462e Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen

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Anthony A. Amato, Robert H. Brown, Jr.
462e
Muskeldystrophien und andere
Muskelerkrankungen
Für die deutsche Ausgabe Kerstin Irlbacher
Die meisten Muskelerkrankungen verursachen eine persistierende
Schwäche (Abb. 462e-2). In den meisten dieser Fälle, einschließlich
der häufigsten Typen der Muskeldystrophie, der Polymyositis und der
Dermatomyositis, ist die mimische Muskulatur ausgespart, sind die
Paresen symmetrisch verteilt und die proximalen Muskeln schwerer
als die distalen betroffen. Diese Verteilung wird als gliedergürtelförmig
bezeichnet. Bei anderen Verteilungsmustern der Paresen ist die Differenzialdiagnose eingeschränkter. Eine Schwäche der mimischen Muskulatur mit Schwierigkeiten beim Augenschluss und beim Lächeln sowie eine Scapula alata (Abb. 462e-3) sind charakteristisch für eine fazioskapulohumerale Muskeldystrophie. Eine Schwäche der mimischen Muskulatur und der distalen Extremitäten mit Myotonie beim
Faustschluss und Perkussionsmyotonie der Zunge und der Handmuskulatur ist nahezu pathognomonisch für eine myotone Dystrophie
Typ 1. Eine Schwäche der von anderen Hirnnerven versorgten Muskeln, einschließlich Ptose oder extraokuläre Muskelparesen, deutet
auf Erkrankungen der motorischen Endplatte (auch als Erkrankungen der neuromuskulären Übertragung bezeichnet), eine okulopharyngeale Muskeldystrophie, mitochondriale Myopathien oder einige
der kongenitalen Myopathien (Tab. 462e-1) hin. Ein pathognomonisches Verteilungsmuster für die sporadische Einschlusskörperchenmyositis besteht aus einer Atrophie und Schwäche der Unterarmbeuger (z. B. Handgelenk- und Fingerbeuger) und des M. quadriceps femoris, die oft asymmetrisch ist. Seltener, aber diagnostisch bedeutsam, ist das Vorliegen eines Dropped-head-Syndroms, das auf eine
selektive Muskelschwäche der Halsstrecker hinweist. Die häufigsten
neuromuskulären Erkrankungen, die dieses Muster von Paresen verursachen, sind die Myasthenia gravis, die amyotrophe Lateralsklerose,
die Nemalin-Myopathie mit später Manifestation, der Hyperparathyreoidismus, die fokale Myositis und manche Formen der Einschlusskörpermyopathie. Ein Verteilungsmuster mit überwiegend distaler
Manifestation der Paresen ist typisch für eine Sonderform der Muskeldystrophien, die distalen Myopathien.
Skelettmuskelerkrankungen oder Myopathien sind Erkrankungen mit
strukturellen Veränderungen oder funktionellen Beeinträchtigungen
der Muskulatur. Sie unterscheiden sich von neuromuskulären Erkrankungen (z. B. Erkrankungen des zweiten Motoneurons oder der motorischen Endplatte) durch charakteristische körperliche und apparative Befunde.
Die Myasthenia gravis und verwandte Erkrankungen werden in
Kapitel 461 besprochen, die Dermatomyositis, Polymyositis und
Einschlusskörperchenmyositis in Kapitel 388.
KLINISCHES BILD
Die meisten Myopathien gehen mit einer proximalen, symmetrischen
Schwäche der Extremitäten (Arme oder Beine) mit erhaltenen Reflexen und Sensibilität einher. Gelegentlich ist aber auch eine asymmetrische und/oder überwiegend distale Schwäche möglich. Ein begleitender Sensibilitätsverlust weist eher auf eine Schädigung der peripheren Nerven oder des Zentralnervensystems (ZNS) hin als auf eine
Myopathie. Gelegentlich können Krankheiten, welche die Zellkörper
des Motoneurons im Rückenmark (Erkrankung der Vorderhornzellen), die motorische Endplatte oder die peripheren Nerven betreffen,
Befunde einer Myopathie imitieren.
& MUSKELSCHWÄCHE
Die Symptome der Muskelschwäche können entweder intermittierend
oder persistierend auftreten. Krankheiten, die mit einer intermittierenden Schwäche verbunden sind (Abb. 462e-1), umfassen die Myasthenia gravis, hypo- oder hyperkaliämische periodische Paralysen
und die Paramyotonia congenita, metabolische Defekte der Glykolyse,
insbesondere den Myophosphorylasemangel, und Defekte der Fettsäureverwertung (Carnitin-Palmityl-Transferase-Mangel und manche
mitochondriale Myopathien). Der Energiemangel verursacht einen
belastungsabhängigen Muskelzerfall mit Myoglobulinurie, kenntlich
an dem hell- bis dunkelbraunen Urin.
Intermittierende Schwäche
Myoglobinurie
Ja
Nein
Variable Schwäche, inkl. EOM, Ptosis,
bulbäre und Extremitätenmuskeln
Beschwerdefreie Intervalle, während der
Attacken Schwäche proximal > distal
EKG
AChR- oder MuskAntikörper-positiv
Ja
Nein
Erworbene
seropositive MG
Abnahme bei der wiederholten
Nervenstimulation mit 2–3 Hz
(RNS) oder vermehrtes Zittern
beim Einzelfaser-EMG (SFEMG)
Thorax-CT auf
Thymom überprüfen
Beschwerdefreie Intervalle, während der
Attacken Schwäche proximal > distal
Ja
Lambert-Eatonmyasthenes Syndrom
Überprüfen:
* Genetische
Spannungsabhängiger
Testung
Kalziumkanal
(Kap. 461)
Abs
** Wenn Abs, RNS,
Thorax-CT auf
SFEMG normal
Lungenkarzinom
oder negativ sind
Abnormal
Normal
Untersuchung auf
Dysmorphien
Gentestung auf
Anderson-Tawil-Syndrom
Myotonie
Nein
Erwägen:
Seronegative MG
Kongenitale MG*
Psychosomatische
Schwäche**
Nein
Unterarmbelastungstest
Ja
Laktatanstieg reduziert:
glykolytischen Defekt
ausschließen
Niedriges
Serumkalium
Normales oder
erhöhtes Serumkalium
Hypokaliämische
PP
Hyperkaliämische PP
Paramyotonia congenita
Normaler Laktatanstieg:
CPT-Mangel und andere
Störungen des
Fettsäurestoffwechsels
ausschließen
Muskelbiopsie zum
Defektnachweis
DNS-Analyse bestätigt Diagnose
Abbildung 462e-1 Diagnostisches Vorgehen bei intermittierender Schwäche. AChR-Ak = Acetylcholinrezeptor-Antikörper; CPT = Carnitin-Palmityl-Transferase; EOM = extraokuläre Muskeln; MG = Myasthenia gravis; MS = myasthene Syndrome; Musk-Ak = muskelspezifische Rezeptortyrosinkinase-Ak; PP = periodische Paralyse.
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462e-1
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
Klinisches Muster der Muskelschwäche
Paresen
proximal > distal
PM, DM, Muskeldystrophien,
mitochondriale
und metabolische
Myopathien,
toxische,
endokrine
Myopathien
Ptosis, EOMParesen
OPMD,
mitochondriale Myopathie;
myotubuläre
Myopathie
Mimische
Schwäche und
Scapula alata
FSHD
Mimische, distale,
Quadricepsschwäche, Faustschluss-Myotonie
Myotone Dystrophie
Proximale und
Distale
distale (FaustSchwäche
griff-)Schwäche, Distale Myopathie
Quadrizepsschwäche
EKM
Dropped-headSyndrom
MG, PM, ALS,
Hyperparathyreoidismus
Myopathisches EMG bestätigt Muskelerkrankung und schließt ALS aus
Repetitive Nervenstimulation weist auf MG hin
CK-Erhöhung spricht für Myopathie
Kann DNS-Analyse zur weiteren Unterscheidung von hereditären Myopathien erforderlich machen
Muskelbiopsie ist hilfreich zur Differenzialdiagnostik vieler Erkrankungen
Abbildung 462e-2 Diagnostisches Vorgehen bei persistierender Muskelschwäche. Die Untersuchung ergibt einen von sieben klinischen Manifestationsschwerpunkten. Zusammen mit den apparativen und Laborbefunden führen sie zur Diagnose. ALS = amyotrophe Lateralsklerose; CK = Kreatinkinase; DM = Dermatomyositis; EKM = Einschlusskörperchenmyositis; EOM = extraokuläre Muskeln; FSHD = fazioskapulohumerale Muskeldystrophie; MG = Myasthenia gravis; OPMD = okulopharyngeale Muskeldystrophie; PM = Polymyositis.
