1). Diese Entwicklung dürfte der wichtigste Grund dafür gewesen sein, dass die Einzahlungsüberschüsse (inklusive der Zinsgutschriften) in den Jahren 1919, 1920 und 1923 jeweils deutlich zurückfielen (siehe Abbildung 3). Im Gegensatz zur Realverzinsung sprach ein Renditevergleich mit alternativen Anlagen auf den ersten Blick für das Kontensparen. Die laufende Verzinsung sowohl der Giro- als auch der Sparkonten bei Banken und Sparkassen konnte sich während der Kriegs- und Inflationszeit durchaus mit der der wichtigsten Anlagealternativen auf dem Kapitalmarkt messen. Allerdings machte die laufende Nominalverzinsung auf den Kapitalmärkten der Inflationszeit über weite Perioden hinweg nur einen geringen Teil der Ertragsmöglichkeiten aus. Der Aktienmarkt ließ sich im Laufe der Inflationszeit immer weniger von dem traditionellen Bewertungskriterium der Dividendenrendite beeinflussen. An ihre Stelle traten vor allem Substanzüberlegungen, die die Kurse während des größten Teils des Krieges sowie während der Stabilisierungsphase 1920/21 und der Hyperinflation in Anlehnung an die 24 Hartmut Kiehling, Die Bevölkerung in der Hyperinflation 1922/23, in: Scripta Mercaturae 32 (1999), S. 1–60. 25 Für den Untersuchungszeitraum liegen keine Daten über die gesamtwirtschaftlichen Einkommensaggregate vor. Vgl. beispielsweise Walther G. Hoffmann, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Berlin et al. 1965, S. 505–510. 26 Vgl. dazu den Ansatz Barros, der diesen Zusammenhang unter anderem für Deutschland in der Zeit vom Januar 1921 bis zum August 1923 auch empirisch nachweisen konnte. Vgl. Robert J. Barro, Inflation, The Payments Period, and the Demand for Money, in: Journal of Political Economy 78 (1970), S. 1228–1263. 27 Zur Berechnung des Realzinses wurde aufgrund der längeren Zeitreihe der Großhandelspreisindex herangezogen. Betrachtet man stattdessen den Lebenshaltungskostenindex, so sind die Fluktuationen etwas geringer. An der Gültigkeit der Aussage ändert sich im Grundsatz jedoch nichts. Der Lebenshaltungskostenindex liegt erst für die Zeit ab Februar 1920 vor. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 103 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 1: Realverzinsung von Spareinlagen 1918–22 (p. a. in Prozent) 15 10 5 0 -5 -10 -15 -20 -25 -30 -35 1922 1921 1920 1919 1918 -40 Quelle: Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresberichte 1918–1923, passim; Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 16 f. Inflationsraten steigen ließen.28 Eine vergleichbare Entwicklung vollzogen die Renten ab Mitte 1922, sodass die Gesamtperformance vor allem der Aktien per saldo deutlich über die des Kontensparens hinausging. Dies galt insbesondere für die Jahre 1915 bis 1917 sowie seit 1919. Im Vergleich mit der vierprozentigen Reichsanleihe schnitt ein Sparkonto etwas besser ab, da seine Performance in den Jahren 1915, 1918 und 1919 über der der Anleihe lag, aber seit 1920 weit hinter diese zurückfiel (siehe Abbildung 2). Ein Performancevergleich kann die Nettobewegung der Einlagen nur für das Jahr 1918 erklären. Ein Vergleich der Bewegung der betreffenden Absatzvolumina ergibt, das die Einlagen den Renten nur in den Jahren 1914, 1918 und 1919 Marktanteile abgenommen hätten, darüber hinaus hatten die Einlagen gegenüber den Rentenwerten aber auch 1916, 1917, 1920 und 1921 zugelegt. Nach einem Performancevergleich hätten die Einlagen 1917 und ab 1921 gegenüber Festverzinslichen sogar zurückgehen müssen. Tatsächlich war dies jedoch nur 1915 der Fall, obwohl die Kursverluste am Rentenmarkt auch nicht durch die bessere Effektivverzinsung der Kriegsanleihen29 ausgeglichen werden konn- 28 Wolfgang Mattersdorf, Die Preisbildung am Aktienmarkt der Berliner Börse während der Inflation. Rostock 1925, S. 79 ff. Grundsätzlich wären bei dieser Rechnung auch die Werte der Dividenden sowie der Bezugsrechte zu berücksichtigen. Letztere waren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oft erheblich. Performanceindices stehen jedoch für den Untersuchungszeitraum nicht zur Verfügung. Das Statistische Reichsamt hat erst ab Oktober 1921 Kursindices veröffentlicht, die zumindest um Bezugsrechte bereinigt waren. 29 Bei der ersten Kriegsanleihe, die vom 9. September 1914 an gezeichnet werden konnte, belief sich diese unter Berücksichtigung des Ausgabedisagios auf 5,38 Prozent, bei den gleichzeitig emittierten Schatzanweisungen sogar auf 5,63 Prozent. Vgl. Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 87 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 104 Hartmut Kiehling ten. Gegenüber dem Nettoabsatz der Aktien hätten die Einlagevolumina 1918 zulegen müssen. Tatsächlich kam es dazu jedoch 1914 und 1919, relativ auch von 1916 bis 1918 und 1922. Nach dem Performancevergleich hätten die Einlagen von 1915 bis 1917 und ab 1919 sogar verlieren müssen. Tatsächlich verzeichneten sie jedoch nur 1921 relative Marktanteilsverluste. Ab 1923 sind die vorliegenden Zahlen der Börseneinführungen von Rentenwerten nicht mehr repräsentativ. Bei den fast ausschließlich emittierten Festwertanleihen wurden zwar 2,15 Mrd. GM abgesetzt, jedoch nur 442,9 Mio. GM an einer deutschen Börse in den Handel eingeführt. Berücksichtigt man dies, so kam es 1920 und 1923 jeweils zu dramatischen Umschwüngen an den Anlagemärkten. Die wesentlichen Volumina an Neuanlagen, die von 1914 bis 1919 in öffentliche (Papiermark-) Anleihen und von 1920 bis 1922 in Bankeinlagen flossen, konzentrierten sich 1923 auf (wiederum öffentliche) Festwertanleihen. Abbildung 2: Performancevergleich alternativer Investments 1913–21 (p. a. in Prozent) 200 150 4%ige Reichsanleihe laufende Verzinsung und Kursentwicklung, Vergleich der Jahresendstände, Nominalwerte Aktienindex 100 Spareinlagen ohne vereinbarte Kündigungsfrist 50 0 -50 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 287–296. Angesichts der hohen Inflationsraten rückten weitere Anlagealternativen in den Vordergrund. Es waren dies zum einen Investments in Substanzwerte außerhalb der organisierten Kapitalmärkte. So konstatierte Lansburgh bereits für das Jahr 1921 einen realen Rückgang der inländischen Einlagen bei den Berliner Großbanken und führte dies darauf zurück, dass die Unternehmen angesichts der niedrigen Bankzinsen lieber die guten „Verdienstmöglichkeiten in jeder Art von Produktion und Vertrieb“ nutzten.30 Diese Entwicklung beschleunigte sich nach allem, was wir wissen, in den Folgejahren noch und absorbierte 30 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 545; Wirtschaft und Statistik 2 (1922), S. 59. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 105 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 3: Portfolioinvestitionen 1913–24 (Jahressummen in Mio. GM) 30.000 Aktien u. Rentenwerte: deutsche u. ausländische Papiere; Nennwert, ab 1921 Kurswert. Aktien: 1915–1918 Veränderung des Nominalkapitals der deutschen Aktiengesellschaften. Rentenwerte: Zulassung an deutschen Börsen, 1915–1916 Kriegsanleihen, 1924 Ausgabe. 25.000 20.000 Bankkonten (Nettoeinzahlungen) Aktien (Neuemissionen) Rentenwerte (Börsenzulassungen) 15.000 10.000 5.000 0 -5.000 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 287–296; Kiehling, Börse (wie Anm. 62), S. 67–106. einen Großteil der zur mittel- und langfristigen Anlage bestimmten Einkommens- und Vermögensbestandteile. Ab Ende 1922 standen den Investoren auch vereinzelte Möglichkeiten zur Mark-unabhängigen, „wertbeständigen“ Portfolioinvestition zur Verfügung: Den Festwertanleihen folgten seit August 1923 Goldkonten bei Kreditinstituten und seit Oktober 1923 offizielles wertbeständiges Notgeld. Diese wertbeständigen Anlageformen gewannen ab Juni 1923 zunehmend an Bedeutung.31 Als weitere Anlagealternative waren Devisen und Sorten aus so genannten „Hartwährungsländern“ wichtig. Ihre Kurse hingen wesentlich von den Erwartungen im In- und Ausland hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung ab.32 Andrew Abel et al. argumentieren sogar, dass die Geldnachfrage insgesamt während der deutschen Hyperinflation – die sie allerdings sehr weit fassen (Januar 1921 bis August 1923) – ausreichend durch die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte hinsichtlich der weiteren Wechselkursentwicklung beschrieben werden kann. Diese wiederum sehen sie – und einige andere Autoren33 – in den Unterschieden zwischen den betreffenden Termin- und Kassakursen abgebildet. Die Nachfrage nach Sachwerten vernachlässigen sie dagegen aufgrund der weniger guten 31 Für die meisten dieser Entwicklungen liegen keine exakten Zahlen vor. In Kapitel VII wird der Versuch unternommen, die (offiziellen und nicht offiziellen) wertbeständigen (und Papiermark-) Notgeldvolumina zu bestimmen. 32 Zu den tatsächlichen Bewegungen der Einlagen durch Ausländer bei deutschen Banken s. Kapitel V. 33 Jacob A. Frenkel, The Forward Exchange Rate, Expectations and the Demand for Money: The German Hyperinflation, in: The American Economic Review 67 (1977), S. 653–670; ders., Further Evidence on Expectations and the Demand for Money during the German Hyperinflation, in: Journal of Monetary Economics 5 (1979), S. 81–96; Webb, Money (wie Anm. 23), S. 441 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 106 Hartmut Kiehling Substitutionsbeziehungen zum inländischen Geld.34 Carl-Ludwig Holtfrerich hat zudem richtig erkannt, dass der Ansatz die Berücksichtigung der Zinsdifferenz erfordert und aufgrund der eingeschränkten Inländerkompatibilität lediglich auf die Auslandsnachfrage nach deutschem Geld anzuwenden ist.35 Trotz dieser Modifikation haften diesem Ansatz Probleme an, da die Ermittlung einer ausreichend langen Zeitreihe für einen geeigneten Zins auf dem deutschen Geldmarkt auf große Schwierigkeiten stößt. Zum einen weisen sämtliche Zeitreihen für kurzfristige Zinsen Brüche auf.36 Zum anderen differenzierte der Markt seine Konditionen gerade in der Hyperinflation je nach Marktteilnehmern aus und das für Ausländer repräsentative Marktsegment wechselte mehrmals.37 Der Markt für Privatdiskonten stand ausländischen Investoren nicht offen.38 Er lag zudem zwischen August 1916 und Dezember 1918 vollständig brach und bildete danach eine lange Zeit keine einheitlichen Sätze aus. Dies galt für die Monate Januar 1919 bis Mai 1920, November 1921 sowie für die Zeit ab September 1922. Ab Januar 1923 wurden an der Berliner Börse überhaupt keine Privatdiskonten mehr gehandelt.39 Im Gegensatz zum Privatdiskontenmarkt waren auf dem Geldmarkt der Börse auch ausländische Banken aktiv. Bereits der Tagesgeldsatz lag durchschnittlich um 40 bis 50 Basispunkte höher als der Privatdiskontsatz. Er wurde jedoch seit Anfang 1922 durch zusätzliche Provisionssätze effektiv nochmals deutlich erhöht, ohne dass das genaue Ausmaß Monat für Monat bekannt wäre. Die Sätze unterschieden sich zudem ab Mitte 1922 je nach Sicherheit immer mehr.40 Zum gleichen Zeitpunkt verbreitete sich das so genannte „Devisenleihgeschäft“, das in der Form des börsenmäßigen Reportge34 35 36 37 38 39 40 Andrew Abel/Rüdiger Dornbusch/John Huizinga/Alan Marcus, Money Demand during Hyperinflation, in: Journal of Monetary Economics 5 (1979), S. 97–104. Carl-Ludwig Holtfrerich, Erwartungen des In- und Auslands und die Geldnachfrage während der Inflation in Deutschland 1914–1923, in: Bankhistorisches Archiv 6 (1980), S. 9–13. Den eingeschränkten deutschen Zugang zu den Devisenmärkten betont in diesem Zusammenhang auch Steven B Webb, Fiscal News and Inflationary Expectation in Germany, in: Journal of Economic History 46 (1986), S. 769–794, hier S. 777. Vgl. ferner zu den wechselnden Beschränkungen Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 124*–129*, 136*–145*. Zur Zinsentwicklung im Detail s. Kapitel IV. So berichtete die Zeitschrift Die Bank über die Ereignisse im September 1922: „Am Berliner Geldmarkt ist irgend ein normaler Zinssatz nicht mehr zu konstatieren. Die Zinsbedingungen wechseln je nach der Person des Darlehnsnehmers, der Qualität der Unterlage, der Rediskontierbarkeit der letzteren, und des Verwendungszweckes. Im Dezember zahlte man für tägliches Geld mit Schatzwechseldeckung 6 bis 7 %, mit anderer Deckung 8 bis 10 %, für Effekten-Termingeld 9 bis 10 %, für Devisentermingeld 20 bis 30 % und mehr, und das Ausland zahlte für Markvorschüsse gegen Dollar-Unterlage bis zu 5 % im Monat = 60 % im Jahr.“ Vgl. Die Bank 15 (1922), S. 808. – Zum Vergleich: Der von Holtfrerich herangezogene Privatdiskontsatz hatte im Monatsdurchschnitt 7,32 Prozent betragen. Privatdiskonten waren normierte Wechsel, die auf erstklassige deutsche oder ausländische Importeure gezogen und von bedeutenden inländischen Banken akzeptiert wurden. Die Privatdiskontsätze galten im Handel zwischen diesen Banken. Vgl. dazu die Marktkommentare zum Berliner Geldmarkt in der Zeitschrift Die Bank 12–16 (1919–23), passim. Die Privatdiskontsätze sind jedoch ohnehin nicht geeignet, die Verzinsung abzubilden, die ausländische Banken erhielten, wenn sie in Mark kauften und in Berlin anlegten. Einen hinsichtlich der Laufzeit korrespondierenden Dreimonatszinssatz gab es nicht – dieser hätte nochmals etwas höher liegen müssen –, es wurden lediglich Tages- und Ultimogelder gehandelt. Vgl. Willi Prion, Deutsche Kreditpolitik 1919–1922, in: Schmollers Jahrbuch 42 (1924), S. 163–205, hier S. 184–187. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 107 schäftes besonders populär wurde. Dabei verliehen Besitzer von Devisen – Importeure, Banken oder Ausländer – diese auf Zeit, um mit den Papiermarkerlösen erneut Devisen per Kasse oder Termin zu kaufen. Der so genannte „Report“ als Verzinsung des Reportgeschäfts richtete sich ab August 1922 nach dem „Geldentwertungskoeffizienten“, der auf den Gewinn abstellte, der mit dem zu erwerbenden Sachwert zu erzielen war. Im Fall von Devisenleihgeschäften war dies die erwartete durchschnittliche Veränderungsrate so genannter „Edelvaluta“, mindestens jedoch der Geldmarktzins. Devisenleihgeschäfte in der Form des börsenmäßigen Reportgeschäftes hatten gegenüber Devisentermingeschäften mehrere Vorteile: Erstens war die Verzinsung sehr lukrativ. Zweitens wurde das (Basis-) Engagement in Mark am Ende der Laufzeit automatisch rückgängig gemacht. Ein Verkauf von Mark (wie beim Kassakauf) oder eines Marktkontraktes (wie beim Terminkauf) entfiel. Damit bestand auch das Risiko nicht mehr, dass der betreffende Markt zum geplanten Verkaufszeitpunkt nicht breit genug war. Die Mark war nicht länger „Mausefallenwährung“. Drittens hatten Devisenleihgeschäfte theoretisch einen unendlichen Hebel, während der Hebel der Devisentermingeschäfte gleichzeitig wohl zurückging, da der Einschuss sehr wahrscheinlich deutlich erhöht wurde. Alle drei Faktoren führten aller Wahrscheinlichkeit nach dazu, dass sich die Umsätze auf den Devisenkassamärkten gegen Mark relativ zu denen auf den entsprechenden Terminmärkten erhöhten. Die Verhältnisse änderten sich erst Mitte 1923, als der Berliner Devisenmarkt nach der Notverordnung vom 22. Juni 192341 mehr und mehr austrocknete, da ausländische Zahlungsmittel nur noch zum amtlichen Berliner Kurs ge- oder verkauft werden durften, der täglich unter Mitwirkung der Reichsbank festgesetzt wurde.42 Des Weiteren muss gegen die Ermittlung von (Kurs- oder Inflations-) Erwartungen aus den Unterschieden zwischen Future- und Kassakursen der Einwand erhoben werden, dass eine solche Argumentation vom allgemein anerkannten Fair-Value-Konzept abweicht, nach dem sich die Basis eines Futures (Termin- minus Kassakurs) im Wesentlichen aus den Cost-of-carry ableitet, also den Kostenunterschieden zwischen einem Engagement auf dem Termin- und dem Kassamarkt. Diese bestehen aus der Differenz zwischen den Finanzierungskosten und -erträgen. Sie sind also im Wesentlichen durch die Zinsdifferenz zwischen den betreffenden Ländern determiniert.43 Danach bestimmt sich der Fair Value eines Futures nach der Formel: ⎛ 1 + rL FFW = S ⋅ ⎜ ⎝ 1 + rM ⎞ ⎟⎠ , mit: F = aktueller Futurepreis, FFW = Fair Value des Futures, S = aktueller Kassapreis und rL, rM = Zinssätze in England und Deutschland. 41 RGBl. 1923/I, S. 401. 42 Statistisches Reichsamt, Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914 bis 1923 (Wirtschaft und Statistik, Sonderheft 1). Berlin 1925, S. 10. 43 Neben dieser Carry-Basis existiert zwar noch eine Value-Basis, die markttechnische Faktoren – wie die Liquiditätsverhältnisse der Marktteilnehmer und zufällige Faktoren („Noise“) – widerspiegelt, für die Untersuchung jedoch von untergeordneter Bedeutung ist. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 108 Hartmut Kiehling Die Formel ist jedoch ungenau. Beim Erwerb eines Futures wurde ja nicht der gesamte Kontraktwert fällig, sondern nur ein bestimmter Einschuss. Lediglich auf diese Margin kann sich also die Zinsdifferenz zwischen den beiden Währungen beziehen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Laufzeit eines Futures kein ganzes Jahr betrug und zwischen den angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Plätzen unterschiedliche Zinsberechnungsmethoden üblich waren. Somit gilt für den Fall, dass die Margin auf Basis des Spotpreises berechnet wurde, folgende Formel:44 t t ⋅ c ⋅ S − iM ⋅ ⋅S 365 360 ⎛ i ⋅ t ⋅ c iM ⋅ t ⎞ − = ⎜ 1+ L ⎟ ⋅ S, mit : ⎝ 365 360 ⎠ FFW = S + iL ⋅ t = (Rest-) Laufzeit des Futures (in Tagen), c = Margin-Satz. Von der differierenden Zinsberechnungsmethode abgesehen, sinkt der Fair Value des Futures also dann unter den Kassakurs des Underlying, wenn iM > iL · c gilt. Hinter dem Fair-Value-Konzept steht die Annahme, dass die Erwartungen auf dem Kassa- und dem Terminmarkt nicht (nachhaltig) voneinander abweichen können. Dies ist entweder dann gegeben, wenn man (annähernd) effiziente Märkte unterstellt. Verbliebene kleinere Abweichungen des Futurepreises von seinem Fair Value (eine so genannte „Value-Basis“) weisen dann auf die Existenz von Marktineffizienzen („Basisrisiko“) hin, die Arbitragemöglichkeiten eröffnen.45 Für die Gültigkeit des Fair-Value-Konzepts genügt es jedoch, wenn die auf den Spot- und Futuremärkten tätigen Personen weitgehend identisch sind oder sich zumindest eng beeinflussen.46 Dies ist schon deshalb anzunehmen, da außer den Cost-of-carry zwischen Engagements auf den Spot- und Futuremärkten keinerlei wirtschaftliche Unterschiede bestehen, weil Futures während ihrer Laufzeit jederzeit verkauft und an deren Ende auch verlängert werden können.47 Damit kann aus der „gedeckten Zinsarbitrage“ nicht mehr auf die Erwartungen der Marktteilnehmer geschlossen werden, wie dies Holtfrerich vorgeschlagen hat, da diese vielmehr auch auf eine Veränderung des Margin-Satzes zurückgehen könnten. Die gedeckte Zinsarbitrage A stellt die Summe aus dem Swapsatz und der Differenz der Zinssätze für die dem betrachteten Future entsprechende Laufzeit dar: A= F−S ⋅100 + rM − rL . S 44 Da je nach Kursentwicklung Nachschüsse auf die Margin fällig werden, kann sich der Fair Value jederzeit ändern. 45 Udo Hielscher, Investmentanalyse. München 31999, S. 258 f. 46 Es ist also nicht erforderlich, von der Gültigkeit der Theorie rationaler Erwartungen auszugehen. Vgl. Otmar Issing, Einführung in die Geldpolitik. München 61996, S. 127 f. 47 Vgl. zu diesen Überlegungen insgesamt Richard A. Brealey/Steward C. Myers, Principles of Corporate Finance. New York et al. 92008, S. 637–640; Manfred Steiner/Christoph Bruns, Wertpapiermanagement. Stuttgart 92007, S. 350–357; Otto Loistl, Computergestütztes Wertpapiermanagement. München 51996, S. 460–464, 502–508. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 109 Allerdings wäre dafür eine Verringerung der Margin notwendig gewesen. Aufgrund der nach der Jahresmitte 1922 nochmals erhöhten Volatilität der Devisenkurse und der damit verbundenen Gefahr eines plötzlichen hohen Nachschussbedarfs ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass die zuständigen Börsenaufsichtsstellen die erforderliche Margin im Juli 1922 (und eventuell später nochmals) deutlich heraufgesetzt haben. Dennoch bedarf der Ansatz der Korrektur. Für Vergleichsrechnungen muss der höchste realistischerweise zu erzielende Zins zugrunde gelegt werden. Dies war für ausländische Anleger in Mark der Zins des Devisenleihgeschäfts. Der Zinsunterschied zwischen Berlin und London, New York, Amsterdam, Zürich oder Stockholm war also seit Mitte 1922 deutlich höher als angenommen. Verwendet man statt des von Holtfrerich verwandten Privatdiskontsatzes den Report für Devisenleihgeschäfte, so weist die gedeckte Zinsarbitrage lediglich im September 1922 ein negatives Vorzeichen auf.48 Geht man von der weiter oben entwickelten Formel für den Fair Value eines Devisenfutures aus und nimmt vor der Jahresmitte 1922 eine Margin von zehn Prozent des Preises des Underlying, danach eine solche von 20 Prozent an, so beträgt die mit dem Fair-Value-Konzept nicht rechenbare Value-Basis bis einschließlich Juli 1922 fast durchweg weniger als ein Prozent des Fair Value. Nach der Jahresmitte fluktuierten die Werte stark. Dies lag entweder an einer erhöhten Volatilität des zugrunde liegenden Kassakurses auch während des Handelstages oder aber an den Unzulänglichkeiten des Datenmaterials. Immerhin ist auffällig, dass die positiven Abweichungen vom Fair Value in aller Regel weit stärker ausfallen als die negativen. Das Fair-Value-Konzept wird damit eher bestätigt als verworfen. Aufgrund dieser Überlegungen erscheint es sinnvoll, eine Änderung der Erwartungen der Marktteilnehmer hinsichtlich der weiteren Entwicklung des (inneren und äußeren) Wertes der Mark mit anderen Mitteln nachzuweisen – etwa direkt anhand der Reports im Devisenleihgeschäft oder einer Wandlung der Zahlungsgewohnheiten.49 Neben der Verzinsung der Einlagen im Verhältnis zu der ihrer Alternativanlagen zählt Friedman auch die allgemeine Einkommenssituation zu den Determinanten der Geldnachfrage. David A. Peel et al. haben die Geldnachfragefunktion Phillip Cagans um einen Ausdruck für die Reallöhne erweitert: mt – pt = d – a · Dpt, mit: mt = Geldmenge, pt = Preisniveau, d = const., a = Halbelastizität der realen Kassenhaltung im Hinblick auf die erwartete Inflationsrate, pt = erwartete Inflationsrate (Werte jeweils logarithmiert). Die Autoren konnten für die Anfangsphase der deutschen Hyperinflation einen Regimewechsel konstatieren und die Geldnachfrage für den Zeitraum vom Juli 1922 bis zum August 1923 mit Werten von d = 5,17 (Standardabweichung 0,06) und a = 0,62 48 Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 189; Die Bank 15–16 (1922–23), passim. Nach der damals üblichen Zinsberechnungsmethode ergibt sich zwar auch für Februar 1923 ein negativer Satz. Das Vorzeichen kehrt sich jedoch um, wenn man effektive Jahreszinssätze zugrunde legt. Für die Monate März bis Juni 1923 liegen keine Reports mehr vor. Negative Sätze für die gedeckte Zinsarbitrage würden jedoch so niedrige Reports erfordern, dass diese mit den Marktkommentaren kaum noch in Einklang stehen würden. 49 Ein solcher Versuch soll in Kapitel VIII unternommen werden. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 110 Hartmut Kiehling (0,04) bemerkenswert stabil nachbilden.50 Vom historischen Standpunkt befriedigt die Abhängigkeit der Geldnachfrage von den Realeinkommen in Zeiten großer Not jedoch nicht vollständig. Denn nicht ein Realeinkommensverlust stellt in solchen Zeiten den begrenzenden Faktor dar, sondern die buchstäbliche Unmöglichkeit, Geld für Transaktionen oder Ersparnisse nachzufragen.51 Friedman unterstellt an sich eine Konstanz der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Dies ist jedoch unter den Verhältnissen einer Hyperinflation wenig realistisch. Die Umlaufgeschwindigkeit errechnet sich aus der Fisher’schen Verkehrsgleichung: Yt ⋅ P , mit : M V = Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, Yt = reales Bruttosozialprodukt, P = Preisindex des Bruttosozialprodukts, M = Geldmenge. V= Für die Kriegs- und Inflationszeit fehlen jedoch Sozialproduktszahlen weitgehend,52 P genügen muss. Dieser wies während sodass an dieser Stelle der verkürzte Term V ≈ M der Jahre 1914 bis 1918 zunächst eine stetige Verminderung und bis 1923 zwei nachhaltige Aufwärtsbewegungen auf – von Februar 1919 bis Februar 1920 sowie von März 1921 bis Januar 1923, während die Zeiträume von März bis Juni 1920 sowie von Februar bis April und von August bis Dezember 1923 jeweils durch scharfe Rückgänge gekennzeichnet waren.53 Bei der Verwendung dieser Zahlen muss man sich jedoch bewusst sein, dass das Sozialprodukt vermutlich gerade während der Hyperinflation starken Schwankungen ausgesetzt war. Darauf deuten die Werte der Industrieproduktion hin, die 1923 einen Einbruch von gut einem Drittel erfuhren. Zu berücksichtigen wäre auch der stetige Rückgang der Industrieproduktion von 1914 bis 1919 um durchschnittlich 13 Prozent p. a.54 Dennoch sind die 50 P. Michael/A. Robert Nobay/David A. Peel, The German Hyperinflation and the Demand for Money Revisited, in: International Economic Review 35 (1994), S. 1–22. 51 In Kapitel VI dieser Arbeit wird daher näher ausgeführt, inwiefern das Ein- und Auszahlungsverhaltens auf Sparkonten nahelegt, dass in der Nachkriegsinflation die Deckung des Lebensunterhalts beim Sparverhalten (bzw. dem Entsparen) eine wichtige Rolle spielte: Gerade in den Monaten mit einem Überschuss der Auszahlungsposten erfuhren Löhne und Gehälter gegenüber den Lebenshaltungskosten einen Einbruch. Sowohl bei den Existenzminima als auch bei Nettolöhnen und -gehältern liegen für den größten Teil der Nachkriegsinflation Monatswerte vor, sodass diese Werte direkt mit den monatlichen Ein- und Auszahlungen verglichen werden können, die für einzelne Institute überliefert sind. Vgl. Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive. Berlin/New York 1980, S. 39 f.; Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 40–43; Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresberichte 1918–24, passim. 52 Lediglich Laursen und Pedersen haben Schätzungen für einen Index des realen Volkseinkommens vorgelegt, die jedoch verschiedentlich auf Annahmen beruhen. Vgl. Karsten Laursen/Jørgen Pedersen, The German Inflation 1918–1923. Amsterdam 1964, S. 75–88. Hoffmann und Müller verzichten dagegen unter Hinweis auf die verzerrende Wirkung der Inflation ausdrücklich auf eine Berechnung. Vgl. Walther G. Hoffmann/Josef Heinz Müller, Das deutsche Volkseinkommen 1851–1957 (Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 1). Tübingen 1959. 53 S. Abbildung 4. 54 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 179–182. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 111 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 4: Indikator für die Geldumlaufgeschwindigkeit 1914–23 (Großhandelspreisindex/Geldbasis, Januar 1914 = 100) 10.000 1.000 100 10 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), passim. erwähnten Einbrüche deutlich genug, sodass der Zeitreihe wohl eine gewisse Relevanz nicht abzusprechen ist.55 Erstellt man aus den vorhandenen Jahresdurchschnittswerten zur Geldbasis sowie zur Produktions- und Preisentwicklung der Industrie einen Index der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes im Untersuchungszeitraum, so ergeben sich ganz ähnliche Ergebnisse.56 Wiederum fällt der deutliche Anstieg des Indikators in den Jahren 1920 und 1922 auf sowie sein Rückgang in der Stabilisierungsphase (1921) und im letzten Jahr der Hyperinflation (1923). Die diesen Bewegungen zugrunde liegenden Veränderungen der Zahlungsgewohnheiten sind zum Teil bekannt oder liegen auf der Hand. Die starke Geldmengenausweitung des Jahres 191957 traf offensichtlich noch weitgehend auf illusorische Erwartungen. Die Wirtschaftssubjekte änderten jedenfalls ihre Zahlungsgewohnheiten nicht und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ging zurück. Eine ähnliche Bewegung des Jahres 1921 war dagegen wohl auf die Stabilisierung von Währung und Preisen zurückzuführen. Demgegenüber erhöhte sich 1920 und vor allem 1922 die Umlaufgeschwindigkeit mit der Inflationsrate. Die Entwicklung im Jahr 1923 bleibt dagegen erklärungsbedürftig. Ein in den Grundzügen ähnliches Bild zeichnet die durchschnittliche Verweildauer der Einnahmen auf Reichsbankgirokonten. Da es sich jedoch um Notenbankkonten handelt und die Bargeldkomponente fehlt, ergeben sich in einzelnen Jahren auch Abweichungen. So sank die Verweildauer 1915 – vermutlich aufgrund der lebhaften Inanspruchnahme der 55 56 57 Ebd., S. 183–187. S. Abbildung 5. Da für die Berechnung des Index Jahresdurchschnittswerte verwandt wurden, kann die Veränderung eines Jahreswertes gegenüber dem Vorjahr auch auf eine Bewegung gegen Ende dieses Vorjahres zurückgehen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 112 Hartmut Kiehling Reichsbank im Zusammenhang mit der Zeichnung von Kriegsanleihen – vorübergehend ab. Der oben erwähnte Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit im Jahr 1921 spiegelte sich auf den Girokonten der Reichsbank ebenfalls nicht wider. Dies liefert einen Hinweis darauf, dass dieser Rückgang ausschließlich auf Veränderungen im Barzahlungsverhalten zurückzuführen war.58 Mit diesen Feststellungen zur Umlaufgeschwindigkeit ist allerdings in den meisten Fällen noch keine Aussage über die konkrete Änderung der Zahlungsgewohnheiten getroffen. So kritisiert Steven B. Webb zu Recht, dass Robert J. Barro die von ihm in diesem Zusammenhang unterstellte Verkürzung der Zahlungsperioden und Zunahme von Geldsubstituten nicht nachgewiesen hat.59 Dagegen hat Webb den beschleunigten Bargeldumlauf in der Hyperinflation anhand der Verkürzung der Auszahlungsintervalle der Löhne und Gehälter detailliert beschrieben. Danach wurden diese Fristen Mitte 1922 sowie kontinuierlich ab Mitte 1923 reduziert. Bemerkenswert ist jedoch auch, wie schnell Branchen wie die Berliner Elektro- und Maschinenbauindustrie während der Stabilisierung im März und April 1923 die betreffenden Intervalle wieder verlängerten.60 Abbildung 5: Indikatoren der Geldumlaufgeschwindigkeit 1913–23 (Jahresdurchschnitte) 5.000 2 4.500 1,8 4.000 1,6 3.500 1,4 3.000 1,2 2.500 1 2.000 0,8 1.500 0,6 1.000 0,4 500 0,2 0 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 Index der Umlaufgeschwindigkeit der Geldbasis (auf Grundlage der Industrieproduktion, 1914 = 100, li. Skala) (auf Grundlage des Volkseinkommens, 1913 = 100, li. Skala) Verweildauer der Einnahmen auf Reichsbankgirokonto (in Tagen, Kehrwert, re. Skala) 0 1923 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42) S. 24, 45–53; Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 179; Reichsbank, Verwaltungsberichte 1913–1923, passim. Die erwartete Preissteigerungsrate ist in den letzten 40 Jahren immer wieder Gegenstand einer intensiven Diskussion – insbesondere unter monetaristisch ausgerichteten Ökonomen – gewesen. Cagan hat sie in seiner grundlegenden Arbeit über „The Monetary Dynamics 58 Reichsbank, Verwaltungsberichte 1913–1923, passim. 59 Webb, Money (wie Anm. 23), S. 447. 60 Steven B.Webb, Hyperinflation and Stabilization in Weimar Germany. New York/Oxford 1989, S. 80 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 113 of Hyperinflations“ mit der aktuellen Preisänderungsrate gleichgesetzt.61 Dies ist aus mehreren Gründen gerechtfertigt. Zum einen kann gezeigt werden, dass die Geldillusion in verschiedenen Wirtschaftssektoren erst seit dem Herbst 1921 stufenweise schwand und ab Mitte 1923 vollständig verloren ging.62 Zum anderen beinhalteten die aktuellen Preissteigerungsraten wegen des time lags zwischen Erhebung und Veröffentlichung selbst bereits ein Moment der Erwartung. Dies galt für den gesamten Untersuchungszeitraum trotz des vom Statistischen Reichsamt während der galoppierenden Inflation eingeführten 14-tägigen Eildienstes, der den time lag meist auf fünf Wochen verkürzte.63 Die Abbildung der erwarteten durch die aktuelle Preissteigerungsrate mag realistisch sein, wenn keine zusätzlichen Informationen eine Richtungsänderung erwarten lassen. Unter der Voraussetzung, dass das Geldangebot im Wesentlichen durch das staatliche Budgetdefizit bestimmt wird, kommt Webb zu der Aussage, dass es insbesondere bedeutende fiskalische Neuigkeiten64 waren, die die Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte in Deutschland von Januar 1919 bis Oktober 1923 bestimmten.65 Dabei ergab sich ein komplizierter Rückkopplungsprozess zwischen Inflation und Budgetdefiziten. Einerseits senkte die Inflation die Belastungen der öffentlichen Haushalte aus der Verschuldung und machte die Besteuerung von Scheingewinnen möglich. Andererseits gingen die realen Steuereinnahmen in dem Maße zurück, wie die Wirtschaftssubjekte die Inflation zu ihren Gunsten ausnutzen konnten – etwa durch verspätete Zahlung oder in Papiermark denominierte Verbrauchsteuern und Gebühren.66 Webb stellt mehrere Phasen heraus: Bis Anfang 1921 sorgten Weltkriegsniederlage, Revolution, Reparationsforderungen und Gebietsverluste durch den Versailler Frieden sowie das Tauziehen um die Erzberger’sche Finanzreform für hohe Inflationserwartungen und -raten. Ab März 1920 schlugen beide mit dem Scheitern des Kapp-Putsches und der Verabschiedung der Finanzreform um. Nunmehr erwartete das Publikum, dass sich das 61 Cagan, Dynamics (wie Anm. 20), S. 35 ff. Christiano hat dazu mit Hilfe ökonometrischer Tests festgestellt, dass die so gemessenen Erwartungen im Deutschland der Monate November 1920 bis Juli 1923 nicht durch einen zufälligen Term verfälscht waren. Vgl. Lawrence J. Christiano, Cagan’s Model of Hyperinflation under Rational Expectations, in: International Economic Review 28 (1987), S. 33–49. 62 Vgl. hierzu einige Veröffentlichungen des Verf.: Hartmut Kiehling, Der Funktionsverlust der deutschen Finanzmärkte in Weltkrieg und Inflation 1914–1923, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/1, S. 11–58; ders., Die wirtschaftliche Situation des deutschen Einzelhandels in den Jahren 1920 bis 1923, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 41 (1996), S. 1–27; ders., Einzelhandel und Konsum in Zeiten der Inflation 1920–23, in: Rolf Walter (Hrsg.), Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 23.–26. April 2003 in Greifswald (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 175). Stuttgart 2004, S. 275–312; ders., Bevölkerung (wie Anm. 24); ders., Banking in der Inflation 1918 bis 23, in: Scripta Mercaturae 29 (1996), S. 14–64; ders., Die deutsche Börse in den Jahren 1920 bis 1923, in: Bankhistorisches Archiv 21 (1995), S. 67–106. 63 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 27; Der Pfälzische Einzelhandel vom 25.7.1923, S. 261. 64 So zum Beispiel die Reparationsforderungen, die Besetzung des Ruhrgebiets, innere Unruhen, aber auch Steuerreformen. 65 Eine ähnliche Aussage trifft auch Thomas J. Sargent, Rational Expectations and Inflation. New York 1986, S. 7–10, 79–94. Sargent fügt in einer anderen Arbeit hinzu, dass es vor allem die ungeklärten Reparationsverpflichtungen waren, die „einen langen Schatten auf seine Chancen zu einer stabilen Währung warf[en].“ Vgl. ders., The Ends of Four Big Inflations, in: Robert E. Hall (Ed.), Inflation: Causes and Effects. Chicago, Il./London 1982, S. 75. 66 Ebd., S. 82. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 114 Hartmut Kiehling Reich konsolidieren und seine finanziellen Verpflichtungen erfüllen könne. Die Diskussion über Höhe und Zahlungstermin der deutschen Reparationen ab Anfang 1921 und das Londoner Ultimatum am 21. Mai des Jahres waren die Voraussetzung für die Wende, die im Juni mit dem Scheitern der Steuerreformpläne des Kabinetts Wirth vollzogen wurde. Die Entscheidung der Alliierten, das industriereiche Oberschlesien Polen zuzusprechen, bewirkte ab Oktober 1921 erneut steigende Defizit- und Inflationserwartungen. Eine weitere Verschärfung führten ab Juni 1922 die Verweigerung einer internationalen Anleihe auf der Pariser Schuldenkonferenz und der Mord an Außenminister Walther Rathenau herbei. Das Gleiche galt seit dem Scheitern der Devisenmarktinterventionen der Reichsbank im April 1923 und dem Explodieren der Kosten für den Ruhrkampf nach der Verschärfung der französischen Sanktionen und der Ablehnung des Vergleichsvorschlags Reichskanzlers Wilhelm Cunos im August 1923.67 Als dritte Methode wurde die direkte Messung der Inflationserwartungen über die Kurse auf den Devisenterminmärkten vorgeschlagen, auf die bereits zuvor im Zusammenhang mit den Alternativinvestments Devisen und Sorten eingegangen wurde. III. Das Geld- und Kreditangebot in der volkswirtschaftlichen Theorie Die Einlagen der Privaten bei den Banken nehmen eine zentrale Funktion in deren Kreditschöpfung ein. Da die dahinterstehenden theoretischen Zusammenhänge auch unter Wirtschaftshistorikern nicht durchweg vorausgesetzt werden können, seien daher zunächst einige Multiplikatoren der Geldschöpfung und die korrespondierenden Ansätze zur Kreditschöpfung erwähnt. Im nächsten Schritt folgt eine Ergänzung um weitere Determinanten. Die nachfolgende Argumentation wird zwar im Wesentlichen auf volkswirtschaftliche Theorien zum Giralgeld- bzw. Kreditangebot zurückgreifen, aber keinem der Ansätze formal, geschweige denn mathematisch-exakt folgen. Dies hat mehrere Gründe: ■ Die einzelnen Theorien sind für „normale“, oftmals auch jüngere Zeiträume aufgestellt worden. Die betreffenden Multiplikatoren stellen jeweils einzelne Determinanten in den Vordergrund und unterstellen hinsichtlich anderer Größen (mehr oder weniger) konstante Zusammenhänge. In der Situation der Zeit während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach waren diese Zusammenhänge jedoch oftmals gestört, sodass größere Fluktuationen der explizit berücksichtigten Determinanten zu Verzerrungen führen müssen. Dies gilt insbesondere für die Zeit ab Mitte 1922.68 67 Steven B. Webb, The Supply of Money and Reichsbank Financing of Government and Corporate Dept in Germany, in: Journal of Economic History 44 (1984), S. 499–507; ders.: News (wie Anm. 35), S. 769–794. 68 Es gibt Hinweise, dass Finanzmärkte gegen Ende der Inflationszeit in ein qualitativ anderes Stadium eingetreten sind. So wiesen die Zeitreihen für den Londoner Wechselkurs zwischen britischem Pfund Sterling und Mark vom März 1922 bis Januar 1923 sowie ab Mai 1923 besonders hohe Fluktuationen auf. In den betreffenden Zeitreihen wurden nichtlineare Prozesse nachgewiesen, die durchaus chaotisch sein konnten. Solche an sich deterministischen Prozesse können mathematisch nicht mehr von stochastischen unterschieden werden. Vgl. David A. Peel/Pradeep K. Yadav, The Time Series Behaviour of Spot Exchange Rates in the German Hyper-Inflation Period. Was the Process Chaotic?, in: Empirical Economics 20 (1995), S. 455–471. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation ■ ■ ■ 115 Darüber hinaus weist das Datenmaterial für den gesamten Untersuchungszeitraum Brüche auf und erschwert so die Vergleichbarkeit der Daten. In der Hyperinflation nehmen diese Probleme noch zu. Zum einen bildeten Monatsendstände oder -durchschnitte die oft extremen Schwankungen innerhalb eines Monats nicht ab. Zum anderen wurden bestimmte Daten nicht erhoben oder waren wegen der Ausdünnung der Umsätze nicht repräsentativ. Die mit den einzelnen Multiplikatoren errechneten Kreditvolumina wichen gegen Ende der Inflationszeit aus diesen und den eingangs genannten Gründen stark voneinander ab. Die traditionellen Multiplikatoransätze betrachten die Geldmenge als exogene Größe, die über einen weitgehend starren Multiplikator rein rechnerisch mit einem bestimmten Volumen an „Basisgeld“ fest verknüpft ist. Die neuere Geldangebotstheorie stellt demgegenüber fest, dass sich das Geldangebot in einem interdependenten Prozess verschiedener beteiligter Gruppen bildet.69 Dennoch sind einige der genannten Multiplikatoransätze für die Zwecke der Untersuchung durchaus brauchbar, wenn man sich auf die enthaltenen funktionalen Zusammenhänge konzentriert und die Änderungen der Verhaltensparameter der beteiligten Gruppen („Quoten“ und „Koeffizienten“) in die Untersuchung einbezieht. Die exakte Quantifizierung der Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Banken anhand der in der Literatur angebotenen Multiplikatorformeln würde die Entscheidung für eine volkswirtschaftliche Lehrmeinung (oder gar deren Weiterentwicklung) erfordern. Es ist jedoch hier nicht der Platz, in eine ökonomische Diskussion einzugreifen, die heute ohnehin an Aktualität eingebüßt hat. Die klassische Darstellung der multiplen Giralgeldschöpfung (traditionelle Geldschöpfungstheorie) geht auf Chester A. Phillips zurück und wurde von John Maynard Keynes übernommen.70 In der heute üblichen Schreibweise ist das maximal mögliche Angebot des Bankensystems an Giralgeld durch den „starren Geldschöpfungsmultiplikator“ 1 a nach der Formel M max = m ⋅ Z a bestimmt, mit: m= c * +r ⋅ (1 − c*) m = starrer Geldschöpfungsmultiplikator, c* = Barabzugsquote = Satz, zu dem die Nichtbanken die Ihnen eingeräumten Kredite in bar halten, r = Mindestreservesatz, a = maximales Geldangebot des Bankensystems, Za = Geldbasis = (Bargeld + M max Notenbankguthaben) der Banken und Nichtbanken, nicht jedoch des Staates. Eng verwandt mit der Geldangebotsfunktion des Bankensystems ist dessen Kreditangebotsfunktion. Das maximale Kreditschöpfungspotenzial der Banken wird nach dem 1 klassischen Ansatz durch den starren Kreditschöpfungsmultiplikator k = r + c * ⋅(1 − r) und die Überschussreserven der Banken bestimmt: a Bmax = k ⋅Ü , wobei: a = maximales Kreditangebot der Banken, k = starrer Kreditschöpfungsmultiplikator, Bmax Ü = Überschußreserven = Barreserve – Mindestreserven, 69 70 Issing, Einführung (wie Anm. 22), S. 59–77. Chester A. Phillips, Bank Credit. A Study of the Principles and Factors Underlying Advances made by Banks to Borrowers. New York 1921; John M. Keynes, A Tract on Monetary Reform. London 1923; ders., A Treatease on Money. London 1930. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 116 Hartmut Kiehling Die Barabzugsquote c* ist auf gesamtwirtschaftlicher Ebene schwierig zu ermitteln. Stattdessen kann man jedoch den Bargeldabflusskoeffizienten c verwenden. Gravierender sind die Einschränkungen, die aus den gemachten Annahmen resultieren. Es sind dies unter anderem: (1.) Die Banken vergeben soviel Kredit wie möglich. Sie verhalten sich also als „Kreditmaximierer“, nicht jedoch als Gewinn- oder Sicherheitsmaximierer. (2.) Die angebotene Menge an Kredit wird auch nachgefragt. (3.) Die Banken halten daher im Gleichgewichtszustand weder Überschussreserven noch Bargeldbestände. (4.) Die Kreditinstitute können sich bei Bedarf kein weiteres Zentralbankgeld beschaffen. (5.) Dem Geschäftsbanksektor geht durch Verfügungen über ihre Depositen kein Bargeld verloren.71 Die Annahmen (1.) und (2.) sind generell wenig realistisch. Sie galten auch im Untersuchungszeitraum allenfalls zeitweise. So ist die Annahme (1.) für die schrittweise zunehmenden Inflationsraten der Jahre 1921 bis 1923 vermutlich nicht erfüllt, die Annahme (2.) ist für die Jahre der Liquiditätsschwemme von 1916 bis 1919 unrealistisch. Ferner stieg – wie im Folgenden noch gezeigt wird – die Barreserve des Bankensystems gegen Ende der Inflation zu deutlich an, sodass auch Annahme (3.) nicht zutrifft.72 Der Grund dafür lag vermutlich unter anderem darin, dass die Einleger massiv in bar abdisponierten (Annahme (5.)).73 Annahme (4.) ist für den gesamten Untersuchungszeitraum nicht erfüllt.74 Trotz all dieser Einschränkungen zeigt die klassische Darstellung der multiplen Giralgeldschöpfung einen für die weitere Argumentation wichtigen Zusammenhang auf: Der Kreditschöpfungsspielraum der Banken ist erschöpft, wenn die Überschussreserven Ü gleich Null sind. Spätere Geldtheoretiker haben an diesem Konzept mehrere Änderungen vorgenommen. Sie stellten zum einen auf das tatsächliche Kreditangebot der Banken bzw. die de facto angebotene Menge an Zentralbankgeld ab. Zum anderen bezogen sie das Verhalten der Einleger und der Banken in ihre Überlegungen ein und untersuchten dessen Einfluss auf die Geldbasis. Mit Hilfe des so determinierten „flexiblen Geldschöpfungsmultiplikators“ 1 m= lässt sich das Geldangebot der Notenbank nach der Formel 1 + (1 − c) ⋅ ü ⋅ ( i − u ) m Ma = m · Za bestimmen. Den starren Kreditschöpfungsmultiplikator kann man also auch als Spezialfall des flexiblen interpretieren. Zwischen dem Kreditangebot der Banken an die Nichtbanken und dem Volumen der Zentralbankgeldmenge, das die Notenbank anbietet, gibt es einen engen Zusammenhang, der sich unter anderem in einer Funktion zwischen den entsprechenden Multiplikatoren ausdrückt: Å = m – 1 > 0.75 Demnach 1 lautet der flexible Kreditschöpfungsmultiplikator Å = − 1 und das 1 + (1 − c) ⋅ ü ⋅ ( i − u ) m 71 72 73 74 75 Issing, Einführung (wie Anm. 22), S. 51 f. S. Kapitel VII. S. Kapitel XII. S. Kapitel VIII. Rudolf Richter/Ulrich Schlieper/Willy Friedmann, Makroökonomik. Berlin et al. 41981, S. 382. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 117 Kreditangebot der Banken bestimmt sich nach der Gleichung Ba = ÅZa ,76 wobei: Barreserve der Banken, ü = Überschussreservesatz = r* -r, r* = Reservesatz = Einlagevolumen u = erwartete Zinsänderungsrate, Å = flexibler Kreditschöpfungsmultiplikator, Zentralbankgeld c = Bargeldabflusskoeffizient = der Nicht-Banken, Zentralbankgeld + Sichteinlagen i = Geldmarktzins, Ba = tatsächliches Kreditangebot der Banken. Auch das flexible Geld- bzw. Kreditmultiplikatorkonzept weist jedoch für den Untersuchungszeitraum offenkundige Mängel auf. An den Formeln beider Multiplikatoren sind daher einige Modifikationen sinnvoll oder gar notwendig: ■ Die erwartete Zinsänderungsrate u kann heute nicht mehr ermittelt werden. Es ist jedoch plausibel anzunehmen, dass sich die aktuellen Zinsen während des Untersuchungszeitraums im Allgemeinen nicht signifikant von den erwarteten unterschieden haben. In den äußerst volatilen Zeiten der Hyperinflation hätte jede Abweichung für die Marktteilnehmer unverhältnismäßig große Risiken mit sich gebracht. Anbieter und Nachfrager am Geldmarkt taten daher gut daran, ihre Erwartungen vollständig in die aktuellen Dispositionen einfließen zu lassen. Vor Ausbruch der Hyperinflation waren die Geldmarktzinsen mit Ausnahme der relativ kurzen Periode von Januar bis November 1918 sehr konstant, sodass in der betreffenden Zeit auch keine namhaften Bewegungen der Zinserwartungen wahrscheinlich sind. Damit ist es vertretbar, in der Formel für den flexiblen Kreditschöpfungsmultiplikator den Ausdruck i–u durch den Geldmarktzins i zu ersetzen.77 ■ Die Reichsbank hat im Untersuchungszeitraum keine Mindestreserve erhoben. Die Banken konnten ihre Bestände an Zentralbankgeld dennoch nicht auf Null reduzieren. Zum einen hatten sie mit Abdispositionen der Einlagen in bar zu rechnen. Zum anderen mussten sie auf ihren Reichsbankkonten mindestens die für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs notwendigen Working Balances halten, da diese Konten ausschließlich auf Guthabenbasis geführt wurden und eine automatische Inanspruchnahme des Notenbankkredits nicht möglich war.78 Ü und r müssen daher entsprechend uminterpretiert werden als Ü = Barreserve der Banken minus Working Balances der Banken bei der Reichsbank79 bzw. Bargelderfordernis + Working Balances der Banken auf ihren Reichsbankkonten r= . Einlagen bei den Banken 76 Karl Brunner/Allan H. Meltzer, Some Further Investigations of Demand and Supply Functions for Money, in: Journal of Finance 19 (1964), S. 240–283, hier S. 248 ff.; Richter/Schlieper/Friedmann, Makroökonomik (wie Anm. 75), S. 379 f. 77 S. Kapitel X. 78 S. Kapitel IX. 79 Aus Gründen der besseren Erfassbarkeit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene kann ü auch als Barreserve interpretiert werden. Der flexible Kreditschöpfungsmultiplikar* = Reservesatz = Einlagevolumen 1 tor schreibt sich in diesem Fall m μ= − 1. Im folgenden wird jedoch auf diese c + (1 − c ) ⋅ ( r + r * ⋅i ) Modifikation verzichtet, da die Überschussreserven in der angepassten Interpretation genügend operationabel sind. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 118 Hartmut Kiehling Berücksichtigt man diese Änderungen, so folgt der flexible Geldschöpfungsmultipli1 , der flexible Kreditschöpfungsmultiplikator lässt kator der Formel m = 1 + (1 − c) ⋅ ü ⋅ i m 1 − 1 .80 sich schreiben m = 1 + (1 − c) ⋅ ü ⋅ i m Trotz der genannten Einschränkungen bilden das starre wie das flexible Geld- bzw. Kreditmultiplikatorkonzept wichtige Determinanten des Kreditangebots ab. Danach ist der Kreditschöpfungsspielraum der Banken von der Liquiditätspräferenz des Publikums und den Überschussreserven der Banken abhängig. Deren Höhe bestimmt sich nach dem Zahlungsverkehrserfordernis der Banken – in bar und auf Reichsbankkonto. Für das tatsächliche Kreditangebot spielt zudem die Liquiditätshaltung der Banken selbst, der aktuelle Zins sowie die Geldbasis eine Rolle, also die Menge an Zentralbankgeld, das die Notenbank an Banken und Nichtbanken, nicht jedoch dem Staat bereitstellt. Die vorgestellten Formen des flexiblen Geld- bzw. Kreditschöpfungsmultiplikators berücksichtigen die Liquiditätshaltung der Banken lediglich durch deren Überschussreserven. Bezieht man die potenzielle Bankenliquidität81 mit ein und modelliert das Verhalten der Nichtbanken durch die Fristigkeitsstruktur ihrer Einlagen, so nimmt der 1 . Geldschöpfungsmultiplikator folgende Gestalt an: m' = 1 − c Das Geldanc + (r + l) ⋅ 1− t gebot der Zentralbank ergibt sich aus der Formel M a = m'⋅ (Z a + L*B ), wobei: freie Liquiditätsreserven der Banken l = Liquiditätsquote = , Einlagevolumen der Nichtbanken Termin - und Spareinlagen der Nichtbanken t = Zeitdepositenquotient = , Einlagevolumen der Nichtbanken LB = freie Liquiditätsreserven der Banken = Überschussreserven + potenzielle Bankenliquidität. Das Aggregat Za + Lp nennt man ergänzte monetäre Basis. 1 − 1) Dementsprechend lautet der Kreditschöpfungsmultiplikator Å ' = ( 1− c c + (r + λ) ⋅ 1− τ und das Kreditangebot der Banken errechnet sich aus der Gleichung B a = Å '⋅ (Z a + L*B ) .82 Ein alternativer Ansatz verwendet den Reservesatz als Maß für die Liquiditätshaltung der Banken sowie den Bargeldhaltungskoeffizienten als Maß für die des Publikums. Berechnet man die Geldschöpfung zudem auf der Grundlage der Geldbasis, so lautet der c'+ 1 . Mit seiner Hilfe lässt sich das Geldangebot Geldschöpfungsmultiplikator m* = r * +c' 80 81 82 Brunner/Meltzer, Investigations (wie Anm. 76), S. 248 ff.; Richter/Schlieper/Friedmann, Makroökonomik (wie Anm. 75), S. 379 f. S. zur Abgrenzung Kapitel VIII. Richter/Schlieper/Friedmann, Makroökonomik (wie Anm. 75), S. 431 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 119 des Bankensystems bestimmen als Ma = m* · Za 83 für c' = Bargeldhaltungskoeffizient = Bargeld der Nichtbanken.84 Einlagenvolumen Analog gelten für den Kreditschöpfungsmultiplikator bzw. das Kreditangebot der c'+ 1 − 1 bzw. Ba = Å* · Za.85 Diesen (wie jeden anderen) Banken die Formeln Å* = r * +c' Ansatz kann man insofern modifizieren, als man den betreffenden Multiplikator nicht auf die freien Liquiditätsreserven der Banken oder die (ergänzte) monetäre Basis, sondern ein erweitertes Geldmengenkonzept abstellt. Der zuletzt genannte Kreditschöpfungsmulc'+ 1 tiplikator würde beispielsweise im Falle von M1 die Form Å * * = annehr * ⋅(1 + t ) + c' a a men. Das Kreditangebot der Banken berechnet sich dann aus M = Å* · Z . Aus der Liquiditätstheorie stammt ein weiterer Ansatz, der den Kreditbestand aus einem Kreditschöpfungsmultiplikator und den freien Liquiditätsreserven der Geschäftsbanken ableitet. Dabei ist der Kreditschöpfungsmultiplikator durch den durchschnittlichen Mindestreservesatz und die freie Liquiditätsquote bestimmt. Die obere Grenze der Kreditschöpfung ist dann erreicht, wenn die potenzielle Bankenliquidität vollständig in aktuelle Bankenliquidität umgewandelt worden ist. Bekannt geworden ist das Konzept Anfang der 1970er-Jahre, als es der Sachverständigenrat anwandte. Nach seiner Lesart des Konzepts ist das theoretische Kreditmaximum bestimmt durch die Formel 1− r + f B max = ⋅ LS , wobei: r Rediskontkontingente f = , Einlagen der Nichtbanken bei den Banken LS = Liquiditätssaldo der Banken = Working Balances der Banken bei der Zentralbank + freie Liquiditätsreserven der Banken. Der Ansatz der Liquiditätstheorie hat allerdings einen gravierenden Nachteil. Er ist rein saldenmechanisch aus der konsolidierten Bilanz des Bankensystems abgeleitet, enthält keine Hypothesen über das Verhalten der Wirtschaftssubjekte und kann daher die tatsächlichen Veränderungen des Geldangebots nicht erklären. Dies wird besonders deutlich beim Kassenhaltungskoeffizienten, bei dem implizit ein Wert von c = 0 unterstellt wird. Das Publikum verfügt also über neu eingeräumte Kredite nur in bar. Der Sachverständigenrat hielt ein solches Vorgehen dennoch für vertretbar, da er die Konstanz des Koeffizienten annahm.86 Dies ist jedoch hinsichtlich hier betrachteten Jahre unrealistisch. Wegen der genannten Schwächen des Konzepts wird der Ansatz der Liquiditätstheorie im Folgenden nicht weiter verfolgt. 83 Wim Kösters, Geldtheorie, in: Werner Glastetter/Eduard Mändle/Udo Müller/Rolf Rettig (Hrsg.), Handwörterbuch der Volkswirtschaft. Wiesbaden 21980, Sp. 383–400, hier Sp. 388. 84 Vgl. zu diesem Kapitel auch Issing, Einführung (wie Anm. 22) S. 42–80. 85 Kösters, Geldtheorie (wie Anm. 83), Sp. 388. 86 Jürgen Siebke/Manfred Willms, Theorie der Geldpolitik (Heidelberger Taschenbücher 157). Berlin et al. 1974, S. 177–187. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 120 Hartmut Kiehling Die vorgestellten Theorien zum Geldangebot beanspruchen allgemeine Gültigkeit. Berechnet man mit ihrer Hilfe jedoch das theoretisch mögliche Kreditangebot der Banken während des Untersuchungszeitraums, so ergeben sich insbesondere für die Jahre der Hyperinflation gravierende Abweichungen vom tatsächlich erzielten Kreditvolumen.87 In einem zweiten Schritt erfolgen daher noch speziell auf die Hyperinflation abgestellte geldangebotstheoretische Überlegungen. Eine grundlegende Arbeit hierzu legte Cagan bereits 1956 vor, in der er ein Modell entwickelte, das das Geldmengenwachstum in Abhängigkeit von den Inflationserwartungen des Publikums sah. Cagan nahm an, dass diese Erwartungen durch die aktuellen Preissteigerungsraten bestimmt waren: ⎛ Md ⎞ 88 log ⎜ ⎟ = −a ⋅ E − g, mit: ⎝ P ⎠ Md = (nominale) Geldnachfrage, P = Preisniveau, a, g = const, E = erwartete Inflationsrate ≈ Δ P. Allerdings argumentierte Cagan noch von der Geldnachfrage her und nahm an, dass diese dem Geldangebot stets entspräche.89 Thomas J. Sargent und Neil Wallace modifizierten den von Cagan gewählten Ansatz, indem sie das Geldangebot selbst in Abhängigkeit von vorangegangenen Preissteigerungsraten betrachteten und eine Kausalität zwischen ⎛ Mt ⎞ ⎛ P ⎞ mt = mt + st = log ⎜ + st und X = log ⎜ t ⎟ , mit: ⎝ M t +1 ⎟⎠ ⎝ Pt −1 ⎠ ⎛ Mt ⎞ , Pt = (Rohstoff-) Preisniveau zum Zeitpunkt t, mt = log ⎜ ⎝ M t −1 ⎟⎠ Mt = Geldnachfrage zum Zeitpunkt t, st = (serial unkorrelierter) Zufallsterm, konstatierten. Diese Modifikation hatte zur Folge, dass das Modell allgemein konsistent mit der Theorie rationaler Erwartungen wurde. Die Gültigkeit beider Modelle haben ihre Autoren anhand von Korrelationsrechnungen mit Daten aus fünf historischen Hyperinflationen nachzuweisen gesucht. Ebenfalls vom Ansatz Cagans ging Steven M. Goldman aus. Er berücksichtigte zudem sowohl die Flucht in die Sachwerte als auch den Grad an Geldillusion, wobei erstere naturgemäß inflationsfördernd, letztere inflationshemmend wirkte.90 Eine interessante Erweiterung nahm auch Rodney L. Jacobs vor, indem er das Geldangebot vom Finanzbedarf 87 88 Zur Schätzungsproblematik des tatsächlich erzielten Kreditvolumens s. Kapitel XII. Die logarithmische Form des Cagan’schen Ansatzes ist verschiedentlich kritisiert worden, da sie das Problem serialer Korrelation aufwirft. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass auch eine Umwandlung der Funktion in lineare Form im Fall der deutschen Hyperinflation nicht zu signifikant besseren Ergebnissen führt. Vgl. Joseph Bisignano, Cagan’s Real Money Demand Model with Alternative Error Structures. Bayesian Analyses for Four Countries, in: International Economic Review 16 (1975), S. 487–502. 89 Cagan, Dynamics (wie Anm. 20), S. 35 ff. 90 Steven M. Goldman, Hyperinflation and the Rate of Growth in the Money Supply, in: Journal of Economic Theory 5 (1972), S. 250–257. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 121 des Staates abhängig machte. Danach wird das Geldangebot davon bestimmt, inwieweit die angestrebte die realisierte Inflationssteuer übertrifft. Das so ermittelte Geldangebot hat Jacobs mit der Geldnachfrage zu einem Gleichungssystem verbunden: ∂Vt 1 dP ⎞ dq ⎛ = − q ⋅ ⎜q − ⋅ ⎟, ⎝ P dt ⎠ dt ( M P ) dE b ⋅ E ⋅ ( q − E ) = , 1 − (b ⋅ a) 2 dt d ln ( M ) = q, dt dV = R * −R, dt mit: q = „Inflationssteuerrate“, Vt = R* – R = Defizit zwischen der angestrebten und der realisierten Inflationssteuer, M = Geldmenge, P = Preisniveau, a, b, d = Strukturparameter, E = erwartete Inflationsrate. Wenn die angestrebte Inflationssteuer die maximal erzielbare übersteigt, wird der Prozess instabil; die Notenemission explodiert. Jacobs konnte auf diese Weise die Entwicklung der (Papiermark-) Geldmenge während der zweiten Hälfte des Ruhrkampfes erklären – ein ungelöstes Problem der zuvor aus dem Ansatz Cagans entwickelten Modelle.91 Allerdings berücksichtigt sein Modell nicht, dass die deutsche Regierung – deutlich erkennbar – keine bewusste Politik der Ausnutzung der Inflationssteuer betrieben hatte. Sie hätte ansonsten die wichtigsten Steuern auf eine wertbeständige Basis stellen und die Zahlungsfristen für Steuerschulden stark verkürzen müssen.92 Es ist jedoch gar nicht notwendig, das (immer schwierig schätzbare) Moment der Erwartung der Staatsverschuldung zu berücksichtigen. Webb hat stattdessen folgende Funktion unterstellt: log Za = a + b · Dbt +g · Et + c · Rt + et, mit: Za = angebotene Geldbasis, a, b, g, c = const., Dbt = Volumen der Staatsverschuldung, Et = erwartete Inflationsrate (gemessen über den M/$-Report am Devisenterminmarkt), Rt = Diskontsatz der Reichsbank Gerade hinsichtlich des Verschuldungskoeffizienten ist Webbs Modell für den Zeitraum von April 1920 bis August 1923 hochkonsistent (b = 0,90, Konfidenzniveau: 0,99, Standardabweichung: 0,04). In Bezug auf den Koeffizienten zu den Inflationserwartungen ist es dagegen lediglich auf einem Konfidenzniveau von fünf Prozent signifikant (g = 0,48, P = 0,95, s = 0,20).93 Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass außenwirtschaftliche Einflüsse, wie sie im Swapsatz zum Ausdruck kommen, von 1920 bis 1923 keinen durchgängigen Einfluss auf das Geldangebot hatten. 91 Rodney L. Jacobs, Hyperinflation and the Supply of Money, in: Journal of Money, Credit and Banking 9 (1977), S. 287–303. 92 Vgl. zum Verhalten der Reichsregierung Webb, Hyperinflation (wie Anm. 60), S. 31–43. 93 Ebd., S. 30. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 122 Hartmut Kiehling Die relativ komplizierten Formeln der zuletzt genannten Ansätze hat Marvin S. Goodfriend bewusst reduziert. Er geht davon aus, dass das Geldangebot einer Periode real im Wesentlichen von den Preiserwartungen bestimmt ist:94 ( ) ln M t − ln Pt = l + a ⋅ Δ ln Pte+1 + vt , mit: Mt = Geldangebot in Periode t, Pt = Preisniveau in Periode t, Δ ln Pte+1 = Preiserwartung in Periode t hinsichtlich Periode t +1, nt= unvorhergesehene externe Schocks externes Rauschen, a = Steigung des (natürlichen) Logarithmus der Geldnachfrage in Bezug auf die erwartete Preissteigerungsrate, l = const. Unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaftssubjekte in kürzester Zeit über genaue Informationen zu Preisniveauänderungen und zur Geldmenge verfügen und externes Rauschen zu vernachlässigen ist, hat dieser Ansatz die Vorteile, dass das Geldangebot keinen einschränkenden Bedingungen unterliegt, die Verfahrensweise einfach ist und leicht überprüft werden kann. Goodfriend zog in seiner Untersuchung die Daten Cargans heran und fand seine Hypothese bestätigt.95 Andere Autoren haben in jüngerer Zeit ebenfalls anhand empirischer Daten für die deutsche Hyperinflation einen Kausalzusammenhang zwischen den Inflationserwartungen und dem Geldangebot bestätigt gefunden.96 Trotz aller Bemühungen – die deutsche Inflation von 1914/19 bis 1923 wurde bereits als das am besten untersuchte ökonomische Phänomen bezeichnet – dauert die Diskussion über die Bestimmungsgründe des Geldangebots (und der Geldnachfrage) an. Rüdiger Dornbusch hat bereits vor einiger Zeit die immer noch unerfüllte Vorgabe gemacht, zu diesem Zweck ein integriertes Modell zu entwickeln, das neben den bislang diskutierten Determinanten auch die realen Wechselkurse, das Portfolio-Gleichgewicht sowie das Vertrauen und die Kreditwürdigkeit in Währung und Regierung berücksichtigt.97 Während die zuvor genannten Ansätze zur Erklärung des Geldangebots die (mehr oder weniger autonomen) Handlungen der Geschäftsbanken und ihrer Einleger, vor allem aber der Notenbank heranziehen, betonen zumindest die neueren, speziell auf die Hyperinflation zugeschnittenen Ansätze die endogene Art der Wirkungszusammenhänge. Damit ist das Geldangebot eng mit der Geldnachfrage verzahnt und es wird für die quantitativ vorgehende moderne Volkswirtschaftslehre äußerst schwierig, die Abhängigkeiten und Kausalitäten im Einzelnen zu isolieren. Die Diskussion ist daher vermutlich bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Dem Wirtschaftshistoriker bleibt deshalb nur, die diskutierten Wirkungszusammenhänge aufzugreifen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Die hier behandelten, von verschiedenen Autoren postulierten Zusammenhänge zwischen dem Kreditvolumen und seinen Determinanten sollen daher im Folgenden für den 94 Goodfriend benutzt sie allerdings als Ausgangspunkt für eine Untersuchung zur Geldnachfrage. 95 Marvin S. Goodfriend, An Alternative Method of Estimating the Cagan Money Demand Function in Hyperinflation under Rational Expectations, in: Journal of Monetary Economics 9 (1982), S. 43–57. 96 Edwin Burmeister/Kent D. Wall, Unobserved Rational Expectations and the German Hyperinflation with Endogenous Money Supply, in: International Economic Review 28 (1987), S. 15–32. 97 Dornbusch, Lessons (wie Anm. 6), S. 363. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 123 Untersuchungszeitraum nicht in streng wissenschaftlichem Sinne falsifiziert werden. Zu diesem Zweck wäre es zunächst notwendig, tiefer als beabsichtigt in eine durchaus nicht abgeschlossene wissenschaftliche Diskussion einzutreten – ganz abgesehen davon, dass das vorhandene Datenmaterial oft nicht vorliegt oder verlässlich genug ist. Vielmehr werden die hier aufgezeigten Thesen anhand des historischen Datenmaterials untersucht, ohne der Gültigkeit der exakten funktionalen Beziehungen nachzuspüren.98 Die vorliegende Untersuchung geht also grundsätzlich von einzelnen volkswirtschaftlichen Theorien der Kreditschöpfung aus, wie sie hier benannt und kurz beschrieben wurden. Sie verwendet die Theorien jedoch im Allgemeinen nur zur Benennung der einzelnen Einflussfaktoren und möglicher funktionaler Beziehungen. IV. Die Zinsentwicklung Zinssätze unterschiedlicher Marktsegmente spielen in einigen Ansätzen sowohl zur Geldnachfrage als auch zum Geldangebot eine wichtige Rolle – allerdings in der Form der nicht direkt messbaren Zinserwartungen. Trotz dieser Einschränkung ist es an dieser Stelle aus folgenden Gründen sinnvoll, auf die Struktur und Entwicklung der Zinsen im Untersuchungszeitraum einzugehen: ■ ■ ■ ■ Die Zinssätze liefern Hinweise auf die Knappheitsverhältnisse auf den Märkten. Über längere Zeit völlig konstante Sätze deuten auf Manipulationen oder Umsatzlosigkeit hin. In Zinsen und Renditen zeigen sich Interdependenzen zwischen den einzelnen Teilmärkten. Eine solche Analyse mag zur Erklärung beitragen, weshalb die Zinssätze, gemessen an der Geldentwertung, bis in die Hyperinflation hinein viel zu niedrig waren und damit ihrer volkswirtschaftlichen Lenkungsfunktion nicht nachkamen. Die Reichsbank und die Darlehenskassen erhöhten ihre Zinsen nicht. Solange sie unbeschränkt Kredit gewährten, war damit eine Obergrenze für die Zinsen kurzfristiger Kredite unter Banken sowie für solche Kredite an Nichtbanken markiert, die auf der Diskontierung oder Lombardierung von reichsbankfähigen Papieren beruhten (Diskont von Reichsschatzanweisungen und Handelswechseln einschließlich Privatdiskonten, Lombard von staatlichen Schuldverschreibungen). Die Reichsbank war der Meinung, dass Zinserhöhungen in einem inflationären Umfeld ihre Steuerungsfunktion weitgehend verloren hatten und die Inflation nur noch anheizen würden; dies gelte insbesondere über die Verteuerung des Schuldendienstes für die Staatsverschuldung. Auch der Staat griff über seine Emissionskontrolle, später die Genehmigungspflicht privater Schuldverschreibungen gemäß § 795 BGB regulativ ein, da er keine höheren Emissionsrenditen als die „marktüblichen“ genehmigte. Die Überlegungen waren die gleichen wie die der Reichsbank. 98 Bei umfangreichen Proberechnungen hat sich allerdings bestätigt, dass die überwiegend zur Verfügung stehenden Bilanzdaten mit zu großen Ungenauigkeiten behaftet sind, als dass sie noch zu verlässlichen Ergebnissen führen würden, zumal sie in den kritischen Jahren 1921 bis 1923 großenteils auf den genanntem Hochrechnungen beruhen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 124 Hartmut Kiehling Besonders restriktiv wurden Zinserhöhungen im Hypothekenbankgeschäft gehandhabt. Hier war sogar die Zinsmarge vorgeschrieben. Sie deckte seit 1921 immer weniger den Verwaltungsaufwand der Institute, sodass diese bereits im Herbst 1922 wertbeständige Pfandbriefe und Kommunalobligationen ausgaben. Die Banken hatten keine Veranlassung, ihre Einlagenzinsen deutlich zu erhöhen und wirkten in diese Richtung unter anderem durch das Konditionenkartell der Berliner Großbanken. Während des ersten Inflationsschubs und in den Monaten danach waren sie nicht notwendig, da ohnedies hohe Volumina an Auslandsgeldern zuflossen. Danach war ein deutlich geringeres Kreditgeschäft zu finanzieren. Dafür war nun das Wertpapierkunden- und -emissionsgeschäft einschließlich des Pakethandels umso lukrativer. Durch die starren Nominalzinsen verlagerten sich die Anlagen des Publikums in starkem Maße auf solche Finanzmärkte, die deutliche Kursgewinne versprachen (Devisenmärkte, seit 1920 Aktienmarkt, seit Herbst 1922 Rentenmarkt), wenn sie nicht ohnehin Sachinvestitionen vorzogen. Mit den starken Fluktuationen an den Finanzmärkten wurden diese für die Marktteilnehmer unübersichtlicher und unsicherer. In dieselbe Richtung wirkte auch eine unübersichtliche Wertpapierabwicklung. Resultate waren eine Verkürzung der Laufzeiten, die starke Betonung der Sicherheiten und regelmäßige Änderung der Marktsegmente. Betrachtet man die Monatsdurchschnitte, so ist dieses Bild etwas zu modifizieren. Der Privatdiskontsatz an der Berliner Börse lag von August 1916 bis Dezember 1918 konstant bei 4,63 Prozent. Es handelte sich also nicht um marktmäßig entstandene, sondern um Tax- oder administrierte Sätze, auf die wenig gehandelt wurde. Diese Sätze waren zu Beginn des Jahres 1916 wohl noch realistisch, denn sie schlossen ohne Sprung an die vorherigen Marktsätze an. Im Gegensatz dazu kam es vom Dezember 1918 zum Januar 1919 zu einem Fall um 1,43 Prozentpunkte. Die 4,63 Prozent der Monate zuvor bildeten damit kaum die „Liquiditätsschwemme“ der Wirtschaft ab,99 wie sie sich etwa in den Beständen an Schatzanweisungen außerhalb der Reichsbank und den privaten Guthaben bei der Reichsbank widerspiegelten und wie sie auch in der Literatur belegt sind.100 Während der Durchschnittssatz für Privatdiskonten von 1919 bis 1921 durchweg um mehr als ein Prozent unter dem Reichsbankdiskont lag, schrumpfte dieser Zinsunterschied bis zum August 1922 vollständig zusammen und wurde im Oktober sogar negativ. Anhand dieses rückläufigen Zinsunterschieds ließ sich die schrittweise Verschärfung der Liquiditätssituation der Wirtschaft in Ansätzen bereits im Oktober, deutlich jedoch seit Dezember 1921 ablesen. In den Monaten August und September 1922 lag der Privatdiskontsatz nur noch einen Basispunkt unter dem Reichsbankdiskont und stieg im Oktober sogar darüber hinaus. In den letzten Monaten des Jahres lagen die vom Statistischen Reichsamt erhobenen Privatdiskontsätze wieder unter denen des Reichsbankdiskonts.101 Die Sätze für Privatdiskonten wurden seit September 1922 immer stärker nach Bonität differenziert. Sie sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. Gegen Jahresende dünnten auch die Umsätze stark aus. Für 1923 gibt es noch nicht einmal Taxsätze.102 99 Ähnliche Vorbehalte gibt es für die Zahlen der Zeit danach nicht. 100 Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 124*. 101 Reichsbank, Die Reichsbank 1901–1925. Berlin 1925, S. 91; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 43 (1923), S. 269. 102 Die Bank 15 (1922), S. 808 f.; 16 (1923), S. 33, 101 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 125 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 6: Geldmarktzinsen 1916–23 (Monatsdurchschnitte in Prozent p. a.) 30 25 20 15 10 5 Reichsbankdiskont Reichsbanklombard Privatdiskont 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 0 Tagesgeld Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 43 (1923), S. 269; Reichsbank, Reichsbank (wie Anm. 101), S. 91. Abbildung 7: Geldmarktzinsen 1922/23 (Monatsdurchschnitte in Prozent p. a.) 10.000 1.000 Reichsbankdiskont Reichsbanklombard Privatdiskont Tagesgeld 100 10 1923 1922 1 Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 43 (1923), S. 269; Reichsbank, Reichsbank (wie Anm. 101), S. 91. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 126 Hartmut Kiehling Abbildung 8: Tagesgeldsätze 1921–23 (Monatsdurchschnitte in Prozent p. a.) 100 Tagesgeldsatz, Durchschnitt gegen Schatzwechselunterlage gegen gute Aktienunterlage gegen sonstige Aktienunterlage 10 1923 1922 1921 1 Abbildung 9: Tagesgeldsätze 1923 (Monatsdurchschnitte in Prozent p. a.) 10.000 Tagesgeldsatz, Durchschnitt gegen Schatzwechselunterlage gegen gute Aktienunterlage gegen sonstige Aktienunterlage 1.000 100 10 1 Jan Feb März April Mai Juni Juli Aug Sep Okt Nov Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Dez 127 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 10: Differenz der Effektivverzinsung vierprozentiger Rentenwerte 1919–23 (in Prozent p. a.) 3 2 1 Bayer. Staatsanleihe ./. Reichsanleihe 0 Bayer. Staatsanl. ./. Pfandbriefe d. HypoBank -1 -2 1923 1922 1921 1920 1919 -3 Abbildung 11: Zinsspread bei Tagesgeld je nach Sicherheit (Differenz zum Durchschnitt in Prozent) 1922 1923 600 500 400 Schatzwechsel gute Aktien sonstige Aktien 300 200 100 0 -100 -200 Jan Feb März April Mai Juni Juli Aug Sep Okt Nov Dez Jan Feb März April Mai Juni Juli Aug Sep Okt Nov Dez Quelle: Die Bank 13–16 (1920–23), passim. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 128 Hartmut Kiehling Aus der Literatur ist bekannt, dass sich die Diskontsätze der Banken für das Publikum bereits im Frühjahr 1923 erheblich über denen der Reichsbank bewegten. So verlangten die großen Banken im Februar 1923 einen Diskont zwischen 30 und 50 Prozent,103 die Reichsbank jedoch einen Diskont von zwölf Prozent p. a. Die Frankfurter Bankiervereinigung setzte im Dezember 1923 für nicht wertbeständige (Diskont-) Kredite an erste Adressen täglich 1,5 bis drei Prozent an, für andere mindestens 2,5 bis 3,5 Prozent. Da die Zinsen 1923 täglich einschließlich Zinseszins berechnet wurden,104 entsprachen diese Sätze konformen Jahreszinssätzen zwischen 228 und 284.000 Prozent.105 Der Diskontsatz der Reichsbank für nicht wertbeständige Kredite betrug gleichzeitig 90 Prozent p. a., sodass die Banken mit Sicherheit in erheblichem Maße eigenes Wechselmaterial rediskontiert haben.106 In den späten und zögerlichen Zinserhöhungen kam die Überzeugung der Reichsbank zum Ausdruck, die Einreichungsvolumina an Reichsschatzanweisungen seien in keiner Weise zinsreagibel. Andererseits wollte die Notenbank die Zinslast des Reiches, die dieses aus dem ordentlichen Haushalt bestreiten musste, möglichst niedrig halten. Und schließlich befürchtete die Bank lange Zeit, dass mit einem Anstieg ihrer Leitzinsen die Kurse der Reichs- und Kriegsanleihen unter Druck geraten könnten.107 Erst Mitte Juli 1922 entfiel dieses Motiv mit den starken Kurssteigerungen einiger häufig gehandelter Reichsanleihen,108 die sich bis zur Stabilisierung fortsetzten. Im Jahr 1923 trat der Geldhandel unter Banken an die Stelle des Privatdiskontmarktes. Er war im Gegensatz zu den deutschen Verhältnissen bis 1993 pfandmäßig mit verschiedenen Wertpapieren unterlegt und entsprechend im Zins differenziert. Die Banken verwandten erstklassige Wechsel 1923 entweder als ein solches Pfand oder reichten diese bei der Reichsbank zum Rediskont ein. Zur Unterlegung am Geldmarkt kamen grundsätzlich Dollar-109 und Reichsschatzanweisungen sowie Industriepapiere – unterschieden in „gute“ und „schlechte“ Aktien – in Frage.110 Die üblicherweise gehandelten Fristen waren Tages- und Monatsgeld,111 eventuell auch Ultimogeld. Die Sätze für Tagesgeld lagen 1923 bereits im ersten Halbjahr nahezu kontinuierlich über den Diskont- und Lombardsätzen der Reichsbank und stiegen ab Juli weit darüber hinaus. In der ersten Jahreshälfte unternahm die Reichsbank wiederholt Versuche, ihren hohen Wechselankauf einzuschränken. Ein erster Versuch überschnitt sich zunächst mit den Liquiditätsproblemen des beginnenden Ruhrkampfes, sodass die Geldmarktsätze im Februar 1923 sofort stark anstiegen. Zwei Monate relativer Entspannung am Geldmarkt folgten, bevor die 103 Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation, 1914–1924. New York/Oxford 1993, S. 218. 104 Bernhard Mahrholz, Der deutsche Geldmarkt während der Stabilisierungsperiode, in: Die Bank 17 (1924), S. 710 f. 105 Lutz Kruschwitz, Finanzmathematik. München 42006, S. 33. 106 Diese Entwicklung bahnte sich bereits im zweiten Halbjahr 1922 an. Vgl. Franz Steffan, Bayerische Vereinsbank 1869–1969. Würzburg 1969, S. 209. 107 Otto Pfleiderer, Die Reichsbank in der Zeit der großen Inflation, die Stabilisierung der Mark und die Aufwertung von Kapitalforderungen, in: Deutsche Bundesbank, Währung (wie Anm. 3), S. 157–201, hier S. 166 f. 108 Die Bank 15 (1922), S. 673. 109 Ab August 1923. Vgl. Die Bank 1923, S. 609. 110 In der Reihenfolge ihrer Bonitätseinschätzung. 111 In den Marktkommentaren ab September 1923 nicht mehr erwähnt. Vgl. Die Bank 16 (1923), S. 672 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 129 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Reichsbank ihren Wechselankauf ab Mai real wieder zurückführte und die Geldmarktsätze den Diskont erneut überschritten.112 Im Gegensatz zur Realverzinsung sprach ein Renditevergleich mit alternativen Anlagen auf den ersten Blick für das Kontensparen. Die laufende Verzinsung sowohl der Giro- als auch der Sparkonten bei Banken und Sparkassen konnte sich während der Kriegs- und Inflationszeit durchaus mit der der wichtigsten Anlagealternativen auf dem Kapitalmarkt messen. Dabei spielte es keine Rolle, ob die betreffenden Konten Privatleuten oder Unternehmen zustanden.113 Im Vergleich mit der Entwicklung der Dividendenrendite bestätigt sich die Gültigkeit dieser Aussage zumindest für den größten Teil der Kriegsund Nachkriegszeit. Lediglich 1918/19 führte ein Kurssturz am deutschen Aktienmarkt dazu, dass die laufende effektive Verzinsung von Dividendenwerten wesentlich über die der Bankkonten hinausging. Danach sank die Dividendenrendite deutlich ab und lag seit 1921 sogar unter dem Sparzins. Eine ähnliche, wenn auch etwas stetigere Entwicklung nahm der Effektivzins am Rentenmarkt. Nachdem dieser 1918, vor allem aber 1919/20 die Debetzinsen der Banken deutlich übertroffen hatte, verkehrte sich diese Situation in der Hyperinflation in ihr Gegenteil.114 Abbildung 12: Einlagen- und Rentenzins 1918–23 (in Prozent p. a.) 14 12 10 8 6 4 2 Girozins Städt. Spk. München, nominal Sparzins Spk. Berlin, effektiv 1923 1922 1921 1920 1919 1918 0 Zins 4%ige Reichsanleihe, effektiv Quelle: Städtische Spar- und Girokasse München, Geschäftsbericht 1921–28, S. 15, 19; Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresberichte 1918–23, passim; Die Bank 13–16 (1920–23), passim. 112 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 70. 113 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 545; Die Bank 15 (1922), S. 684. 114 Wirtschaft und Statistik 1 (1921), S. 596; Fritz Kronenberger, Die Preisbewegung der Effekten in Deutschland während des Krieges (Betriebs- und Finanzwirtschaftliche Forschungen 2). Berlin 1920; Willi Heizmann, Geldentwertung und Aktienkurse, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 18 (1924), S. 360 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 130 Hartmut Kiehling Allerdings machte die laufende Nominalverzinsung auf den Kapitalmärkten der Inflationszeit über weite Perioden hinweg nur einen geringen Teil der Ertragsmöglichkeiten aus. Der Aktienmarkt ließ sich im Laufe der Inflationszeit immer weniger von dem traditionellen Bewertungskriterium der Dividendenrendite beeinflussen. Es waren vor allem Substanzüberlegungen, die die Kurse während des größten Teils des Krieges sowie während der Stabilisierungsphase 1920/21 und der Hyperinflation in Anlehnung an die Inflationsraten steigen ließen.115 Eine vergleichbare Entwicklung nahmen die Renten ab Mitte 1922, sodass die Gesamtperformance vor allem der Aktien per saldo deutlich über die des Kontensparens hinausging. Dies galt insbesondere für die Jahre 1915 bis 1917 sowie seit 1919. Im Vergleich mit der vierprozentigen Reichsanleihe schnitt ein Sparkonto etwas besser ab. Seine Performance lag in den Jahren 1915, 1918 und 1919 über der der Anleihe, fiel aber seit 1920 weit hinter diese zurück. Ein Performancevergleich kann im Beobachtungszeitraum die Nettobewegung der Einlagen nur für das Jahr 1918 erklären. Danach hätten die Einlagen den Renten 1914, 1918 und 1919 Marktanteile abnehmen müssen, tatsächlich legten die Einlagen gegenüber den Rentenwerten auch 1916, 1917, 1920 und 1921 zu. Nach einem Performancevergleich hätten die Einlagen 1917 und ab 1921 gegenüber Festverzinslichen sogar verlieren müssen. Dies war jedoch nur 1915 der Fall, obwohl Kursverluste am Rentenmarkt auch nicht durch die bessere Effektivverzinsung der Kriegsanleihen116 ausgeglichen werden konnten. Gegenüber dem Nettoabsatz der Aktien hätten die Einlagevolumina 1918 zulegen müssen. Tatsächlich kam es dazu jedoch 1914 und 1919, relativ auch in den Jahren 1916 bis 1918 und 1922. Nach dem Performancevergleich hätten die Einlagen von 1915 bis 1917 und ab 1919 sogar verlieren müssen, sie verzeichneten jedoch nur 1921 relative Marktanteilsverluste. 1923 sind die verwendeten Zahlen der Börseneinführungen von Rentenwerten nicht mehr repräsentativ. Bei den fast ausschließlich emittierten Festwertanleihen wurden zwar 2,15 Mrd. GM abgesetzt, jedoch nur 442,9 Mio. GM an einer deutschen Börse in den Handel eingeführt. Berücksichtigt man dies, so kam es 1920 und 1923 jeweils zu dramatischen Umschwüngen an den Anlagemärkten. Die wesentlichen Volumina an Neuanlagen, die von 1914 bis 1919 in öffentliche (Papiermark-) Anleihen und von 1920 bis 1922 in Bankeinlagen flossen, konzentrierten sich 1923 auf (wiederum öffentliche) Festwertanleihen. Mit der Inflationswelle im Spätsommer und Herbst 1921 begann der Kampf der Banken gegen die erzwungene Kreditgewährung durch unautorisierte Kontoüberziehungen: „Die Banken haben die Zusammenhänge […] zu spät erkannt und damit auf ihre und ihrer Aktionäre Kosten skrupellosen Elementen zur Bildung von Sachvermögen verholfen.“117 In der akuten Liquiditätskrise im Sommer 1922 wies die Zentrale der Deutschen Bank ihre Filialleiter mit Rundschreiben vom 23. August an, „in der Regel keine Kontokorrentkredite 115 Mattersdorf, Preisbildung (wie Anm. 28), S. 79 ff. Grundsätzlich wäre bei dieser Rechnung auch der Wert der Dividenden sowie der Bezugsrechte zu berücksichtigen. Letztere waren in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oft erheblich. Performanceindices stehen jedoch für den Untersuchungszeitraum nicht zur Verfügung. Das Statistische Reichsamt hat erst ab Oktober 1921 Kursindices veröffentlicht, die wenigstens um Bezugsrechte bereinigt waren. 116 Bei der ersten Kriegsanleihe, die vom 9. September 1914 an gezeichnet werden konnte, belief sich diese unter Berücksichtigung des Ausgabedisagios auf 5,38 Prozent, bei den gleichzeitig emittierten Schatzanweisungen sogar auf 5,63 Prozent. Vgl. Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 87 f. 117 Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 209. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 131 über den 30. November hinaus zu gewähren.“118 In der Hyperinflation verhielten sich die deutschen Banken schon allein aus Liquiditätsgründen bei der Vergabe von Krediten und dem Eingehen neuer Beteiligungen äußerst restriktiv. Ein extremes Beispiel lieferte die Deutsche Bank, als sie im August 1922 sogar die Beteiligung mit 50 Mio. M an einem Konsortium ablehnte, das zusammen mit den Kölner Bankhäusern A. Levy und Sal. Oppenheim sowie den Konzernen Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange (ARBED) aus Luxemburg und de Wendel aus Frankreich das traditionsreiche Kölner Bankhaus Leopold Seligmann übernehmen sollte.119 Während des Frühjahrs 1922 gab die Deutsche Bank ihren Filialen immer wieder Anweisung, regelmäßig zu überprüfen, „dass Kredite nur für notwendige Vorhaben verwendet würden, kurze Laufzeit aufwiesen und genügend Gewinn brächten, um weiterhin gewährt zu werden.“120 Die Banken konnten sich den Wünschen ihrer Kunden jedoch nicht vollständig entziehen. Das galt auch für die Angestelltenkredite, die seit Anfang 1923 zunehmend zur Aktienspekulation missbraucht wurden:121 „90 von 100 aller Bankforderungen waren Überziehungen und Vorschüsse ohne Deckung.“122 Die Kreditzinsen blieben deutlich hinter den steigenden Inflationsraten zurück. So verlangten die Hausbanken der Daimler-Motoren-Gesellschaft zu Beginn der Kreditkrise Anfang Juli 1922 für ungedeckte Kredite zehn Prozent p. a.123 Sie waren somit einerseits kaum geeignet, die starke Nachfrage nach Papiermarkkrediten zu steuern. Andererseits konnten sie auch nicht annähernd die emporschnellenden Personalkosten decken. Erst im Herbst 1923 holten die Kreditzinsen auf. Für rückwirkende Tilgungen berechneten die Berliner Großbanken Anfang September 1923 zwei Prozent pro Tag plus Provisionen. Dieselben Institute erhöhten am 27. November 1923 mit Wirkung zum 21. ihre Zinsen für Papiermarkkredite von sechs auf zehn Prozent pro Tag. Im Herbst 1923 verlangten die Banken für Papiermarkkredite bis zu 35 Prozent täglich.124 Auch diese starken Zinssteigerungen hatten in dieser letzten Phase vor der Stabilisierung nur einen geringen Effekt: „Allmählich hatte jedermann herausgefunden, dass Papiergeld Ausleihen das Schlechteste, Vorschüsse Nehmen und damit Gold oder Sachwerte Erwerben auch bei höchsten Zinssätzen das beste Geschäft war; deshalb blieben alle Zinserhöhungen wirkungslos.“125 Auch nach der Währungsstabilisierung verharrten die Zinssätze zunächst bei sechs bis zehn, für Wertpapierkredite sogar bei 25 bis 30 Prozent pro Tag. Sie näherten sich erst ein Jahr später einem normalen Niveau.126 Das Hypothekarkreditgeschäft hatte in der Inflationszeit unter besonderen Problemen zu leiden. Zum einen ging die Nachfrage zweier traditioneller Hauptkundengruppen nach langfristigem Kredit von Anfang an zurück: Die Landwirtschaft nahm im Zuge der 118 119 120 121 122 123 124 125 Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 216. Ebd., S. 215. Ebd., S. 215 f. Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 212 f. Ebd., S. 200. Max Kruk/Gerold Lingnau, 100 Jahre Daimler-Benz. Das Unternehmen. Mainz 1986, S. 103. Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 190. Franz Steffan, Die Bayerische Staatsbank 1780–1955. Geschichte und Geschäfte einer öffentlichen Bank. Zur 175. Wiederkehr des Gründungsjahres. Augsburg 1955, S. 200. 126 Wilhelm Schmidt, 100 Jahre Carl Schmidt Bankgeschäft 1828–1928. Hof 1928, S. 59; Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 220. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 132 Hartmut Kiehling allgemeinen Versorgungsprobleme mehr Mittel ein als sie benötigte und der Wohnungsbau litt unter den immer mehr zurückbleibenden Mieten. Zudem kam es in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 und während der Hyperinflation zu mehreren Wellen vorzeitiger Kündigungen von Hypothekendarlehen mit entwertetem Geld. Die etwas bessere Entwicklung der Abschlüsse im Kommunalkreditgeschäft kompensierte diese Verluste keinesfalls. Das Volumen der Ausleihungen der Hypothekenbanken stieg daher nominal von 1919 bis 1923 nur wenig.127 Die seit dem Spätsommer 1923 und nach der Stabilisierung ausgereichten wertbeständigen Kredite – etwa gegen Hinterlegung von Devisen, DollarSchatzanweisungen oder Waren – hatten einen relativ geringen Umfang. So beliefen sich die langfristigen Ausleihungen der Hypothekenbanken und gemischten Hypothekenbanken nach ihren Goldmark-Eröffnungsbilanzen auf lediglich 138 Mio. GM.128 Umgekehrt war auch der Absatz von Pfandbriefen und Kommunalobligationen während nahezu der gesamten Inflationszeit schwierig, da die Emissionsrenditen bis zur Hyperinflation bei vier Prozent verharrten. Der Absatz von Hypothekendarlehen und Schuldverschreibungen sank daher immer mehr und stockte Mitte 1922 vollständig. Tabelle 1: Umlauf an Schuldverschreibungen der privaten Hypothekenbanken zum Jahresultimo 1913–24 (in Mio. GM/RM) 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 Pfandbriefe 2.369,7 2.397,7 2.390,4 2.384,5 2.332,2 2.340,3 2.324,2 729,6 473,4 29,8 73,2 * 291,1 Kommunalobligationen 87,8 93,9 95,1 98,2 92,9 101,1 119,1 44,5 32,0 9,4 k. A. 67 ** Insgesamt 2.457,5 2.491,6 2.485,5 2.482,8 2.425,1 2.441,4 2.443,3 774,1 505,4 39,2 k. A. k. A. * Werte der GM-Eröffnungsbilanz; ** Kommunalobligationen aller Banken. Quelle: Achterberg, Hypothekenbank (wie Anm. 127), S. 235; Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 291. 127 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 60 f.; Erich Achterberg, Hundert Jahre Deutsche Hypothekenbank. Von Wesen und Werden privater Hypothekenbanken in Deutschland. Bremen 1962, S. 235. 128 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen, S. 86 f. Diese gesamte Summe war mit einiger Sicherheit in Form wertbeständiger Darlehen gegeben worden. Der Umlauf an Pfandbriefen und Kommunalobligationen hatte Ende 1922 15,5 Mrd. M betragen, die ein Jahr später noch gut 15 GM wert waren. Vgl. Achterberg, Hypothekenbank (wie Anm. 127), S. 235. Mittel- und langfristige Papiermarkkredite wurden 1923 praktisch nicht mehr abgeschlossen. Vgl. Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 216. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 133 Der Übergang zu einer Denominierung in Goldmark oder Devisen widersprach dem Hypothekenbankgesetz. Einzelne Institute gingen aus diesem Grunde seit Dezember 1922 zu einer Basierung in einer bestimmten Menge Roggen über, die als Reallast auf dem betreffenden Grundstück eingetragen wurde. Das Gesetz über wertbeständige Hypotheken vom 23. Juni 1923 schuf zwar eine allgemeine Regelung zur Denominierung in Feingold, Roggen oder Weizen. Ende 1923 waren jedoch lediglich wertbeständige Pfandbriefe der privaten Hypothekenbanken für 73,2 Mio. GM in Umlauf.129 Besondere Probleme machten die Verwaltungskosten. Bereits 1919 reichten die Zinserträge und die Provisionen nicht mehr aus, die ständig steigenden Personalkosten zu decken. Rationalisierungsbemühungen wie die Reduzierung des Personals oder die Kündigung kleinerer Anleihestücke führten nicht zum beabsichtigten Erfolg. Andererseits war den Hypothekenbanken eine Zinsspanne vorgeschrieben, die von Aufsichtsbehörden bis zum Ende der Inflation lediglich auf 4,5 Prozentpunkte erhöht wurde. Es wäre deshalb seit 1922 wirtschaftlich am sinnvollsten gewesen, das Hypothekenbankgeschäft vollständig einzustellen. Stattdessen wurden die Nebengeschäfte ausgeweitet und (legal oder illegal) Wertpapiergeschäfte getätigt.130 V. Die Einlagen der Nichtbanken Für den weiteren Argumentationsgang bedarf die Entwicklung der Einlagen bei den Banken einer genaueren Untersuchung. Dabei soll die Veränderung der Einlagenvolumina zum einen zeitlich möglichst genau dargestellt werden. Neben diesen quantitativen sind auch die qualitativen Aspekte der Geldnachfrage wichtig für die Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Banken und damit für deren Geldangebot. Dies gilt insbesondere für die Fristigkeit der Einlagen, die Volatilität des Ein- und Auszahlungsverhaltens und die Bedeutung von Valutaeinlagen sowie einzelner Einlegergruppen. Zwischen 1913 und 1915 gingen die Einlagen von 32,6 Mrd. GM auf gut 28 Mrd. GM zurück. 1917 erreichten sie mit etwas mehr als 37 Mrd. GM ihren höchsten Stand, bevor sie bis 1923 auf knapp 400 Mio. GM sanken. Die stärksten Einbrüche waren dabei in den Jahren 1919 und 1922 zu verzeichnen (um minus 77 bzw. minus 83 Prozent). Am Jahresultimo 1923 lagen die Einlagen real nur noch bei einem Prozent des zehn Jahre zuvor erreichten Standes. Zeitlich genauer, nämlich im zwei- bzw. dreimonatigen Turnus, lässt sich die Entwicklung bestimmter Einlagen bei Aktienkreditbanken und Sparkassen nachvollziehen.131 Darüber hinaus stehen bis Ende 1922 die Monatswerte der Postscheckguthaben zur Verfügung.132 Danach begann die extreme (nominale) Steigerung von Einlagen der Nichtbanken in Goldmark erst ab September (Postscheckguthaben) bzw. Dezember 1917 (Einlagen bei Sparkassen und Aktienkreditbanken). Sie fiel zusammen mit einer Phase 129 130 131 132 Achterberg, Hypothekenbank (wie Anm. 127), S. 235. Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 218. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 50 ff. Postscheckguthaben werden zwar nicht bei Kreditinstituten im engeren Sinne gehalten, es ist jedoch davon auszugehen, dass sie die Entwicklung von Kontokorrentguthaben des breiten Publikums recht zuverlässig abbilden. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 134 Hartmut Kiehling Gewerbliche Kreditgenossenschaften Preußische Zentralgenossenschaftskasse Summe der erfassten Banken Anteil der erfassten Banken (in Prozent) Alle Banken 282 369 368 345 366 517 511 115 115 93 22 52 147 250 DGZ – Deutsche Kommunalbank – 2.293 2.138 2.026 1.835 2.074 2.907 2.632 631 529 353 72 30 595 823 Sparkassen 2.156 2.254 2.241 2.485 3.117 5.607 4.383 1.476 1.566 1.165 269 147 2.974 4.196 Hypothekenbanken Provinzbanken 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Berliner Großbanken Tabelle 2: Einlagen bei deutschen Kreditinstituten 1912–25 (in Mio. GM/RM) – – – – – – 164 69 57 40 8 9 144 219 1.198 1.224 1.142 1.072 1.149 1.522 1.392 289 274 123 10 1 266 479 90 93 104 56 69 71 68 20 24 11 1 2 110 110 24.699 25.767 25.048 22.363 22.534 29.441 25.310 5.919 5.112 2.924 475 251 5.475 8.581 79 79,13 79 79 79 79 79 79 76,2 73,4 70,6 67,8 65,23 61,96 31.265 32.564 31.700 28.300 28.500 37.300 32.000 7.500 6.700 4.000 670 370 8.393 13.850 18.680 19.689 19.167 16.570 15.760 18.817 16.159 3.320 2.546 1.139 93 10 1.239 2.504 Geschätzte Werte sind kursiv gesetzt. Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 56–61, 65, 74 f., 78–81, 84–87, 94 f., 106 f.; Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. stagnierender oder gar sinkender Dollarkurse. Die absolute Spitze wurde bereits im April/ Mai 1918 erreicht. Diese Spitze markierte im Einklang mit steigenden Dollarkursen bereits wieder einen steilen Abstieg, dessen Tiefpunkt im Februar 1920 erreicht wurde. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass die Reichsregierung in derselben Zeit umfangreiche Entschädigungssummen für die Enteignung deutscher Unternehmen in den abgetretenen Gebieten zahlte und aus dem Verkauf ausländischer Wertpapiere ebenfalls erhebliche Beträge zuflossen. Die Eigentümer haben diese Gelder jedoch auf dem Aktienmarkt investiert.133 Die Enttäuschung der in- und ausländischen Anleger über die wirtschaftliche und politische Entwicklung Deutschlands kurz nach Ende des Krieges, wie sie sich in der Dollarkursentwicklung sowie der Liquiditätssituation der Banken 133 Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 175 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 135 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation niederschlug, hatte Anfang 1920 ein vorläufiges Ende. Nach den Streiks und Unruhen des Januar markierte spätestens das Scheitern des Kapp-Putsches am 17. März 1920 die Wende. Der Devisenkurs der Mark gegenüber dem Dollar verbesserte sich von über 100 auf 37 Mitte Juni. Für den weiteren Verlauf der Entwicklung sind gerade die Angaben für Sparkassen und Aktienkreditbanken zu lückenhaft, als dass aus dem Datenmaterial noch kürzerfristige Bewegungen ersichtlich wären. Die Einlagen der Sparkassen, der Aktienkreditbanken und auf Postscheckkonten wiesen insgesamt – auf unterschiedlichen Niveaus – auffallende Übereinstimmungen auf. Das galt bis Anfang 1920 insbesondere für die Einlagen der Aktienkreditbanken und für Postscheckguthaben. Danach stiegen die Postscheckguthaben im Gegensatz zu den Einlagen bei Aktienkreditbanken und Sparkassen zunächst wieder deutlich an. Dies erklärt sich jedoch zum Teil aus der gleichzeitigen Zunahme der Postscheckumsätze, entwickelten sich beide Zeitreihen doch bis Mitte 1921 weitgehend synchron.134 Ab diesem Zeitpunkt folgte aber auch hier ein starker, bis November 1921 ununterbrochener Rückgang. Gleichzeitig trat die deutsche Inflation in eine neue Phase ein. Dabei gab die Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 ein weiteres Signal zur Flucht aus der Mark.135 Bereits innerhalb der nächsten drei Wochen verlor diese gegenüber dem Dollar die Hälfte ihres Wertes. Die Postscheckguthaben gingen real bis zum Jahresende, nach einer kurzen Zwischenerholung bis Mai 1922 weiter zurück. Abbildung 13: Einlagen 1913–22 (Monatsendstände in Mio. GM) 800 25.000 Einlagen bei Sparkassen (linke Skala) 700 Postscheckguthaben (rechte Skala) 20.000 600 500 15.000 Einlagen bei Aktien-Kreditbanken (linke Skala) 400 10.000 300 200 5.000 100 0 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 314; Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 50 ff. 134 Statistisches Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 314. 135 Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 187. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 136 Hartmut Kiehling Setzt man Postscheckguthaben und -umsätze zueinander ins Verhältnis, so erhält man von 1913 bis 1922 Monat für Monat einen plausiblen und von Dollarkursschwankungen unabhängigen Indikator für die Liquiditätshaltung des Publikums.136 Danach war das Publikum während des Ersten Weltkrieges etwas liquider als zuvor (Postscheckguthaben 6,9 nach 6,0 Prozent der Postscheckumsätze). Zwischen Dezember 1918 und Juni 1919 erreichte der Indikator jedoch Werte von durchschnittlich 10,2 Prozent. Danach begann der Liquiditätshochstand der Postscheckkunden also deutlich später als dies die realen Volumina der Einlagen angedeutet haben. Der Tiefpunkt Anfang 1920 wurde jedoch fast gleichzeitig erreicht.137 Bis zum März dieses Jahres sank der Indikator wieder auf das vorherige Niveau (7,2 Prozent), stabilisierte sich in den darauf folgenden zwölf Monaten bei 8,3 Prozent und sank danach stetig ab, unterbrochen nur durch kurze Gegenbewegungen in den Monaten Januar, Februar und April 1922. Im zweiten Halbjahr 1922 wurde mit durchschnittlich 5,7 Prozent ein Tiefpunkt erreicht, wobei der absolut niedrigste Stand im September lag. Abbildung 14: Verhältnis zwischen Postscheckguthaben und -umsätzen 1913–1922 12 Guthaben in % der Umsätze 10 8 6 4 2 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 314. Die Zusammensetzung der Einlagen änderte sich im Laufe der Inflationsjahre deutlich. Das galt zum einen nach Ende des Ersten Weltkrieges hinsichtlich der Zusammensetzung 136 In der fraglichen Zeit gab es im Postscheckverkehr nur wenige, nicht allzu gravierende Konditionsänderungen. So wurden mit dem Postscheckgesetz vom 26. März 1914 Gebühren für Auszahlungen, Zahlungsanweisungen und im Verkehr mit der Reichsbank-Abrechnung in Höhe von 0,1 Promille des Umsatzes eingeführt. Ab dem 1. April 1918 schaffte man jegliche Gebühren im Überweisungsverkehr ab. Vgl. Hermann Großmann, Kritisches zum Postscheckbetrieb und -verkehr, in: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung 15 (1921), S. 12 f. 137 S. zur abweichenden Liquiditätsentwicklung der Kontoinhaber bei der Reichsbank Kapitel VI. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 137 nach Währungen. Bei den Großbanken lauteten die Einlagen in besonders starkem Maße auf Devisen. So waren die ausgewiesenen Valuta-Kreditoren bei der Commerzbank Ende 1922 fast so groß wie die Mark-Kreditoren, bei der Berliner Handels-Gesellschaft überstiegen sie diese sogar.138 Diese Guthaben in fremder Währung waren allerdings in der Regel als transitorische Posten im Ausland angelegt. Sie betrugen Ende 1923 nach Schätzungen Lansburghs bei einzelnen Großbanken bis zu drei Fünftel der Gesamteinlagen.139 Zu den transitorischen Posten, die von der üblichen Kreditschöpfung im Eigengeschäft der Banken ausgenommen waren, zählten auch die so genannten „Durchgangs-Gelder“, die die Banken zweckgebunden am Geldmarkt anzulegen hatten.140 Weder diese Posten noch die Valutaeinlagen überhaupt lassen sich ausreichend quantifizieren. Eine entsprechende Korrektur wäre jedoch für die weitere Analyse notwendig. Wenn die Höhe der Einlagen auch nicht direkt in die verschiedenen Ansätze zur Bestimmung der Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Banken eingeht, beeinflusst sie jedoch die in diesem Zusammenhang wichtigen Kennzahlen des Bargeldabfluss- und des Bargeldhaltungskoeffizienten, der Liquiditätsquote und des Zeitdepositenquotienten. Sind die Einlagen zu hoch angesetzt, so gilt dies auch für den Bargeldabfluss- und den Bargeldhaltungskoeffizienten. Daher muss an entsprechender Stelle berücksichtigt werden, dass diese Kennzahlen in der Zeit der offenen Inflation geringer ausfielen, als dies die Werte nahelegen, die aus dem vorhandenen statistischen Material errechnet wurden. Dabei ist nach den zeitgenössischen Marktkommentaren davon auszugehen, dass sich der Abstand zwischen den ermittelten und den tatsächlichen Werten im Laufe dieser Zeit schrittweise vergrößerte. Die Auswirkungen der erwähnten Überschätzung der Einlagen auf Liquiditätsquote und Zeitdeposititenquotienten sind dagegen nicht eindeutig.141 Etwas besser sind wir über das Ausmaß ausländischer Bankeneinlagen informiert. Nach einer Erhebung des McKenna-Ausschusses standen Ende 1919 bis 1921 jeweils 35 bis 36 Prozent der Einlagen der acht bedeutendsten Berliner Banken Ausländern zu (1918 20, 1922 elf und 1923 zwei Prozent), die nach Schätzungen des Ausschusses rund 72 Prozent des Devisengeschäfts aller deutschen Banken auf sich vereinigten. Die von Holtfrerich auf das gesamte Bankensystem hochgerechneten Zahlen würden bedeuten, dass ausländische Kunden Ende 1918 und 1923 jeweils gut acht Prozent der Gesamteinlagen hielten und Ende 1919 bis 1922 Anteile zwischen einem Fünftel (1919 und 1922) und einem Drittel (1921) erreichten. Da die Spekulation um eine mögliche Aufwertung der Mark eines der wesentlichen Motive für die Einzahlung dieser Gelder war, handelte es sich bei diesen wohl fast ausschließlich um Mark-Guthaben.142 Diese Kopplung mit den Geschehnissen auf dem Devisenmarkt führte zu einer hohen Volatilität dieser Gelder, die wiederum gravierenden Einfluss auf die Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Banken hatten. Der Wirtschaftswissenschaftler Willi Prion war daher 1924 der Meinung, diese Gelder kämen nicht oder nur in beschränktem Umfang für die eigentliche Kreditgewäh- 138 139 140 141 Alfred Lansburgh, Die Berliner Großbanken im Jahre 1922, in: Die Bank 16 (1923), S. 473. Lansburgh, Bankenwende (wie Anm. 15), S. 366. Ebd. S. allgemein zur Errechnung der genannten Kennzahlen und der Kreditschöpfungsmultiplikatoren Kapitel XII. 142 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 286. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 138 Hartmut Kiehling rung in Frage. Vielmehr seien sie „für die Stellung der Banken am Geldmarkt der Börse von ausschlaggebender Bedeutung.“143 Die Banken können auf der Basis ihrer Einlagen umso mehr Kredit gewähren, je langfristiger und sicherer ihnen diese zur Verfügung stehen. Dies spiegelt sich unter anderem in der Liquiditätspräferenz wider, also der Neigung des Publikums, Sichteinlagen (und Bargeld)144 zu halten. Sie unterlag im Beobachtungszeitraum gravierenden Veränderungen. Während der Anteil der Kontokorrent- an den Gesamteinlagen bei den preußischen Sparkassen Ende 1913 noch 0,49 und sechs Jahre später 5,75 Prozent betrug, erhöhte er sich während der Inflationszeit in zwei großen Sätzen 1920 auf 10,08 Prozent (1921: 14,94 Prozent) und 1922 auf 82,95 (1923: 83,69 Prozent). Weit weniger dramatisch, aber mit dem gleichen Verlaufsschema, war die Entwicklung bei den Berliner Großbanken. Ihre Einlagen waren bereits Ende 1913 zu 56,8 und Ende 1918 zu 60,6 Prozent Guthaben auf Kontokorrentkonten. Nach einem ersten Sprung im Jahr darauf (78,1 Prozent, 1920: 76,7 Prozent, 1921: 77,1 Prozent) erreichten diese Depositen bereits 1922 ihren höchsten Anteil (93 Prozent, 1923: 92,6 Prozent).145 Aus diesen Daten und dem relativen Gewicht der Einlagen bei beiden Bankengruppen lässt sich ein Zeitdepositenquotient für die Kriegs- und Inflationszeit berechnen, wie er für die Kreditschöpfung nach der Liquiditätstheorie eine wichtige Rolle spielt.146 Er bildet den Anteil der Termin- und Spargelder an den Gesamteinlagen ab, gewichtet nach den Gesamteinlagen beider Bankengruppen, die sich im Laufe der betreffenden Jahre sehr verschieden entwickelten. Danach hatte dieser Quotient insbesondere in den Jahren 1919 und 1921, vor allem aber 1922 einen deutlich dämpfenden Einfluss auf die Kreditschöpfung der Banken. Tabelle 3: Zeitdepositenquotient der deutschen Banken 1913–25 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 0,89 0,88 0,86 0,83 0,79 0,78 0,66 0,60 0,50 0,09 0,08 0,44 0,57 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 56; eigene Berechnungen. Die Eignung der einzelnen Einlagearten für die Kreditschöpfung richtet sich im Zeitablauf nach deren Bodensatz und Verweildauer, die wiederum vom aktuellen Ein- und Auszahlungsverhalten des Publikums abhängen. Auch dieses kann man zum Teil nachvollziehen, zum Beispiel bei den Spareinlagen. Mit Ausnahme des Jahres 1915 registrierten die Sparkassen Preußens wie die des gesamten Deutschen Reiches bis 1920 in jedem Jahr Einzahlungsüberschüsse.147 Während des Ersten Weltkrieges kam es mit Ausnahme des 143 Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 181. Der Geldmarkt der Börse war ein gesondertes Marktsegment, auf dem Lombardkredit gegen erstklassige Wertpapierunterlage für Spekulationszwecke gehandelt wurde. Vgl. ebd. S. 181–187. 144 Das Verhältnis zwischen Bargeld und Sichteinlagen hat sich ausweislich der relativen Entwicklung von Bargeld und Postscheckguthaben erst ab 1919 (moderat) verändert. 145 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 56. 146 S. Kapitel XII. 147 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 63 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 139 Runs vom 25. Juli bis zum 7. August 1914148 und von den Zeichnungsmonaten für Kriegsanleihen offenbar auch in einzelnen Monaten zu Einzahlungsüberschüssen.149 Ausweislich der Zahlen der Sparkasse der Stadt Berlin änderte sich dies in der Zeit der offenen Inflation. Nach dem Verlust der vorherigen Geländegewinne in der „Großen Schlacht in Frankreich“ und während der Revolution in den Monaten von August bis November 1918 kam es zu Auszahlungsüberschüssen. Das Gleiche galt von November 1919 bis Februar/März 1920, im Herbst 1920 sowie ab April 1921. Dabei dürften jeweils plötzlich erhöhte Inflationsraten eine Rolle gespielt haben. Während des gesamten Zeitraums von Anfang 1918 bis zu Beginn des Jahres 1921, für den die Sparkasse Monatsdaten veröffentlicht hat, wurden die Monate mit Netto-Auszahlungen immer häufiger und die Höhe der Auszahlungsüberschüsse nahm zu. So verlor die (Alt-) Berliner Sparkasse150 um die Jahreswende 1919/20 3,9 Prozent ihrer Spargelder. Auffällig war ferner, dass die Zahlen der Sparkasse der Stadt Berlin im Oktober und im November 1921 über zwei Monate in Folge besonders hohe Auszahlungsüberschüsse aufwiesen (-4,6 bzw. -5,3 Prozent), die durch die darauf folgenden Einzahlungsüberschüsse nicht vollständig kompensiert werden konnten (Dezember 1921: plus 7,9 Prozent, Januar 1922: plus 2,3 Prozent). Da ausländische Einleger ihre Gelder wohl kaum in größerem Umfang auf Sparkonten deponiert hatten, ist dies ein Hinweis darauf, dass in dieser Zeit zumindest in der Hauptstadt kleinere inländische Anleger Bankguthaben abgezogen haben.151 Die relativ bedeutende, im Laufe der Zeit zunehmende Höhe dieser Auszahlungssalden sowie deren Häufigkeit führte vermutlich bereits in den Jahren 1918 bis 1921 zu einer schrittweisen Entwertung der Spareinlagen für das Kreditschöpfungspotenzial der Banken. Diese Entwicklung spiegelte sich in den durchschnittlichen Einzahlungsüberschüssen bei der Berliner Sparkasse wider, die in den Jahren 1919 bis 1921 nahezu linear sanken: pro Monat von 2,5 über 2,0 und 1,3 auf 0,9 Prozent der Guthaben.152 Die Entwicklung setzte sich in den beiden Folgejahren verstärkt fort. Für den weiteren Verlauf der Jahre 1922 und 1923 liegen für die Berliner Sparkasse allerdings lediglich die Monatswerte der Ein- und Auszahlungsposten vor. Aus ihnen lässt sich nur bedingt auf die wertmäßige Entwicklung schließen, bewegten sich Volumina und Stückzahlen der Ein- und Auszahlungen doch auch in der Zeit zuvor nicht immer synchron. Immerhin ist interessant, in welchen Monaten die Zahl der Auszahlungen überwog. Es waren dies die Monate April, Juli, August und Oktober 1922 sowie April bis Juni 1923, während die 148 Bei der Sparkasse der Stadt Berlin wurden in dieser Zeit 10,5 Mio. M zurückgezahlt und nur 2,0 Mio. M vereinnahmt. Die Netto-Auszahlungen summierten sich also auf knapp 2,5 Prozent der Gesamteinlagen. Vgl. Wirtschaft und Statistik, 1 (1921), S. 288. Laut Prion wurden in dieser Zeit rund 20 Prozent der Gesamteinlagen der Aktienkreditbanken abgezogen. Vgl. Willi Prion, Die deutschen Kreditbanken im Kriege und nachher. Stuttgart 1917, S. 21 f., 32. 