TABELLE 462e-1 Neuromuskuläre Ursachen der Ptose und
Ophthalmoplegie
Periphere Neuropathie
Guillain-Barré-Syndrom
Miller-Fisher-Syndrom
Erkrankungen der motorischen Endplatte
Botulismus
Lambert-Eaton-Syndrom
Myasthenia gravis
Kongenitale myasthene Syndrome
Myopathie
Mitochondriale Myopathien
Abbildung 462e-3 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie mit prominenter beidseitiger Scapula alata.
Kearns-Sayre-Syndrom
Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie
Okulopharyngeale und okulopharyngodistale Muskeldystrophie
In jedem Fall müssen die funktionellen Fähigkeiten untersucht werden, um bestimmte Paresemuster festzulegen (Tab. 462e-2). Das Gowers-Zeichen (Abb. 462e-4) ist dabei besonders wertvoll. Eine lordotische Stellung infolge einer kombinierten Schwäche von Rumpf- und
Hüftmuskulatur lässt sich besonders deutlich erkennen, wenn der Patient auf Zehenspitzen geht (Abb. 462e-5). Ein Trendelenburg-Zeichen („Watschelgang“) wird durch die Unfähigkeit der Hüftmuskulatur verursacht, das Auf und Ab der Hüften beim Gehen zu kompensieren. Die Hyperextension des Knies (Genu recurvatum oder Hohlknie) ist charakteristisch für die Schwäche des M. quadriceps femoris;
die distale Schwäche wird von einem durch den Fallfuß verursachten
Steppergang begleitet.
Jede Krankheit mit Muskelschwäche wird von Ermüdbarkeit (Fatigue) begleitet, die der Unfähigkeit entspricht, dauerhaft Kraft aufzubringen und aufrechtzuerhalten (auch als schnelle oder pathologische Ermüdbarkeit bezeichnet). Dieses Phänomen muss von einer Asthenie unterschieden werden, einer Art der Kraftlosigkeit durch exzessive Müdigkeit oder Antriebsverlust. Begleitsymptome können
helfen, eine Asthenie von einer pathologischen Ermüdbarkeit zu unterscheiden. Der asthenische Patient vermeidet körperliche Aktivitäten, klagt über Tagesschläfrigkeit, muss häufige „Nickerchen“ machen
und kann sich auf Aktivitäten, wie Lesen, nicht konzentrieren. Oft ist
eine Depression nachweisbar und der Patient klagt über Stress. Daher
ist die Asthenie keine Myopathie. Im Gegensatz dazu tritt eine pathologische Ermüdbarkeit bei Erkrankungen der motorischen Endplatte
sowie bei Krankheiten des Energiestoffwechsels, wie Störungen der
462e-2
Myotone Dystrophie Typ 1 (nur Ptose)
Kongenitale Myopathie
Myotubulär/zentronukleär
Nemalin (nur Ptose)
Hyperthyreose/Basedow-Krankheit (Ophthalmoplegie ohne Ptose)
Hereditäre Einschlusskörperchenmyopathie Typ 3
Glykolyse, des Lipidstoffwechsels oder der mitochondrialen Energiegewinnung, auf. Da bei chronischen Myopathien bestimmte Aufgaben
mit einer geringeren Muskelmasse zu bewältigen sind, tritt auch hier
eine pathologische Ermüdbarkeit auf. Diese geht mit abnormen klinischen oder Laborbefunden einher. Bei einigen Formen der Muskeldystrophien tritt Fatigue besonders häufig auf (z. B. FSHD). Bei Angabe einer verstärkten Ermüdbarkeit der Muskulatur ohne weitere klinische oder paraklinische pathologische Befunde ist eine primäre
Muskelerkrankung nicht wahrscheinlich.
& MUSKELSCHMERZEN (MYALGIEN), -KRÄMPFE UND -STEIFIGKEIT
Muskelschmerzen können bei Krämpfen, Spasmen, Kontrakturen
und steifen oder rigiden Muskeln auftreten. Davon zu unterscheiden
ist die echte Myalgie, ein anhaltender Muskelschmerz, der lokal oder
generalisiert sein kann und von Schwäche, Druckempfindlichkeit
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
462e
TABELLE 462e-2 Klinische Beobachtungen, die eine Muskelschwäche
aufdecken
Funktionelle Beeinträchtigung
Muskelschwäche
Unfähigkeit, kräftig die Augen zu schließen
Obere mimische Muskeln
Unfähigkeit, die Lippen zu schürzen
Untere mimische Muskeln
Unfähigkeit, den nach vorn gebeugten Kopf
anzuheben
Nackenstrecker
Unfähigkeit, den Kopf im Liegen anzuheben
Nackenbeuger
Unfähigkeit, die Arme über den Kopf zu heben
Proximale Armmuskeln,
Schulter-(blatt-)muskeln
Unfähigkeit, zu gehen, ohne die Knie nach hinten
zu überstrecken (Genu recurvatum)
Kniestrecker
Unfähigkeit, beim Gehen mit den Hacken den
Boden zu berühren (Zehenspitzengang)
Achillessehnenverkürzung
Unfähigkeit, beim Gehen die Füße anzuheben
(Steppergang)
Vordere Unterschenkelmuskeln
Unfähigkeit, zu gehen, ohne zu watscheln (Trendelenburg-Zeichen)
Hüftmuskeln (M. gluteus medius)
Unfähigkeit, sich ohne Abstützen mit den Armen
aus dem Sitzen zu erheben
Hüftmuskeln (M. iliopsoas)
Unfähigkeit, sich ohne Unterstützung durch Arme
aus dem Liegen aufzurichten und/oder Verschiebung des Bauchnabels bei dem Versuch nach
kranial (Beevor-Zeichen)
Untere Bauchmuskulatur
TABELLE 462e-3 Arzneimittel und Drogen, die eine echte Myalgie
auslösen können
Cimetidin
Kokain
Ciclosporin
Danazol
Emetin
ε-Aminocapronsäure
Gold
Abbildung 462e-4 Gowers-Zeichen eines Patienten, der mit seinen Armen an den
Beinen hochklettert, um vom Boden aufzustehen.
Heroin
Labetalol
Methadon
D-Penicillamin
Statine und andere Cholesterinsenker
L-Tryptophan
Zidovudin
oder Schwellungen begleitet werden kann. Bestimmte Substanzen
(Drogen, Medikamente) können eine echte Myalgie auslösen (Tab.
462e-3).
Es gibt zwei wichtige Zustände, die mit einer schmerzhaften Muskulatur einhergehen, ohne dass sie mit einer Muskelschwäche verbunden sind. Die Fibromyalgie ist ein häufiges, jedoch kaum verstandenes
myofasziales Schmerzsyndrom. Die Patienten klagen über schwere
Muskelschmerzen und -empfindlichkeit mit schmerzhaften Triggerpunkten, Schlafstörungen und rascher Erschöpfbarkeit. Serum-Kreatinkinase (CK), Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG), Elektromyogramm (EMG) und Muskelbiopsie sind normal (Kap. 396). Die Polymyalgia rheumatica tritt hauptsächlich bei Patienten über 50 Jahren
auf und ist charakterisiert durch Steifigkeit und Schmerzen in Schulter, Kreuz, Hüften und Oberschenkeln (Kap. 385). Die BSG ist erhöht, Serum-CK, EMG und Muskelbiopsie zeigen einen Normalbefund. Die Arteriitis temporalis ist eine Entzündung der mittleren und
großen Arterien mit Beteiligung eines oder mehrerer Äste der Karotiden und kann mit einer Polymyalgia rheumatica verbunden sein. Typisch sind hierbei belastungsabhängige Schmerzen in der Kaumuskulatur (Claudicatio masticatoria). Durch eine ischämische Optikusneu-
Abbildung 462e-5 Lordotische Haltung, verstärkt durch den Zehenstand, verbunden
mit Rumpf- und Hüftschwäche.
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462e-3
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
ritis droht Visusverlust. Glukokortikoide lindern die myalgischen
Symptome und können den Visusverlust verhindern.
Lokale Muskelschmerzen haben oft traumatische Ursachen. Eine
häufige Ursache mit abrupt einsetzendem Schmerz ist eine rupturierte Sehne, die den Muskelbauch im Vergleich zur gesunden Seite runder und kürzer erscheinen lässt. Die Biceps-brachii- und Achillessehne sind besonders rupturempfindlich. Eine Entzündung oder eine
neoplastische Infiltration des Muskels sind eine seltene Ursache für
lokale Muskelschmerzen.
Muskelkrämpfe oder -spasmen sind schmerzhafte, unwillkürliche,
lokale Muskelkontraktionen mit sichtbarer und tastbarer Muskelverhärtung. Die Krämpfe treten abrupt auf, dauern oft nur kurz und
führen zur abnormen Gelenkstellung. Elektromyografisch werden
Entladungen motorischer Einheiten im Sinne einer spontanen neurogenen Aktivität festgestellt. Muskelkrämpfe kommen oft bei neurogenen Erkrankungen, insbesondere bei Motoneuronerkrankungen
(Kap. 452), Radikulopathien und Polyneuropathien (Kap. 459) vor,
sind aber kein Charakteristikum der meisten primären Muskelerkrankungen. Die Muskeldystrophien Typ Duchenne bzw. Becker sind eine
Ausnahme, da häufig Krämpfe im Bereich der Wadenmuskulatur beobachtet werden. Außerdem treten sie auch oft während der Schwangerschaft auf. Differenzialdiagnostisch zu erwähnen ist das MyalgieFaszikulations-Crampus-Syndrom als gutartige Erkrankung mit Zeichen der Übererregbarkeit der Nerven.
Eine Muskelkontraktur muss von einem Muskelkrampf unterschieden werden. In beiden Fällen wird der Muskel hart, wobei die Kontraktur mit einer Störung des Energiestoffwechsels bei Störungen der
Glykolyse einhergeht. Der Muskel ist nicht in der Lage, nach einer aktiven Muskelkontraktion zu erschlaffen. Im Elektromyogramm zeigt
sich eine elektrische Stille. Zur Konfusion trägt bei, dass der Ausdruck
Kontraktur auch für Muskeln verwandt wird, die wegen ihres fibrotischen Umbaus passiv nicht auf ihre richtige Länge gedehnt werden
können (fixierte Kontraktur). Bei einigen Muskelerkrankungen, besonders der Muskeldystrophie Typ Emery-Dreifuss und der Myopathie Typ Bethlem, treten frühzeitig fixierte Kontrakturen auf, die
typisch für diese Erkrankungen sind.
Muskelsteifigkeit kann sich auf verschiedene Phänomene beziehen.
Einige Patienten mit Entzündungen an Gelenken und periartikulären
Oberflächen fühlen sich steif. Dieser Zustand muss von Krankheiten
mit Übererregbarkeit der Motoneurone abgegrenzt werden, die mit
einer steifen oder rigiden Muskulatur einhergehen. Beim Stiff-PersonSyndrom verursachen spontane Entladungen spinaler Motoneurone
unwillkürliche Muskelkontraktionen, vor allem der axialen (Rumpf)
und proximalen Muskelgruppen an den unteren Extremitäten. Der
Gang wird steif und mühsam mit Hyperlordosierung der lumbalen
Wirbelsäule. Als Sonderform kann die Symptomatik in einer Extremität vorliegen (Stiff-limb-Syndrom). Episodische Muskelspasmen
werden durch plötzliche Bewegungen, unerwartete Geräusche und
emotionale Spannungen ausgelöst. Während des Schlafs ist die Muskulatur entspannt. Im Serum lassen sich ungefähr bei zwei Drittel der
Patienten Antikörper gegen Glutamatdecarboxylase nachweisen. Bei
der Neuromyotonie (Isaacs-Syndrom) besteht eine Übererregbarkeit
peripherer Nerven in Form einer kontinuierlichen Muskelfaseraktivität. Dies führt zu einer Myokymie (Gruppen von Faszikulationen, verbunden mit kontinuierlichen Wellenbewegungen der Muskeln) und
zu einer gestörten Muskelentspannung. Die Muskeln der Beine sind
steif und die dauerhafte Muskelkontraktion führt zu einem vermehrten Schwitzen der Extremitäten. Diese Übererregbarkeit peripherer
Nerven wird durch Antikörper gegen spannungsabhängige Kaliumkanäle hervorgerufen. Der Ursprung dieser spontanen Nervenentladungen liegt im distalen Teil des Motoneurons.
Myotonie bezeichnet einen Zustand verlängerter Muskelkontraktionen, gefolgt von einer langsamen Muskelerschlaffung. Sie tritt immer
nach einer Muskelaktivierung (Aktionsmyotonie) auf, gewöhnlich
nach willkürlicher Anspannung, kann aber auch durch eine mechanische Muskelstimulation hervorgerufen werden (Perkussionsmyotonie). Die Myotonie verursacht typischerweise Schwierigkeiten beim
Loslassen festgehaltener Gegenstände. Bei der myotonen Dystrophie
Typ 1 (DM1) wird die Myotonie von einer distalen Muskelschwäche
begleitet, während bei der myotonen Dystrophie Typ 2 (DM2) die
proximalen Muskeln mehr betroffen sind und die Erkrankung deshalb als proximale myotone Myopathie (PROMM) bezeichnet wird.
Eine Myotonie tritt auch bei Myotonia congenita (einer Chloridkanalerkrankung) auf, eine Muskelschwäche ist jedoch hier nicht pro-
462e-4
minent. Eine Myotonie kann auch bei Patienten mit Mutationen in
einem Gen für den Natriumkanal (hyperkaliämische periodische Paralyse oder kaliumsensitive Myotonie) beobachtet werden. Eine andere
Natriumkanalerkrankung, die Paramyotonia congenita, ist auch mit
einer Muskelsteifigkeit verbunden. Im Gegensatz zu anderen mit
Myotonie assoziierten Krankheiten, bei denen die Myotonie durch
wiederholte Muskelkontraktionen nachlässt, tritt bei der Paramyotonia congenita eine paradoxe Zunahme der Myotonie durch wiederholte Muskelkontraktionen auf.
& MUSKELHYPERTROPHIE UND -ATROPHIE
Bei den meisten Myopathien wird das Muskelgewebe durch Fett- und
Bindegewebe ersetzt, ohne dass sich der Muskelumfang in der Regel
verändert. Bei vielen Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp (und
besonders bei Dystrophinopathien) ist jedoch eine Umfangsvergrößerung der Wadenmuskeln typisch. Bei einigen Gliedergürteldystrophien (LGMD 1C, Sarkoglycanopathien, LGMD 2I) entspricht diese
Vergrößerung einer echten Muskelhypertrophie. Die Wadenmuskeln
bleiben sogar in den Spätstadien dieser Erkrankungen sehr stark entwickelt. Der Terminus „Pseudohypertrophie“ sollte in Bezug auf diese
Erkrankungen vermieden werden. Eine echte Wadenhypertrophie
kann auch bei den Dystrophinopathien auftreten, häufig liegt hier
(insbesondere bei dem Typ Duchenne) jedoch eine Pseudohypertrophie der Wade vor. Eine Muskelvergrößerung kann auch durch granulomatöse Infiltration bei einer Sarkoidose, durch Amyloidablagerungen, durch bakterielle oder parasitäre Infektionen oder durch eine
fokale Myositis hervorgerufen werden. Im Gegensatz dazu ist die
Muskelatrophie charakteristisch für andere Myopathien. Bei den Dysferlinopathien (Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp 2B) und
Anoctaminopathien (Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp 2L)
gibt es eine Neigung zur frühen Atrophie der Mm. gastrocnemii, insbesondere des medialen Aspekts. Eine Atrophie der Oberarmmuskulatur (insbesondere des M. biceps brachii bei gut erhaltenem oder sogar hypertrophem M. deltoideus) ist charakteristisch für die fazioskapulohumerale Muskeldystrophie.