149 Wirtschaft und Statistik 2 (1922), S. 289. 150 Mit Wirkung vom 1. Oktober 1920 gingen im Zuge der Bildung von Groß-Berlin 14 so genannte „Vorortsparkassen“ auf die Sparkasse der Stadt Berlin über. Dementsprechend sprach man vor diesem Datum von der „Alt-Berliner“, danach von der „Groß-Berliner Sparkasse“. Vgl. Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresbericht 1920, S. 5. 151 Die Ein- und Auszahlungsposten wiesen die gleiche Bewegung auf. Die durchschnittliche Höhe der Auszahlungen ging sogar etwas zurück. 152 In das Jahr 1920 fiel allerdings die Ausdehnung des Geschäftsgebiets der Sparkasse auf das neu gebildete Groß-Berlin. Der Durchschnittswert der Alt-Berliner Sparkasse betrug 1921 1,1 Prozent. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 140 Hartmut Kiehling 6 30 4 20 2 10 0 0 -2 -10 -4 -20 -6 Großhandelspreise, linke Skala Barabhebungsquote Städt. Sparkasse Berlin Ein-/ Auszahlungsüberschuß in % der Einlagen am Monatsultimo 40 1922 8 1921 50 1920 10 1919 60 1918 % zum Vormonat Abbildung 15: Ein- bzw. Auszahlungsüberschüsse bei Spareinlagen 1918–22 Lebenshaltungskosten, linke Skala Barabhebungsquote Berliner Sparkassen Quelle: Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresberichte 1918–1923, passim. Monate August bis Dezember 1923 steigende, im gesamten letzten Quartal sehr hohe Überschüsse der Einzahlungsposten aufwiesen.153 Über eine gleich verlaufende Entwicklung der Spareinlagen berichtete auch die Stadtsparkasse München im November/Dezember 1923.154 Da bereits in der Zeit von 1918 bis 1920 die Sparguthaben in wesentlich geringerem Maße wuchsen als die Auszahlungsvolumina, kann man davon ausgehen, dass dies auch ab 1922 für die Zeit einer erneut beschleunigten Inflation galt. Dadurch wurden die Guthaben real immer geringer, was schon allein für sehr hohe Barabhebungsquoten sorgte. Dennoch weisen die wiederkehrenden Einzahlungsüberschüsse bzw. die Bewegung der Zahlungsposten darauf hin, dass die Geldillusion der Sparer erst ab Ende 1921 schrittweise verloren ging. So stiegen die Volumina der Spargelder bei der Sparkasse der Stadt Berlin nominal in jedem der Jahre 1918 bis 1923 per saldo an.155 Die Einzahlungen überwogen also. 1922 und 1923 wäre aufgrund der enorm hohen Inflationsraten ein Anstieg der nominalen Sparvolumina allerdings bereits dadurch möglich gewesen, dass gegen Jahresende eventuell nur ein einziger Monat einen Einzahlungsüberschuss aufwies. Dennoch waren die Sparkassen in der Inflationszeit insgesamt vermutlich nicht von einem Abzug der Einlagegelder, sondern vielmehr von einer Zurückhaltung bei den Einzahlungen betroffen.156 Die Eignung dieser Gelder für die Kreditschöpfung nahm jedoch aus zwei Gründen drastisch ab. Zum einen sorgte die fortschreitende Geldentwertung für eine stän153 Erfasst sind ausschließlich Papiermark-Sparkonten. Der lebhafte Gold- und Rentenmark-Sparverkehr wurde unter andrem wegen der Kürze der Zeitreihen nicht berücksichtigt. 154 Städtische Spar- und Girokasse München, Geschäftsberichte 1921–1928, passim. 155 Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresberichte 1918–1923, passim. 156 Das Gleiche galt sogar für Termineinlagen bei den Großbanken und wohl auch bei den übrigen Bankengruppen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 141 dige reale Abwertung der Bestände. Zum anderen wurden die Auszahlungsüberschüsse in einzelnen Monaten häufiger und höher, sodass der für die Kreditausreichung besonders wichtige Bodensatz der Spareinlagen immer mehr abschmolz. Beide Aussagen trafen im gesamten Untersuchungszeitraum in besonderem Maße auf Girokonten zu.157 Das Ein- und Auszahlungsverhalten des breiten Publikums auf diesen Konten kann man aus den Monatsendständen der Postscheckguthaben erschließen.158 Sie liegen für die Jahre 1913 bis 1922 vor. Dabei waren Monate mit Auszahlungsüberschüssen wesentlich häufiger als bei den Berliner Spareinlagen. Dennoch stiegen auch die Postscheckguthaben in (Papier-) Mark zwischen 1913 und 1922 Jahr für Jahr. Im Verlauf sind einige Trends erkennbar. Mit Ausnahme einer Abhebungswelle zu Beginn des Krieges159 und Mitte 1915 überwogen während des Ersten Weltkrieges bei Weitem die Monate mit Einzahlungsüberschüssen. Hohe Ein- und Auszahlungsüberschüsse wechselten sich um die Jahreswende 1917/18, im Sommer und Herbst 1918 und im Sommer 1919 ab. Insbesondere um die Jahreswende 1919/20 signalisierten die Zahlen einen regelrechten Run auf die Postscheckguthaben. Im ersten Quartal gingen 1920 die Guthaben von 5,9 auf 1,7 Mrd. (Papier-) Mark um über 70 Prozent zurück. Nach einer deutlichen Beruhigung der Lage kam es in den Monaten Oktober und November 1921 zu einer neuen Abhebungswelle, die in diesem Fall 56 Prozent der (Papiermark-) Guthaben ausmachte. 1922 war von einer nochmals vergrößerten Sprunghaftigkeit des Zahlungsverhaltens gekennzeichnet. Nettoabhebungen fielen in die Monate Februar/März (minus 19,8 Prozent), Juli (minus 33,5 Prozent), Oktober (minus 33,4 Prozent) und Dezember (minus 12,5 Prozent). Dazwischen gab es immer wieder Monate mit hohen Zuwachsraten – in Papiermark zum Teil dreistellig, im November solche von rund plus 300 Prozent. Auch innerhalb eines Monats standen den Tagen mit Auszahlungsüberschüssen solche mit Einzahlungsüberschüssen gegenüber, sodass man sehr wahrscheinlich davon ausgehen kann, dass die aggregierten Auszahlungsüberschüsse kurzzeitig noch sehr viel höher waren, als dies die Monatswerte erkennen lassen. Von einem Bodensatz der Giroeinlagen, der auch für die Kreditgewährung nutzbar gewesen wäre, kann daher ab Kriegsende wohl nicht mehr ausgegangen werden. Von dieser Aussage sind allenfalls kurze Zeitspannen wie die von Dezember 1918 bis August 1919 oder von Mai bis August 1920 auszunehmen. Da die Banken jedoch nicht wussten, wie lange die Überschüsse anhalten würden, war es aus ihrer Sicht sehr gewagt, im Vertrauen auf die Hoffnung auf einen namhaften Bodensatz bei den Girokonten Kredit auszureichen. Die eingangs erwähnte Akzentverschiebung der Depositen hin zu den Kontokorrentguthaben traf die Fähigkeit der Banken zur Kreditgewährung folglich in besonderem Maße. 157 Die Begriffe „Giro-“, „Scheck-“, „laufendes“ und „Kontokorrentkonto“ werden im Folgenden synonym verwandt, da die damals noch geläufigen Unterschiede an dieser Stelle ohne Bedeutung sind. 158 Vgl. zu den Daten Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 314. Dabei ist es im Untersuchungszeitraum angesichts der allgemein negativen Realverzinsung der Girokonten bei Kreditinstituten ohne Bedeutung, dass Postscheckguthaben nicht verzinst wurden. Vgl. zu den Konditionen und organisatorischen Aspekten Großmann, Postscheckbetrieb (wie Anm. 136), S. 14 ff. 159 Juli 1914: -10,0 Prozent der Einlagen; August/September 1914: +45,2 Prozent; Oktober/November 1914: insgesamt -17,0 Prozent. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 142 Hartmut Kiehling Abbildung 16: Ein- bzw. Auszahlungsüberschüsse auf Postscheckkonten 1913–22 250 % der Guthaben am Vormonatsultimo 200 150 100 50 0 -50 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 -100 Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 314. Die für die zeitliche Feinanalyse verwandten Zeitreihen der Spargelder der Sparkasse der Stadt Berlin sowie der Postscheckguthaben stammen von typischen Inlandsinstituten. Es ist deshalb sinnvoll, in diesem Zusammenhang noch kurz auf einige unterjährige Bewegungen der Einlagen aus dem Ausland einzugehen. So geht aus den zeitgenössischen Geldmarktkommentaren hervor, dass im September 1921 „die Markguthaben der ausländischen Spekulation in Milliardenbeträgen auf den Markt geworfen wurden. Im Gegensatz zu den Vormonaten ging die Panik diesmal überwiegend vom Auslande (Amerika, England und Holland) aus.“160 Das Gleiche wurde für den Oktober und die erste Novemberhälfte berichtet.161 Wenn im Herbst 1921 massiv Auslandseinlagen abgezogen worden sind, so müssen Mitte 1921 bei den Berliner Banken – nach umfangreichen Zuflüssen von Auslandsgeldern der ersten Jahreshälfte 162 – vermutlich noch sehr viel mehr als die 178,0 Mrd. (Papier-) Mark am Jahresende vorhanden (Ende 1920: 41,6 Mrd. M) gewesen sein.163 Allerdings waren sich die Banken aller Wahrscheinlichkeit nach der Herkunft und Nervosität dieser Gelder bewusst, sodass die scheinbare Beruhigung der Volatilität im Zahlungsverhalten der Einleger in diesem Zeitraum wahrscheinlich nicht in gleichem Maße zu einer Erhöhung des Kreditangebots führte. Im Jahr 1922 hielten die Abflüsse von Auslandsgeldern an, die im Herbst 1921 eingesetzt hatten. Sie steigerten sich ab der Jahresmitte zur panikartigen Flucht aus der Mark, die mit wenigen kurzzeitigen Unterbrechungen bis Mitte Februar 1923 anhielt.164 Angesichts der katastrophalen Verluste der 160 161 162 163 164 Die Bank 14 (1921), S. 642. Ebd., S. 706; Die Bank 15 (1922), S. 39. Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 546. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 286. Dabei ist wiederum auffällig, dass die Marktkommentare jeweils in den gleichen Monaten Februar, März und Juni eine Versteifung des deutschen Geldmarktes sowie eine beschleunigte Flucht aus der Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 143 Mark verzichteten viele ausländische Anleger nach Angaben des Statistischen Reichsamtes auf einen Umtausch ihrer Guthaben in „Edelvaluta“ und investierten diese Gelder stattdessen in ausländische sowie deutsche Aktien und Renten, die an deutschen Börsen notiert waren.165 In der einschlägigen Literatur findet sich immer wieder die Aussage, wonach die Liquiditätskrise in Sommer und Herbst 1922 nicht so sehr auf einen nominalen Einlagenschwund bei den Banken zurückgegangen sei, als vielmehr auf die Steigerung der Kreditnachfrage bei den Banken. Diese sei wiederum darauf zurückzuführen, dass „die Beschaffung liquider Mittel über Wertpapieremissionen stockte.“166 Diese Aussage muss relativiert werden. Bereits weiter oben wurde dargelegt, dass es im Vorfeld der „Kreditkrise“ Mitte 1922 in einzelnen Monaten zu einem nicht unerheblichen Abzug von Einlagen gekommen war. Zudem hatte das Publikum die Substanzverluste dieser Einlagen nicht durch Neueinlagen wettgemacht, sodass die realen Volumina der Bankeinlagen im Zuge der Geldentwertung dramatisch zurückgegangen waren. Zwar hatten sich die Volumina der Börseneinführungen an Aktien, sonstigen Bankschuldverschreibungen167 und Industrieobligationen bereits seit dem 4. Quartal 1921 deutlich reduziert und ab Februar 1922 wurden die Bezugsrechte junger Aktien im Allgemeinen unter pari gehandelt.168 Diese Entwicklung ist jedoch vermutlich nicht repräsentativ. Vielmehr weicht der besonders wichtige Aktienabsatz deutlich von den zeitgleichen Börseneinführungen ab.169 Deren Monatswerte zeigen, dass die Aufnahmefähigkeit der Wertpapiermärkte real erst mit Ausbruch der Liquiditätskrise ab Juli 1922 nachgelassen hatte.170 Die Entwicklung bei den Einlagen spielte also wohl zumindest eine gleichwertige Rolle für die Entstehung der Krise, auch wenn zeitgenössische Kommentare auf eine Aktienhausse von August bis November 1921 hindeuten und sich dies teilweise in der Entwicklung der Papiermarkbeträge widerspiegelt.171 Als Ergebnis lassen sich hinsichtlich der Entwicklung der Gesamteinlagen der Kreditinstitute folgende Aussagen treffen: Im Laufe des Ersten Weltkrieges stiegen die Einlagen nominal und real stetig an und erreichten während der Monate des Jahres 1918 ihren absoluten Höhepunkt. Zwischen Dezember 1918 und Juni 1919 verzeichnete auch das 165 166 167 168 169 170 171 Mark anzeigten wie die oben genannten Zahlen zur wechselkursgesicherten Zinsarbitrage. Vgl. Die Bank 15 (1922), S. 360, 446 f., 619 f., 677 f., 742 f., 808 f., 870; 16 (1923), S. 33 f., 101 f., 166 f., 234 f.; ferner Holtfrerich, Erwartungen (wie Anm. 35), S. 9–13. Wirtschaft und Statistik 2 (1922), S. 651, 815. Das Statistische Reichsamt schrieb zu dieser Entwicklung: „Einen erheblichen Anteil [an den Kurssteigerungen; Anm. d. Verf.] haben die umfangreichen Auslandskäufe auf dem deutschen Effektenmarkt. Durch diese wurde ein beträchtlicher Teil der ausländischen Papiermarkguthaben durch ihre Anlage in Industrieaktien davor bewahrt, durch die Valutaentwicklung vollkommen wertlos zu werden.“ Vgl. Wirtschaft und Statistik 3 (1923), S. 122. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 68, 74. Die (sonstigen) Bankschuldverschreibungen machten durchweg einen geringen Teil an den in der Statistik des Reichsamtes aufgeführten Obligationen der gewerblichen Unternehmen aus. Vgl. Wirtschaft und Statistik 1–3 (1921–1923), passim. Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 178. Die Sacheinlagen wurden bei der Platzierung inländischer Aktien ab Januar 1922 getrennt ausgewiesen. Sie machten jedoch jeweils nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Vgl. Wirtschaft und Statistik 2 (1922), S. 123–125, 346, 512, 713; 3 (1923), S. 160 f. S. Tabelle 4. Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 178 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 144 Hartmut Kiehling Tabelle 4: Platzierung und Börseneinführung von Kapitalmarktpapieren 1921/22 (in Mio. GM) Jahr Quartal I 1921 II III IV Inländische Aktien 1922 II III I Absatz 53,0 52,5 42,4 45,1 81,7 46,1 (zum Kurswert) Börseneinführungen 45,6 109,7 140,6 33,9 40,3 40,6 (zum Nennwert) Industrieanleihen und Bankschuldverschreibungen Börseneinführungen 28,0 36,5 30,4 6,6 16,0 5,3 (zum Nennwert) IV 14,0 3,6 26,9 4,5 5,7 1,1 Quelle: Wirtschaft und Statistik 1–3 (1921–1923), passim. Abbildung 17: Absatz und Börsenzulassungen von Aktien und Industrieanleihen 1921–23 (in Mio. M) 10.000.000 Anleihe 1.000.000 100.000 10.000 Aktien 1.000 100 10 1923 1922 1921 1 Quelle: Wirtschaft und Statistik 1–3 (1921–1923), passim. breite Publikum eine Phase höchster Liquidität.172 Seit Mitte 1917 sahen sich die Banken einer mehr oder weniger stetig steigenden Volatilität ihrer Einlagen ausgesetzt. Sie führte wiederholt zu gravierenden Abhebungswellen, so jeweils im Herbst 1917, 1921 und 1922, um die Jahreswende 1919/20 sowie in einzelnen Monaten des ersten Halbjahres 1922. 172 Gemessen am Verhältnis zwischen Postscheckguthaben und -umsätzen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 145 Dem standen hohe Einzahlungsüberschüsse in anderen Monaten gegenüber, sodass die Einlagenvolumina nominal weiter stiegen. Sie reichten jedoch seit 1919 bei Weitem nicht mehr aus, die Geldentwertung wett zu machen, sodass die Einlagen der deutschen Banken bis zum Ende der Inflationszeit auf einen Bruchteil ihres Vorkriegsstandes schrumpften. Hinzu kam, dass sich diese Einlagen immer weniger für die Kreditgewährung der Banken eigneten, da der Anteil des Bodensatzes immer mehr zurückging. Zum einen verschob sich das Gewicht stark zugunsten der Kontokorrentguthaben mit ihrem ohnehin geringeren Bodensatz. Zum anderen verminderten die genannten Abhebungswellen auch innerhalb der einzelnen Einlagenarten den Bodensatz erheblich. Der an sich noch vergleichsweise hohe Liquiditätsstand des Publikums bis Mitte 1921 wurde von daher konterkariert. Man kann davon ausgehen, dass die Fähigkeit der Banken, aus ihren Papiermark-Debitoren Kredit zu gewähren, ab Mitte 1922 gegen Null tendierte. Erst seit dem Sommer 1923, bei vielen Banken auch erst im letzten Quartal des Jahres, sorgten wertbeständige, auf Goldmark oder Valuta lautende Einlagen für einen zögerlichen Neuanfang. Über die entsprechenden Volumina liegen jedoch keine Zahlen vor. VI. Begriffliche Abgrenzungen der Liquiditätsreserven der Banken Je umfangreicher Abhebungen von Einlagen sind, mit denen die Banken rechnen, desto umfangreicher und verfügbarer müssen ihre Liquiditätsreserven sein. Sie stellen daher einen Schwerpunkt dieser Untersuchung dar. Liquiditätsreserven können aus einzel- und gesamtwirtschaftlicher Sicht abgegrenzt werden. Die Liquiditätsreserven einer einzelnen Bank bestehen aus deren Kassenbeständen und Guthaben bei der Notenbank („Primär-“ oder „Barliquidität“) sowie aus solchen liquiden Aktiva, die jederzeit, schnell und (nahezu) ohne Kosten in Zentralbankgeld umgewandelt werden können („Sekundärliquidität“). Dazu zählen Schecks, fällige Effekten, Kupons und Einzugspapiere, bei der öffentlichen Hand oder anderen Banken dauernd einlösbare Geldmarktpapiere sowie täglich fällige Forderungen an Banken. Hinzu treten Wechsel und andere Wertpapiere, die bei der Notenbank rediskont- oder lombardfähig sind, sofern die Bank dort über freie Linien verfügt. Beim Goldstandard zählen aufgrund der Einlösungspflicht der betreffenden Notenbank auch ausländische Sorten zu den Liquiditätsreserven. Das Gleiche gilt für Sorten und Devisen in einem Festkurssystem, da in diesem Fall die heimische Notenbank zum Ankauf auf dem Wege von Interventionen verpflichtet ist. Beide Währungsregimes haben jedoch in der hier untersuchten Zeit keine Bedeutung. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte eine einzelne Bank ihre Liquiditätsreserven über ihre aktuelle Bankenliquidität hinaus in Schecks, Privatdiskonten, Einzugspapieren oder als Interbankengelder halten. Fällige Kupons und Effekten gehörten zwar grundsätzlich ebenfalls in diese Kategorie, hatten jedoch aufgrund ihrer minimalen Beträge spätestens ab Mitte 1922 keinerlei Bedeutung mehr. Der Rentenmarkt eignete sich zur Liquiditätsanlage nach der Wiederaufnahme des Börsenhandels im September 1919 nur kurze Zeit, weil die Umsätze danach zu gering waren und damit die jederzeitige Liquidierbarkeit nicht mehr gegeben war. Gesamtwirtschaftlich stehen im Allgemeinen den verschiedenen Forderungen Verbindlichkeiten einer anderen Bank gegenüber oder sie führen bei ihrer Realisierung in engem zeitlichem Zusammenhang zu einem Liquiditätsabfluss bei einem anderen Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 146 Hartmut Kiehling Kreditinstitut. Aus der Sicht des Bankensystems als Ganzem kann man daher neben dem aktuellen Zentralbankgeld (Kasse und Notenbankguthaben) nur diejenigen Aktiva als Liquiditätsreserven betrachten, die den Banken bei der Notenbank einen autonomen Zugriff auf Zentralbankgeld erlauben („potenzielles Zentralbankgeld“).173 Die so definierte Bankenliquidität174 ist der Liquiditätssaldo aller Banken eines Landes, wie er sich in einer einfachen konsolidierten Bilanz des Bankensystems als Differenz zwischen Nichtbankeinlagen und Krediten an Nichtbanken errechnet. Im Folgenden werden die Liquiditätsreserven des gesamten Bankensystems, also in ihrer gesamtwirtschaftlichen Abgrenzung verwandt. Tabelle 5: Heute übliche Abgrenzung der Liquiditätsreserven der Banken 1. AUS DER SICHT DES BANKENSYSTEMS: 1.1. aktuelle Liquiditätsreserven: ■ inländische gesetzliche Zahlungsmittel ■ Guthaben bei der Notenbank 1.2. potenzielle Liquiditätsreserven erlauben einen autonomen Zugriff auf Zentralbankgeld bei der Notenbank: ■ lombard- und rediskontfähiges Material, sofern nicht Kreditlinien entgegenstehen ■ Devisen (in einem Festkurssystem) ■ Geldmarktpapiere mit einer Ankaufzusage der Notenbank 2. AUS DER SICHT EINER EINZELNEN BANK zudem sonstige liquide Aktiva, die jederzeit, schnell und (nahezu) ohne Kosten in Zentralbankgeld umgewandelt werden können: ■ Schecks ■ fällige Effekten, Kupons und Einzugspapiere ■ bei der öffentlichen Hand oder anderen Banken jederzeit einlösbare Geldmarktpapiere ■ täglich fällige Forderungen an Banken Die heute geltenden Definitionen bedürfen unter den besonderen Verhältnissen der Inflationszeit von 1914/18 bis 1923 einiger Modifizierungen, denn sie stellen allgemein darauf ab, welche Aktiva das Bankensystem unmittelbar als inländische Zahlungsmittel verwenden oder mit nur geringen zeitlichen und wertmäßigen Einbußen in solche umtauschen kann. Dies trifft unter normalen Währungsverhältnissen ausschließlich auf (aktuelles und potenzielles) Zentralbankgeld zu. Finden in einem Land jedoch neben der offiziellen Landeswährung eine (oder mehrere) weitere Währung(en) oder Geldersatz Verwendung, so sind diese in die Überlegungen einzubeziehen. Das war über lange Perioden der Inflationszeit der Fall. Zumindest 1919, 1922 und 1923 übernahmen Devisen und Sorten 173 So genannte „aktuelle“ bzw. „potenzielle Liquiditätsreserven“ der Banken. 174 In der Bankbetriebslehre versteht man dagegen unter der Bankenliquidität die Fähigkeit einer einzelnen Bank, jederzeit allen fälligen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 147 aus Hartwährungsländern in Deutschland die Funktion als Wertaufbewahrungsmittel.175 Während der Hyperinflation fungierten ausländische Sorten darüber hinaus auch im Inland unmittelbar als Zahlungsmittel – seit Herbst 1922 zwischen den Unternehmen sowie seit Juni 1923 in bedeutendem Ausmaß zwischen Privatleuten.176 Sie waren daher auch ab diesem Zeitpunkt als aktuelle Bankenliquidität anzusetzen, obwohl die Mark in der Inflationszeit weder in den Goldstandard noch in ein Festkurssystem eingebunden war. Das Gleiche galt für Devisen im Besitz von Kreditinstituten, da auf Auslandsguthaben gezogene Schecks ebenfalls an Erfüllung statt genommen wurden und Hartwährungswechsel seit Mitte 1922 weite Verbreitung fanden. Als Währungen kamen insbesondere der US-Dollar, aber auch das britische Pfund Sterling, der Schweizer Franken, Gulden und Schwedenkronen in Frage. Sie flossen schon alleine deshalb ins Land, da die Mark gemessen an ihrer Binnenkaufkraft bis Mitte 1923 zum Teil deutlich unterbewertet war.177 Es ist davon auszugehen, dass die inländischen Wirtschaftssubjekte zumindest einen Teil dieser Devisen und Sorten horteten. Dies ist für die Zeit ab Mitte 1922 mehrfach dokumentiert.178 Eine ähnliche Funktion übernahmen mit zunehmender Dauer und Intensität der Inflation Forderungen, die in Goldmark oder anderen wertbeständigen Maßstäben denominiert waren. Die Goldmark war nach der im Geschäftsverkehr häufigsten Definition der Vorkriegsparität der Mark an den Dollar gekoppelt. Der Ausweis in Goldmark diente in der Industrie bereits seit 1920 dazu, einzelne Positionen der Bilanz vor der Entwertung zu bewahren. Seit Anfang 1922 war es in der Industrie und im Großhandel allgemein üblich, sich bei der Preissetzung vor einem Substanzverzehr der Lager und Anlagen durch Aufschläge zu schützen, die sich am Dollar, der Goldmark oder anderen wertbeständigen Größen orientierten.179 Ab dem Frühjahr 1923 liefen zunehmend auch im privaten Verkehr fremde Sorten als Zahlungsmittel um180 und es gab einige Anleihemissionen mit kurzer und mittlerer Laufzeit, die auf Goldmark bzw. Dollar lauteten.181 Ab August 1923 kam legales und illegales wertbeständiges Notgeld hinzu, das ebenfalls zu einem hohen Prozentsatz in Goldmark oder Hartwährung denominiert war. 175 Siemens & Halske hielt im Frühjahr 1922 26 Prozent seiner Kassenbestände in fremder Währung, Siemens-Schuckert am 1. Mai 1922 68 Prozent. Am 15. Juli 1922 beliefen sich die Anteile der Unternehmen auf 97 bzw. 100 Prozent. Vgl. Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 592. 176 Ebd., S. 593; Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 72. In geringerem Maße galt dies auch für kleine Bankschecks und sogar ausländische Briefmarken. Vgl. Alfred Lansburgh, Die schwere Not, in: Die Bank 16 (1923), S. 523 f.; Corrado Gini, Wirkungen der extremen Formen der Inflation auf den Wirtschaftsorganismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv N. F. 40 (1934), S. 409. 177 Eine grobe Abschätzung der Entwicklung ist möglich, indem man die Indices des Dollarkurses und der Großhandelspreise ins Verhältnis setzt. Vgl. für eine detailliertere Analyse einzelner Zeiträume Wirtschaft und Statistik 1 (1921), S. 192 f., 284 ff.; 2 (1922), S. 236, 341 f., 479. 178 Lansburgh, Not (wie Anm. 177), S. 523 f.; Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 187. 179 Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 146*. 180 Nach Young belief sich das Ende 1923 umlaufende Volumen ausländischer Banknoten auf 1,2 Mrd. GM. Vgl. John Park Young, European Currency and Finance, Vol. I. Washington 1925, S. 402, 538. 181 Die Reichsbank lehnte es dagegen wiederholt ab, wertbeständige Wechsel anzukaufen. Vgl. Die Bank 15 (1922), S. 815. Erst ab dem 15. September 1923 gewährte die Reichsbank Lombard gegen „wertbeständige Vorschüsse“, ab dem 22. Dezember desselben Jahres kaufte sie wertgesicherte Handelswechsel an. Vgl. Reichsbank, Reichsbank (wie Anm. 101), S. 90 f.; Die Bank 16 (1923), S. 674; 17 (1924), S. 98. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 148 Hartmut Kiehling Damit erscheint es gerechtfertigt, Devisen, Sorten und Goldmarkforderungen der Banken zumindest in für die Hyperinflation der Jahre 1922 und 1923 dem aktuellen Zentralbankgeld gleichzustellen (aktuelle Liquiditätsreserven). Angesichts des anhaltenden Markverfalls konnten die Wirtschaftssubjekte davon ausgehen, dass die Devisenbestände während der gesamten Inflationszeit ohne Probleme in inländisches Zentralbankgeld umgetauscht werden konnten, selbst wenn dies in größeren Mengen geschehen wäre.182 Für die Jahre 1919 bis (Mitte) 1922 sind die entsprechenden Aktiva also auch ohne offizielle Interventionspflicht der Reichsbank zumindest wie potenzielles Zentralbankgeld zu behandeln (potenzielle Liquiditätsreserven). Gleiches galt für bestimmte Geldmarktpapiere. Unter ihnen waren die Schatzanweisungen des Reiches allein von ihrem Umfang her am bedeutendsten. Sie verdrängten immer mehr die Privatdiskonten als vorherrschendes Geldmarktpapier. Beide Arten von Papieren eigneten sich zum Rediskont bei der Reichsbank. Die „sonstigen reichsbankfähigen Wertpapiere“ der Bankbilanzen konnten zum Lombard eingereicht werden. Dafür gab es im Prinzip keine fest etablierten Obergrenzen. Die Reichsbank richtete in der Inflationszeit für Banken keine Kreditlinien im Diskont- und Lombardgeschäft ein. Eine quantitative Steuerung war ohnehin unüblich. Stattdessen variierte die Notenbank ihre Kreditkonditionen (Zinssätze, Restlaufzeit, Kreditlinien für Nichtbanken) und die Qualitätsanforderungen an die angekauften bzw. beliehenen Papiere.183 Dennoch konnten sich die Banken nahezu durchgehend darauf verlassen, durch Verkauf oder Beleihung der betreffenden Papiere bei der Reichsbank Zentralbankgeld beschaffen zu können. Einzelheiten ihres Refinanzierungsverhaltens werden weiter unten behandelt. Tabelle 6: Abgrenzung der Liquiditätsreserven des Bankensystems in der Inflationszeit 1. aktuelle Bankenliquidität: – inländische gesetzliche Zahlungsmittel – Guthaben bei Notenbanken – Sorten und Devisen aus Hartwährungsländern (seit Mitte 1922) – genehmigtes Notgeld (Oktober 1918 bis Frühjahr 1919 und seit Juli 1922) – Geldersatz (insbesondere kleingestückelte wertbeständige Anleihen, seit Ende 1922) 2. potenzielle Bankenliquidität erlaubt einen autonomen Zugriff auf aktuelle Liquiditätsreserven: – lombard- und rediskontfähiges Material – Geldmarktpapiere, die die Notenbank ankaufte: Reichsschatzanweisungen – Sorten und Devisen aus Hartwährungsländern (bis Mitte 1922) 182 Vgl. zu den gleichzeitigen spekulativen Devisenzuflüssen in der Zeit von Mitte 1919 bis Mitte 1921 Carl-Ludwig Holtfrerich, Amerikanischer Kapitalexport und Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft 1919–23 im Vergleich zu 1924–29, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64 (1977), S. 497–529; ders.: Erwartungen (wie Anm. 35), S. 3–19; ders.: Inflation (wie Anm. 51), S. 279–294. 183 Vgl. dazu beispielsweise Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 191–205; ders.: Kreditpolitik und Ruhrkampf (1923), in: Schmollers Jahrbuch 49 (1925), S. 119–133. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 149 VII. Die aktuellen Liquiditätsreserven der Banken Die aktuellen Liquiditätsreserven der Banken bestanden während des größten Teils der Kriegs- und Inflationszeit im Wesentlichen aus deren Kassenbeständen und Reichsbankguthaben.184 Beide Komponenten wurden in den jährlichen Bilanzstatistiken der Banken mit fälligen Zins- und Dividendenscheinen sowie Sorten und Guthaben auf Postscheckkonten in der Position „Barreserve“ zusammengefasst. Die Bedeutung ersterer für die Barreserven der Banken tendierte im Laufe der Inflationszeit gegen Null, da die Realverzinsung der Anleihen und die Dividendenrendite der Aktien äußerst niedrig waren und immer mehr sanken. Die Postscheckguthaben der Banken hatten zunächst vermutlich einen größeren Umfang, da sich die Gironetze der Bankengruppen (mit Ausnahme der Genossenschaftsbanken) noch im Aufbau befanden, nicht alle Banken über ein Reichsbankkonto verfügten und Nichtbanken weit eher Inhaber eines Postscheck- als eines Reichsbankkontos waren. Lässt man die bei der Stadthauptkasse eingelieferten Gelder außer Betracht, so betrug der Anteil der Postscheckguthaben der Sparkasse der Stadt Berlin an den Guthaben in laufender Rechnung zum Bilanzstichtag 31. März 1919 52,8 Prozent (Reichsbankguthaben: 44,6 Prozent).185 Je weiter allerdings die Inflation fortschritt, desto mehr bewirkte die Unverzinslichkeit der Postscheckguthaben186 einen Abzug von Bankengeldern. Dagegen standen die ebenfalls unverzinslichen Reichsbankkonten auch für die Verbuchung der Gegenwerte rediskontierter Handels- und Schatzwechsel zur Verfügung und wurden für die Beschaffung von Bargeld benötigt. Die Reichsbank dehnte zudem – wie auch die großen Banken – ihren Zahlungsverkehr immer mehr aus, indem sie zusätzliche Zweiganstalten eröffnete. So stieg der Anteil der Reichsbankeinlagen an den Guthaben der Berliner Sparkasse in laufender Rechnung187 bis Ende März 1920 auf 69,7 Prozent, der der Postscheckguthaben sank auf 27,6 Prozent.188 Im Gegensatz zu den Postscheckguthaben nahm die Bedeutung der ebenfalls in der Position „Barreserve“ enthaltenen Sorten gegen Ende der Inflationszeit sehr wahrscheinlich zu. Dafür spricht zum einen das Bestreben der Banken, ihre Aktiva vor der Geldentwertung zu schützen. Zum anderen geben einzelne Geschäftsberichte entsprechende Hinweise.189 Eine getrennte Erfassung der Devisenbestände ist jedoch nicht möglich, sie finden sich im gesamten Untersuchungszeitraums in den Zahlen der aktuellen Bankenliquidität. Die Position „Barreserve“ der Bankbilanzen bildete die aktuelle Bankenliquidität vermutlich dennoch recht gut ab, legten die Banken doch bis zur Hyperinflation nur vorübergehend nennenswerte Beträge in Sorten an. Ihre 184 Die Einlagen der Banken bei den vier übrigen Notenbanken konnten vernachlässigt werden. Die (Gesamt-) Einlagen der Bayerischen, Württembergischen, Badischen und Sächsischen Notenbank beliefen sich zwar 1913 noch auf knapp sieben Prozent derjenigen der Reichsbank. Sie sanken jedoch im Laufe des Ersten Weltkriegs kontinuierlich auf 0,9 Prozent im Jahr 1917 und pendelten sich in der weiteren Inflationszeit auf zwischen ein und zwei Prozent ein. Lediglich beim Jahresabschluss 1923 kamen sie auf einen Anteil von gut drei Prozent. Vgl. Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 36 ff. 185 Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresbericht 1918, S. 26, 40 f. 186 Großmann, Postscheckbetrieb (wie Anm. 136), S. 12 f. 187 Ohne das Konto bei der Stadthauptkasse. 188 Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresbericht 1919, S. 22, 34 f. 189 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 548 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 150 Hartmut Kiehling Umschichtungen in wertbeständige Aktiva äußerten sich stattdessen durch eine Zunahme der Wertpapiere und Nostroforderungen auf das Ausland.190 Barbestand Reichsbankgirokonto Postscheckkonto Berliner Kassenverein Grio-Zentrale der Provinz Brandenburg 31.3.1919 31.3.1920 Konto bei der Stadthauptkasse Tabelle 7: Aufteilung der Barreserve der Sparkasse der Stadt Berlin 1919/20 (in Prozent) 96,36 97,48 2,87 0,97 0,34 1,08 0,40 0,43 0,001 0,002 0,02 0,04 Quelle: Sparkasse der Stadt Berlin, Jahresbericht 1918, S. 26, 40 f.; 1919, S. 22, 34 f. Die Bilanzstatistiken weisen für die Jahre 1921 und 1922 wiederum größere Lücken auf. Die vorhandenen Werte der Berliner Großbanken sowie einzelner anderer Institute191 können jedoch auch hier dazu dienen, die Bewegungen in diesen Jahren zu rekonstruieren. Es ist anzunehmen, dass die so ermittelten Schätzwerte etwas zu hoch ausfallen, da die Großbanken Vorsorge für einen eventuellen Abzug der primär bei ihnen gehaltenen Auslandsguthaben treffen mussten.192 Allgemein erfassen die Bilanzstatistiken wiederum nur ein Teil der Banken, nicht jedoch die Bankengruppen der Sparkassen, Privatbankiers, GmbH-, Genossenschafts- und sonstigen öffentlich-rechtlichen Banken. Die betreffenden Kreditinstitute193 repräsentierten 1913 knapp 61 und 1925 gut 55 Prozent der Barreserven aller Banken.194 Die aktuellen Liquiditätsreserven der Banken stiegen zunächst in zwei Stufen (1914 und 1917) auf rund 2,3 Mrd. GM an, bevor sie mit der offenen Inflation Schritt für Schritt 190 Ebd.; Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 138), S. 473. 191 Die Deutsche Girozentrale – Deutsche Kommunalbank – sowie die Bayerische Hypotheken- und Wechsel-Bank. 192 Lansburgh bezifferte den Anteil der Auslandsguthaben Berliner Großbanken an den fremden Geldern zum Jahresultimo 1920 auf mindestens ein Drittel, also auf 20 bis 25 Mrd. M (= 1,1 bis 1,4 Mrd. GM). Vgl. Alfred Lansburgh, Die Berliner Großbanken im Jahre 1920, in: Die Bank 14 (1921), S. 373. Dies war eine sehr gute Schätzung, der McKenna-Ausschuss ermittelte im Auftrag der Alliierten Reparationskommission auf Grundlage der Bankenbücher für Ende 1920 einen Anteil der acht bedeutendsten Berliner Banken in Höhe von 36 Prozent (1918: 20 Prozent; 1919: 35 Prozent; 1921: 36 Prozent; 1922: elf Prozent: 1923: zwei Prozent). Vgl. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 284–287. 193 Die Berliner Großbanken, die Provinzbanken, die Hypothekenbanken einschließlich der gemischten Institute, die Preußische Zentralgenossenschaftskasse sowie seit 1918 die DGZ – Deutsche Kommunalbank –. 194 Mit Ausnahme der Privatbankiers. – Bei dieser Berechnung ist nicht berücksichtigt, dass Genossenschaftskassen und kleinere Sparkassen keine Konten bei der Reichsbank, sondern bei ihren Zentralinstituten unterhielten. Die entsprechenden Guthaben können zwar nicht genau quantifiziert werden, sie lagen jedoch angesichts der insgesamt ausgewiesenen Barreserven dieser Institute weit unter zehn Prozent der Barreserven aller Banken. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 151 zurückgingen. Der Tiefpunkt war mit dem Jahresabschluss 1922 bei sieben Prozent des Standes von 1917 erreicht, während die Bilanz des Jahres 1923 bereits wieder eine Steigerung aufwies. Diese Bewegungen spiegelten sich auch in den Anteilen der Barreserve der Aktienkreditbanken an ihren liquiden Mitteln und Bilanzsummen wider. In beiden Fällen nahmen die entsprechenden Sätze 1914/15 spürbar zu und blieben bis 1917 auf dem erreichten Niveau, um bis 1919 jedoch per saldo stark abzusinken. In der Nachkriegsinflation lagen die Barreserven der Berliner Großbanken, die sich während des Ersten Weltkriegs bis auf acht Prozent der Bilanzsummen erhöht hatten, relativ stetig bei etwa sechs Prozent. Im Jahresabschluss 1924 war dieser Anteil auf rund fünf Prozent gesunken – auf denselben Satz, der bereits in der Kaiserzeit längere Zeit gegolten hatte. Dies spricht dafür, dass sich die Barreserve in der Inflationszeit wegen ihrer Unverzinslichkeit in der Nähe ihres technischen Minimums bewegte, das durch die Barabhebungsquote und die für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs notwendigen Mindestguthaben auf den Konten der Noten- und Abrechnungsbanken bestimmt war.195 Dieses technische Minimum lag jedoch andererseits wegen der Sprunghaftigkeit im Verhalten der Wirtschaftssubjekte etwas höher als zu normalen Zeiten. Ein leichter relativer Anstieg der Barreserven per Ende 1922 in der ersten Bilanz der Hyperinflation ging nicht etwa auf eine automatische Aufwertung von nun verstärkt gehaltenen Sorten zurück. Eine solche hätte sich am Jahresultimo 1923 umso stärker niederschlagen müssen. Dieser Annahme widersprach zudem das Niederstwertprinzip, wie es in § 261 HGB festgelegt war. Danach durfte ein niedrigerer Zeitwert nur insoweit angesetzt werden, als er die Anschaffungs- oder Herstellungskosten nicht überstieg.196 Eine automatische Höherbewertung hätte also vorausgesetzt, dass die Sortenbestände ständig rotierten und nach der Regel „first in, first out“ bewertet wurden. Zwar lässt sich dies gerade für die Zeit der Hyperinflation nicht ausschließen, naheliegender ist aber wohl eine andere, den bisherigen Usancen eher entsprechende Interpretation: In der Mitte und gegen Ende Dezember 1922 stabilisierte sich die Mark gegenüber den wichtigsten Hartwährungen. Entgegen den Erwartungen der Banken hatte die Reichsbank daraufhin jedoch nicht – wie in den Vormonaten – ihren Diskontsatz erhöht. Da der Diskontsatz des Ankaufstags für einmal rediskontierte Wechsel über die gesamte Restlaufzeit galt, hatten die Banken bei der Reichsbank in großem Maße Wechselmaterial eingereicht. Das so erhaltene Zentralbankgeld konnten sie nun nicht wie geplant zu einem höheren Satz in neu erworbenen Handelswechseln anlegen. Es erhöhte so einerseits ihre aktuellen Barreserven, andererseits verflüssigte sich der Geldmarkt und die Banken erwarben Schatzanweisungen und vergaben Ausleihungen an die Preußische Staatsbank (Seehandlung).197 195 Letztere werden „Working Balances“ genannt. 196 Kuno Barth, Die Entwicklung des deutschen Bilanzrechts und der auf ihm beruhenden Bilanzauffassungen, Bd. 1: Handelsrechtlich. Stuttgart 1953, S. 78. Nach vorherrschender Auffassung stand den Unternehmen lediglich der Weg offen, einem Substanzverlust durch Scheingewinnausschüttung mittels einer höheren Wiederbeschaffungsrücklage vorzubeugen. Vgl. Eugen Schmalenbach, Grundlagen dynamischer Bilanzlehre. Leipzig 1919; ders.: Geldwertausgleich (wie Anm. 17); Erwin Geldmacher, Wirtschaftsunruhe und Bilanz, 2 Bde. Berlin 1923; Walb, Tageswert (wie Anm. 17); Mahlberg, Weltteuerung (wie Anm. 17); ferner gegen diese Auffassung Fritz Schmidt, Die organische Bilanz im Rahmen der Wirtschaft. Leipzig 21922. – Soweit eine Wiederbeschaffungsrücklage die steuerlich zulässigen Abschreibungen überschritt, musste sie allerdings versteuert werden. Vgl. Buxbaum, Abschreibung (wie Anm. 17), S. 695 f. 197 Die Bank 16 (1923), S. 101 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 152 Hartmut Kiehling Alle Banken – – – – – 2 6 7 2 1 3 2 2 Anteil an allen Banken (in Prozent) 3 7 4 4 4 8 4 2 0 0 5 5 6 Summe 67 68 67 42 52 46 10 8 3 1 6 19 23 DGZ – Deutsche Kommunalbank – 347 421 320 290 377 325 88 87 55 17 29 48 70 Preußische Zentralgenossenschaftskasse 380 538 598 635 937 722 228 246 169 58 107 201 290 Hypothekenbanken Provinzbanken 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Berliner Großbanken Tabelle 8: Barreserven der Banken in der Inflationszeit 1913–1925 (in Mio. GM, ab 1924 in Mio. RM) 797 1.035 989 971 1.370 1.102 336 350 231 78 150 275 391 60,75 60 60 60 60 60 57 54 50 47 44 43,69 55,30 1.312 1.700 1.600 1.600 2.300 1.800 600 650 460 160 340 630 707 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. Geschätzte Werte sind kursiv gesetzt. Ausreichende Informationen, um die aktuellen Liquiditätsreserven zeitlich durchgehend in ihre Bestandteile Kasse- und Notenbankguthaben aufzusplitten, fehlen weitgehend. Nur punktuell geben Literatur und Statistiken Hinweise. So bestanden Ende 1913 die Barreserven aller Banken zu 25 Prozent, die der Berliner Großbanken zu 33 Prozent aus Reichsbank- und Postscheckguthaben.198 Ende 1919 waren rund 80 Prozent der Barreserven der Berliner Großbanken auf Reichsbankkonten gutgeschrieben.199 Für die Gesamtheit der Banken hat man also mit rund drei Fünfteln zu rechnen. Damit wären zu diesem Zeitpunkt knapp 30 Prozent der privaten Reichsbankeinlagen von den Banken gehalten worden – gegenüber 54 Prozent Ende 1913.200 Der Rhythmus der Jahresabschlüsse ist für eine weitergehende Analyse zu grob. Es ist deshalb sinnvoll, die Entwicklung der aktuellen Liquiditätsreserven der Banken mit Hilfe eines anderen Indikators von Monat zu Monat nachzuzeichnen. Für die Kassenbestände 198 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 74, 78. 199 Alfred Lansburgh, Die Berliner Großbanken im Jahre 1919, in: Die Bank 13 (1920), S. 438 f. 200 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 78. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 153 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation der Banken gibt es solche Zahlen nicht. Für die Guthaben bei der Reichsbank stehen deren Wochenausweise zur Verfügung. Die vorliegenden Statistiken sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren. Zum einen gliederte die Reichsbank in den Jahren 1914 bis 1920 die bei ihr gehaltenen (Sicht-) Einlagen nicht wie in der Zeit zuvor und danach in „Reichs- und Staatsguthaben“ bzw. „Privatguthaben“ auf. Es ist also notwendig, für diese Zeit zunächst die Anteile der Privaten näherungsweise abzuschätzen. Im Durchschnitt des Jahres 1913 machten deren Guthaben 70,1 Prozent der gesamten Einlagen aus. Im Januar 1921 betrug die Relation 74,4 Prozent, sank danach jedoch zeitweise deutlich ab. Mangels eines anderen Maßstabes wird der Anteil privater Guthaben bei der Reichsbank in den Jahren 1918 bis 1920 im Folgenden näherungsweise mit 70 Prozent angesetzt. Deutlich niedrigere Anteile wären angesichts der akuten Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte unwahrscheinlich gewesen, die mit Sicherheit zur schnellen Abdisposition ihrer liquiden Mittel geführt hätten.201 Allerdings können mit dieser Durchschnittsbetrachtung kurzzeitige Verschiebungen – etwa beim Eingehen der Zeichnungserlöse von Kriegsanleihen – nicht erfasst werden. So ist auffällig, dass die Reichsbankeinlagen jeweils im Gefolge der Zeichnungsfrist einer Kriegsanleihe sowohl absolut als auch relativ zu den Abrechnungsvolumina steil anstiegen.202 Dies kann hingenommen werden, da diese Mittel als Zacken in den Zeitreihen deutlich kenntlich und zudem schnell abdisponiert wurden. Abbildung 18: Einlagen der Privaten bei der Reichsbank 1913–23 (zum Monatsende in Mio. GM) 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53; eigene Berechnungen. 201 Holtfrerich unterstellt nach den durchschnittlichen Verhältnissen von 1910 bis 1913 sogar einen Anteil von 77,6 Prozent. Vgl. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 48 f., 58. 202 Walther Lotz, Kritische Studien über die Statistik der deutschen Kriegsanleihen, in: Schmollers Jahrbuch 47 (1924), S. 207–241; Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 87–91. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 154 Hartmut Kiehling Setzt man die genannten 70 Prozent an, so erreichten die privaten Guthaben bei der Reichsbank im September 1918 mit vermutlich mehr als sechs Milliarden GM ihren höchsten Stand. Sie sanken in der Folgezeit nahezu kontinuierlich ab bis auf einen Wert von gut 350 Mio. GM im Februar 1920. Nach einer vorübergehenden Erholung bis in die Größenordnung von 1,8 Mrd. GM im Juni des gleichen Jahres folgte ein lang gestreckter Rückgang bis zur Liquiditätskrise im Sommer 1922. Im Oktober 1922 wurde mit 99 Mio. GM ein vorläufiger Tiefpunkt erreicht. Die nun folgenden Monate der Hyperinflation waren durch eine Oszillation auf niedrigstem Niveau gekennzeichnet, bei der die Spitzen in den Monaten April (479 Mio. GM) und September (230 Mio. GM), die Tiefpunkte in den Monaten Januar (52 Mio. GM) und Juli 1923 (92 Mio. GM) lagen. Auffällig ist dabei, dass sich die Reichsbankguthaben der Privaten seit Herbst 1922 beständig nahezu auf der gleichen Höhe bewegten wie die Wechselbestände der Reichsbank. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Probleme der Notenbank, die von den Kontoinhabern angestrebte Abdisposition in bar zuzulassen. Auffällig ist ferner, dass sich der beschriebene Zusammenhang in den Monaten August und September 1923 lockerte. Dies mag an einer leichten Entspannung im Barzahlungsverkehr durch die offizielle Zulassung wertbeständigen Notgeldes gelegen haben. Eine solche zeitweise Entspannung geht auch aus den Geldmarktkommentaren der Zeit hervor.203 Die Einlagen der Privaten sind den Banken nicht voll zuzurechnen. Privatpersonen konnten bei der Reichsbank – mit Ausnahme der eigenen Bediensteten – kein Konto eröffnen. Anders war das bei den privaten Unternehmen. Allerdings akzeptierte die Reichsbank nur solche Kontoinhaber, die an einem so genannten „Bankplatz“204 zu den angesehensten Firmen zählten. Die von ihnen auf Reichsbankkonto gehaltenen Beträge lassen sich nur schwer abschätzen. Die Unternehmen hielten Reichsbankeinlagen aus unterschiedlichen Motiven. Neben dem Prestige, die Reichsbank als Bankverbindung im Briefkopf zu führen, und der (nicht allzu attraktiven) Möglichkeit einer sicheren (aber ertraglosen) Anlage überschüssiger Mittel dienten die Reichsbankkonten den Unternehmen insbesondere dazu, ihr Wechselgeschäft mit der Notenbank abzuwickeln. Die Reichsbank kaufte Wechsel überwiegend direkt von Nichtbanken an.205 Diese Wechsel hatten in aller Regel eine Restlaufzeit von drei Monaten.206 Die Gegenwerte aus dem Wechselankauf werden auch zu Beginn der offenen Inflation kaum länger als eine Woche unverzinslich auf Reichsbankkonto gehalten worden sein. Geht man davon aus, so befand sich jeweils ein Zehntel des Volumens der Wechselbestände der Reichsbank aus der Gutschrift der Diskontgegenwerte auf Reichsbankkonten. Rechnet man diese Beträge vollständig den Nichtbanken zu, so ergibt sich vor Kriegsbeginn ein Anteil der Nichtbanken an den privaten Reichsbankguthaben von 203 Die Bank 16 (1923), S. 609, 672. Die Reichsbank hat wertbeständiges Notgeld allerdings nie entgegengenommen. Vgl. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 16. 204 In der Terminologie der Reichsbank war ein „Bankplatz“ ein Ort, an dem diese eine Zweiganstalt unterhielt. 205 Als Indikator dafür, wann die Banken ihrerseits Wechsel ihres Portefeuilles bei der Reichsbank rediskontierten, kann der Spread zwischen dem Reichsbank- und Privatdiskontsatz hilfsweise dem Tagesgeldsatz gelten. 206 Dies entsprach der maximalen Restlaufzeit der Ankäufe durch die Reichsbank. Die Einreicher waren wegen des relativ umständlichen ,Handlings‘ schon allein aus Kostengründen an einer möglichst langen Restlaufzeit der Papiere interessiert. Vgl. Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 586. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 155 stetig über zwölf, meist sogar über 20 Prozent, in der Folgezeit bis 1916 regelmäßig von sechs Prozent und darunter, von 1917 bis 1919 von kaum einmal einem Prozent, 1920 und 1921 von allenfalls einem bis vier Prozent. Nach dieser Rechnung ging der Anteil der Nichtbanken an den privaten Reichsbankguthaben im Juli 1922 steil nach oben und lag ab Oktober 1922 regelmäßig über zehn, in den Monaten Januar und Juli 1923 sogar bei 20 Prozent und darüber. Anhand einer Proberechnung lässt sich zumindest punktuell überprüfen, inwieweit die bis hierhin angestellten Überlegungen haltbar sind. Für einzelne Stichtage sind die Anteile der Nichtbanken an den Reichsbankeinlagen der Privaten gesichert. Sie betrugen am 15. Juni 1910 17,2 Prozent, am 23. Juli 1914 14,3 Prozent und am 31. Juli 1925 16,4 Prozent.207 Nach der oben angewandten Methode ergab sich für Ende Juli 1914 ein Anteil von 19,7 Prozent. Eine solche Differenz ist durchaus akzeptabel für einen Wert, der durch zwei sukzessive Näherungen ermittelt wurde – der zu Beginn dieses Kapitels angestellten Annäherung sowie der Bestimmung der privaten Einlagen mit einem Anteil von 70 Prozent an den Gesamteinlagen. Man kann also davon ausgehen, dass die errechneten Werte vergleichsweise realistisch sind.208 Für zwei Perioden des Untersuchungszeitraums gilt dies allerdings nicht. Zum einen bewirkte die Liquiditätsschwemme der Jahre 1917 bis 1920 mangels ausreichender Alternativen auch überhöhte Giroguthaben bei der Reichsbank. Im Gegensatz dazu dürften die nach der obigen Methode ermittelten Sätze in der Hyperinflation wesentlich zu hoch gewesen sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass dem Bestreben der Unternehmen, ihre Erlöse aus der Wechseldiskontierung in dieser Zeit sehr schnell abzudisponieren,209 allenfalls zeitweise technische Schwierigkeiten entgegenstanden. So konnte die Reichsbank in den Monaten Juli bis November 1922 Barabhebungen, wie sie insbesondere von den Unternehmen gewünscht waren, aus Bargeldmangel nicht annähernd im gewünschten Umfang zulassen. Auch in den Monaten April bis Oktober 1923 verblieben aus diesem Grund größere Beträge auf Reichsbankkonten. Die Einlagen der Privaten fielen in der Folge um die entsprechenden Beträge zu hoch aus.210 Die weiter oben für die Einlagen der Privaten bei der Reichsbank ermittelten Schätzwerte sind während der Hyperinflation vermutlich noch aus einem anderen Grund wesentlich zu hoch. Seit Herbst 1922 reichten die Banken eigenes Wechselmaterial zum Rediskont ein, wenn auch nach wie vor der größte Teil des von der Reichsbank angekauften Materials direkt von den Unternehmen kam.211 Dazu hatten die Kreditinstitute zuvor wenig Veranlassung gehabt, war der Diskontsatz am freien Markt für vergleichbares Wechselmaterial traditionell doch deutlich niedriger als bei der Reichsbank.212 Auch die Erfordernisse des Zahlungsverkehrs erzwangen gewisse Guthaben der Unternehmen bei der Reichsbank. Je größer der Bargeldmangel wurde, desto sinnvoller war es für die Unternehmen, Bargeld direkt bei der Reichsbank zu beschaffen, da diese 207 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 42. 208 Ebenso ist davon auszugehen, dass die im Kapitel V genannte durchschnittliche Verweildauer wesentlich auf das sehr viel professionellere Dispositionsverhalten der anderen Gruppen von Kontoinhabern zurückging. 209 S. Kapitel V. 210 Die Bank 15 (1922), S. 685, 783, 809, 871; 16 (1923), S. 34, 367, 430 f., 557 f., 617, 737. 211 Alfred Lansburgh, Die Berliner Großbanken im Jahre 1924, in: Die Bank 18 (1925), S. 267. 212 Sidney Homer, A History of Interest Rates. New Brunswick, N. J. 1963, S. 264–267, 467. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 156 Hartmut Kiehling noch eher darüber verfügte als die Geschäftsbanken. Reichsbankkonten mussten jedoch entsprechende Guthaben aufweisen, da Überziehungen nicht möglich waren. Spürbaren Bargeldmangel gab es im letzten Viertel des Jahres 1918 sowie ab Juli 1922.213 Bargeld benötigten die Unternehmen insbesondere für die Auszahlung ihrer Löhne. Die Lohnsummen der einzelnen Jahre sind nicht bekannt. Die Lohn- und Gehaltssummen der Branchen, deren Firmen für ein Konto bei der Reichsbank in Frage kamen, beliefen sich 1913 auf rund 16 Mrd. M, 1925 auf 24,5 Mrd. RM.214 Daraus errechnet sich bei der Annahme vierzehntägiger Lohnzahlung215 für 1913 ein Betrag von 620 Mio. M, für 1925 ein solcher von 940 Mio. RM, die die Betriebe auf ihren Reichsbankkonten halten mussten, sofern die gesamten Lohngelder bei der Notenbank beschafft worden wären. Tatsächlich lag der Betrag mit aller Wahrscheinlichkeit bedeutend niedriger, da die Lohngelder gerade am Ultimo oftmals bereits abdisponiert waren und die meisten Betriebe über keine Kontoverbindung zur Reichsbank verfügten oder zumindest einen Teil ihrer Lohngelder auf anderem Wege beschafften. Gerade die größeren Unternehmen konnten sich ab Juli 1922, insbesondere jedoch ab Oktober 1923 durch den Druck von Notgeld Entlastung schaffen.216 Die entsprechenden Summen waren zunächst relativ gering. Nach einer Untersuchung der Reichsbank lief Ende 1922 lediglich Notgeld für umgerechnet 11,4 Mio. GM um.217 Das genehmigte wertbeständige Notgeld betrug am Jahresultimo 1923 insgesamt rund 200 Mio. GM.218 Hermann Bente spricht sogar von 750 Mio. GM.219 Gleichzeitig lief nach einer Schätzung des Statistischen Reichsamtes nicht genehmigtes Notgeld in den besetzten Gebieten für 180 Mio. GM und im übrigen Reichsgebiet für höchstens zwölf Millionen GM um.220 Die Reichsbank bezifferte den Umlauf ungedeckten Papiermarknotgeldes in den Monaten November und Dezember 1923 sogar mit 400 bis 500 Mio. GM.221 Ein erheblicher Teil dieser Beträge ist von den Unternehmen emittiert worden. Damit entfielen auf einen Gehaltstermin gut 300 Mio. GM.222 Im Herbst 1923 dürfte daher die Bedeutung der Reichsbankgirokonten für die Bargeldbeschaffung der Wirtschaft zurückgegangen sein. Nach wie vor waren die Unternehmen jedoch dabei zu wesentlichen Teilen auf ihre Reichsbankguthaben angewiesen. Hinzu kam für sie die Notwendigkeit, Guthaben für die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs zu halten. Allerdings ist dabei die Konkurrenz der übrigen Gironetze zu berücksichtigen. Die Umsätze im Postscheckverkehr lagen seit 1926 regelmäßig über denen des Abrechnungsverkehrs der Reichsbank, die aufgrund von Übertragungen und Verrechnungen dennoch den weitaus höheren Marktanteil hielt. Mit der Ausdehnung der Filialnetze der Großbanken und der großen Provinzbanken erwuchs der Notenbank seit 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 Reichsbank, Verwaltungsbericht 1919, S. 4 f.; 1922, S. 6 f. Berechnet nach Hoffmann, Wachstum (wie Anm. 25), S. 200, 202, 461–478. Webb, Hyperinflation (wie Anm. 60), S. 78–82. Gesetz über die Ausgabe und Einlösung von Notgeld vom 17. Juli 1922, in: RGBl. 1922/I, S. 693; Verordnung vom 26. Oktober 1923, in: RGBl. 1923/I, S. 1065. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1922, S. 7. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 309. Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 148*. Statistisches Reichsamt, Deutschlands Wirtschaft, Währung und Finanzen. Berlin 1924, S. 66. – Es handelte sich zu diesem Zeitpunkt nahezu ausschließlich um wertbeständiges Notgeld. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 16. Vom 27. Oktober bis Ende November 1923. Vgl. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 16. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 157 1920 eine zusätzliche Konkurrenz, ohne dass deren Marktanteil bekannt wäre. Aus diesem Grund ist es unter anderem rückblickend nicht mehr möglich, die Höhe der Guthaben abzuschätzen, die die Unternehmen zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs auf ihren Girokonten bei der Reichsbank halten mussten. Die Beträge können aber nicht bedeutend gewesen sein, da die Gutschriften aus dem Zahlungsverkehr der Reichsbank in allen betrachteten Jahren223 die entsprechenden Belastungen überstiegen. Unter bestimmten Annahmen224 ergibt sich, dass die Unternehmen für ihren unbaren Zahlungsverkehr 1917 bis 1919 allenfalls Reichsbankguthaben im zweistelligen Millionenbereich, 1922 und 1923 von unter zehn Millionen GM halten mussten. Insgesamt hatten die Unternehmen in der Kriegs- und Inflationszeit vermutlich ein (bares und unbares) Zahlungsverkehrserfordernis in der Größenordnung von 500 bis 600 Mio. GM, im Herbst 1923 von 200 Mio. GM. Hinzu kamen Beträge aus der Gutschrift der eingereichten Wechsel, die jedoch von Beginn des Ersten Weltkrieges an bis Anfang 1920 schrittweise von etwa 100 Mio. GM gegen Null abfielen, im weiteren Verlauf lediglich zeitweise 50 Mio. GM erreichten und zudem wenigstens zum Teil für den Zahlungsverkehr zur Verfügung standen. In Wirklichkeit haben die Unternehmen jedoch von 1916 bis 1922 oftmals bedeutend höhere Beträge gehalten. Dies geht aus einer Gegenüberstellung der Barreserven der Banken mit den Reichsbankeinlagen der Privaten hervor. Sie lagen jeweils am Jahresultimo 1916 bis 1922 über den Barreserven. Die Differenzen zwischen den Reichsbankeinlagen der Privaten und den Barreserven der Banken lagen Ende 1917 bei rund zwei Milliarden GM und erreichten in der Spitze ein Jahr später fast drei Milliarden GM. Dies ist angesichts der Zinslosigkeit der Reichsbankeinlagen Ausdruck einer außerordentlich hohen Unternehmensliquidität. Sie macht es während der betreffenden Zeiträume auch unmöglich, aus der monatlichen Entwicklung der privaten Guthaben bei der Reichsbank Rückschlüsse auf die aktuelle Bankenliquidität zu ziehen. Das gilt insbesondere für die Jahre 1917 bis 1919, in denen die Einlagen der Privaten am Jahresultimo die Barreserven der Banken um 80 bis 160 Prozent übertrafen. Für Jahre 1920 bis 1922 war dieser Satz dagegen mit 26 bis 38 Prozent deutlich niedriger. Um zu prüfen, ob die Einlagen der Privaten bei der Reichsbank wenigstens ab 1920 als Indikator für die aktuellen Liquiditätsreserven der Banken geeignet waren, soll deren Entwicklung Monat für Monat mit zeitgenössischen Marktkommentaren und Geldmarktsätzen verglichen werden. Im August 1920 lagen die bei der Reichsbank gehaltenen Privateinlagen bei schätzungsweise 970 Mio. GM – und damit deutlich unter denen des Juli und September. Der Tagesgeldsatz betrug am Ende des Monats 4,48 Prozent – nach 4,34 Prozent im Monat zuvor und 4,33 Prozent im darauf folgenden Monat.225 Der Marktkommentar konstatierte eine „leichte Versteifung am Geldmarkt“.226 Auch im November 1920,227 im April, Oktober 223 Es liegen Angaben für die Jahre 1913 bis 1922 vor. Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 313. 224 Bei einem Ausgabenüberschuss eines Tages von maximal einem Viertel der Ausgabenvolumina, einem Anteil der Unternehmen am Reichsbankgiroverkehr von einem Zehntel sowie einer gleichmäßigen Verteilung der Umsätze im Zeitablauf. 225 S. ferner zur Zinsentwicklung am Geldmarkt Kapitel IV. 226 Die Bank 13 (1920), S. 712. 227 Dass die Reichsbankguthaben der Privaten erst ab Januar 1921 getrennt ausgewiesen wurden, bestätigt die obige Näherungsrechnung. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 158 Hartmut Kiehling und November 1921, im März und von Juni bis November 1922 sowie im Januar 1923 wiesen die Guthaben, Zinssätze und Kommentare auf eine knappere Bankenliquidität hin.228 Umgekehrt signalisierten sie im März und September 1921 sowie im Mai und Dezember 1922 einen freundlicheren Geldmarkt. Für das Jahr 1923 ist eine Interpretation anhand von Monatsdurchschnittswerten nicht mehr möglich, da sich für die Zinssätze neue Maßstäbe ausbildeten und die Marktsituation oft mehrmals im Monat wechselte. Insofern spiegelten die durchschnittlichen Zinssätze nicht mehr notwendigerweise die Verhältnisse am Monatsende wider, die zu diesem Zeitpunkt bestimmend waren für die Reichsbankguthaben. So zeigte sich der Geldmarkt nach „einer beispiellosen Geldklemme“ Ende Februar 1923 sehr viel leichter. Tagesgeld kostete im Monatsdurchschnitt 25,67 Prozent, am Ultimo jedoch 14,5 Prozent.229 Gleichzeitig sammelten die Banken größere Barreserven an und legten sie zu einem bedeutenden Teil bei der Preußischen Staatsbank (Seehandlung) an.230 Zudem stiegen die Reichsbankguthaben der Privaten von 51,9 auf 245,8 Mio. GM.231 Vergleichbare Entwicklungen traten in den Monaten September und Oktober 1923 ein.232 Auch im März und Ende August 1923 ging ein relativ freundlicher Geldmarkt mit steigenden Goldmarkvolumina der Reichsbankeinlagen einher.233 Allerdings gab es 1923 auch einzelne Monate, in denen die Entwicklung der Einlagen nicht mit der der Zinsen und den Marktkommentaren übereinstimmte.234 Insgesamt bilden die Guthaben der Privaten bei der Reichsbank in den Jahren 1920 bis 1923 jedoch die Bankenliquidität ausweislich von Geldmarktzinsen und Marktkommentaren recht gut ab.235 Das Gleiche dürfte für das Jahr 1913 gelten, in dem die Reichsbankguthaben der Privaten veröffentlicht wurden. VIII. Die potenziellen Liquiditätsreserven der Banken Potenzielle Liquiditätsreserven der Banken konnten in der Inflationszeit rediskont- und lombardfähiges Material sein, also im Wesentlichen bonitätsmäßig erstklassige Handelswechsel sowie Schatzanweisungen und Anleihen des Reiches und der Länder.236 228 Die Bank 14 (1921), S. 32, 330, 706; 15 (1922), S. 39, 446, 619 f., 677, 742, 808 f., 870; 16 (1923), S. 33, 166. 229 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 70; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25). In beiden Fällen ist nicht angegeben, auf welchen Zeitraum sich die Sätze beziehen. Dieser ergibt sich jedoch, wenn man die zeitgenössischen Marktkommentare zum Marktgeschehen im Monatsverlauf zu Rate zieht. 230 Die Bank 16 (1923), S. 234 f. 231 Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 53. 232 Die Bank 16 (1923), S. 672, 736. 233 Ebd., S. 300 f., 609. 234 So zum Beispiel im April, als die Einlagen trotz einer Geldverknappung stiegen und das Tagesgeld teurer wurde bis es am Ultimo schließlich über dem Monatsdurchschnitt lag. Vgl. Die Bank 16 (1923), S. 366. 235 Die Bank 14 (1921), S. 270, 641; 15 (1922), S. 564; 16 (1923), S. 101. 236 Hinzu kamen bis Mitte 1922 zwar prinzipiell auch Sorten und Devisen aus Hartwährungsländern. Diese lassen sich jedoch statistisch nicht von den übrigen Barreserven der Banken, also den aktuellen Liquiditätsreserven, trennen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 159 Einen besonderen Stellenwert nahmen die Reichsschatzanweisungen ein. Die Banken wiesen ihre Bestände an Handels- und Schatzwechseln in den veröffentlichten Bilanzen ungeachtet ihrer Rediskontierbarkeit bei der Reichsbank aus. Eine Summierung ergibt daher lediglich eine Obergrenze für die Wechselbestände der betreffenden Banken.237 Allerdings wiegt dieses Manko nicht allzu schwer, wurde es im Laufe der Inflationszeit doch immer leichter, sich bei einer der zahllosen neuen, zum Teil ausdrücklich für diesen Zweck gegründeten Banken die zur Einreichung bei der Reichsbank erforderliche dritte Unterschrift zu besorgen.238 Die auch bei den Wechselbeständen bestehenden zeitlichen Lücken der Bilanzstatistiken in den Jahren 1920 und 1921 können leicht geschlossen werden, wenn man das Fortwirken vorheriger Trends unterstellt – vor allem die Marktanteilsverluste der übrigen Institute gegenüber den Großbanken. Bilanzielle Werte liegen bei den Wechselbeständen für die gleichen Institute vor wie bei den Barreserven.239 Die fehlenden Institutsgruppen240 vereinigten auf sich Ende 1913 lediglich 15,9 Prozent der Wechsel- und Schatzanweisungsbestände des gesamten Bankensystems. Zum Ende der Jahre 1924 und 1925 waren es dagegen jeweils rund 40,1 bzw. 39,5 Prozent.241 Analog zur Berechnung der Barreserve wird zur Hochrechnung der Bestände in den dazwischenliegenden Jahren unterstellt, dass der Anteil der erfassten Banken während des Ersten Weltkrieges konstant blieb und danach bis 1923 schrittweise zurückging. Nach dieser Rechnung fielen die Wechselbestände der Banken von 1913 bis 1914 zunächst von 4,4 auf 4,1 Mrd. GM ab, um danach Jahr für Jahr anzusteigen bis sie 1917 und 1918 mit über zehn Milliarden GM einen absoluten Höhepunkt erreichten. 1919 und 1920 sanken die Wechselbestände auf jeweils gut drei Milliarden GM. Sieht man die Zahlen der Berliner Großbanken als repräsentativ an,242 so setzte sich dieser Rückgang ab 1921 fort, bis die Banken Ende 1923 real nur noch ein Prozent der Bestände des Jahres 1918 hielten. Handels- und Schatzwechsel machten 1920 in der Spitze 55,4 Prozent der Bilanzsumme der Berliner Großbanken aus. In den Folgejahren sank dieser Anteil über 42,9 Prozent und 21,3 Prozent auf 1,6 Prozent in der Goldmark-Eröffnungsbilanz, während er noch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig gut 20 Prozent betragen hatte.243 Die 237 Erfasst sind wieder dieselben Institute wie bei den Barreserven. 238 Lansburgh, Bankenwende (wie Anm. 15), S. 372. 239 Im Einzelnen die Berliner Großbanken, die Provinzbanken, die Hypothekenbanken, die Preußische Zentralgenossenschaftskasse und die DGZ – Deutsche Kommunalbank –. Die Werte der in den einschlägigen Statistiken ebenfalls aufgeführten gewerblichen Kreditgenossenschaften sind dagegen gerade in den hier besonders interessierenden Jahren der Nachkriegsinflation zu lückenhaft, um zu mehr als einem reinen Merkposten zu taugen. 240 Mit Ausnahme der Privatbankiers, die Ende 1930 jedoch nur 0,5 Prozent der betreffenden Papiere in ihrem Bestand hatten. Vgl. Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 74, 118. 241 Ebd., S. 74. – Dabei ist nicht berücksichtigt, dass Genossenschaftskassen und kleinere Sparkassen Wechsel nicht bei der Reichsbank, sondern auch bei ihren Zentralinstituten rediskontierten. Auf diese Institutsgruppen entfielen in den Jahren 1923 und 1924 ein bzw. neun Prozent der Wechselbestände aller Banken. 242 Bis 1920 waren die Anteile der Berliner Großbanken leicht angestiegen, die der Provinzbanken etwas abgesunken. 243 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 56 ff. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 160 Hartmut Kiehling Wechselbestände der Banken lagen also im Ersten Weltkrieg weit oberhalb einer zuvor lange Zeit üblichen Marke und verschwanden danach bis 1923 nahezu vollständig. Alle Banken – – – – – 0 15 17 25 5 0 2 20 Anteil an allen Banken (in Prozent) 53 170 36 169 329 217 27 57 32 5 10 106 373 Summe 279 312 293 327 483 655 113 116 61 14 4 22 38 DGZ – Deutsche Kommunalbank – 1.556 1.285 1.279 1.529 2.277 2.273 525 441 242 38 8 191 271 Preußische Zentralgenossenschaftskasse 1.880 1.697 2.027 2.913 5.447 5.828 2.079 2.127 1.212 202 45 1.062 1.492 Hypothekenbanken Provinzbanken 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Berliner Großbanken Tabelle 9: Bestände der Banken an Handels- und Schatzwechseln 1913–25 (in Mio. GM, ab 1924 in Mio. RM) 3.768 3.463 3.634 4.938 8.536 8.974 2.758 2.757 1.572 266 67 1.383 2.194 84,1 84 84 84 84 84 84 78 72 66 60 59,9 60,5 4.482 4.100 4.300 5.900 10.200 10.700 3.300 3.500 2.200 400 110 2.310 3.626 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. Geschätzte Werte sind kursiv gesetzt. In den vorliegenden Bilanzstatistiken sind Handels- und Schatzwechsel zu einer Position zusammengezogen, ohne dass vermerkt wäre, ob diese reichsbankfähig waren. Immerhin erwähnte Lansburgh für „die Kriegsjahre“, dass die Wechselbestände zu mehr als zwei Dritteln aus Reichsschatzanweisungen bestanden.244 Damit konnten nur die Jahre 1917 und 1918 gemeint sein, denn zuvor wären die resultierenden Summen gemessen an den insgesamt marktmäßig platzierten Reichsschatzanweisungen zu hoch gewesen.245 Für das Jahr 1920 schrieb Lansburgh, dass die Berliner Großbanken rund drei Fünftel ihrer 244 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 138), S. 472. 245 Das galt auch für 1916, zumindest wenn man den Anteil von zwei Dritteln auf alle Banken hochrechnet. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 161 fremden Gelder in Schatzanweisungen angelegten hätten.246 Damit wären 25 Prozent der ausgegebenen Papiere von diesen Instituten gehalten worden.247 Dies bedeutet, dass die Berliner Großbanken Ende 1920 überhaupt keine Bestände an Handelswechseln mehr hielten.248 Für 1921 waren – wiederum nach Angaben Lansburghs – nur noch 46 Prozent der fremden Gelder in Reichsschatzanweisungen investiert worden, also etwa 700 Mio. GM bzw. 56 Prozent der Wechselbestände der Großbanken.249 1922 betrugen die Bestände der Berliner Großbanken an Handelswechseln „annähernd das Siebenfache“250 der (Papiermark-) Vorjahreswerte. Damit errechnet sich nur noch ein Investment der Großbanken in Reichsschatzanweisungen von rund 90 Mio. GM. Sofern für die übrigen Banken die gleichen Verhältnisse galten, wären 1917 rund zwei Drittel der marktmäßig platzierten Reichsschatzanweisungen auf Kreditinstitute entfallen, 1918, 1919 und 1921 jeweils rund die Hälfte, 1920 aber vier Fünftel. Ende 1922 hatten die privaten Nichtbanken vermutlich keine nennenswerten Bestände an Reichsschatzanweisungen mehr. Damit lässt sich der Zeitraum, in dem die privaten Nichtbanken251 in bedeutendem Maße Reichsschatzanweisungen hielten, auf die Jahre 1917 bis 1921 eingrenzen. Dies war ein kürzerer Zeitraum, als er sich für die Liquiditätsanlage der Unternehmen in Form von Reichsbankguthaben ergeben hatte (1916 bis 1922). Zu den Gründen für diese Entwicklung zählen neben den Marktusancen, die die Unternehmen vor 1918 davon abgehalten haben, Reichsschatzanweisungen zu übernehmen, insbesondere für das Jahr 1922 ein weniger ausgeprägtes „Treueverhältnis“ zur Reichsbank und zum Reich sowie die durch ein lebhafteres Wechseldirektgeschäft bei gleichzeitigem Bargeldmangel automatisch anfallenden Reichsbankguthaben der Unternehmen. Auffällig ist, dass die Volumina der marktmäßig platzierten Reichsschatzanweisungen von 1917 bis 1921 weit über die der Reichsbankeinlagen der Privaten hinausgingen. Erstere boten bei nur unwesentlich geringerem Liquiditätsgrad und ohne Kursrisiko schon allein aufgrund ihrer Verzinslichkeit Vorteile. Für die Kriegs- und Inflationszeit liegen monatliche Werte der außerhalb der Reichsbank gehaltenen Schatzanweisungen des Reiches vor, die jedoch nicht nach Banken und Nichtbanken differenzieren. Die Volumina erreichten in der Spitze im August 1918 einen Wert von 20,1 Mrd. GM.252 Parallel zu den auf Reichsbankkonten gehaltenen Guthaben der Banken sanken diese Bestände bis Anfang 1920 nahezu kontinuierlich auf 2,1 Mrd. GM ab. Von Februar bis Juli des Jahres konnten sie sich kurzzeitig auf 8,2 Mrd. GM erholen und sich mit Schwankungen bis zum Spätsommer des Folgejahres in einer ähnlichen Größenordnung halten. Der nächste Einschnitt erfolgte Mitte 1921. Insbesondere die Großbanken kauften in der zweiten Hälfte dieses Jahres immer weniger Reichsschatzanweisungen an. Zum einen entsprach die geringe Verzinsung von 43⁄8 bis 45⁄8 Prozent je nach Laufzeit nicht mehr ihren Ertragsvorstellungen. Zum anderen war in der Hochkonjunktur auch 246 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 192), S. 375. Dieselbe Angabe macht Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 177. 247 Ebd., S. 177. 248 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 546 f. 249 Ebd. 250 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 138), S. 472. 251 Das heißt im Wesentlichen die Unternehmen. 