APPARATIVE UND LABORDIAGNOSTIK
Zur Evaluation von Muskelerkrankungen steht eine begrenzte Testpalette zur Verfügung. Bei fast allen Patienten sind die Bestimmung von
Serumenzymen und elektrophysiologische Untersuchungen erforderlich, um Muskelerkrankungen von neuromuskulären Erkrankungen
zu unterscheiden. Die anderen, weiter unten beschriebenen Tests –
DNS-Analysen, der Unterarmbelastungstest und die Muskelbiopsie –
dienen zur Diagnostik spezifischer Myopathietypen.
& SERUMENZYME
Kreatinkinase (CK) ist das wichtigste Muskelenzym, das zur Aufdeckung einer Myopathie bestimmt wird. Eine Muskelschädigung
führt zu einem CK-Ausstrom aus der Muskelfaser in das Serum. Das
MM-Isoenzym dominiert im Skelettmuskel, während die CK-MB einen Marker für den Herzmuskel darstellt. Die Serum-CK kann auch
bei Gesunden ohne Provokation erhöht sein, wahrscheinlich auf genetischer Basis oder nach einer anstrengenden Tätigkeit, nach einem
Bagatelltrauma (einschließlich EMG-Nadel), einem länger anhaltenden Muskelkrampf oder einem generalisierten epileptischen Anfall.
Die Aspartat-Aminotransferase (AST), die Alanin-Aminotransferase
(ALT), Aldolase und die Laktatdehydrogenase (LDH) sind Enzyme,
die in Muskel und Leber vorkommen. Probleme entstehen, wenn diese Enzyme im Serum bei einer Routineuntersuchung erhöht sind und
eine Lebererkrankung vortäuschen, während die Ursache tatsächlich
im Muskel liegt. In diesem Zusammenhang spricht eine erhöhte γGlutamyltransferase (γ-GT) für eine Leberaffektion, da dieses Enzym
nicht im Muskel vorkommt. Normale Ck-Werte im Serum schließen
eine Muskelerkrankung nicht aus.
& ELEKTROPHYSIOLOGIE
Elektromyografie (EMG), repetitive Nervenstimulation und neurografische Untersuchungen (Kap. 442e) sind die wesentlichen Methoden
zur Objektivierung einer vermuteten Muskelerkrankung. In der Kombination liefern sie die notwendigen Informationen, um eine Myopathie von einer Neuropathie oder einer Erkrankung der motorischen
Endplatte zu unterscheiden. Die Routine-Neurografie zeigt typischerweise einen Normalbefund bei Myopathien, reduzierte Amplituden
der Muskelsummenaktionspotenziale (Compound Muscle Action Po-
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
TABELLE 462e-4 Erkrankungen mit Nachweis von myotonen
Entladungen im EMG
Myotone Dystrophie Typ 1
Myotone Dystrophie Typ 2/proximale myotone Myopathie (PROMM)
Myotonia congenita
Paramyotonia congenita
Hyperkaliämische periodische Paralyse
Chondrodystrophische Myotonie (Schwartz-Jampel-Syndrom)
Zentronukleäre/myotubuläre Myopathiea
Arzneimittelinduzierta
462e
gewonnen. Die Unterarmmuskeln werden belastet, indem der Patient
eine Minute lang sehr kräftig die Hand öffnet und schließt. Anschließend wird nach 1, 2, 4, 6 und 10 Minuten Blut abgenommen und mit
dem Ausgangswert verglichen. Typisch ist ein drei- bis vierfacher
Laktatanstieg. Die gleichzeitige Messung von Ammoniak dient als
Kontrolle, da es während der Belastung ebenfalls ansteigen sollte. Bei
Patienten mit Myophosphorylasemangel oder einem anderen glykolytischen Defekt fehlt der Laktatanstieg oder ist gering, während der
Ammoniakanstieg normal ist. Bei unzureichender Muskelarbeit steigen weder Laktat noch Ammoniak an. Patienten mit einem selektiven
fehlenden Anstieg von Ammoniak können einen Myoadenylat-Desaminase-Mangel aufweisen, eine vermutliche Ursache einer
Myoglobinurie, wobei der Mangel dieses Enzyms bei asymptomatischen Individuen diese Interpretation infrage stellt.
Cholesterinsenker (Statine, Fibrate)
Ciclosporin
Chloroquin
Glykogenspeichererkrankunga (Pompe-Krankheit, Mangel der Amylo-1,6-Glukosidase [Entzweigungsenzym], Mangel der Amylo-1,4-1,6-Transglukosidase [Verzweigungsenzym])
Myofibrilläre Myopathiena
a
Verbunden mit myotonen Entladungen im EMG, aber ohne klinische Myotonie.
tentials, CMAP) können jedoch in atrophierten Muskeln vorkommen.
Die Nadelelektromyografie kann eine verlängerte Einstichaktivität
aufzeigen, die auf eine nekrotisierende Myopathie (inflammatorische
Myopathien, Dystrophien, toxische Myopathien, myotone Myopathien) hinweist, während eine fehlende oder verminderte Einstichaktivität für lange bestehende Myopathien (Muskeldystrophien, endokrine Myopathien, Inaktivitätsatrophien und viele metabolische Myopathien) charakteristisch ist. Außerdem kann das EMG myotone Entladungen nachweisen, die dazu beitragen, dass die Anzahl anderer
Differenzialdiagnosen eingeschränkt wird (Tab. 462e-4). Ein anderer
wichtiger EMG-Befund ist die Präsenz von kurzen, niedrigamplitudigen, polyphasischen Muskelaktionspotenzialen motorischer Einheiten
(Motor Unit Action Potentials, MUAPs). Solche MUAPs können sowohl bei myogenen (oder myopathischen) als auch bei neurogenen
(oder neuropathischen) Erkrankungen vorkommen; das Rekrutierungsverhalten oder das Entladungsmuster ist jedoch unterschiedlich.
Bei Myopathien entladen die MUAPs vorzeitig, aber mit normaler
Frequenz, um den Verlust an einzelnen Muskelfasern zu kompensieren, während bei neurogenen Erkrankungen die MUAPs schneller
entladen. Das EMG zeigt üblicherweise einen Normalbefund bei Steroidmyopathie oder Inaktivitätsatrophie, von denen beide mit einer
Atrophie der Typ-II-Muskelfasern verbunden sind. Der Grund dafür
ist, dass das EMG überwiegend die physiologische Funktion der TypI-Muskelfasern beurteilt. Daneben ist das EMG von unschätzbarem
Wert bei der Auswahl eines geeigneten Muskels zur Muskelbiopsie,
wobei stets der kontralaterale Muskel biopsiert werden sollte, um eine
Verfälschung des Befundes durch das EMG zu verhindern.
& DNS-ANALYSE
Sie dient heutzutage als ein bedeutendes Hilfsmittel für die endgültige
Diagnosestellung zahlreicher Muskelerkrankungen. Trotzdem unterliegt die zurzeit verfügbare Molekulardiagnostik mehreren Einschränkungen. So weisen bei den Muskeldystrophien Typ Duchenne und
Typ Becker zwei Drittel der Patienten Deletions- oder Duplikationsmutationen im Dystrophingen auf, die leicht entdeckt werden können, während der Rest Punktmutationen hat. Bei Patienten ohne
identifizierbare Gendefekte bleibt die Muskelbiopsie das wichtigste diagnostische Hilfsmittel.
& UNTERARMBELASTUNGSTEST
Bei Myopathien mit intermittierenden Symptomen, vor allem in Verbindung mit einer Myoglobinurie, kann ein Defekt in der Glykolyse
vorliegen. Es gibt viele Varianten in der Durchführung des Unterarmbelastungstests. Zur Sicherheit sollte der Test nicht unter ischämischen Bedingungen durchgeführt werden, um eine unnötige Muskelschädigung mit Rhabdomyolyse zu vermeiden. Der Test wird nach
Legen eines Zugangs in eine Kubitalvene durchgeführt. Für die Bestimmung von Laktat und Ammoniak wird eine Ausgangsblutprobe
& MUSKELBIOPSIE
Die Analyse von Muskelbiopsaten ist ein wichtiger Schritt zur Etablierung einer definitiven Diagnose bei vermuteter Myopathie. Wichtig
ist, die Biopsie aus einem klinisch mäßig betroffenen Muskel zu entnehmen. Häufige Biopsieorte sind der Musculus quadriceps femoris
oder der Musculus biceps brachii bzw. der Musculus deltoideus. Die
Evaluation erfolgt mit mehreren Techniken, wie Lichtmikroskopie,
Histochemie, Immunzytochemie mit einer Palette von Antikörpern
sowie Elektronenmikroskopie. Nicht alle diese Techniken sind im Einzelfall erforderlich. Bei vielen Krankheitsbildern kann eine spezifische
Diagnose gestellt werden. Bei der Polymyositis finden sich endomysiale Entzündungszellen, welche die Muskelfasern umgeben und in sie
eindringen. Bei der Einschlusskörperchenmysositis finden sich ähnliche endomysiale Infiltrate, die mit Muskelfasern assoziiert sind, die
„rimmed vacuoles“ und Amyloidablagerungen aus SMI-31-, p62und TDP-43-positiven Einschlüssen enthalten. Typisch für die Dermatomyositis ist eine perivaskuläre, perimysiale Entzündung mit perifaszikulärfer Atrophie. Außerdem haben die kongenitalen Myopathien charakteristische licht- und elektronenmikroskopische Befunde, die essenziell für die Diagnosestellung sind. Mitochondriale und
metabolische Myopathien (z. B. Glykogen- und Lipidspecherkrankheiten) zeigen auch ein unterschiedliches histochemisches und elektronenmikroskopisches Profil. Das biopsierte Muskelgewebe kann zur
weiterführenden Analyse der metabolischen Enzyme oder der mitochondrialen DNS verschickt werden. Zur Identifikation fehlender
Komponenten im Dystrophin-Glykoprotein-Komplex und verwandter Proteine steht eine Palette von Antikörpern zur Verfügung, die zur
Diagnose spezifischer Formen von Muskeldystrophien beitragen. Die
Western-Blot-Analyse der Muskelproben kann durchgeführt werden,
um festzustellen, ob spezifische Muskelproteine quantitativ reduziert
oder von abnormer Größe sind.
HEREDITÄRE MYOPATHIEN
Der Begriff der Muskeldystrophien bezeichnet eine Gruppe hereditärer, fortschreitender Erkrankungen. Jede Form der Muskeldystrophie
weist einmalige phänotypische und genotypische Besonderheiten auf
(Tab. 462e-5, 462e-6 und 462e-7).
& MUSKELDYSTROPHIE TYP DUCHENNE
Diese X-chromosomal rezessive Erkrankung wird gelegentlich auch
als pseudohypertrophische Muskeldystrophie bezeichnet und hat eine
Inzidenz von etwa 1 auf 5.200 lebend geborene männliche Säuglinge.
Klinisches Bild
Die Muskeldystrophie Typ Duchenne ist von Geburt an vorhanden,
wird aber meistens zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr
symptomatisch. Die Jungen fallen häufig hin und haben Schwierigkeiten, beim Spielen mit ihren Freunden mitzuhalten. Sie haben unterschiedlich ausgeprägte Schwierigkeiten beim Rennen, Springen und
Hüpfen. Bis zum 5. Lebensjahr wird die Muskelschwäche bei der
Kraftprüfung deutlich. Um vom Fußboden aufzustehen, benutzen die
Patienten die Hände, um an sich selbst hochzuklettern (Gowers-Zeichen, Abb. 462e-4). Kontrakturen der Achillessehne und des Tractus
iliotibialis werden bis zum 6. Lebensjahr sichtbar, wenn der Zehenspitzengang nur noch mit lordotischer Rumpfhaltung möglich ist.
Der Verlust der Muskelkraft schreitet unter Betonung der proximalen
Extremitäten und der Halsbeuger voran. Die Beine sind stärker als
die Arme betroffen. Im Alter zwischen 8 und 10 Jahren sind zum Gehen Orthesen erforderlich. Muskelkontrakturen im Bereich der Ge-
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462e-5
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
TABELLE 462e-5 Progressive Muskeldystrophien
Typ
Erbgang Defekte Gene/Proteine
Krankheitsbeginn
Klinisches Bild
Andere beteiligte Organsysteme
Duchenne
XR
Vor dem 5. Lebensjahr
Fortschreitende Schwäche der Gliedergürtelmuskulatur
Kardiomyopathie, Intelligenzminderung
Dystrophin
Unfähig, zu gehen nach dem 12. Lebensjahr
Fortschreitende Kyphoskoliose
Atemversagen in der 2. oder 3. Lebensdekade
Becker
XR
Dystrophin
Frühe Kindheit bis Erwachsenenalter
Fortschreitende Schwäche der Gliedergürtelmuskulatur
Kardiomyopathie
Noch gehfähig nach dem 15. Lebensjahr
Atemversagen kann bis zur 4. Lebensdekade
auftreten
Leichte klinische Präsentation möglich
Gliedergürtel
AD/AR
Mehrere (Tab. 462e-6
und 462e-7)
Frühe Kindheit bis frühes
Erwachsenenalter
Langsam fortschreitende Schwäche der
Schulter- und Beckengürtelmuskulatur
Emery-Dreifuss/
Hauptmann-Thannhauser
XR/AD
Emerin/Lamin A/C,
Nesprin 1, Nesprin 2,
TMEM43
Kindheit bis Erwachsenenalter
Muskelkontrakturen im Bereich von Ellenbo- Kardiomyopathie
gen-, Knie- und Sprunggelenken, Wirbelsäule
(rigid spine), Schwäche der Schulter- und
peronealen Muskulatur
Kongenital
AR
Mehrere
Von Geburt an oder inner- Muskelhypotonie, Muskelkontrakturen,
halb der ersten Monate
verzögerte motorische Entwicklung
Progression bis zum Atemversagen oder
stabiler Verlauf
Myotona (DM1,
DM2)
AD
DM1: große Expansion
einer CTG-Wiederholungssequenz
DM2: große Expansion
einer CCTG-Wiederholungssequenz
Fazioskapulohumeral
AD
Okulopharyngeal
AD
Verkürzte D4Z4-Fragmente auf Chromosom
4q (Expression von
DUX4)
Kindheit bis Erwachsenenalter, evtl. im Säuglingsalter, wenn Mutter
betroffen (nur DM1)
Langsam fortschreitende Schwäche von
Gesicht, Schultergürtel und Fußstreckern
Bei DM2 vor allem proximale Schwäche
± Kardiomyopathie
Pathologische Veränderungen des
ZNS (Hypomyelinisierung, Fehlbildung) und der Augen
Kardiale Reizleitungsstörungen
Intelligenzminderung
Katarakte
Stirnglatze
Gonadenatrophie
Kindheit bis Erwachsenenalter
Kurze Expansion einer
5.–6. Lebensdekade
GCG-Wiederholungssequenz im Gen für PolyA-RNS-Bindungsprotein
Langsam fortschreitende Schwäche von
Gesicht, Schultergürtel und Fußstreckern
Taubheit
Langsam fortschreitende Schwäche extraokulärer, pharyngealer und Extremitätenmuskeln
–
Retinitis exsudativa externa
(Morbus Coats)
a
Zwei Formen der myotonen Dystrophie, die DM1 und die DM2, wurden identifiziert. Viele ihrer Charakteristika überlappen sich (siehe Text).