252 Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 452 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 162 Hartmut Kiehling der Kreditbedarf der Privatwirtschaft gestiegen.253 Von September bis November 1921 sanken die Schatzanweisungsbestände außerhalb der Reichsbank real weiter deutlich ab, wozu der schwindende Wert der Mark zusätzlich beitrug. Nach einer leichten Erholung im Januar gingen sie danach bis zum August 1922 – auch in Papiermark gerechnet – stetig zurück.254 Im August 1922 lag das Volumen der außerhalb der Reichsbank gehaltenen Schatzanweisungsbestände – in Goldmark gerechnet – nur noch beim dreizehnten Teil des Vorjahresendstandes. Lediglich in der Stabilisierungsphase von Februar bis April 1923 wurden nach den veröffentlichten Zahlen wieder etwas höhere Bestände gehalten. 1,6 0,4 -1,5 0,7 1,1 0,1 0,5 2,3 -2,6 0,3 0,8 -0,1 0,2 2,1 -2,8 0,5 0,9 1919 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 1920 Januar Februar März April Mai Von der Reichsbank gehalten 0,2 0,2 -0,1 -0,2 0,1 1,7 0,4 -1,1 -0,9 0,3 0,4 1,4 1,1 -1,7 -1,5 -0,1 0,4 Außerhalb der Reichsbank gehalten Von der Reichsbank gehalten 1,80 0,60 -1,63 0,55 1,21 1,82 0,89 1,13 -3,53 0,61 1,21 1,28 1,28 0,34 -4,31 0,42 1,30 Insgesamt Außerhalb der Reichsbank gehalten 1914 August September Oktober November Dezember 1915 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Insgesamt Tabelle 10: Reichsschatzanweisungen, Veränderungen der (Papier-)Mark-Bestände zum Ultimo des Vormonats 1914–1923 (in Mrd. GM) 1,74 1,38 0,89 1,13 1,05 0,90 0,75 0,47 0,42 0,42 0,21 0,11 0,12 0,03 0,15 0,26 0,73 1,9 1,2 -0,2 0,7 2,0 -0,5 1,5 0,3 0,0 0,4 0,2 -0,6 0,3 0,1 -0,1 0,6 0,9 -0,2 0,1 1,1 0,5 -0,9 1,4 -0,8 0,1 0,5 0,0 0,0 0,7 -0,2 0,0 0,3 -0,3 -0,2 253 Born, Beginn (wie Anm. 19), S. 50. 254 Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 452 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 163 -0,4 0,4 1,7 -2,4 0,3 0,9 -0,1 0,4 2,7 -2,1 0,1 1,2 -0,9 0,6 3,3 -3,2 0,4 0,9 0,1 0,2 2,4 -2,2 0,3 1,8 -1,3 0,2 2,3 -1,8 0,7 1920 Juni Juli August September Oktober November Dezember 1921 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 1922 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober 1,26 0,94 0,57 0,60 0,13 0,42 0,30 0,19 0,42 0,31 0,40 0,27 0,47 0,30 0,59 0,28 0,17 0,15 0,47 0,18 0,13 0,13 0,13 0,13 0,06 0,08 0,06 0,30 0,14 0,4 0,9 1,4 -0,5 0,5 0,1 0,0 0,6 0,2 -0,1 0,2 0,2 -0,1 0,4 0,67 -0,49 0,21 0,21 -0,42 0,73 0,76 -0,36 -0,01 0,28 -0,46 0,93 0,28 0,02 0,39 0,19 -0,25 0,52 0,17 0,01 -0,11 0,26 0,05 0,42 0,31 -0,13 -0,02 0,15 -0,04 0,17 0,00 0,13 -0,06 0,18 -0,14 0,21 -0,06 0,14 -0,04 0,10 0,05 0,25 0,02 0,12 Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Von der Reichsbank gehalten 1,3 1,2 -1,9 -0,5 0,6 0,1 1,3 1,2 -2,3 -0,2 1,0 0,8 2,7 1,3 -2,6 0,0 0,7 0,6 1,7 1,8 -1,7 0,5 0,9 1,0 4,4 2,5 -4,3 0,2 2,0 Außerhalb der Reichsbank gehalten Von der Reichsbank gehalten 0,86 1,64 -0,23 -2,93 0,88 1,03 1,22 1,58 0,44 -2,36 1,16 1,98 1,74 1,93 0,72 -3,17 1,15 1,59 1,82 1,94 0,76 -1,79 1,20 2,81 3,14 2,63 -1,93 -1,56 2,61 Insgesamt Außerhalb der Reichsbank gehalten 1916 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 1917 Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember 1918 Januar Februar März April Mai Insgesamt Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 164 1,6 -0,4 1,1 3,9 -2,0 0,8 2,7 1922 November 0,13 Dezember 0,37 1923 Januar 0,05 Februar 0,28 März 0,60 April 0,26 Mai 0,11 Juni 0,32 Juli 0,14 August 0,46 September 1,19 Oktober 0,40 November 0,18 Dezember -0,19 Von der Reichsbank gehalten Von der Reichsbank gehalten 1,3 2,9 2,2 -3,1 2,1 0,9 -0,7 Außerhalb der Reichsbank gehalten Außerhalb der Reichsbank gehalten 2,90 2,47 3,30 0,89 0,13 1,70 2,03 Insgesamt Insgesamt 1918 Juni Juli August September Oktober November Dezember Hartmut Kiehling 0,02 0,11 0,08 0,29 0,01 0,04 0,03 0,25 0,28 0,32 0,02 0,24 0,00 0,11 0,04 0,28 0,00 0,14 0,08 0,38 0,03 1,16 0,02 0,38 0,00 0,18 0,00 -0,19 Quelle: Statistisches Reichsamt, Wirtschaft (wie Anm. 220), S. 62; eigene Berechnungen. Als potenzielle Bankenliquidität kamen neben Handels- und Schatzwechseln auch andere lombardfähige Papiere in Frage. Es waren dies in erster Linie Anleihen des Reiches und der Länder. Die Bestände der Banken an solchen Papieren stiegen von 1913 bis 1917 vergleichsweise moderat von schätzungsweise 2,4 auf 4,4 Mrd. GM. Nach 3,6 Mrd. GM im Jahr 1918 ließen die Banken ihre Bestände in den Folgejahren überproportional auf 450 Mio. GM, knapp 400 Mio. GM und 60 Mio. GM zurückgehen. Zum Jahresultimo 1923 erfolgte durch die erhöhten Bestände einiger Bankengruppen eine Erholung auf 50 bis 100 Mio. GM. In den Bilanzen der Banken sind die zum Zweck des Lombardkredits verpfändeten Papiere jeweils mit enthalten. Die vorhandenen Statistiken zur Lombardkreditgewährung der Reichsbank lassen eine Aufteilung in Direkt- und Bankenkredit jedoch nicht zu, sodass eine Bereinigung heute nicht mehr möglich ist. Allerdings sind die Volumina des Reichsbanklombards im Untersuchungszeitraum im Verhältnis zu denjenigen der lombardfähigen Wertpapiere sehr gering (1914: 0,8 Prozent, 1915–1921: 0,1–0,3 Prozent). Lediglich Ende 1922 – quasi bei einem Null-Bestand der Banken an lombardfähigen Papieren – und am Jahresultimo 1923 könnte über die Hälfte der bilanzierten inländischen Staatsanleihen bei der Reichsbank (und anderen Instituten des In- und Auslandes) verpfändet gewesen sein (1922: 52 Prozent, 1923: 268 Prozent; zum Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 165 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Vergleich 1913: 3,9 Prozent, 1924: 4,9 Prozent). Trotz der im Allgemeinen nicht genutzten Möglichkeit des Lombardkredits zählten lombardfähige Titel nach allgemeiner Auffassung zur potenziellen Bankenliquidität, da die Refinanzierungszusage der Notenbank im Prinzip ohne Obergrenze galt.255 – – – – – 0 1 0 0 0 0 2 7 717 840 1.059 1.021 1.309 1.095 136 117 17 0 41 165 112 30 30 30 30 30 30 30 30 30 36 42 48 25 Alle Banken 98 121 171 213 315 269 48 24 8 0 0 7 8 Anteil an allen Banken (in Prozent) 47 68 50 49 49 27 4 2 1 0 0 0 1 Summe 231 251 337 273 322 242 26 19 2 0 21 34 46 DGZ – Deutsche Kommunalbank – 126 174 276 263 306 241 28 56 4 0 20 61 45 Gewerbliche Kreditgenossenschaften Hypothekenbanken 215 225 224 224 317 316 29 15 2 0 0 61 5 Preußische Zentralgenossenschaftskasse Provinzbanken 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Berliner Großbanken Tabelle 11: Bestände an Reichs- und Länderanleihen 1913–25 (in Mio. GM, ab 1924 in Mio. RM) 2.400 2.800 3.500 3.400 4.400 3.600 450 390 60 1 100 347 453 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. Geschätzte Werte sind kursiv gesetzt. Nur am Rande seien an dieser Stelle die Nostroforderungen der Banken erwähnt. Sie waren (volkswirtschaftlich betrachtet) lediglich insoweit Liquiditätsreserven, als sie auf fremde Währung lauteten. Auch die Nostroforderungen lassen sich aus der Bilanzstatistik ablesen. Ihre Aufteilung in inländische und fremde Währung ist danach allerdings nicht möglich. Zudem gibt es keine monatlichen Werte und auch die jährlichen Bilanzstatistiken weisen für die meisten Institutsgruppen 1921 und 1922 keine Zahlen aus. Immerhin ist bekannt, dass die Interbankenforderungen Ende 1913 bei den Aktienkreditbanken 636 255 S. die Überlegungen in Kapitel X. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 166 Hartmut Kiehling Mio. GM oder 3,9 Prozent der Bilanzsumme betragen haben und bis 1917 Jahr für Jahr absolut und relativ auf zwei Milliarden GM oder 9,6 Prozent der Bilanzsumme angestiegen sind.256 Der Kursrückgang der Mark ließ die Goldmarkbeträge bis 1920 dramatisch abnehmen, während sie relativ zur Bilanzsumme nur Ende 1918 leicht sanken. Dieser vorübergehende Rückgang war ausschließlich auf die Gruppe der Berliner Großbanken zurückzuführen, die ihre Interbankenforderungen seit Beginn des Krieges in deutlich geringerem Maße steigerten als die Provinzbanken. Das Gewicht der Interbankenforderungen an der Liquiditätshaltung der Provinzbanken verstärkte sich seit 1915 Jahr für Jahr. Bei den Berliner Großbanken trat in den ersten beiden Kriegsjahren und 1918 eine gegenläufige Entwicklung ein. Nostrogelder überstiegen bei den Provinzbanken seit 1915, bei den Berliner Großbanken seit 1916 die Barreserven. Diese Entwicklung hat sich bei den Berliner Großbanken per saldo bis 1923 fortgesetzt,257 während die Provinz- und Hypothekenbanken258 zum Ende der Inflation anteilig wieder etwas höhere Barreserven hielten.259 Die Interbankenforderungen der Berliner Großbanken stiegen in den Jahren 1921 bis 1923 schrittweise wieder an. Dies galt sowohl in Goldmark als auch relativ zur Bilanzsumme.260 Auf das Jahr 1923 bezogen stellte Lansburgh fest, dass die Nostroguthaben der Berliner Großbanken „fast restlos aus Valuta-Guthaben [bestanden], welche die Banken im Auslande, meist im Hochvalutarischen, unterhalten“.261 Er war allerdings der Meinung, dass diese – wohl aufgrund ihrer Befristung – nicht als Liquiditätsreserve, sondern als Schutzmaßnahme vor der Geldentwertung anzusehen seien. Der Kreditschöpfungsspielraum der Banken ist nach der Liquiditätstheorie dann erschöpft, wenn diese ihre potenziellen Liquiditätsreserven vollständig in aktuelle Liquiditätsreserven umgewandelt haben. Aus dem vorhandenen Zahlenmaterial ist ein solcher Zeitpunkt nicht exakt zu ermitteln. Am Ende der Jahre 1922 und 1923 wurde mit jeweils rund 550 Mio. GM die geringste potenzielle Bankenliquidität ausgewiesen. Da die Banken 1922 lediglich über äußerst geringe Bestände an lombardfähigen Papieren verfügten, kann man den Bestand der außerhalb der Reichsbank platzierten Reichsschatzanweisungen als Indikator für die potenziellen Liquiditätsreserven der Banken ansehen. Danach waren diese – und mit ihnen der Kreditschöpfungsspielraum der Institute – in den Monaten August, Oktober und November 1922 sowie Januar 1923 besonders niedrig. In einer Gesamtübersicht der aktuellen und potenziellen Liquiditätsreserven aller Banken lassen sich weitere Entwicklungslinien erkennen. Von 1914 bis 1916 beschleunigte sich das Wachstum dieser Reserven real nur wenig.262 Das Jahr 1917 wies danach mit 256 Bei den Berliner Großbanken ebenso wie bei den Provinzbanken. 257 Die Werte dieses Jahres beruhen zwar auf der Goldmark-Eröffnungsbilanz, sind also nach anderen Kriterien ermittelt als die vorangegangenen Mark-Bilanzen. Barreserve und Nostrogelder wurden jedoch eins zu eins aus der Mark-Schlussbilanz übernommen. 258 Zu diesen zählten in den von der Bundesbank veröffentlichten Statistiken auch die gemischten Institute. 259 Berechnet nach Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 56–61, 76–81, 84–87. 260 Die Werte für 1923 sind den Goldmark-Eröffnungsbilanzen entnommen. In der Mark-Schlussbilanz per 31. Dezember 1923 machten die Interbankenforderungen 38,0 Prozent der Bilanzsumme aus. Vgl. Die Bank 17 (1924), S. 368. Der von Whale genannte Anteil von 42,1 Prozent für das Jahr 1922 beruht auf einem Rechenfehler, den er aus der Zeitschrift „Die Bank“ übernommen hat. Vgl. Whale, Banking (wie Anm. 14), S. 221. 261 Lansburgh, Bankenwende (wie Anm. 15), S. 367 f. 262 Die Reserven stiegen um 1914 um fünf, 1915 um zehn und 1916 um 15 Prozent an. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 167 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation einem Plus von 54 Prozent einen deutlichen Sprung auf. Die Volumina lagen 1916 bei rund elf Milliarden GM, 1917 und 1918 jeweils über 16 Mrd. GM. Damit war der Höhepunkt erreicht. 1919 gab es einen Rückgang von drei Vierteln auf gut vier Milliarden GM, die Folgejahre erlebten zunächst eine vorübergehende Stabilisierung und dann ein weiteres Absinken um 40 Prozent (1921) bzw. 80 Prozent (1922). Die Zusammensetzung der Liquiditätsreserven variierte im Laufe der Kriegs- und Inflationszeit deutlich. 1913 waren 16 Prozent der (aktuellen und potenziellen) Bankenliquidität als Barreserve gehalten worden – ein Prozentsatz in der Größenordnung der Jahre 1924 und 1925. Dieser Anteil stieg nach Kriegsbeginn kurz an, verringerte sich danach jedoch Schritt für Schritt bis er 1918 nur noch elf Prozent betrug. Dies war bis 1915 darauf zurückzuführen, dass die Banken ihre lombardfähigen Papiere – insbesondere Anleihen des Reiches und der Länder – aufstockt hatten. Deren Anteile an den Liquiditätsreserven gingen jedoch danach über mehrere Jahre zurück und beliefen sich 1922 auf deutlich unter einem Prozent. Stattdessen investierten die Banken seit 1916 verstärkt in Handels- und Schatzwechseln, sodass der Wechselbestand der Banken von einem Anteil von 45 Prozent (1915) auf 81 Prozent (1921) kletterte. Da der Ankauf von Handelswechseln durch die Reichsbank vom Sommer 1914 bis Anfang 1920 ständig zurückging,263 die marktmäßige Platzierung der Reichsschatzanweisungen jedoch von Ende 1916 bis zum Sommer 1918 in Papier- und Goldmark enorm anstieg, war diese Zunahme mit Sicherheit auf den erhöhten Bestand der Banken an Reichsschatzanweisungen zurückzuführen. Liquiditätsreserven**** Reichsbankfähige, verzinsliche Wertpapiere*** Bilanzsumme 380 538 598 635 937 in Mio. GM, 1924: in Mio. RM 1.880 215 2.475 1.697 225 2.460 2.027 224 2.850 2.900 233 3.767 5.284 338 6.559 Nostroguthaben bei Banken 1913 1914 1915 1916 1917 Wechsel und unverzinsliche Schatzanweisungen ohne Solawechsel, eigene Akzepte und Ziehungen** Barreserve* Tabelle 12: Liquiditätsreserven der Berliner Großbanken laut Bilanz zum Jahresultimo 1913–24 337 326 344 485 1.009 8.391 7.643 7.605 8.603 13.131 263 Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 53. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 168 1918 1919 1920 1921 1922 1923***** 1924 723 228 246 169 58 107 201 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923***** 1924 4,5 7,0 7,9 7,4 7,1 6,3 5,8 6,4 6,0 6,1 6,1 5,0 1913 1914 1915 1916 15,4 21,9 21,0 16,8 in Mio. GM, 1924: in Mio. RM 5.725 330 6.777 2.070 32 2.331 2.127 18 2.391 1.212 3 1.385 202 0 260 28 11 146 890 13 1.105 in Prozent der Bilanzsumme 22,4 2,6 29,5 22,2 2,9 32,2 26,7 3,0 37,5 33,7 2,7 43,8 40,2 2,6 49,9 49,6 2,9 58,7 52,7 0,8 59,4 55,4 0,5 62,3 42,9 0,1 49,0 21,3 0,0 27,4 1,6 0,6 8,3 21,9 0,3 27,2 in Prozent der Liquiditätsreserven 76,0 8,7 100,0 69,0 9,1 100,0 71,1 7,9 100,0 77,0 6,2 100,0 Bilanzsumme Nostroguthaben bei Banken Liquiditätsreserven**** Reichsbankfähige, verzinsliche Wertpapiere*** Wechsel und unverzinsliche Schatzanweisungen ohne Solawechsel, eigene Akzepte und Ziehungen** Barreserve* Hartmut Kiehling 556 324 264 316 336 478 670 11.549 3.926 3.840 2.826 950 1.751 4.056 4,0 4,3 4,5 5,6 7,7 4,8 8,3 6,9 11,2 35,4 27,3 16,5 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 13,6 13,3 12,1 12,9 Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 169 Bilanzsumme Nostroguthaben bei Banken Liquiditätsreserven**** 14,3 10,7 9,8 10,3 12,2 22,3 73,3 18,2 in Prozent der Liquiditätsreserven 80,6 5,2 100,0 84,5 4,9 100,0 88,8 1,4 100,0 89,0 0,8 100,0 87,5 0,3 100,0 77,7 0,0 100,0 19,0 7,7 100,0 80,6 1,2 100,0 Reichsbankfähige, verzinsliche Wertpapiere*** Wechsel und unverzinsliche Schatzanweisungen ohne Solawechsel, eigene Akzepte und Ziehungen** 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923***** 1924 Barreserve* Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 15,4 8,2 13,9 11,1 22,9 129,1 328,1 60,7 *) Kasse, Sorten, Kupons, Guthaben bei Noten- und Abrechnungsbanken. 1913–15: eigene Akzepte und Ziehungen und Solawechsel nicht berücksichtigt. ***) Zum geringeren Teil geschätzt. 1913–15: Anleihen des Reiches und der Bundesstaaten. ****) Barreserve, diskont- und lombardfähige Wertpapiere. *****) Goldmark-Eröffnungsbilanz zum 1. Januar 1924. Quelle: Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. **) In den Jahren 1919 bis 1921 sah sich die deutsche Volkswirtschaft einem umfangreichen Zustrom von Devisen aus Hartwährungsländern ausgesetzt,264 den die Banken offenbar anderweitig nicht mehr vollständig sinnvoll investieren konnten. In den beiden Folgejahren ging dagegen die Bedeutung der Wechselbestände für die Bankenliquidität in großen Schritten zurück (auf gut 70 bzw. 20 Prozent). Der Anteil der Reichsschatzanweisungen sank dabei vermutlich bereits zum Jahresende 1922 noch stärker, da die Reichsbank ihren Ankauf von Handelswechseln seit September des Jahres stark forciert hatte. Zum Jahresultimo 1923 hielten die Banken nur noch sehr wenige Reichsschatzanweisungen. Deren Stelle nahmen zu diesem Zeitpunkt die Anleihen des Reiches und der Länder ein, denen mit knapp 18 Prozent eine im Vergleich der Jahre zuvor außerordentlich große Bedeutung zukam. Zu einer wichtigen Komponente der Liquiditätshaltung der Kreditinstitute hatte sich in der Zeit der offen ausgebrochenen Inflation die Barreserve entwickelt. Ihr Anteil stieg von 1918 bis 1923 auf 62 Prozent. 264 Holtfrerich, Kapitalexport (wie Anm. 182), S. 497–529. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 170 Hartmut Kiehling Tabelle 13: Liquiditätsreserven der Kreditinstitute 1913–25 (in Mio. GM, ab 1924 in Mio. RM) Handels- und Schatzwechsel Lombardfähige Wertpapiere Insgesamt Summe der Liquiditätsreserven 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Potenzielle Liquiditätsreserven Barreserve Aktuelle Liquiditätsreserven 1.312 1.700 1.600 1.600 2.300 1.800 600 650 460 160 340 630 707 4.482 4.100 4.300 5.900 10.200 10.700 3.300 3.500 2.200 400 110 2.310 3.626 2.400 2.800 3.500 3.400 4.400 3.600 450 390 60 1 100 347 453 6.882 6.900 7.800 9.300 14.600 14.300 3.750 3.890 2.260 400 210 2.657 4.079 8.200 8.600 9.400 10.900 16.900 16.100 4.350 4.540 2.720 560 550 3.287 4.786 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. Geschätzte Werte sind kursiv gesetzt. Noch ausgeprägter entwickelte sich der Reservesatz der deutschen Banken, also das Verhältnis zwischen der Barreserve der Banken und den Einlagen der Nichtbanken. Er wird im Kreditschöpfungsmultiplikator der traditionellen Kreditschöpfungstheorie als Maß für die Liquiditätshaltung der Banken verwandt. Seine Werte lagen in der Kriegszeit mit durchschnittlich 5,8 Prozent nur geringfügig über dem Wert von 1913 (4,0 Prozent). Die Jahre bis 1921 sahen jeweils einen Anstieg von rund zwei Prozentpunkten, während die Kennzahl am Jahresultimo 1922 und 1923 Werte von 24,5 Prozent bzw. 92,1 Prozent erreichte. Ermittelt man aus dem Verhältnis der (aktuellen und potenziellen) Liquiditätsreserven aller Banken zu ihren Einlagen eine Liquiditätsquote,265 so ergab sich bis 1920 und 1921 265 Diese stimmt jedoch nicht mit der Liquiditätsquote aus dem Kreditschöpfungsmultiplikator der Liquiditätstheorie überein (s. Kapitel III), da diese eine exakte Quantifizierung der Überschussreserven voraussetzt. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 171 ein stetiger Anstieg von 25 auf 68 Prozent. In der Hyperinflation stiegen die Jahresendstände von 84 Prozent (1922) auf 149 Prozent (1923). Bei den Aktienkreditbanken zeigte sich ein auffällig unterschiedlicher Verlauf. Bereits 1913 lag ihre Quote bei knapp über 100 Prozent, die bis Ende 1917 nochmals auf 113 Prozent anzog. Der Niveauunterschied zur Gesamtheit der deutschen Banken ging in dieser Zeit vermutlich auf die Reservefunktion besonders der Berliner Großbanken, aber auch einiger großer Provinzbanken zurück. Die Jahre 1918 bis 1920 brachten nochmals deutlich erhöhte Werte um 140 Prozent – ausschließlich ein Resultat der erhöhten Bestände der Berliner Großbanken an potenzieller Bankenliquidität. In den beiden Folgejahren ging die so berechnete Liquiditätsquote der Aktienkreditbanken entgegen des Branchentrends auf 111 bzw. 93 Prozent zurück und lag 1923 trotz eines Wiederanstiegs auf 118 Prozent deutlich unter dem Schnitt aller Banken. Holtfrerich hat diese Liquiditätsquote der Aktienkreditbanken für die Jahre 1920 bis 1922 im Zweimonatsabstand errechnet.266 Danach wies die Liquiditätsausstattung dieser Banken im April 1920 sowie um die Jahreswende 1920/21 jeweils Tiefpunkte auf. Ein nachhaltiger Rückgang begann im August 1921. Ihre Talsohle war im April 1922 bereits nahezu erreicht. Ab August 1922 verbesserte sich die Liquiditätsquote schon wieder. Die Entwicklung der Liquiditätsquote stimmte bis Mitte 1922 gut mit der Liquiditätslage des Publikums überein, wie sie sich in dieser Zeit im Verhältnis zwischen Postscheckguthaben und -umsätzen darstellte. Der Anstieg der Liquiditätsquote in der Zeit danach ist am ehesten erklärbar, wenn man für diesen Zeitpunkt (und erst für diesen) eine starke Zurückhaltung der Banken in ihrer Kreditgewährung und in der Investition dieser Gelder in wertbeständige liquide Mittel unterstellt – wie auch aus den zeitgenössischen Quellen hervorgeht. Die Kreditversorgung der Wirtschaft übernahm jetzt zu großen Teilen die Reichsbank. Die Reichsbank hat der Nachfrage nach Zentralbankgeld während der Revolutionszeit noch längere Zeit ohne nennenswerte Restriktionen nachgegeben und dadurch den Abzug von Einlagen bei den Banken bis Anfang 1919 kompensiert. Es folgte eine Phase eher abwartenden Agierens, während die Liquiditätsversorgung der Wirtschaft insbesondere aufgrund des Verfalls der Mark real drastisch zurückging. Erst ab dem März 1920 stieg die Kreditgewährung der Reichsbank kurzzeitig wieder an, bevor sie 1921 bereits zwei Monate vor den ersten Einlageabzügen wieder abgebaut wurde. Die realen Volumina des Reichsbankkredits gingen danach bis weit nach dem Einsetzen der Liquiditätskrise im Sommer 1922 zurück. Die Reichsbank hat demnach seit 1919 mit wenigen Ausnahmen keine ausgesprochen expansive Kreditpolitik verfolgt. Die Anteile des Diskonts von Reichsschatzanweisungen und der Kredite der Darlehenskassen am Notenbankkredit bewegten sich von Anfang 1915 bis Mitte 1922 spiegelbildlich. Das Gleiche galt ab der Jahresmitte 1922 für den Anteil des Diskonts von Reichsschatzanweisungen zu dem von Handelswechseln. Eine ähnliche Bewegung vollzogen auch die realen monatlichen Volumina. Die Reichsbank hat also parallel zu den Wechselankäufen 1922/23 ihren Staatskredit zurückgenommen. 266 Holtfrerich legt dabei die in der Zeitschrift „Wirtschaftskurve“ veröffentlichten Werte der Kreditoren und Debitoren der Aktienkreditbanken zugrunde. Vgl. Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 69. Die Jahresendstände stimmen nicht exakt mit den zuvor erwähnten überein, da bei dieser Berechnung Veränderungen der übrigen Bilanzpositionen (durchlaufende Posten, Beteiligungen, Immobilien, ausgewiesenes Eigenkapital, Akzepte und uneingelöste Schecks, sonstige Passiva) Verzerrungen bewirkten. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 172 Hartmut Kiehling Abbildung 19: Liquiditätsquote* 1913–25 2,5 2 1,5 1 0,5 0 1913 1914 1915 1916 alle Banken 1917 1918 1919 Aktien-Kreditbanken 1920 1921 Berliner Großbanken 1922 1923 1924 1925 Provinzbanken * (Barreserven + potenzielle Liquiditätsreserven) zu Einlagen. Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), passim; Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. Zusammenfassend ist festzuhalten: (1.) Ausweislich der außerhalb der Reichsbank platzierten Reichsschatzanweisungen war der Kreditschöpfungsspielraum der Banken in den Monaten August, Oktober und November 1922 sowie im Januar 1923 besonders niedrig. (2.) Die Liquiditätsausstattung der Aktienkreditbanken ging ab August 1921 nachhaltig zurück. Ihre Talsohle war im April 1922 bereits nahezu erreicht. Diese Entwicklung stimmte bis Mitte 1922 mit der Liquiditätslage des breiten Publikums überein. Im Gegensatz zu dieser verbesserte sich die Liquiditätsausstattung der Aktienkreditbanken – und wohl nur ihre – ab August 1922 wieder, was auf eine deutliche Zurückhaltung dieser Institute in ihrer Kreditgewährung und in der Investition der betreffenden Gelder in wertbeständige liquide Mittel schließen lässt. IX. Die Überschussreserven der Banken Nach der traditionellen Theorie ist der Kreditschöpfungsspielraum der Banken dann erschöpft, wenn deren Überschussreserven aufgebraucht sind. Unter Überschussreserven versteht man im Allgemeinen die frei verfügbaren Zentralbankguthaben der Banken. Nicht frei verfügbar ist heute in einigen Ländern ihr Mindestreserveerfordernis. Das Notenbankinstrument der Mindestreserve für Banken hat in Deutschland jedoch erst die Bank deutscher Länder angewandt. Nicht frei verfügbar ist im Prinzip auch derjenige Teil der Zentralbankguthaben der Banken, den diese für den bargeldlosen Zahlungsverkehr Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 173 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation benötigen.267 In der Gegenwart spielen derartige Überlegungen allerdings meist keine Rolle mehr, da die Banken ihre Konten bei der Zentralbank entweder unmittelbar überziehen können oder ihnen eine anderweitige automatische Kreditmöglichkeit268 offen steht. Die Überschussreserven (Ü) ließen sich unter den Verhältnissen der Inflationszeit also als Differenz zwischen den tatsächlich gehaltenen Guthaben (DB) und den für den Zahlungsverkehr notwendigen Working Balances WB der Banken bei der Zentralbank definieren: Ü = DB – WB. Weiter oben wurde gezeigt, dass die Veränderungen der Guthaben der Privaten bei der Reichsbank seit 1920 recht gut die Entwicklung der Liquiditätssituation der Banken widerspiegelten. In der Folge wird dieser Umstand genutzt, um Aussagen über die zeitliche Entwicklung des Kreditschöpfungsspielraums der Banken zu gewinnen. Zudem ist abzuschätzen, wie hoch die Working Balances in der fraglichen Zeit mindestens sein mussten. Abbildung 20: Umsätze im Zahlungsverkehr 1913–23 (in Mio. GM) 12.000 10.000 Abrechnungsverkehr der Reichsbank 8.000 6.000 4.000 2.000 Postscheckverkehr 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 52 ff.; eigene Berechnungen. 267 Geht man davon aus, dass das Interesse der Banken primär darauf gerichtet war, ihre Mittel zu einem akzeptablen Risiko ausreichend zu verzinsen, so kamen für sie (unverzinsliche) Einlagen bei der Reichsbank nur aus drei Gründen in Betracht: als Working Balance für den Zahlungsverkehr, als Liquiditätspuffer und mangels anderweitiger Anlagemöglichkeiten. Den ersten Grund gilt es hier zu isolieren. 268 In Deutschland beispielsweise auf dem Wege des Giroüberzugslombards. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 174 Hartmut Kiehling Der Giro- und Abrechnungsverkehr der Reichsbank umfasste neben der Abrechnung die sonstigen Verrechnungen,269 Barzahlungen, Fern- und Platzübertragungen.270 Geht man allein von den vorhandenen Jahreszahlen271 aus und sieht von geringen Doppelzählungen ab,272 so entfielen davon auf die Abrechnungen lediglich zwischen 2,5 Prozent (1919) und sechs Prozent (1922). Dennoch sind die Abrechnungsvolumina zur Abschätzung der Working Balances vermutlich ausreichend gut geeignet. Barzahlungen, Fern- und Platzüberweisungen haben sich kurzfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rhythmus des gesamten Zahlungsverkehrs entwickelt. Sie gehorchten denselben Einflussfaktoren wie zum Beispiel dem Abrechnungsverkehr, der Konjunkturentwicklung, der zeitweisen Beschleunigung oder Verlangsamung der Inflation etc. Lediglich die Verrechnungen der Reichsbank hatten wohl ein anderes Verlaufsmuster, das sich jedoch im Großen und Ganzen durch die Entwicklung des (Handels- und Schatz-) Wechselgeschäfts der Reichsbank abschätzen lässt. Verschiebungen zwischen den einzelnen Zahlungsverkehrsarten gingen ansonsten auf trendmäßige, allmähliche Veränderungen zurück, so zum Bespiel die Marktanteilsverluste der Reichsbank im Fernverkehr. Der Abrechnungsverkehr bei der Reichsbank verlor während des Krieges stetig an Gewicht bis 1919 nur noch 2,5 Prozent der Umsätze im Giro- und Abrechnungsverkehrs auf ihn entfielen (1913: 12,1 Prozent). Danach stieg dieser Anteil bis 1922 wieder auf sechs Prozent. Genau spiegelbildlich dazu bewegten sich die Volumina der Platzübertragungen, während der Anteil der Fernübertragungen seit 1915 stetig zurückging.273 Dahinter standen Marktanteilsverluste an den Postscheckverkehr und vermutlich auch an den Spargiroverkehr sowie ab 1920 an den Zahlungsverkehr der Großbanken. Kurzfristig ergaben sich Verschiebungen im Giro- und Abrechnungsverkehr der Reichsbank nur in den Beschleunigungsphasen der Geldentwertung durch das Anschwellen der baren Auszahlungen sowie in weit geringerem Maße auch durch Platzübertragungen. Barauszahlungen resultierten bei der Reichsbank aus dem Bargeldbedarf der Kreditinstitute und den Gehaltszahlungen der Wirtschaft, Bareinzahlungen aus den Einzahlungen zur Überweisung durch Privatleute und kleine Gewerbetreibende sowie der Einlieferung überschüssiger Barmittel durch Banken und Handelsbetriebe. In der Grob- und Feinstruktur der Bewegung stimmten die Umsätze im Postscheckverkehr in der Kriegs- und Inflationszeit auffallend gut mit denen des Abrechnungsverkehrs überein. Abgesehen von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und von gewissen temporären Marktanteilsgewinnen des Postscheckverkehrs von 1917 bis 1919 sowie im Jahr 1922 entwickelten sich die Umsätze im Postscheck- und Abrechnungsverkehr synchron. Nur auf wenige Monate traf dies nicht zu, so im Juni und Juli 1918 sowie im Dezember 1918 und Januar 1919. Da der Postscheckverkehr von seiner Zusammensetzung her eher den Fernübertragungen der Reichsbank entsprach, ist auch diese Übereinstimmung zwischen Abrechnungs- und Postscheckumsätzen ein Hinweis auf einen relativ einheitlichen Rhyth269 Das heißt Verrechnungen der Reichsbank, die auf der einen Seite ein Konto der Girobuchhaltung, auf der anderen Seite ein Erfolgs- oder Bestandskonto auswiesen, zum Beispiel im Postscheckverkehr oder für Gebühren aus dem Wechsel-, Lombard- und Sortengeschäft. 270 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 44 (1924/25), S. 313. 271 Mit Ausnahme des Abrechnungsverkehrs. 272 In den Verrechnungen sind die Abrechnungssalden enthalten. 273 Platz- und Fernübertragungen betrafen Buchungen zwischen Girokonten derselben bzw. verschiedener Reichsbankzweiganstalten. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 175 mus der einzelnen Bestandteile des Reichsbankgiroverkehrs. Damit ist es vertretbar, die Abrechnungsumsätze als repräsentativ für die gesamten Zahlungsverkehrsumsätze der Reichsbank anzusehen. Die relative Entwicklung der für den Zahlungsverkehr notwendigen Working Balances der Banken bei der Reichsbank kann man nach diesen Überlegungen abschätzen, indem man die privaten Reichsbankeinlagen in einem ersten Schritt ins Verhältnis zu den Abrechnungsvolumina setzt.274 Die entsprechenden Berechnungen ergeben ein relativ klares Bild. Die privaten Reichsbankeinlagen machten 1913 und im ersten Halbjahr 1924 6,1 bis 9,7 Prozent der Abrechnungsumsätze aus. Von Anfang 1920 bis Anfang 1923 lagen die privaten Reichsbankguthaben – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zwischen zehn und 20 Prozent der Umsätze im Abrechnungsverkehr.275 Interessant ist insbesondere die Entwicklung im zweiten Halbjahr 1922. Die Einlagen der Privaten bei der Reichsbank fielen im Juli 1922 von zwölf auf 9,3 Prozent und im Monat darauf auf 7,4 Prozent der Abrechnungsumsätze. Offensichtlich trat danach mit der Beruhigung der Spekulation gegen die Mark in den letzten beiden Monaten des Jahres auch eine Entspannung der Liquiditätssituation der Banken ein. Jedenfalls wies die genannte Kennzahl im Dezember einen Wert von 18,7 auf und war damit so hoch wie seit einem Jahr nicht mehr. Mit der erneuten drastischen Schwäche der Mark auf den Devisenmärkten im Januar 1923 sanken dann die Arbeitsguthaben der Banken bei der Reichsbank auf extrem niedrige 5,8 Prozent der Abrechnungsumsätze. Die meisten der darauf folgenden Monate könnten von einer Entspannung der Situation gekennzeichnet sein. Lediglich im Juli 1923 kamen die Banken der Sechs-Prozentgrenze noch einmal nahe. Dabei sah das Jahr 1923 jedoch wieder stärkere Schwankungen, die die Überschussreserven der Banken in diesem Ausmaß wohl nicht abbilden.276 Inflationsverlauf und wirtschaftliche Entwicklung waren nun so sprunghaft, dass die unterschiedlichen zeitlichen Bezüge277 der verwendeten Größen mit hoher Wahrscheinlichkeit für zusätzliche Verwerfungen sorgten. Die Gegenüberstellung von Reichsbankeinlagen und Abrechnungsvolumina ermöglicht es, die Liquiditätslage der Banken unabhängig vom Dollarkurs und den Auswirkungen der Dollarkursänderungen auf die Liquiditätshaltung der Banken zu untersuchen. Dabei stellt sich heraus, dass es einerseits Phasen mit einer ausgeprägten Dollarkursabhängigkeit gab, in denen eine relative Stabilität der Mark mit wachsenden Guthaben bei der Reichsbank vice versa einhergingen. Dies war im Herbst 1917 der Fall, in den Monaten um die Jahreswende 1919/20, im Juli und Dezember 1920, im Juni 1922 sowie im Dezember 1922. Andererseits wurden die Reichsbankguthaben der Privaten über lange Zeiträume hinweg von der Veränderung des Dollarkurses kaum oder gar nicht beeinflusst. 274 Für die Quantifizierung der Überschussreserven müsste dagegen bedacht werden, inwieweit die privaten Reichsbankeinlagen nach den obigen Überlegungen auf Nichtbanken entfielen. 275 In den Kriegsjahren stiegen die Prozentzahlen weit darüber hinaus – von 31 Prozent (Jahresdurchschnitt 1915) kontinuierlich auf 66 Prozent (Jahresdurchschnitte 1918 und 1919). Sieht man von den Zeichnungsmonaten der Kriegsanleihen ab, so verzeichneten vom Herbst 1918 bis zum Frühjahr 1919 einzelne Monate Werte von 80 bis 90 Prozent. Danach folgte ein scharfer, nur in wenigen Monaten unterbrochener Rückgang. Diese Zahlen geben allerdings aufgrund der stark verzerrenden Reichsbankguthaben der privaten Nichtbanken lediglich Indikationen. 276 Eigene Berechnungen nach Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 50–53. 277 Reichsbankguthaben zum Monatsultimo, Abrechnungsvolumina als Monatssummen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 176 Hartmut Kiehling Abbildung 21: Indikator für die Überschussreserven 1920–23 (Stand zum Monatsende, entspricht Mio. GM) 1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200 0 1923 1922 1921 1920 -200 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53; eigene Berechnungen. Im letzten Friedensjahr 1913 sanken also die privaten Reichsbankguthaben ebenso wie in der Kriegs- und Inflationszeit nicht unter eine Grenze von sechs Prozent der Abrechnungsvolumina.278 Man kann also davon ausgehen, dass Working Balances in dieser Höhe mindestens notwendig waren, um den Zahlungsverkehr abzuwickeln. Ein Blick auf die Verhältnisse im Postscheckverkehr bestätigt diese Rechnung. Zwar wies das Verhältnis zwischen Postscheckguthaben am Ende eines Monats und Postscheckumsätzen desselben Monats in der Kriegs- und Inflationszeit bei Weitem geringere Schwankungen auf. Die Postscheckguthaben sanken jedoch nicht unter 5,5 Prozent der Postscheckumsätze desselben Monats. Diese Werte wurden wiederum in der Zeit bis Mitte 1914 und in der zweiten Hälfte des Jahres 1922 erreicht.279 Über sechs Prozent der Abrechnungsvolumina hinausgehende Reichsbankguthaben der Privaten sind jedoch nicht in voller Höhe als Überschussreserven der Banken zu betrachten. Darüber hinausgehende Guthaben kann man nicht in voller Höhe als Überschussreserven betrachten, da zumindest von 1916 bis 1919, wahrscheinlich jedoch bis 1921/22 auch die Unternehmen in bedeutendem Ausmaß Guthaben bei der Reichsbank gehalten haben. Sie stellen – vor allem seit 1920 – einen brauchbaren Indikator dar. Im Februar 1920 erreichten die Überschussreserven der Banken nach einem dramatischen Rückgang einen ersten Tiefstand, dem sich bis zum Juni nur eine kurzzeitige Erholung anschloss. In den nun folgenden zwei Jahren bildeten sich die Überschussreserven unter Schwankungen zurück, bis sie im Zuge der Liquiditätskrise im 278 Januar 1913: 6,2 Prozent; April und Mai 1913: je 6,4 Prozent; Juli 1913: 6,1 Prozent; Oktober 1913: 6,0 Prozent; Januar 1923: 5,8 Prozent. 