Abkürzungen: AD = autosomal dominant; AR = autosomal rezessiv; XR = X-chromosomal rezessiv; ZNS = Zentralnervensystem.
lenke und Beeinträchtigung der Hüftbeugung, der Knie-, Ellenbogenund Handstreckung nehmen bei längerem Sitzen zu. Vor dem Einsatz
von Glukokortikoiden waren die meisten Patienten im Alter von
12 Jahren rollstuhlabhängig. Die Kontrakturen werden fixiert, und es
entwickelt sich oft eine fortschreitende Skoliose, die mit Schmerzen
einhergehen kann. Die Brustdeformität infolge der Skoliose beeinträchtigt die Lungenfunktion, die schon durch die Muskelschwäche
vermindert ist. Bis zum 16.–18. Lebensjahr treten schwere, zum Teil
auch tödlich verlaufende pulmonale Infektionen auf. Andere Todesursachen sind Aspirationen und eine akute Gastrektasie.
Eine kardiale Todesursache ist ungewöhnlich, trotz der nachweisbaren Kardiomyopathie bei nahezu allen Patienten. Eine Stauungsherzinsuffizienz tritt selten auf, es sei denn bei starkem Stress, wie bei einer Pneumonie. Auch schwere Herzrhythmusstörungen sind ungewöhnlich. Das typische Elektrokardiogramm zeigt eine Verlängerung
der RS-Strecke in Ableitung V1, tiefe, schmale Q-Wellen in den präkordialen Ableitungen und hohe rechtspräkordiale R-Wellen in V1. Eine Intelligenzminderung ist bei der Muskeldystrophie Typ Duchenne
häufig. Der durchschnittliche Intelligenzquotient (IQ) liegt ungefähr
eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts. Die Einschränkung der intellektuellen Fähigkeiten scheint nicht fortschreitend zu
sein und betrifft die verbale Intelligenz mehr als die praktische.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serumwerte der Kreatinkinase (CK) sind ausnahmslos um das
20- bis 100-Fache über den Normalwert erhöht. Die Werte sind von
Geburt an verändert, sinken jedoch im Krankheitsverlauf wegen der
462e-6
Inaktivität und des Verlusts von Muskelmasse. Das Elektromyogramm (EMG) ergibt das typische Bild einer Myopathie. Die Muskelbiopsie zeigt Muskelfasern verschiedenen Kalibers und kleine Gruppen nekrotischer und regenerierender Fasern. Bindegewebe und Fett
nehmen die Stelle der verlorenen Muskelfasern ein. Die endgültige
Diagnose einer Muskeldystrophie Typ Duchenne kann anhand des
Dystrophinmangels in einer Muskelbiopsie oder durch Mutationsanalysen der DNS, gewonnen von peripheren Blutleukozyten, gesichert
werden, wie weiter unten besprochen wird.
Die Muskeldystrophie Typ Duchenne wird durch die Mutation eines Gens verursacht, das für Dystrophin kodiert, ein 427-kDa-Protein
an der inneren Oberfläche des Sarkolemms. Das Gen für Dystrophin
umfasst mehr als 2000 kb und ist somit eines der größten identifizierten menschlichen Gene. Es befindet sich auf dem kurzen Arm des XChromosoms (Xp21). Die häufigste Genmutation ist eine Deletion.
Die Deletionen sind nicht gleichmäßig über das Gen verteilt, sondern
liegen meistens am Anfang (dem 5’-Ende) und in der Mitte des Gens.
Die Größe der Deletion korreliert nicht mit der Schwere der Krankheit. Die Muskeldystrophie Typ Duchenne kann selten auch durch eine Genduplikation oder eine Punktmutation verursacht sein. Die
Identifikation einer spezifischen Mutation erlaubt eine eindeutige Diagnose, ermöglicht die Erkennung einer potenziellen Konduktorin
der Mutation und ist nützlich für die pränatale Diagnostik.
Die Diagnose der Muskeldystrophie Typ Duchenne kann auch mithilfe eines Western-Blot-Tests der Muskelproben gestellt werden, der
pathologische Veränderungen der Quantität und des Molekulargewichts von Dystrophin aufdeckt. Schließlich kann durch eine immun-
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
462e
TABELLE 462e-6 Autosomal dominante Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp (Limb-girdle Muscular Dystrophy, LGMD)
Krankheit
LGMD1A
Klinische Befunde
Labor- und apparative Befunde
Locus oder Gen
Beginn 2.–4. Lebensdekade
Serum-CK 2 × normal
Myotilin
Schwäche betrifft proximale und distale Muskulatur, Stimmlippen und EMG myopathisch, evtl. mit pseudomotonischen
Pharynxmuskulatur
Entladungen
In der Muskelbiospie Zeichen der MFM
LGMD1B
Beginn 1. oder 2. Lebensdekade
Serum-CK 3–5 × normal
Proximale Beinschwäche und Kardiomyopathie mit Erregungsleitungsstörungen
EMG myopathisch
Lamin A/C
Einige Fälle nicht zu unterscheiden von der Muskeldystrophie Typ
Hauptmann-Thannhauser mit Muskelkontrakturen im Bereich der
Gelenke
LGMD1C
Beginn in früher Kindheit
Serum-CK 4–25 × normal
Proximale Schwäche
EMG myopathisch
Caveolin-3
Gowers-Zeichen, Wadenhypertrophie, Muskelkräuseln (Rippling
muscle)
Belastungsabhängige Muskelkrämpfe
LGMD1D
Beginn 2.–6. Lebensdekade
Serum-CK 2–4 × normal
Proximale und distale Muskelschwäche
EMG myopathisch
DNAJB6
In der Muskelbiospie Zeichen der MFM
LGMD1E
Beginn 1.–6. Lebensdekade
Serum-CK meist normal
Proximale und distale Muskelschwäche, Kardiomyopathie und
Arrhythmien
EMG myopathisch, evtl. mit pseudomotonischen
Entladungen
Desmin
In der Muskelbiospie Zeichen der MFM
LGMD1F
Beginn 1.–6. Lebensdekade
Serum-CK normal bis 20 × normal
Proximale und distale Muskelschwäche
EMG myopathisch
Oft frühzeitig Kontrakturen wie beim Emery-Dreifuss-Syndrom
In der Muskelbiopsie oft vergrößterte Zellkerne mit
zentraler Abblassung, „rimmed vacuoles“ und filamentöse Einschlüsse
TNPO3
Abkürzungen: CK = Kreatinkinase; EMG = Elektromyografie, MFM = myofibrilläre Myopathie; NG = Neurografie.
zytochemische Färbung des Muskels mit Antikörpern gegen Dystrophin ein Fehlen oder ein Mangel an Dystrophin im Sarkolemm nachgewiesen werden. Konduktorinnen der Krankheit können ein Mosaikmuster aufweisen, hierbei ist die Dystrophinanalyse aus der Muskelprobe nicht zuverlässig.
Pathogenese
Dystrophin ist Teil eines großen Komplexes sarkolemmaler Proteine
und Glykoproteine (Abb. 462e-6). Es bindet an seinem Amino-Terminus an F-Aktin und an seinem Carboxyl-Terminus an β-Dystroglykan. Letzteres bildet einen Komplex mit α-Dystroglykan, das in der
extrazellulären Matrix an Laminin gekoppelt ist. Laminin besitzt eine
heterotrimere Molekülstruktur in Form eines Kreuzes mit einer
schweren und zwei leichten Ketten, β1 und γ1. Die schwere Lamininkette wird im Skelettmuskel mit α2 bezeichnet. In der extrazellulären
Matrix befinden sich auch die Kollagenproteine IV und VI. Ebenso
wie β-Dystroglykan binden die transmembranösen Sarkoglykanproteine an Dystrophin. Diese fünf Proteine (α- bis ε-Sarkoglykan) bilden einen festen Komplex miteinander. Kürzlich wurden weitere
Membranproteine gefunden, die locker mit Komponenten des Dystrophinkomplexes verbunden sind und bei Muskeldystrophien eine
Rolle spielen (u. a. Caveolin-3, α7-Integrin und Kollagen VI).
Dystrophin befindet sich auf der zytoplasmatischen Seite der Muskelzellmembran. Es ist an zwei transmembranöse Proteinkomplexe,
den Dystroglykan- und den Sarkoglykankomplex, gebunden. Die
Dystroglykane binden an das extrazelluläre Matrixprotein Merosin,
das mit β1- und α7-Integrin verbunden ist (Tab. 462e-5, 462e-6,
462e-7). Dysferlin bildet einen Komplex mit Caveolin-3 (das an eine
neuronale Nitritoxidsynthase oder nNOS ankoppelt). Es bildet jedoch
keinen Komplex mit den dystrophinassoziierten Proteinen oder den
Integrinen. Bei manchen der kongenitalen Dystrophien und Limbgirdle-Muskeldystrophien (LGMDs) besteht ein Funktionsverlust verschiedener Enzyme, die α-Dystroglycan glykosylieren. Dadurch wird
die korrekte Bindung an Merosin verhindert: POMT1, POMT2,
POMGnT1, Fukutin, Fukutin-related Protein und LARGE.
Extrazellulär
Kollagen VI
Merosin
DystroglykanKomplex
α
δ
β
SarkoglykanKomplex
β
γ α
β1 α7
nNOS
Dystrophin
Calpain
F-Aktin
Caveolin-3
Dysferlin
IntegrinKomplex
Golgi
POMT1
Intrazellulär
POMGnT1
Fukutin
Fukutin-relatedProtein
Abbildung 462e-6 Ausgewählte Muskeldystrophie-assoziierte Proteine in der
Zellmembran und im Golgi-Komplex.
Der Dystrophin-Glykoprotein-Komplex stabilisiert offensichtlich
das Sarkolemm, obwohl die Funktion der Einzelkomponenten des
Komplexes nur unvollständig bekannt ist. Der Mangel einer Untereinheit des Komplexes kann Störungen anderer Komponenten verursachen. So kann ein primärer Dystrophinmangel (Muskeldystrophie
Typ Duchenne) zu einem sekundären Verlust von Sarkoglykanen und
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462e-7
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
TABELLE 462e-7 Autosomal rezessive Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp (Limb-girdle Muscular Dystrophy, LGMD)
Krankheit
Klinische Befunde
Labor- und apparative Befunde
Locus oder Gen
LGMD2A
Beginn 1. oder 2. Lebensdekade
Serum-CK 3–15 × normal
Calpain-3
Scapula alata, keine Wadenhypertrophie, keine kardiale oder respiratorische
Muskelschwäche
NG normal
EMG myopathisch
Proximale und distale Muskelschwäche, evtl. Kontrakturen der Ellenbogen, Handgelenke und Finger
LGMD2B
Beginn 2. oder 3. Lebensdekade
Serum-CK 3–100 × normal
Proximale Muskelschwäche zu Beginn, später distale (Waden) Muskelgruppen
betroffen, subakuter Beginn und Myalgien möglich
EMG myopathisch
Distale Myopathie Typ Miyoshi ist eine Variante von LGMD2B mit Befall der
Wadenmuskulatur zu Beginn
LGMD2C–F
Dysferlin
Entzündung in der Muskelbiopsie kann
Polymyositis simulieren
Beginn in Kindheit bis Jugendalter
Serum-CK 5–100 × normal
Klinisch ähnlich dem Typ Duchenne und Becker
EMG myopathisch
γ-, α-, β-, δ-Sarkoglykane
Beginn mit 10–15 Jahren
Serum-CK 3–17 × normal
Telethonin
Proximale und distale Muskelschwäche
EMG myopathisch
Kardiomyopathie ungewöhnlich
Normale Kognition
LGMD2G
In der Muskelbiopsie oft „rimmed vacuoles“
LGMD2H
LGMD2I
Beginn 1.–3. Lebensdekade
Serum-CK 2–25 × normal
TRIM32-Gen
Proximale Muskelschwäche, leichte demyelinisierende Polyneuropathie kann assoziiert sein
EMG myopathisch
(E3-Ubiquitin-Ligase)
Beginn 1.–3. Lebensdekade
Serum-CK 10–30 × normal
Klinisch ähnlich dem Typ Duchenne oder Becker
EMG myopathisch
Fukutin-relatedProtein
Beginn 1.–3. Lebensdekade
Serum-CK 1,5–2 × normal
Titin
Proximale Beinschwäche
EMG myopathisch
Leichte distale Schwäche (Fußhebung)
In der Muskelbiopsie „rimmed vacuoles“
Oft gehen Kardiomyopathie und respiratorische Insuffizienz einer signifikanten
Schwäche voraus
Normale Kognition
LGMD2Ja
Fortschreitende Schwäche führt zu Gehverlust
LGMD2K
LGMD2L
Beginn meistens im Kleinkindalter als Walker-Warburg-Syndrom, seltener auch im
frühen Erwachsenenalter mit proximaler Schwäche und nur geringer kognitiver
Beeinträchtigung
Serum-CK 10–20 × normal
Beginn in der Kindheit oder im Erwachsenenalter
Serum-CK 50 × normal
Evtl. Atrophie und Myalgie des M. quadriceps, asymmetrischer Beginn
EMG myopathisch
POMT1
EMG myopathisch
Anoctamin 5
Evtl. frühe Beteiligung der Waden in der 2. Lebensdekade, ähnlich einer Myopathie
vom Typ Miyoshi (Dysferlinopathie)
LGMD2M
Beginn meist im Kleinkindalter als kongenitale Muskeldystrophie Typ Fukuyuma oder Serum-CK 10–50 × normal
im frühen Erwachsenenalter mit proximaler Schwäche und nur geringen ZNSEMG myopathisch
Veränderungen
Fukutin
LGMD2N
Beginn meist im Kleinkindalter als Muskel-Auge-Gehirn-Erkrankung oder im frühen Serum-CK 5–20 × normal
Erwachsenenalter mit proximaler Schwäche und nur geringen ZNS-Veränderungen EMG myopathisch
POMGnT1
LGMD2O
Beginn meistens im Kleinkindalter als Walker-Warburg-Syndrom oder im frühen
Erwachsenenalter mit proximaler Schwäche und nur geringen ZNS-Veränderungen
Serum-CK 5–20 × normal
POMT2
LGMD2P
Ein Fall mit Manifestation im Kleinkindalter beschrieben
CK > 10 × normal
LGMD2Q
Beginn in 1.–4. Lebensdekade, proximale Muskelschwäche, oft Ptose und Schwäche CK variable, aber meistens nur leicht erhöht Plectin 1
der extraokulären Muskeln, Epidermolysis bullosa (auch als kongenitales myasthe- EMG myopathisch
nisches Syndrom bezeichnet)
Bei wiederholter Nervenstimulation Abnahme
der Reaktion
LGMD2R
Siehe LGMD1E (Tab. 462e-6)
Siehe LGMD1E
Desmin
LGMD2S
Beginn in 1.–6. Lebensdekade
CK 1,5–20 × normal
TRAPC11
EMG myopathisch
Proximale Muskelschwäche
Häufig Augenveränderungen, Rumpfataxie und Chorea
Leichte bis mittelschwere kognitive Einschränkungen
Hutterische Abstammung
a
Die tibiale Muskeldystrophie ist eine Krankheit mit Titinmangel und ausschließlichem Befall distaler Muskeln (Tab. 462e-8).