279 Vgl. Abbildung 13. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 177 Sommer 1922 praktisch nicht mehr vorhanden waren. Danach kann man davon ausgehen, dass die Banken in den Monaten Juli, August und Oktober 1922 nahezu keinen und im Januar 1923 überhaupt keinen Spielraum für eine weitere Kreditvergabe hatten.280 Die Reichsbank führte diese Entwicklung – wenigstens zum Teil – auf die bewusste Reduzierung der Einlagen angesichts gestiegener Inflationserwartungen zurück.281 In den Monaten März, April und September 1923 erholten sich die Werte zeitweise auf niedrigem Niveau. In den beiden gegenläufigen Phasen Mitte 1920 sowie im März und April 1923 waren die Einlagen der Privaten bei der Reichsbank verstärkt den Nichtbanken zuzurechnen, da die Reichsbank in dieser Zeit ihr (Diskont-) Direktgeschäft mit den Nichtbanken ausgeweitet hatte. Die ermittelten Werte bilden die relative Entwicklung der Überschussreserven in diesen Zeiträumen nicht mehr ausreichend ab. Es ist damit wahrscheinlich, dass sich die Überschussreserven der Banken von Anfang 1919 bis zum Sommer 1922 relativ kontinuierlich zurückbildeten. X. Der Notenbankkredit Der Notenbankkredit ist die alleinige Quelle des Zentralbankgeldes, das das Bankensystem für die Kreditgewährung über ihre Einlagenbestände hinaus benötigt – jedenfalls soweit Kredit in inländischer Währung gewährt wird. Der Kredit der Reichsbank ist für die hier behandelte Zeit auch im Monatsablauf sehr gut dokumentiert. Weniger gut ist die Aufteilung seiner einzelnen Ausprägungen (Ankauf von Reichsschatzanweisungen, (Re-) Diskont von Handelswechseln, Lombardkredit und Kredit der Darlehenskassen) auf Banken, Nichtbanken und Staat bekannt. Sie lässt sich allenfalls für einzelne Perioden mit einiger Sicherheit nachvollziehen. Nach einem ersten starken Anstieg zu Kriegsbeginn erhöhte sich der Notenbankkredit bis Mitte 1916 real zunächst nur wenig, wuchs dann etwas stärker und machte im Dezember 1917 einen regelrechten Sprung. Seinen höchsten Wert erreichte er im September 1918 mit 22,5 Mrd. GM, das heißt rund dem Achtzehnfachen des Vorkriegsstandes. Von Februar 1919 bis Februar 1920 folgte ein scharfer Abfall auf 2,7 Mrd. GM, eine viermonatige Erholung und gleich anschließend eine schrittweise Verminderung auf real noch sehr viel niedrigere Beträge.282 Im Gegensatz dazu verblieben die Umsätze im Zahlungsverkehr, die marktmäßig platzierten Reichsschatzanweisungen oder die Postscheckguthaben nach der Erholung rund 1½ Jahre auf dem neuen Niveau und gingen erst seit der Jahresmitte 1921 außerordentlich stark zurück. Im Gefolge des Ruhrkampfes erreichte der Notenbankkredit in einzelnen Monaten des Frühjahrs und Sommers 1923 real wieder etwas höhere Werte. Ein Vergleich mit den Einlagen der Nichtbanken bringt bemerkenswerte Unterschiede zu Tage. So begann der Abstieg 1918/19 mit einer Verzögerung von zehn Monaten. Die Reichsbank hat also der Nachfrage nach Zentralbankgeld während der Revolutionszeit noch längere Zeit ohne nennenswerte Restriktionen nachgegeben und dadurch den Abzug 280 Prion berichtete von einem „Stocken“ der Kreditgewährung in den Monaten Juni und Juli 1922. Vgl. Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 40), S. 181. 281 Webb, Hyperinflation (wie Anm. 60), S. 30. 282 Im Durchschnitt der Monate Juli 1922 bis Dezember 1923: 846 Mio. GM. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 178 Hartmut Kiehling von Einlagen bei den Banken bis Anfang 1919 kompensiert. Dagegen hat sie die bald darauf folgende Liquiditätskrise nicht verhindert. Erst als sich nach dem Scheitern des Kapp-Putsches ohnehin national wie international wieder Vertrauen bildete, stieg kurzzeitig auch die Kreditgewährung der Reichsbank an. Bemerkenswert ist ferner der frühzeitige, spätestens im April 1921 – und damit zwei Monate vor den ersten Einlageabzügen – stattfindende Abbau, der insbesondere die Darlehenskassen und damit denjenigen Kredit betraf, der direkt für die Wirtschaft zur Verfügung stand. Auffallend ist schließlich, dass das Volumen an Reichsbankkrediten real bis weit nach dem Einsetzen der Liquiditätskrise im Sommer 1922 zurückging. Die Reichsbank hat demnach seit 1919 keine expansive Kreditpolitik verfochten, sondern im Großen und Ganzen lediglich defensiv auf die an sie herangetragenen Kreditwünsche reagiert. Darauf deutet auch die bereits genannte Untersuchung von Sargent und Wallace hin, die für den Zeitraum von November 1920 bis Mai 1923 einen kausalen Zusammenhang zwischen der Preissteigerungsrate und dem Geldangebot der Reichsbank nachweist.283 Betrachtet man diesen Zeitraum allerdings genauer, so sind die Perioden von April bis Juni 1920 sowie von August bis Oktober 1922 von dieser Aussage auszunehmen. Abbildung 22: Notenbankkredit 1913–23 (in Mio. GM) 25.000 20.000 Kredite der Darlehenskasse 15.000 10.000 5.000 Diskont von Handelswechseln Diskont von Reichsschatzanweisungen 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53. Die Höhe des Notenbankkredits wurde in der Kriegs- und Inflationszeit zumeist fast vollständig durch den Ankauf von Darlehenskassenscheinen und Reichsschatzanweisungen bestimmt. Hier schlug sich einerseits die „Reichstreue“ der Reichsbank nieder, andererseits die Erkenntnis ihres Direktoriums, dass „nach Lage der Verhältnisse dem Reich zur 283 Thomas J. Sargent/Neil Wallace, Rational Expectations and the Dynamics of Hyperinflation, in: International Economic Review 14 (1973), S. 328–350. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 179 Deckung seiner notwendigen Ausgaben ein anderer Weg als die Aufnahme schwebender Schuld nicht offen steht.“284 Theo Balderston hat festgestellt, dass der Reichsregierung schon im Krieg aufgrund der mangelnden Absetzbarkeit deutscher Reichsanleihen im Ausland gar keine andere Wahl blieb, als ihre Budgetdefizite in der einen oder anderen Weise zu monetisieren.285 Folgerichtig änderte sich in dieser Hinsicht die Politik der Reichsbank auch nach Inkrafttreten des Autonomiegesetzes nicht.286 Auf Reichsschatzanweisungen entfielen durchweg wesentlich höhere Ankaufbeträge als auf Darlehenskassenscheine. Die Darlehenskassen waren zu Beginn des Krieges bei den Reichsbanknebenstellen geschaffen worden, um den ersten „Angstbedarf“ der Wirtschaft nach Kriegsausbruch zu decken. In den ersten zwei Kriegsjahren dienten sie im Wesentlichen der kurzfristigen Finanzierung der Unternehmen. Danach traten jedoch mehr und mehr die Vorfinanzierung der Zeichnungen von Kriegsanleihen und die Kreditgewährung an die öffentliche Hand in den Vordergrund. Die Darlehenskassen gaben sowohl der Wirtschaft als auch den öffentlichen Kassen unterhalb der Ebene des Reiches Lombardkredit auf Wertpapiere und Waren. Zu diesem Zweck stellte ihnen die Reichsbank Noten zur Verfügung und erhielt dafür Darlehenskassenscheine. Einen Teil davon nahm sie in ihr Portefeuille, einen anderen gab sie in Umlauf. Zwar waren die Darlehenskassenscheine keine gesetzlichen Zahlungsmittel, sie waren jedoch klein gestückelt und mussten von öffentlichen Kassen zum Nennwert angenommen werden, sodass sie als Bargeld umliefen. Die Reichsbank konnte die Darlehenskassenscheine zur Dritteldeckung ihrer Noten heranziehen.287 Sie machte davon insbesondere gegen Ende der Inflationszeit in starkem Maße Gebrauch. Am Ende der Jahre 1920 und 1922 befanden sich nur noch 34 Prozent bzw. fünf Prozent aller ausgegebenen Darlehenskassenscheine im freien Verkehr.288 Die Darlehenskassen waren nichts anderes als der Versuch der Reichsbank, die Einhaltung der verbliebenen formalen Vorschriften des Bankgesetzes zu ermöglichen, obwohl ein Großteil des Reichsdefizits über die Notenpresse finanziert wurde.289 Wegen der engen Verzahnung zwischen Reichsbank und Darlehenskassen werden deren Kredite und Papiere in dieser Untersuchung im Allgemeinen wie die der Reichsbank behandelt. Die Kassen vergaben in erster Linie Direktkredit. Der Anteil der Banken betrug jeweils zum Ende der Jahre 1915 bis 1922 zwischen 1,5 und 29,5 Prozent. Lediglich Ende 1914 wurden 44,9 Prozent erreicht.290 Während des gesamten Ersten Weltkrieges war die Kreditgewährung der Kassen angestiegen. Kreditnehmer waren zunächst weit überwiegend Unternehmen und Banken gewesen. Ab 1916 wurden diese jedoch von inländischen Gebietskörperschaften verdrängt. In der Spitze gewährten die Darlehenskassen im Januar 1919 Kredite in Höhe von 8,3 Mrd. GM. Auffällig ist im weiteren Verlauf, dass die 284 Reichsbank, Verwaltungsbericht 1922, S. 10. 285 Theo Balderston, War Finance in Britain and Germany, 1924–1918, in: Economic History Review 42 (1989), S. 222–244. 286 Gesetz über die Autonomie der Reichsbank vom 26. Mai 1922, in: RGBl. 1922/II, S. 135; vgl. ferner zur Politik der Reichsbank Pfleiderer, Reichsbank (wie Anm. 107), S. 160. 287 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 111. 288 Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9), S. 38. 289 Vgl. zu den Darlehenskassen insgesamt Walther Lotz, Darlehenskassen, in: Ludwig Elster/Adolf Weber/ Freidrich Wieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3, Jena 41926, S. 209–215. 290 S. Abbildung 23. – Vgl. Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 680*f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 180 Hartmut Kiehling Abbildung 23: Kreditausreichungen der Darlehenskassen nach Kreditnehmern 1914–24 100% 80% Bundesregierungen und Kommunalverbände Kriegsgesellschaften incl. Reichsgetreidestelle Kreditanstalten Wirtschaft Sonstige keine Aufteilung veröffentlicht 60% 40% 20% 0% 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 Quelle: Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 143*. Kredite der Darlehenskassen nach einem überaus starken Rückgang im April 1921 (2,1 Mrd. GM) bereits im November desselben Jahres ein Niveau erreicht hatten (203 Mio. GM), das für den Vorabend der Kreditkrise vom Sommer 1922 typisch war. Die Beträge gingen im Herbst 1922 real weiter zurück (bis auf 50 Mio. GM im November 1923). Sie erreichten im Dezember selbst unter Einrechnung der Kredite an die Reichsgetreidestelle in Höhe von 73,3 Mio. GM nur 144 Mio. GM.291 1922 entfielen nur noch 13,7 Prozent der Kreditumsätze auf Länder und Gemeinden.292 Der (Re-) Diskont von Reichsschatzanweisungen stellte während des größten Teils des Untersuchungszeitraums bei Weitem die quantitativ bedeutendste Form des Reichsbankkredits dar. Umgekehrt spiegelte sich in diesem Ankauf die schwebende Reichsschuld wider. Spätestens seit Beginn des Hindenburgprogramms im August 1916 gelang es dem Reich nicht mehr, seine kurzfristig auf diesem Wege vorfinanzierten Verschuldung durch Anleihen zu konsolidieren.293 Die an sich für die Zeit nach dem Krieg geplante Umwandlung von Reichsschatzanweisungen unterblieb aus mehreren Gründen. Zunächst war das Reich angesichts seiner hohen Zinsbelastung und der bestehenden Zinsunterschiede selbst 291 Im ersten Quartal des Jahres 1923 beliefen sich die Beträge auf 39 Mio. GM (Januar), 131 Mio. GM (Februar) und 231 Mio. GM (März). Dies entsprach zwischen 13 und 15 Prozent des gesamten Notenbankkredites – gegenüber regelmäßig über 20 Prozent seit Oktober 1914 und über 30 Prozent zwischen April 1917 und April 1921. Feldman stellt dagegen – m. E. unzutreffend – für die Zeit zwischen Dezember 1922 und März 1923 fest: „Even without this specific credit, however, it is manifest that the loan bureaus were playing the kind of major role in the credit market they had not played since the war.“ Vgl. Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 585. 292 Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 143*. 293 Vgl. zur Finanzpolitik des Reiches 1914–1918, insbesondere zur marktmäßigen Finanzierung Walter Lotz, Die deutsche Staatswirtschaft im Kriege. Stuttgart 1927, S. 30–41. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 181 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 24: Kredite der Darlehenskassen 1913–23 (in Mio. GM) 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53. nicht mehr an derartigen Aktionen interessiert.294 Ab 1921 tilgte die Regierung sogar per saldo ihre Anleihen, indem sie diese bei bestimmten Steuern zum Nominalwert an Zahlung statt entgegennahm.295 Nach dem Krieg war zudem die Attraktivität neuer Reichsanleihen so gering, dass die Regierung nach der Sparprämienanleihe von Anfang 1920, die lediglich 1,82 Mrd. M (= 118 Mio. GM) in bar erbrachte, bis zur Zwangsanleihe vom Juli 1922 keinen Versuch der Unterbringung einer langfristigen Schuldverschreibung mehr machte.296 Der Ankauf von Reichsschatzanweisungen durch die Reichsbank erreichte in der Spitze 15 Mrd. GM. Reichsschatzanweisungen vereinigten mit wenigen Ausnahmen einen Anteil von mehr als 50 Prozent des Notenbankkredits auf sich. Dennoch finanzierte die Reichsbank kaum 15 Prozent der Kriegskosten, da sie während des Krieges im 294 Im Sommer 1919 veranschlagte der Finanzminister seinen Finanzbedarf für das laufende Rechnungsjahr auf 17,5 Mrd. M, wovon allein zehn Milliarden Mark auf Zinszahlungen entfielen. Die „Fundierung“ der Reichsschuld hätte eine noch stärkere Ausweitung dieser Position bedeutet: Bei Kursen zwischen 77,5 und 80 Prozent für die fünfprozentige Kriegsanleihe wären neue Reichsanleihen nur mit einer 6½-prozentigen Ausstattung unterzubringen gewesen. Demgegenüber kostete die Diskontierung von Reichsschatzanweisungen bei der Reichsbank nur fünf Prozent, die (quantitativ unbedeutende) Unterbringung am Geldmarkt sogar nur 41⁄2 bis 45⁄8 Prozent. Vgl. Alfred Lansburgh, Die Politik der Reichsbank und die Reichsschatzanweisungen nach dem Kriege (Schriften des Vereins für Socialpolitik 166). München/Leipzig 1924, S. 24. 295 Ebd. S. 24 f.; Klaus-Dieter Krohn, Helfferich contra Hilferding. Konservative Geldpolitik und soziale Folgen der deutschen Inflation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), S. 62–92, hier S. 67. 296 Lansburgh, Politik (wie Anm. 295), S. 28 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 182 Hartmut Kiehling Durchschnitt rund zwei Drittel der zunächst diskontierten Reichsschatzanweisungen an den Kapitalmarkt weitergegeben hatte.297 Der Verlauf der Bestandsänderungen an Reichsschatzanweisungen bei der Reichsbank und außerhalb lässt zudem Rückschlüsse auf deren Ankauf von Banken zu. In einzelnen Monaten der Kriegs- und Inflationszeit stand einem Rückgang der Schatzanweisungen im Portefeuille der Kreditinstitute in nahezu allen Fällen bis zum Ende des gleichen Monats eine Zunahme des entsprechenden Bestandes der Reichsbank in mindestens der gleichen Höhe gegenüber. Die Reichsbank kaufte diese Papiere also auch ohne förmliche Ankaufszusage unbegrenzt an.298 In den ersten Jahren gab die Reichsbank in dem jeweiligen Folgemonat in einem vergleichbaren Volumen Papiere an das Reich zurück und machte so ihre Schaffung von Zentralbankgeld wieder rückgängig.299 Dies gelang ihr in der ersten Jahreshälfte 1919 und ab Anfang 1921 nicht mehr. Letztmals war die schwebende Reichsschuld im April 1918 gegenüber dem Vormonatsultimo zurückgegangen. Ab 1921 finanzierte die Reichsbank das Reich ohne Einschränkungen über diskontierte Schatzanweisungen. Von Februar bis August 1922 bauten die Banken ihre Bestände an Reichsschatzanweisungen stetig ab. Ihre Abgaben überstiegen die Aufnahmen der Reichsbank in jedem Monat, ohne dass diese noch einmal nach dem alten Schema reagiert hätte. Obwohl die Banken in jedem der nun folgenden Monate bis zum November 1923 per saldo wieder Reichsschatzanweisungen kauften, fielen die absoluten Beträge mit einer Ausnahme300 kaum noch ins Gewicht. Die von manchen Autoren konstruierte Kausalität zwischen einem erhöhten Finanzbedarf des Staates durch den Ruhrkampf und einer Verringerung von Attraktivität und Ankauf von Reichsschatzanweisungen durch die Banken trifft also nicht zu.301 Es lassen sich daher in der Kriegs- und Inflationszeit mehrere Phasen des Ankaufverhaltens der Reichsbank bei Reichsschatzanweisungen unterscheiden, die sich zum großen Teil in den zeitgenössischen Marktkommentaren nachvollziehen lassen.302 Dabei ging die Initiative zum Verkauf der Papiere offensichtlich durchweg von den Kreditinstituten aus.303 Die Zuweisung der Reichsschatzanweisungen im Besitz der Banken zu deren 297 Ebd., S. 32, 37 f. 298 Die Bank 14 (1921), S. 509; Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 199), S. 438; ders.: Großbanken (wie Anm. 192), S. 373 f. 299 Dem Handeln des Reichsbankdirektoriums lagen zwar andere Maßstäbe zugrunde, etwa die „Reichstreue“ und die Einhaltung der Deckungsvorschriften. Die Argumentation dieses Beitrags versteht sich jedoch ex post aus dem Blickwinkel der Frage nach der Liquiditätswirkung des Ankaufverhaltens der Reichsbank. Die erwähnte Neutralisierung von Zentralbankgeld ist für die Frage unerheblich, ob es sich bei den Reichsschatzanweisungen um potenzielle Liquiditätsreserven handelte. Dies ergibt sich aus dem so genannten „Schlepptauproblem“, wonach die Notenbank einem Kreditinstitut dringend benötigte Liquidität nicht verweigern konnte, da sie sonst ein einzelnes, zufällig zu diesem Zeitpunkt auf Zentralbankgeld angewiesenes Institut in die Illiquidität getrieben hätte. Diese Zwangslage der Notenbank konnte kurzfristig eine generell angestrebte Verknappung von Zentralbankgeld verhindern. 300 Im März 1923. 301 Frenkel, Exchange Rate (wie Anm. 33), S. 663. 302 Die Bank 13 (1920), S. 57, 134; 14 (1921), S. 93, 157, 390 f., 449 f., 642; 15 (1922), S. 39 f., 284, 360, 447, 508, 565, 620 f., 678, 743. 303 Insofern unterscheiden sich die Reichsschatzanweisungen grundlegend von den jüngeren deutschen Geldmarktpapieren. Seit dem Februar 1975 gibt die Bundesbank keine Geldmarktpapiere mehr aus, die sie mit einer Ankaufzusage verbindet, die also „in die Geldmarktregulierung der Bundesbank“ einbe- Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 183 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation potenziellen Liquiditätsreserven ist also gerechtfertigt. Eine spätere Neutralisierung der Zuflüsse an Zentralbankgeld ist für diese Einschätzung ohne Bedeutung.304 Abbildung 25: Bestand der Reichsbank an Reichsschatzanweisungen 1913–23 (in Mio. GM) 16.000 14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53. Im Gegensatz zum Ankauf von Reichsschatzanweisungen war der Diskont von Handelswechseln eines der traditionellen Geschäfte der Reichsbank und ihrer Vorgängerinstitute. Die Reichsbank pflegte vor dem Krieg insbesondere den Direktkredit mit Industrie und Handel. Bis in den Herbst 1922 hinein erhöhte sie jedoch die Wechsellinien der Unternehmen gegenüber der Vorkriegszeit nicht, sodass der Wechselankauf der Reichsbank schon allein aus diesem Grund stagnieren musste.305 Lediglich vorübergehend stieg der Wechselankauf in dieser Zeit ab April 1920 an, als die Reichsbank bemüht war, die akute Liquiditätskrise zu überwinden. Um die Jahresmitte ging der Wechselankauf jedoch wieder zurück. Zu einer nachhaltigen Belebung des Wechselverkehrs auf dem freien Markt kam es jedoch nicht. Erst seit Ende April 1922 wurde der Handelswechsel mit einer Laufzeit von drei bis vier Monaten aus Liquiditätsgründen zunehmend üblicher.306 Insofern stellte zogen sind. Seit April 1975 verfügen die Banken über keine derartigen Papiere mehr. Vgl. Karl-Heinz Ketterer/Norbert Kloten, Geldversorgung und Notenbankpolitik, in: Norbert Kloten/Johann Heinrich v. Stein (Hrsg.), Obst/Hintner. Geld-, Bank- und Börsenwesen. Stuttgart 371980, S. 13. Insofern sind die in einzelnen Lehrbüchern vorzufindenden Definitionen der potenziellen Liquiditätsreserven obsolet. 304 Sie entspricht einem ähnlichen Verhalten der Bundesbank etwa bei Devisenmarktinterventionen oder der Ausschüttung des Bundesbankgewinns. 305 Besprechung der Abteilungsleiter des Reichsverbands der Deutschen Industrie vom 6. September 1922, zit. n. Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 589. Danach erfolgte offenbar die Aufweichung der Ankaufsbedingungen. Vgl. ebd., S. 591. 306 Ebd., S. 587. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 184 Hartmut Kiehling das Treffen des Reichsbankdirektoriums mit Vertretern der größten Banken und der Spitzenverbände des Handels und der Industrie vom 22. Juni 1922, bei dem die Notenbank ihren Diskontkredit propagierte,307 nicht die Initialzündung für dessen Renaissance dar. Zeitgenössischen Marktkommentaren zufolge hatten die Banken vor der Jahresmitte 1922 kaum in größerem Ausmaß Handelswechsel bei der Reichsbank eingereicht. Bis in die zweite Jahreshälfte 1922 hinein gab es vielmehr in aller Regel einen (mehr oder weniger gut) funktionierenden Sekundärmarkt für erstklassige Handelswechsel außerhalb der Reichsbank. Solange der Rediskont solcher Papiere aufgrund des Zinsspreads zwischen Reichsbank- und Privatdiskont für die Banken Verluste brachte, hatten sie daher wenig Veranlassung, die Reichsbank in Anspruch zu nehmen. Entscheidend für die Frage, ob Handelswechsel zur potenziellen Bankenliquidität zählten, war jedoch, dass sich die Banken auch hier sicher sein konnten, im Bedarfsfall ohne betragsmäßige Grenze gegen Rediskontierung von Handelswechseln Zentralbankgeld zu erhalten.308 Dass dies der Fall war, zeigten neben expliziten Aussagen von Direktoriumsmitgliedern309 auch das Verhalten der Reichsbank in der Hyperinflation, als die Sekundärmärkte für Handelswechsel zusammenbrachen und der Wechselankauf der Reichsbank seine Grenze eher im Mangel an Material fand als in den zeitweise erfolgten Bremsversuchen der Bank. Erst am 7. April 1924 machte die Reichsbank einen auf Dauer erfolgreichen Versuch, die Kreditvergabe an die Banken zu beschneiden.310 Die Reichsbank veröffentlichte ihre Wechselbestände in ihrem Wochenausweis, differenzierte sie jedoch nicht nach Einreichern.311 Die Bestände der Notenbank sanken seit Kriegsbeginn über lange Zeiträume selbst in Papiermark deutlich ab, so bis Mitte 1919 und von Mitte 1920 bis Ende 1922. 1919 und in den Monaten um die Jahreswende 1921/22 spielte das Diskontgeschäft bei der Reichsbank nahezu keine Rolle. Im Gegensatz dazu propagierte die Reichsbank ihren Diskontkredit nach der Kreditkrise im Juli 1922 zunächst regelrecht,312 sodass sich ihre Ankäufe ab September 1923 auch in Goldmark deutlich erhöhten. Gleichzeitig hielten sich die Geschäftsbanken aus Liquiditätsgründen bei ihrem eigenen Wechselgeschäft zurück und rediskontierten mehr Wechsel bei der Notenbank. Ab Oktober 1922 bemühte sich auch die Reichsbank, ihren Wechselankauf zu reduzieren und die Qualität des Materials zu erhöhen.313 Die Wechselbestände der Reichsbank stagnierten daraufhin in Goldmark und gingen im Januar sogar zurück.314 Mit dem Beginn des Ruhrkampfes und den Versorgungsschwierigkeiten des Winters 1923 gab die Reichsbank diese Politik zunächst auf und deckte den „immer gewaltiger anschwellenden Kreditbedarf“315 zunächst durch ihren Diskontkredit. Am 7. April 1923 verhängte die Reichsbank jedoch 307 Ebd., S. 585. 308 Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15), S. 549. 309 Ausführlich dazu Karl Friedrich, Kreditnot und ihre Bekämpfung, in: Bank-Archiv 21 (1921/22), S. 319–323, hier S. 321. 310 Lansburgh, Bankenwende (wie Anm. 15), S. 265; Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 821–835. 311 Reichsbank, Verwaltungsberichte, versch. Jgge. Hier werden jedoch die Monatsultimowerte verwendet. Vgl. Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42) S. 48–53. 312 So im August und September 1922. Vgl. Die Bank 15 (1922), S. 678, 743. 313 Im November Umlenkung der Kreditnachfrage auf den Lombard, im Dezember Ermahnungen und Ankündigung von Restriktionen. Vgl. Die Bank 16 (1923), S. 34, 102. 314 Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 53. 315 Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 10 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 185 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation bereits wieder Kreditrestriktionen, aus denen sofort ein realer Rückgang ihrer Wechselbestände resultierte. Erst im Herbst 1923 erhöhte sie die Ankäufe real wieder etwas, um die Winterversorgung der städtischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen und lebenswichtigen Betrieben den Kauf von Kohlen zu gestatten.316 Aus dem Unterschied zwischen den Diskontsätzen der Reichsbank und unter Banken ergeben sich Hinweise, inwieweit es für die Banken lohnend war, Wechselmaterial bei der Notenbank einzureichen. Der Diskontsatz am freien Markt für vergleichbares Wechselmaterial war traditionell deutlich niedriger als bei der Reichsbank.317 Der Reichsbankdiskont vom lag 23. Dezember 1914 bis zum 27. Juli 1922 unverändert bei fünf Prozent. Die Zinsdifferenz zum Satz für Privatdiskonten unter Banken betrug während des Ersten Weltkriegs zunächst grob einen Prozentpunkt, sank jedoch 1916 bis 1918 sowie 1922 auf knapp 40 Basispunkte und stieg 1919 bis 1921 auf 1,4 bis 1,8 Prozentpunkte (jeweils Jahresdurchschnitte).318 Nach diesem Indikator war Geld in den Jahren 1916 bis 1918 und 1922 knapper und teuerer als 1915 oder gar 1919 bis 1921. Abbildung 26: Bestand der Reichsbank an Handelswechseln 1913–23 (in Mio. GM) 3.000 2.500 2.000 1.500 1.000 500 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53. Von August 1916 bis Dezember 1918 fand an der Berliner Börse kaum ein Handel mit Privatdiskonten statt. Während der Durchschnittssatz für Privatdiskonten von 1919 bis 1921 durchweg um mehr als einem Prozent unter dem Reichsbankdiskont lag, schrumpfte dieser Zinsunterschied bis zum August 1922 vollständig zusammen und wurde im Oktober sogar negativ. Anhand dieses rückläufigen Zinsunterschieds lässt sich die schrittweise 316 Ebd. 317 Homer, History (wie Anm. 212), S. 264–267. 318 Ebd., S. 467. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 186 Hartmut Kiehling Verschärfung der Liquiditätssituation der Wirtschaft in Ansätzen bereits für den Oktober 1921, deutlich jedoch für die Zeit seit Dezember desselben Jahres ablesen. In den Monaten August und September 1922 lag der Privatdiskontsatz nur noch einen Basispunkt unter dem Reichsbankdiskont und stieg im Oktober sogar darüber hinaus. In den letzten Monaten des Jahres befanden sich die vom Statistischen Reichsamt erhobenen Privatdiskontsätze wieder unter denen des Reichsbankdiskonts.319 Die Sätze für Privatdiskonten sind für die Zeit ab September 1922 immer stärker nach Bonität differenziert. Sie sind deshalb mit Vorsicht zu interpretieren. Gegen Jahresende dünnten sich auch die Umsätze stark aus. Für 1923 liegen noch nicht einmal Taxsätze vor.320 Aus der Literatur ist bekannt, dass sich die Diskontsätze der Banken für das Publikum bereits im Frühjahr 1923 erheblich über denen der Reichsbank bewegten. So verlangten die großen Banken im Februar 1923 einen Diskont zwischen 30 und 50 Prozent,321 die Reichsbank hingegen von zwölf Prozent p. a. Die Frankfurter Bankiervereinigung setzte im Dezember 1923 für nicht wertbeständige (Diskont-) Kredite an erste Adressen täglich 1,5 bis drei Prozent an, für andere mindestens 2,5 bis 3,5 Prozent. Da die Zinsen 1923 täglich einschließlich Zinseszins berechnet wurden,322 entsprachen diese Sätze konformen Jahreszinssätzen zwischen 228 Prozent und 284.000 Prozent.323 Der Diskontsatz der Reichsbank für nicht wertbeständige Kredite betrug gleichzeitig 90 Prozent p. a., sodass die Banken mit Sicherheit in erheblichem Maße eigenes Wechselmaterial rediskontiert haben.324 In der Tatsache, dass die Reichsbank ihre Zinsen erst spät und zögerlich erhöht hat, kam die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Einreichungsvolumina an Reichsschatzanweisungen in keiner Weise zinsreagibel seien. Andererseits wollte die Notenbank die Zinslast des Reiches, die diese aus dem ordentlichen Haushalt bestreiten musste, möglichst niedrig halten. Und schließlich befürchtete die Bank lange Zeit, dass mit einem Anstieg der Leitzinsen die Kurse der Reichs- und Kriegsanleihen unter Druck geraten könnten.325 Erst Mitte Juli 1922 entfiel dieses Motiv mit den starken Kurssteigerungen einiger häufig gehandelter Reichsanleihen,326 die sich bis zur Stabilisierung fortsetzten. Auch der Lombardkredit der Reichsbank diente überwiegend der Direktfinanzierung der Wirtschaft. Die Volumina waren – verglichen mit den übrigen Kreditquellen der Unternehmen – gering, sie erreichten vor dem Ersten Weltkrieg in der Spitze jedoch immer wieder Summen von über 100 Mio. M. Der Lombardkredit der Reichsbank an die Wirtschaft ging seit Kriegsbeginn in dem Maße zurück, wie ihn die damals eingerichteten, organisatorisch mit der Notenbank verbundenen Darlehenskassen übernahmen. Das Resultat waren seit Herbst 1914 ungewöhnlich geringe, bis 1921 immer noch zurückgehende Lombardvolumina der Reichsbank. An Kreditinstitute gewährte die Reichsbank nur in 319 Reichsbank, Reichsbank (wie Anm. 101), S. 91; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 43 (1923), S. 269. 320 Die Bank 15 (1922), S. 808 f.; 16 (1923), S. 33, 101 f. 321 Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 218. 322 Mahrholz, Geldmarkt (wie Anm. 104), S. 710 f. 323 Kruschwitz, Finanzmathematik (wie Anm. 105), S. 33. 324 Diese Entwicklung bahnte sich bereits im zweiten Halbjahr 1922 an. Vgl. Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 209. 325 Pfleiderer, Reichsbank (wie Anm. 107), S. 166 f. 326 Die Bank 15 (1922), S. 673. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 187 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Ausnahmefällen Lombardkredit. Sowohl die Reichsbank als auch die Kreditinstitute sahen ihn als ein Instrument an, das nur in äußerster Bedrängnis zur Verfügung stand. Er machte für die Kreditinstitute auch solange keinen Sinn, wie die Reichsbank den billigeren Diskontkredit unbegrenzt offen hielt und ausreichend reichsbankfähiges Wechselmaterial zur Verfügung stand. Erst als die Notenbank im November 1922 bestrebt war, den zuvor außerordentlich stark beanspruchten Diskontkredit zurückzuführen, gingen die Kreditinstitute etwas mehr in den Lombard.327 Die zum entsprechenden Monatsultimo ausgewiesenen 28,2 Mio. GM waren allerdings im Vergleich zum übrigen Notenbankkredit immer noch zu vernachlässigen. 1923 gab es immer wieder Monate, in denen die Reichsbank vorübergehend für die Darlehenskassen einsprang, deren gesetzliches Kontingent für die Ausgabe von Darlehenskassenscheinen erschöpft war. Ab der Jahresmitte 1923 wurde die Reichsbank darüber hinaus verstärkt für die Kreditversorgung des besetzten Gebietes in Anspruch genommen. Im Zuge dessen schuf die Bank „im Zusammenwirken mit dem Reichswirtschaftsministerium und den von ihm zur Milderung der Wirtschaftsnöte des Rhein- und Ruhrgebietes geschaffenen Organen […] ein Notlombardverfahren zur Beleihung von Waren gegen Sicherungsübereignung.“328 Man kann also davon ausgehen, dass auch 1923 hauptsächlich Nichtbanken den Lombardkredit der Reichsbank in Anspruch nahmen. Andererseits war der Anreiz zur Lombardierung 1923 durchaus vorhanden, sofern der Rediskont nicht (mehr) in Frage kam, lagen doch die Zinssätze für den Lombardkredit der Reichsbank seit Februar 1923 unter denen für Tagesgeld und blieben seit der Jahresmitte weit hinter diesen zurück. Abbildung 27: Lombardkredit der Reichsbank 1913–23 (zum Monatsende in Mio. GM) 1.000 100 10 1 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53. 327 Die Bank 16 (1923), S. 109. 328 Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 12. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 188 Hartmut Kiehling Aus der Entwicklung der Anteile der einzelnen Kreditarten am Notenbankkredit lassen sich weitere Schlussfolgerungen ziehen. Während der Lombardkredit der Reichsbank die gesamte Kriegs- und Inflationszeit hindurch relativ unbedeutend war, galt dies für ihren (Re-) Diskont von Handelswechseln nicht durchgehend. Auf ihn entfiel 1915 und 1916 ein Anteil von rund zehn Prozent. Er wies zudem Mitte 1920 und vor allem von Mitte 1922 bis Mitte 1923 eine deutliche Belebung auf. Die Anteile der beiden bedeutendsten Formen des Notenbankkredits, des Diskonts von Reichsschatzanweisungen und der Kredite der Darlehenskassen, bewegten sich von Anfang 1915 bis Mitte 1922 spiegelbildlich – sowohl hinsichtlich der Trends als auch der Monatsbewegungen. Dies wird wohl als Hinweis gedeutet werden müssen, dass diese Arten des Notenbankkredits einander wechselweise ersetzten – in erster Linie vermutlich bei der Staatsfinanzierung. Dagegen ist der überproportionale relative Rückgang des Diskonts von Reichsschatzanweisungen durch die Reichsbank in der zweiten Jahreshälfte 1922 mit einiger Sicherheit eine Reaktion der Notenbank auf die gleichzeitige Wiederbelebung des Diskonts von Handelswechseln. Jedenfalls ergänzen sich jetzt diese beiden Arten des Notenbankkredits recht gut auf rund 90 Prozent und machen auch absolut eine Scherenbewegung zueinander.329 Die Reichsbank hat also parallel zu den Wechselankäufen den Anteil ihres Staatskredits zurückgenommen – eine Bewegung, die sich in der ersten Phase des Ruhrkampfes bis zum Juli 1923 in ihr Gegenteil verkehrte. Dies galt im Großen und Ganzen auch für die absoluten realen Veränderungen von Monat zu Monat.330 Die bereits von Cagan und später von Sargent und Wallace vertretene Ansicht, dass der Inflationsprozess in Hyperinflationen fast ausschließlich über die Finanzierung staatlicher Budgetdefizite durch die Notenbank alimentiert wird, entsprach also von Mai 1922 bis Januar 1923 nicht der deutschen Realität.331 Dieser Zusammenhang galt erst wieder in den Monaten des Ruhrkampfes von Februar bis September 1923. Dabei hat Jacobs – im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Hyperinflationen des 20. Jahrhunderts – sogar statistisch nachweisen können, dass der deutsche Staat im Zeitablauf eine immer höhere Inflationssteuer eingeplant hatte.332 Stellt man die Kredite und liquiditätswirksamen Gold- und Devisentransaktionen der Reichsbank333 den Einlagen bei ihr gegenüber, so erhält man ein Bild von der Entwicklung der Nettofinanzierung von Staat und Wirtschaft durch die Notenbank, die in der Kriegszeit wesentlich gleichmäßiger verlief als die Entwicklung der Kredite und Einlagen, die jeweils rund um die Zeichnungstermine der Kriegsanleihen Ausreißer aufweisen. Aufschlussreich ist auch der Verlauf in der Zeit höchster Liquidität von Dezember 1917 bis 329 Der Anteil des Staates an der Kreditgewährung der Darlehenskassen schrumpfte gleichzeitig. Vgl. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1922, S. 4. 330 Insofern ist Feldmans Bemerkung, „the [Reichs-]bank was approaching the limits of what a central bank of issue could or should do to support the private economy“, bezogen auf das zweite Halbjahr 1922, zu kategorisch. Vgl. Feldman, Disorder (wie Anm. 103), S. 591; s. ferner weiter unten die Überlegungen zur Nettofinanzierung der Wirtschaft. 331 Cagan, Dynamics (wie Anm. 20), S. 88–91; Sargent/Wallace, Expectations (wie Anm. 283), S. 333– 338. 332 Jacobs, Hyperinflation (wie Anm. 91), S. 297 f. 333 Liquiditätswirksam waren in Deutschland solche Käufe und Verkäufe von Gold und Devisen, bei denen sich die Menge an umlaufenden Reichsbanknoten veränderte. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 189 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 28: Anteile am Notenbankkredit (Reichsbank und Darlehenskassen) 1913–23 (in Prozent des gesamten Notenbankkredits) 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 Diskont von Reichsschatzanweisungen Kredite der Darlehenskassen Diskont von Handelswechseln 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Lombardkredit der Reichsbank Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53; eigene Berechnungen. Juni 1919 mit den dazugehörigen Auf- und Abstiegen, die jeweils wesentlich ausgeprägter ausfielen als bei den bisher untersuchten Zeitreihen. Der höchste Finanzierungsbeitrag der Reichsbank wurde im Januar 1919 mit 15,8 Mrd. GM erreicht. Interessant ist wiederum die Entwicklung in den letzten Jahren der Inflation. So ging die Nettofinanzierung durch die Reichsbank bereits in den Monaten September und Oktober 1921 von gut vier auf rund zwei Milliarden GM zurück. Dabei war der Rückgang – obgleich er die Entwicklung des Dollarkurses fast exakt nachvollzog – im Wesentlichen auf eine verringerte Kreditgewährung, weniger auf Einlagenabzüge zurückzuführen. Nach einer mehr oder weniger konstanten Phase reduzierte sich die Nettofinanzierung in den Monaten Juli und August 1922 auf 623 Mio. GM und erreichte im Januar 1923 mit 200 Mio. GM einen absoluten Tiefpunkt. Im März 1923 stieg dieser Wert noch einmal kurzzeitig auf über eine Milliarde GM. Mit Ausnahme des Septembers war die Nettofinanzierung der Volkswirtschaft durch die Reichsbank im zweiten Halbjahr 1923 durchweg negativ. Die Einlagen waren also höher als die Kredite (im weiteren Sinne). Setzt man – ausgehend von den oben genannten Jahresabschlusswerten – den Anteil der privaten Wirtschaft an den Krediten der Darlehenskassen ab der Jahresmitte 1922 mit 30 Prozent an, kann man für die Zeit der Hyperinflation mit einiger Wahrscheinlichkeit den Verlauf der Nettofinanzierung des privaten Sektors durch die Reichsbank rekonstruieren. Dieser Anteil erreichte lediglich in den Monaten zwischen November 1922 und März 1923 außerordentlich hohe Werte. Die Spitze lag im Januar 1923 bei zwölf Prozent. Bis zum September 1922 und zwischen Juni und Oktober 1923 ergaben sich nach dieser Rechnung sogar negative Werte. Die Einlagen der privaten Wirtschaft waren demnach also höher als ihre Kredite. Selbst wenn man die Kredite der Darlehenskassen in dieser Zeit vollständig zurechnet, haben Ban- Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 190 Hartmut Kiehling ken und Unternehmen der Reichsbank jeweils am Ende der Monate August bis Oktober 1923 per saldo Kredit gewährt (in Höhe von 74 bis 120 Mio. GM). Von einer extremen Liquiditätsknappheit, wie sie in der Literatur zum Teil erwähnt wird,334 kann also für diese Zeit keine Rede sein. Abbildung 29: Nettofinanzierung von Staat und Wirtschaft durch die Reichsbank* 1913–23 (in Mio. GM) 18.000 16.000 14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 -2.000 * Kredite der Reichsbank und der Darlehenskassen minus Einlagen bei der Reichsbank plus/minus Liquiditätswirkungen aus dem Goldverkehr. Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 48–53; eigene Berechnungen. Die Entwicklung, die zur Liquiditätskrise Mitte 1922 führte, wurde zunächst eingeleitet durch den realen Rückgang des Notenbankkredits (ab April 1921, insbesondere der Kredite der Darlehenskassen) und Einlagenabzüge des breiten inländischen Publikums in einzelnen Monaten. Ab September 1921 folgten massenhafte Abzüge von Geldern aus dem Ausland. XI. Die Geldbasis Die Geldbasis setzt sich zusammen aus dem Bargeld und den Notenbankguthaben der Privaten. In der ergänzten monetären Basis ist zudem die potenzielle Bankenliquidität enthalten. Dabei muss man die gewährten Lombardkredite abziehen, da die zu diesem Zweck verpfändeten Papiere weiterhin auf der Aktivseite der Bilanzen der Kreditnehmer stehen blieben. Die entsprechenden Zahlen kann man aus den Statistiken der Reichsbank 334 Laursen/Pedersen, Inflation (wie Anm. 52), S. 21. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 191 entnehmen. Sie lassen jedoch keine Aufteilung in Banken und Nichtbanken zu. Noten und Lombardkredit der Privatnotenbanken waren in der fraglichen Zeit zu unbedeutend, als dass sie berücksichtigt werden müssten. Der Jahresendbestand an Lombardkrediten der Darlehenskassen an nicht staatliche Stellen wird abgezogen. Bei der Berechnung wird unterstellt, dass sich die Verteilung der Kreditnehmer beim Jahresendbestand nicht signifikant von derjenigen bei den Kreditausreichungen des Gesamtjahres unterscheidet. Die Zahlen sind bis Mitte 1922 vergleichsweise gut gesichert. Ab diesem Zeitpunkt, vor allem aber für das Jahr 1923, wurden jedoch im inländischen Bargeldumlauf die nur sehr ungenau bekannten Volumina an Notgeld, Geldsurrogaten und ausländischer Währung immer wichtiger.335 Es wird deshalb im Folgenden der Versuch unternommen, diese Bestandteile der Geldbasis annähernd zu beziffern. In der Literatur wird ein Betrag von zwei bis drei Milliarden GM an Banknoten aus Hartwährungsländern genannt, die in Deutschland trotz einer strengen Devisengesetzgebung in Umlauf waren.336 Setzt man zudem das Volumen der als Zahlungsmittel verwandten wertbeständigen Anleihen mit gut 100 Mio. GM an, so gab es im deutschen Barzahlungsverkehr Ende 1923 Zahlungsmittel in Höhe von insgesamt 3,5 bis fünf Milliarden GM. Hinzu kam noch gut eine Milliarde Rentenmark. Zu Beginn der Stabilisierung Mitte November 1923 dürften es zwischen drei und 4,5 Mrd. GM gewesen sein. Die Entwicklung im Jahresverlauf ist wesentlich schwieriger einzuschätzen. Allerdings ergeben sich aus den Emissionszeitpunkten wichtiger Anleihen Hinweise, daneben liegen vereinzelt brauchbare Anhaltspunkte in der Literatur vor. Aus diesen lässt sich insgesamt schließen, dass der größte Teil der Emissionstätigkeit in der letzten Beschleunigungsphase der Inflation fiel. So wurden Reichsgoldanleihen, Goldpfandbriefe, Goldzertifikate, kleingestückelte wertbeständige Anleihen der Länder, wertbeständiges und nicht wertbeständiges Notgeld, ob nun genehmigt oder nicht, zumindest weit überwiegend erst im Spätsommer und Herbst 1923 ausgegeben. Ausländische Geldscheine gewannen allmählich ab März 1923 Bedeutung und auch die ersten Dollarschatzanweisungen des Reiches stammten aus demselben Monat.337 Die Ausgabe wertbeständiger Anleihen seit Dezember 1922 fiel demgegenüber wohl weniger ins Gewicht. Vernachlässigt man die sehr schwer abschätzbaren ausländischen Zahlungsmittel, so war der Stückgeldumlauf zumindest bis Mitte 1923 weit überwiegend durch ordentliche Papiermarkzahlungsmittel bestimmt. Notgeld und Geldsurrogate wurden also erst in der letzten Phase der Hyperinflation bedeutsam, und nicht zuletzt nach der Stabilisierung, als der Zahlungsverkehr zunächst mit zu wenig Rentenmark auskommen musste. Sowohl die Geldbasis als auch die ergänzte monetäre Basis wiesen von 1913 bis 1923 einen Verlauf auf, wie er ähnlich bereits aus der Auswertung anderer Zeitreihen bekannt ist: mit dem Höhepunkt 1918, einem starken Rückgang 1919 und dem absoluten Tiefpunkt 335 Die Volumina der Notgeldperioden der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit sind bekannt, da die Reichsbank jeweils Aufstellungen veröffentlicht hat. Danach wurden unmittelbar nach Kriegsausbruch 8,5 Mio. M, ab Dezember 1916 67 Mio. M (rund 50 Mio. GM) und im letzten Quartal 1918 2,0 Mrd. M (rund 1,1 Mrd. GM) emittiert. Vgl. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1919, S. 5–8. 336 Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 310. 337 Das Zeichnungsergebnis betrug zunächst allerdings nur 18 Mio. US-Dollar. Vgl. Bente, Währungspolitik (wie Anm. 2), S. 139*. Prion spricht sogar lediglich von 12,5 Mio. US-Dollar, die nachträglich mit Hilfe der Banken auf 25 Mio. US-Dollar erhöht wurden. Vgl. Prion, Kreditpolitik (wie Anm. 184), S. 119. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 192 Hartmut Kiehling Abbildung 30: Geldbasis 1913–25 (zum Jahresultimo in Mio. GM) 40.000 35.000 ergänzte monetäre Basis 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 Geldbasis 5.000 0 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 45–53; Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. 1922. Die Geldbasis nahm ihren Ausgang 1913 bei 7,4 Mrd. GM, die ergänzte monetäre Basis bei 14,2 Mrd. GM. Die jeweiligen Höhepunkte 1918 lagen bei 24,5 Mrd. GM und 38,9 Mrd. GM, die Tiefpunkte 1922 bei 1,1 Mrd. GM und 1,5 Mrd. GM. Die Veränderungsraten wechselten von Jahr zu Jahr. Die Geldbasis nahm 1914 bereits um ein Drittel zu, stagnierte im Folgejahr und erhöhte sich 1917 um nahezu 60 Prozent. 1919 und 1922 folgten jeweils reale Rückgänge um drei Viertel, 1921 von gut 40 Prozent, während die Geldbasis 1920 fast unverändert blieb. Die ergänzte monetäre Basis zeigte zwar grundsätzlich das gleiche Verlaufsschema, die Zuwächse fielen jedoch geringer, die Abnahme jeweils etwas höher aus. Bis Ende 1923 erfolgte ein Wiederaufbau der genannten Geldmengenaggregate, der jedoch ausschließlich auf die Geldbasis zurückging. Damit hatte die ergänzte monetäre Basis, die 1913 nahezu doppelt so groß war wie die Geldbasis und bis 1921 relativ zur Geldbasis nur leicht zurückging, diese Ende 1923 nahezu erreicht. Zieht man den Lombardkredit der Reichsbank ab, so waren die potenziellen Liquiditätsreserven der Wirtschaft nahezu dahingeschmolzen. Im Gegensatz zur erweiterten monetären Basis kann man bei der Geldbasis über die Jahreswerte hinaus in aller Regel auch verlässliche Monatswerte errechnen. Dabei stellt sich heraus, dass die Endstände der Jahre 1919 bis 1922 im Jahresverlauf jeweils sehr niedrig lagen und damit keinesfalls repräsentativ für das Gesamtjahr waren. Der Abbau der Geldbasis begann 1921 im Juli, also einen Monat später als bei den Postscheckeinlagen. Im November 1921 war bereits ein Stand erreicht, der erst wieder im Juli 1922 eintreten sollte. Bemerkenswert in dieser Phase war der kontinuierliche Rückgang bis zum November 1922 bzw. – nach nur kurzzeitig höheren Werten – bis zum Januar 1923, als mit 311 Mio. GM ein absolutes Minimum erreicht wurde. Diese Entwicklung hat mit Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 193 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 31: Geldbasis und ihre Zusammensetzung 1913–23 (in Mio. GM) 25.000 20.000 Reichsbankeinlagen der Privaten 15.000 10.000 5.000 Bargeld (incl. Notgeld) 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 45–53; eigene Berechnungen. Sicherheit auch im Spätsommer und Herbst 1923 die Kreditgewährung durch die Banken und die Wirtschaftstätigkeit im Allgemeinen weiter gebremst – und damit zu einer Zeit, als die Reichsbank bereits bestrebt war, durch die Forcierung des Rediskonts von Handelswechseln zusätzliche Liquidität zu schaffen. Bemerkenswert war zudem, dass die Summe aus umlaufenden Reichsbanknoten und -guthaben von Mai bis Juli 1922 real deutlich langsamer stieg als die aus dem Reichsbankkredit und den Beleihungen des Goldbestandes. Im Juni 1922 machte diese Differenz 120,6 Mio. GM aus. Die Gegenposition in der Notenbankbilanz fand sich im Wesentlichen in einer Abnahme der sonstigen Aktiva, zum Teil aber auch in einer Zunahme der sonstigen Passiva. Die Notenbank hat also gerade in einer Zeit der Liquiditätsknappheit in großem Umfang Vermögenswerte verkauft, Verbindlichkeiten erhöht und so die Geldbasis verringert. Insgesamt zeigt sich in den Jahren der offenen Inflation ein Schema, das Cagan bereits 1956 für sieben Nachkriegsinflationen des 20. Jahrhunderts aufgezeigt hat: Die realen Volumina der Geldbestände sanken per saldo deutlich. Das Preisniveau stieg also schneller als die nominale Geldmenge, gleichgültig welche Bezugsgröße man für die Bereinigung verwendet. Diese Bewegung setzte sich – jedenfalls was die Papiergeldvolumina anging – bis zur Stabilisierung fort. So sandte die Reichsbank zwischen April und September durch liquiditätswirksame Gold- und Devisentransaktionen kontinuierlich restriktive Impulse aus.338 Die monatlichen Fluktuationen waren jedoch erheblich. Sie gingen in erster Linie 338 344 Mio. GM bei einer Kreditgewährung von 1,18 Mrd. GM. Vgl. Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 6 f. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 194 Hartmut Kiehling auf sprunghafte Änderungen der Geldnachfrage zurück, wie sie im Hortungsverhalten der Wirtschaftssubjekte zum Ausdruck kamen.339 Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man die wertbeständigen Zahlungsmittel einbezieht. Danach erholten sich die Volumina der in Deutschland verwandten Zahlungsmittel bereits im ersten Halbjahr 1923, besonders aber seit der Jahresmitte. Sicher ist, dass der Umlauf wertbeständiger Zahlungsmittel spürbar zunahm. Er lässt sich jedoch gerade im zweiten Halbjahr nicht mit Sicherheit rekonstruieren. Die Extremwerte der für vorliegende Untersuchung unternommenen Schätzung differieren im zweiten Halbjahr je nach Monat um 20 bis 30 Prozent. Sie belaufen sich im dritten Quartal auf 300 bis 800 Mio. GM, im vierten Quartal auf 1,1 bis 1,7 Mrd. GM. Das Gewicht des Bargeldes in der Geldbasis stieg zuletzt schon allein dadurch deutlich an, dass die Reichsbank keine Einzahlung wertbeständigen Notgeldes zuließ.340 Der betreffende Anteil wies im Verlauf der Kriegs- und Inflationszeit mit einer kurzen Unterbrechung zwei klare Trends auf. Von 1913 bis 1917/18 ging der Satz stetig von 93,2 auf 78 Prozent zurück. Ab 1919 nahm er dann wieder zu. Eine Ausnahme bildete das Jahr 1922, als die Probleme der Reichsbank, genügend Noten zu drucken, kurzzeitig für eine Gegenbewegung sorgten. Dennoch stieg in der Zeit der offenen Inflation das Gewicht des unbaren Zahlungsverkehrs im Verhältnis zum Bargeldumlauf deutlich an. Im Jahr 1922 beschleunigte sich diese Entwicklung noch. Dies ist Ausdruck einer immer höheren Umschlagshäufigkeit der im bargeldlosen Zahlungsverkehr verwandten Gelder. Seit Februar 1923 kehrte sich diese Entwicklung bis zur Stabilisierung dramatisch um – ausweislich des Verhältnisses zwischen Abrechnungs- und Bargeldvolumina. Nun brach der unbare Zahlungsverkehr allein schon wegen der nochmals gestiegenen Inflationsraten und der nicht mehr zu bewältigenden mengen- und ziffernmäßigen Anforderungen zusammen. Die Reichsbank beschränkte daraufhin die Einlieferungsfristen, schrieb Mindestbeträge vor, erhob Sondergebühren für Eilaufträge und schloss zeitweilig einzelne stark belastete Zweiganstalten, um Rückstände aufarbeiten zu können. Da die privaten Banken ihre Provisionen jedoch gerade 1923 in schneller Folge erhöhten, wanderten viele Kunden zur Reichsbank ab. Je größer die Verspätungen im Überweisungsverkehr aufgrund der massenhaften Einlieferungen wurden, desto mehr gingen die Wirtschaftssubjekte dazu über, sich über ihre Reichsbankguthaben Schecks bestätigen zu lassen, diese per Boten zu versenden und bei der Reichsbankzweiganstalt des Zielortes vorzulegen.341 Das Volumen der schwebenden Verrechnungen aus dem Zahlungsverkehr, also der so genannte „Float“ der privaten Banken und ihre Kreditschöpfungsmöglichkeiten daraus, ging in der Folge gegen Null.342 Der Abbau der Geldbasis begann im Juli 1921 und erreichte im November 1921 bereits einen sehr tiefen Stand. Die Geldbasis ging 1922 in der zweiten Jahreshälfte mit einer kurzen Unterbrechung im November 1922 bis zum Januar 1923 kontinuierlich zurück. Sie hat damit im Spätsommer und Herbst 1923 die Kreditgewährung durch die Banken und die Wirtschaftstätigkeit ganz allgemein weiter gebremst, während die Reichsbank 339 Cagan führte diese Nachfrageänderung auf vergangene Preissprünge zurück, sodass in seinem Modell die Geldnachfrage durch die aktuelle Geldmenge und einen exponentiell gewichteten Durchschnitt vergangener Preisänderungsraten bestimmt wird. Vgl. Cagan, Dynamics (wie Anm. 20), S. 86–91. 340 Reichsbank, Verwaltungsbericht 1923, S. 16. 341 Ebd., S. 17. 342 Steffan, Vereinsbank (wie Anm. 106), S. 187. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 195 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation Abbildung 32: Gewicht des unbaren Zahlungsverkehrs 1913–23 (Abrechnungsvolumina und Postscheckumsätze in Prozent des Bargeldumlaufs) 400 350 300 250 200 150 Abrechnung 100 50 Postscheck 1923 1922 1921 1920 1919 1918 1917 1916 1915 1914 1913 0 Quelle: Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 45–49, 52 ff.; eigene Berechnungen. gleichzeitig bestrebt war, durch den Rediskont von Handelswechseln zusätzliche Liquidität zu schaffen. Die Geldbasis stieg von Mai bis Juli 1922 real deutlich langsamer als die aus Reichsbankkredit und Beleihungen des Goldbestandes, da die Notenbank in großem Umfang Vermögenswerte verkauft und Verbindlichkeiten erhöht verringert hat. Bereits im ersten Halbjahr 1923, besonders aber seit der Jahresmitte erholten sich die Volumina der in Deutschland verwandten Zahlungsmittel. Dies lag weniger an der Geldschöpfung der Reichsbank, die zwischen April und September kontinuierlich durch liquiditätswirksame Gold- und Devisentransaktionen restriktive Impulse aussandte. Vielmehr nahm der Umlauf wertbeständiger Zahlungsmittel spürbar zu. In den Monaten August bis Oktober 1923 trat eine Entspannung der Liquiditätslage der gesamten Wirtschaft ein. Mit Ausnahme des Septembers war die Nettofinanzierung der Volkswirtschaft durch die Reichsbank im zweiten Halbjahr 1923 durchweg negativ. Dies galt in besonderem Maße und bereits etwas früher (ab Juni) für die Nettofinanzierung des privaten Sektors durch die Reichsbank. Die Entspannung der Liquiditätslage schlug sich darüber hinaus in hohen Einzahlungsüberschüssen des Publikums auf seine Sparkonten nieder. XII. Die Kreditschöpfung der Banken Die vom Bankensystem, also von den Geschäfts- und Notenbanken, ausgereichten Kreditvolumina sanken von 1913 bis 1916 trotz eines stetig steigenden Notenbankkredits343 343 Beim Notenbankkredit ist kein getrennter Ausweis des Direktkredits möglich. Insofern kommt es bei der Kreditsumme des gesamten Bankensystems zu Doppelzählungen. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 196 Hartmut Kiehling um rund fünf Prozent. Die Kreditsumme der Institute ging im gleichen Zeitraum um rund 22 Prozent zurück. Einzig 1917 kam es unter dem Anlagedruck der um mehr als die Hälfte gestiegen Bankenliquidität zu einem Aufbau des Kreditvolumens um 16 Prozent (einschließlich Notenbankkredit 26 Prozent). Bereits 1918 und 1919 erfolgte trotz weiter steigender Geldbasis ein Rückgang um insgesamt 85 Prozent und in den drei Folgejahren um weitere 92 Prozent. In der zweiten Periode konnte auch der Notenbankkredit dieser Entwicklung nicht mehr entgegenwirken. Er trug erst 1923 erneut weit überproportional zur nun wieder lebhafteren Kreditausreichung der Kreditinstitute bei. Schließt man außer dem Notenbankkredit auch den der Finanzintermediäre344 aus und konzentriert sich allein auf diejenigen Volumina, bei deren Refinanzierung die Einlagen der Nichtbanken eine entscheidende Rolle spielen und die von der Kreditangebotstheorie erfasst werden, so verlief die Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges noch gedämpfter. Der Rückgang bis 1916 maß rund 38 Prozent, die Steigerung im Jahr darauf nur noch knapp sieben Prozent, während die beiden Schrumpfungsperioden prozentual ähnlich starke Abschläge brachten wie bei den Kreditinstituten insgesamt. Hier schlug sich in den ersten beiden Kriegsjahren die deutlich positivere Entwicklung nieder, die der Absatz von Pfandbriefen und Kommunalobligationen gegenüber den Einlagen der Nichtbanken nahm.345 Abbildung 33: Kreditvolumen 1913–25 (zum Jahresultimo in Mio. GM/RM) 60.000 50.000 Kreditvolumen der Kreditinstitute (ohne Hypothekenbankgeschäft) Kreditvolumen der Kreditinstitute 40.000 Kreditvolumen des Bankensystems 30.000 20.000 10.000 0 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; eigene Berechnungen. 344 Realkreditinstitute (Hypothekenbanken, Land-, Stadt- und Ritterschaften sowie öffentlich-rechtliche Realkreditinstitute), Zwecksparunternehmen (insbesondere Bausparkassen), Versicherungen, bestimmte Fondsgesellschaften etc. 345 Achterberg, Hypothekenbank (wie Anm. 127), passim. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 197 Der Notenbankkredit entwickelte sich zeitweise etwas anders als einige der bisher behandelten Größen. Zunächst hatten die Einlagen der Nichtbanken noch einen zeitlichen Vorlauf vor wichtigen anderen Zeitreihen, die geeignet sind, Teilaspekte der Bankenliquidität abzubilden. So lag der höchste Stand der Postscheck- und Spareinlagen in den Monaten April bzw. Mai 1918. Die betreffenden realen Volumina sanken im weiteren Jahresverlauf bereits stark ab, während der Notenbankkredit (September 1918 bis Januar 1919), die Reichsbankeinlagen (September 1918)346 und die Geldbasis (September bis Dezember 1918) erst in der zweiten Jahreshälfte ihre jeweiligen Höchststände erreichten. Bereits der Tiefpunkt im Februar 1920 nach dem Absturz 1918/19 war allen anderen Zeitreihen gemeinsam. Das Gleiche galt für das Zwischenhoch im Mai/Juni 1920, die Schrumpfungsphase von Juni 1921 bis November 1921 sowie die absoluten Tiefstände im November 1922 und Januar 1923. Das letzte Jahr der Inflationszeit bedeutete dagegen das Ende dieses Gleichlaufs. Die immer mehr differierende Entwicklung der Geldbasis im Jahr 1923 zeichnet das Bild einer zunehmend auf der Grundlage des Barzahlungsverkehrs arbeitenden Volkswirtschaft, während die Wirtschaftssubjekte weniger liquide Anlagen scheuten und Reichsbank sowie Geschäftsbanken zudem wertbeständige Konten nur sehr zögerlich einführten. Allerdings geht der genannte Gleichlauf zu Teilen auf die Entwicklung des Dollarkurses zurück. Bezieht man Indikatoren ein, deren Werte nicht unmittelbar vom Dollarkurs beeinflusst wurden, so ergeben sich zwar gewisse zeitliche Verschiebungen, nicht aber ein grundsätzlich anderes Bild. Relativ zu den Abrechnungsvolumina hatten die Reichsbankeinlagen der Privaten im März und April 1919 ihren höchsten Stand. Das Gleiche galt für die Postscheckumsätze im Verhältnis zu den Postscheckguthaben.347 Dagegen wurde der Höhepunkt der Liquiditätsschwemme ausweislich des Privatdiskontsatzes erst in den Monaten Juli und August 1919 erreicht. Ähnlich verliefen andere markante Marktphasen, ohne dass jedoch aus einem immer wieder gleichen Ablauf Hinweise auf bestimmte Wirkungszusammenhänge erkennbar wären. Die Werte für die genannten Tiefpunkte streuen zwischen November 1919 und März 1920, Oktober 1921 und Januar 1922 sowie September und Oktober 1922. Ein Vergleich der Entwicklungen der Kreditgewährung348 mit denjenigen der wichtigsten Einflussfaktoren, soweit sie in den Kreditschöpfungsmultiplikatoren des Kapitels III eine Rolle spielen, gibt weitere Aufschlüsse. Von 1914 bis 1920 stieg die Kreditgewährung durchgehend weniger stark als die Geldbasis (bzw. die ergänzte monetäre Basis). Von allen betrachteten Jahren zeigte nur das Jahr 1921 ein gegenteiliges Bild. Dämpfend auf die Kreditgewährung wirkte jedoch in den meisten Jahren die Neigung der Wirtschaftssubjekte, immer größere Teile ihrer Anlagen liquide zu halten. Dies galt etwa für die Liquiditätsquote,349 die mit Ausnahme des Jahres 1921 restriktiv wirkte und 1922 und vor allem 1923 sprunghaft anstieg. Auch der Zeitdepositenkoeffizient als ein Maß für 346 Der betreffende Spitzenwert ging allerdings auf die Gutschrift der Gegenwerte für die 9. Kriegsanleihe in Höhe von 10,4 Mrd. M (= 6,65 Mrd. GM) zurück. Vgl. Elster, Mark (wie Anm. 7), S. 90. Zwischen März und Dezember 1918 bewegten sich die Reichsbankeinlagen auf dem hohen Niveau von rund 4,5 Mrd. GM. 347 Februar und April 1919. 348 Ohne die Kredite der Notenbanken und Finanzintermediäre. 349 S. die Definitionen in Kapitel I. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 198 Hartmut Kiehling die Liquiditätsneigung des Publikums hatte mit Ausnahme des Jahres 1918 einen ständig negativen Effekt auf die Kreditvergabe. Er wirkte vor allem 1922 stark dämpfend ein. In der Kriegszeit und während der ersten Hälfte der Inflation waren jedoch nicht alle Einflussfaktoren der Kreditschöpfung hinderlich. So war der Reservesatz bis 1918 neutral, derjenige der Großbanken von 1915 bis 1921 sogar eher förderlich. Dagegen wirkten Reservesatz, Liquiditätsquote und Geldmarktzins 1922, vor allem aber 1923 nur noch in Richtung einer weiteren Reduktion des Spielraums für die Kreditschöpfung. Abbildung 34: Kennzahlen der Kreditschöpfung 1913–25 (relative Entwicklung zum Kreditvolumen, 1913 = 100) 1.000.000 100.000 10.000 Zeitdepositenquotient Liquiditätsquote Geldmarktzins Geldbasis 1.000 100 10 1 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 Quelle: Deutsche Bundesbank, Geld- und Bankwesen (wie Anm. 9); Lansburgh, Großbanken (wie Anm. 15, 138, 192, 199, 211), passim; Holtfrerich, Inflation (wie Anm. 51), S. 56; Statistisches Reichsamt, Zahlen (wie Anm. 42), S. 45–53; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 43 (1923), S. 269; eigene Berechnungen. Von Bedeutung ist auch die relative Entwicklung der Kreditgewährung350 zu derjenigen ihrer wichtigsten Einflussfaktoren. Danach hielt die expansive Wirkung der Entwicklung von Geldbasis und ergänzter monetärer Basis in nahezu der gesamten Kriegs- und Inflationszeit an, während Gleiches auch für den restriktiven Einfluss der Liquiditätshaltung galt, wie sie in oben genannten Kennzahlen zum Ausdruck kam. Davon weichen nur wenige Ausnahmen ab. So signalisierten der 1917 relativ zurückfallende Zeitdepositenkoeffizient und Geldmarktzins351 einen erhöhten Kreditschöpfungsspielraum, während die Geldbasis lebhaft stieg und der Reservesatz sowie die Liquiditätsquote nicht signifikant zunahmen. Umgekehrt fiel die Geldbasis 1919 relativ zurück, sämtliche Liquiditätskennzahlen legten jedoch weit überproportional zu. Selbst ohne den gleichzeitigen Markverfall wären daher die Kreditvolumina real vermutlich dramatisch zurückgegangen. Auch 1921 blieb die Geldbasis 350 Ohne die Kredite der Notenbanken und Finanzintermediäre. 351 Letzterer wurde allerdings künstlich niedrig gehalten. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 199 hinter dem Kreditvolumen zurück – dieses Mal jedoch ohne eine ausgeprägte Änderung des Verhaltens der Marktteilnehmer und ohne dramatische Auswirkungen. 1922 gingen von der Geldmengenentwicklung zwar wieder starke Impulse aus, die weit überproportional gesteigerte Liquiditätshaltung der Wirtschaftssubjekte überwog jedoch noch einmal. Im letzten Inflationsjahr kam es einerseits zu einer weit überproportionalen Steigerung des Geldmarktzinses. Andererseits erfuhr wohl auch die Geldbasis eine relativ starke Ausweitung und sowohl der Zeitdepositenquotient als auch die Liquiditätsquote blieben relativ zurück. Das Ergebnis war zum ersten Mal seit 1917 eine reale Ausweitung des Kreditvolumens. Die Kreditschöpfungsmöglichkeiten der Banken waren während des gesamten Kriegsund Inflationszeitraums durch die zunehmende Liquiditätshaltung der Einleger wie der Banken selbst gebremst. Ein Nachlassen dieser Faktoren führte 1917 kurzzeitig zu einer realen Expansion des Kreditvolumens. Während die Geldmengenentwicklung – ausgelöst durch den Notenbankkredit – zunächst noch Impulse gab, wirkte auch sie von 1919 bis 1921 eher bremsend. Dies führte im Verein mit der weiter zunehmenden Liquiditätsneigung der Wirtschaftssubjekte Jahr für Jahr zu einem realen Rückgang des Kredits. Bis Anfang 1920 verdichtete sich der Rückgang der Liquidität von Banken und Kunden zu einer Liquiditätsknappheit, die in einen Run mündete. Die Reichsbank reagierte darauf unter anderem durch eine Wiederbelebung ihres Diskonts von Handelswechseln. Erst 1923 bewirkten eine real erneut wachsende Geldbasis zusammen mit einer nicht mehr weiter zu steigernden Liquiditätsneigung der Wirtschaftssubjekte erstmals wieder eine reale Kreditsteigerung. Hinsichtlich der Entwicklung des Jahres 1923 werden die Nachteile des hier gewählten Verfahrens deutlich. Für die Bestimmung der Geldmenge, aber auch für die Rekonstruktion der Bilanzdaten oder der Aufteilung der Einlagen nach Fristigkeiten sind zum Teil Schätzungen nötig gewesen. Die verwendeten Bilanzdaten unterliegen jedoch den unterschiedlichsten Manipulationen. Da ausschließlich Jahresendstände in die Analyse einbezogen werden konnten und die einzelnen Größen durch äußerst unterschiedliche Reaktionsgeschwindigkeiten gekennzeichnet waren, konnten zudem Stichtagszufälligkeiten nicht ausbleiben. So ist der Geldmarktzins sehr reagibel, das Kreditvolumen kurzfristig jedoch nicht.352 Andererseits liegen für wichtige Teilaspekte auch monatliche Daten vor, die der Relativierung dienen können. Außerdem ist das zuletzt gewählte Verfahren gerade unter der Voraussetzung sinnvoll, dass das Kreditvolumen langsamer reagiert als seine Einflussfaktoren. So mag diese Skizze als ein Versuch verstanden werden, einen Prozess plausibel zu machen und zusammenzufassen, der sich in seiner Vielschichtigkeit und mangels geeigneter Daten und Maßstäbe ansonsten einer zusammenfassenden quantitativen Analyse in starkem Maße entzieht. XIII. Zusammenfassung der Ergebnisse Seit Kriegsbeginn bildeten die einschlägigen Zeitreihen (Einlagen, Bankenliquidität, Notenbankkredit, Geldbasis etc.) eine real stetig wachsende Liquiditätsversorgung der 352 Hier spielten vereinbarte Laufzeiten bestehender Kredite sowie selbst in der Hyperinflation Usancen und Kreditzusagen aufgrund gewachsener Kundenbeziehungen eine Rolle. Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 200 Hartmut Kiehling Volkswirtschaft ab, bis in den Jahren 1917 und 1918 die absolute Spitze erreicht war. Die liquiden Mittel wurden 1919 in einem großen krisenhaften Schritt insbesondere durch den Verfall der Mark, aber auch durch Einlagenabzüge und Kapitalflucht weitgehend abgebaut. Im ersten Halbjahr 1920 kam es aufgrund einer etwas lebhafteren Ausreichung von Notenbankkrediten und spekulativer Zuflüsse von Auslandsgeldern zu einer Erholung auf niedrigerem Niveau. Im Sommer 1921 bildete sich zunächst der Notenbankkredit wieder zurück und in einzelnen Monaten kam es zu Einlagenabzügen der Inländer, ab Herbst 1921 auch zum breiten Rückzug der Auslandsgelder. Die Entwicklung setzte sich fort und mündete im Sommer und Herbst 1922 in eine krisenhafte Zuspitzung der Liquiditätssituation. Die Liquiditätskrise 1921/22 wurde zunächst eingeleitet durch den realen Rückgang des Notenbankkredits (ab April 1921 insbesondere der Kredite der Darlehenskassen) und Einlagenabzüge des breiten inländischen Publikums in einzelnen Monaten. Ab September 1921 folgten massenhafte Abzüge von Geldern aus dem Ausland. Die Liquiditätsausstattung der Aktienkreditbanken ging ab August 1921 nachhaltig zurück. Ihre Talsohle war im April 1922 bereits nahezu erreicht. Diese Entwicklung stimmte bis Mitte 1922 gut mit der Liquiditätslage des breiten Publikums überein. Im Gegensatz zu dieser verbesserte sich die Liquiditätsausstattung der Aktienkreditbanken – und wohl nur ihre – ab August 1922 wieder, was auf eine deutliche Zurückhaltung dieser Institute in ihrer Kreditgewährung und die Investition der betreffenden Gelder in wertbeständige liquide Mittel schließen lässt. Ausweislich der außerhalb der Reichsbank platzierten Reichsschatzanweisungen war der Kreditschöpfungsspielraum der Banken in den Monaten August, Oktober und November 1922 sowie Januar 1923 besonders niedrig. In den Monaten August bis Oktober 1923 trat eine Entspannung der Liquiditätslage der gesamten Wirtschaft ein. Dies lag zum Teil an den seit August/September 1923 erstmals in größerem Maße emittierten wertbeständigen Zahlungsmitteln. Mit Ausnahme des Septembers war die Nettofinanzierung der Volkswirtschaft durch die Reichsbank im zweiten Halbjahr 1923 durchweg negativ. Dies galt in besonderem Maße und bereits etwas früher für die Nettofinanzierung des privaten Sektors durch die Reichsbank. Die von den Kreditinstituten eingeräumten Kredite entwickelten sich während des gesamten Untersuchungszeitraumes aufgrund einer immer mehr zunehmenden Liquiditätsneigung der Wirtschaftssubjekte schlechter als diejenigen Größen, die die Liquidität abbildeten. Die Kreditvolumina gingen sogar (mit Ausnahme von 1917) in jedem Jahr zurück. Nachdem das Kreditschöpfungspotenzial im Spätsommer 1922 nahezu auf Null gesunken war und die Aktienkreditbanken in der Folge nicht bereit waren, die geringen verbliebenen Kreditspielräume zu nutzen, übernahm die Reichsbank einen Teil dieser Aufgabe. Erst in der letzten Phase der Hyperinflation stieg der Notenbankkredit nicht mehr in dem Ausmaß, wie es für die Erhaltung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit notwendig gewesen wäre. In dieser Phase schufen sich die Wirtschaftssubjekte einerseits durch die Emission wertbeständiger Zahlungsmittel selbst die notwendige Liquidität, andererseits reichten die Banken nun wieder etwas mehr Kredit aus. Das Jahr 1923 war typisch für die Haltung und Politik der Reichsbank. Ihr Handeln war weniger von einem einheitlichen geldpolitischen Willen geprägt, sondern folgte mehreren Prinzipien, die einander im Einzelfall durchaus widersprechen konnten. Darunter war die gefühlte Verpflichtung am Wichtigsten, den politischen Leitlinien der Reichspo- Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010 Die Geldpolitik der Reichsbank in der Großen Inflation 201 litik zu folgen und den grundlegenden Interessen des Reiches nicht zuwider zu handeln („Reichstreue“). Sie spiegelte sich wider in der Bereitschaft, die Reichsregierung dort durch (direkten oder indirekten) Notenbankkredit zu finanzieren, wo es für diese keine Alternative gab. Das war im Februar und März 1923 im beginnenden Ruhrkampf der Fall. Andererseits scheute die Reichsbank die unbeschränkte Kreditvergabe an die Banken. So verhängte sie bereits Anfang April erste Kreditrestriktionen, aus denen sofort ein realer Rückgang ihrer Wechselbestände resultierte – wenn sie auch weiterhin Liquiditätsengpässe beseitigte und de facto zur Finanzierung des Ruhrkampfes beitrug. Selbst 1923 versuchte die Reichsbank lange Zeit, formal an Prinzipien festzuhalten, die moderate Teuerungsraten voraussetzten. Dazu gehörte das so genannte „Mark-gleich-Markt-Prinzip“. So kaufte die Reichsbank erst sehr spät auf Goldmark, also letztendlich auf Dollar lautende Handelswechsel an. Auch ihre Zinsen erhöhte die Bank nur sehr zögerlich. Das galt besonders für den Diskont von Reichsschatzanweisungen, bei dem sich die Reichsbank letztendlich erst zu deutlichen Zinserhöhungen entschied, als die Kurse einiger wichtiger Reichsanleihen Mitte Juli 1923 emporschossen und damit in dieser Hinsicht keine Rücksichtnahme auf das Reich mehr geboten war. Die Politik der Reichsbank schwankte also keineswegs von Mal zu Mal zwischen wechselnden Maximen. Sie richtete sich vielmehr dauerhaft an klar definierten Aufgaben und Grundsätzen aus und entschied lediglich von Mal zu Mal, welchem von ihnen Vorrang zukäme – neben der „Reichstreue“ eine ausreichende Liquiditätsversorgung der Wirtschaft sowie „geordnete Verhältnissen“ an den Finanzmärkten, zu denen auch moderate Zinssätze zählten. (Dr. Hartmut Kiehling, Associate Professor of Finance, German University in Cairo, und Gastprofessor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität zu Köln, c/o Astallerstraße 6, D-80339 München) Urheberrechtlich geschütztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010