Abkürzungen: CK = Kreatinkinase; EMG = Elektromyografie; NG = Neurografie.
462e-8
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α-Dystroglycan
Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
von Dystroglykan führen. Der primäre Verlust eines einzigen Sarkoglykans (siehe „Muskeldystrophie Gliedergürteltyp“ weiter unten)
führt zum sekundären Verlust anderer Sarkoglykane in der Membran,
ohne dass Dystrophin hierbei in gleichem Maße betroffen sein muss.
Ein weiteres Beispiel ist die Trennung des Dystrophin-GlykoproteinKomplexes, die zu einer Instabilität des Sarkolemms mit Bildung von
Membranlöchern und einer Kaskade von Ereignissen führt, die in die
Entwicklung von Muskelfasernekrosen mündet. Diese Ereignissequenz wiederholt sich mehrmals im Leben eines Patienten mit
Muskeldystrophie.
BEHANDLUNG: MUSKELDYSTROPHIE TYP DUCHENNE
Glukokortikoide, wie Prednison in einer Dosis von 0,75 mg/kg pro
Tag, verzögern die Progression der Muskeldystrophie Typ Duchenne deutlich um bis zu 3 Jahre. Einige Patienten tolerieren die Glukokortikoidtherapie; die Gewichtszunahme und das erhöhte Risiko
von Frakturen sind jedoch für einige Jungen besonders abschreckend. Wie bei anderen rezessiv vererbten Muskeldystrophien, die
vermutlich als Folge des Funktionsverlusts eines Gens für ein entscheidendes Muskelprotein entstehen, gibt es auch Optimismus
für Patienten mit der Muskeldystrophie Typ Duchenne dahingehend, dass die Kranken von neuen Therapien profitieren können, die entweder das defekte Gen oder das fehlende Protein ersetzen oder dazu führen, dass die nachgeschalteten Nukleotidsequenzen des Gens korrigiert werden (z. B. Überspringen von mutierten
Exonen oder Überlesen von Stoppmutationen).
& MUSKELDYSTROPHIE TYP BECKER
Diese weniger schwere Form einer X-chromosomal rezessiven Muskeldystrophie ist Folge einer Mutation desselben Gens, das für die
Muskeldystrophie Typ Duchenne verantwortlich ist. Sie werden als allelische Erkrankungen bezeichnet (unterschiedliche Defekte im gleichen Gen). Die Muskeldystrophie Typ Becker ist etwa 10-mal seltener
als der Typ Duchenne.
Klinisches Bild
Das Verteilungsmuster der Muskelatrophien bei der Muskeldystrophie
Typ Becker ähnelt sehr dem der Muskeldystrophie Typ Duchenne. Vorzugsweise sind die proximalen Muskeln der unteren Extremitäten betroffen. Mit Fortschreiten der Erkrankung generalisiert die Muskelschwäche. Eine signifikante Beteiligung der mimischen Muskeln tritt
nicht auf. Muskelhypertrophien, insbesondere der Wadenmuskeln, sind
ein frühzeitig hervorstechendes Merkmal.
Die meisten Patienten mit Typ Becker entwickeln im Alter zwischen 5 und 15 Jahren erste Schwierigkeiten, obwohl ein Beginn im
dritten oder vierten Jahrzehnt oder sogar noch später vorkommen
kann. Per definitionem kann ein Patient mit Muskeldystrophie Typ
Becker noch nach dem 15. Lebensjahr gehen, während ein Patient mit
Muskeldystrophie Typ Duchenne bis zum zwölften Lebensjahr an den
Rollstuhl gebunden ist. Patienten mit Typ Becker haben eine verkürzte Lebenserwartung, wobei die meisten bis zur 4.–5. Dekade leben.
Eine mentale Retardierung kann bei der Muskeldystrophie Typ Becker vorkommen, ist aber nicht so üblich wie beim Typ Duchenne.
Eine kardiale Beteiligung kann vorhanden sein und zum Herzversagen führen. Bei manchen Patienten wird nur ein Herzversagen festgestellt. Andere seltene Manifestationsmöglichkeiten sind eine asymptomatische Erhöhung der Serum-Kreatinkinase, Myalgien ohne Muskelschwäche und Myoglobinurie.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serumwerte der Kreatinkinase (CK), die EMG-Befunde und die
Befunde der Muskelbiopsie sind denen der Muskeldystrophie Typ
Duchenne sehr ähnlich. Zur Diagnose einer Muskeldystrophie Typ
Becker ist die Western-Blot-Analyse einer Muskelprobe erforderlich,
bei der ein Mangel oder eine abnorme Molekülgröße des Dystrophins
nachgewiesen wird, oder die Mutationsanalyse der DNS aus peripheren Blutleukozyten. Die genetische Diagnostik deckt bei ungefähr
65 % der Patienten mit Typ Becker Deletionen oder Duplikationen
im Gen für Dystrophin auf, was ungefähr derselbe Prozentsatz ist wie
beim Typ Duchenne. Sowohl beim Typ Becker als auch beim Typ Duchenne korreliert die Größe der Deletion nicht mit der klinischen Erkrankungsschwere. Bei etwa 95 % der Patienten mit Muskeldystrophie
462e
Typ Becker ändert die DNS-Deletion jedoch nicht das Leseraster. Diese so genannte In-frame-Deletion ermöglicht die Entstehung von
noch teilweise funktionstüchtigem Dystrophin, was den Nachweis
von eher verändertem als fehlendem Dystrophin im Western Blot erklärt.
BEHANDLUNG: MUSKELDYSTROPHIE TYP BECKER
Der Einsatz von Glukokortikoiden wurde beim Typ Becker noch
nicht ausreichend untersucht.
& MUSKELDYSTROPHIE VOM GLIEDERGÜRTELTYP
Der Terminus Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp (Limb-girdle
Muscular Dystrophy, LGMD) bezieht sich auf mehr als eine einzige
Krankheit. Sie betreffen Männer und Frauen mit einem Beginn in der
späten 1. bis zur 4. Lebensdekade. Die Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp verlaufen typischerweise mit fortschreitender Schwäche
der Becken- und Schultergürtelmuskeln. Eine Ateminsuffizienz durch
die Schwäche des Zwerchfells kann ebenso wie eine Kardiomyopathie
vorkommen.
Die systematische Klassifikation der Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp beruht auf dem autosomal dominanten (LGMD1) und
autosomal rezessiven (LGMD2) Vererbungsmodus. Anhand dieser
Grundeinteilung werden weitere Subtypen in der Reihenfolge der
nachgewiesenen chromosomalen Kopplung alphabetisch zugeordnet
(LGMD1A, LGMD2A usw.). Auf diese Weise entsteht eine ständig
wachsende Liste von klinischen Subtypen (Tab. 462e-6 und 462e-7).
Kein Subtyp dieser Muskeldystrophien vom Gliedergürteltyp ist so
verbreitet wie die Dystrophinopathien. Prävalenzdaten wurden bisher
noch nicht in größeren heterogenen Populationen erhoben. In vergleichbaren klinischen Populationen erwiesen sich Fukutin-relatedProtein(FKRP)-Mangel (LGMD2I), Calpainopathien (LGMD2A),
Anoctaminopathie (LGMD2L) und seltener die Dysferlinopathien
(LGMD2B) als die häufigsten Subtypen.
& MUSKELDYSTROPHIE TYP EMERY-DREIFUSS
Es gibt mindestens fünf genetisch unterscheidbare Formen der Muskeldystrophie Typ Emery-Dreifuss (EDMD Emery-Dreifuss Muscle
Dystrophy). Die häufigste Ursache der X-chromosomalen EDMD
sind Emerinmutationen. Mutationen von FHL1 führen zu einem ähnlichen, ebenfalls X-chromosomalen Phänotyp. Mutationen des für Lamin A/C kodierenden Gens sind die häufigste Ursache der autosomal
dominanten EDMD (oder LGMD1B) und führen ebenfalls oft zur hereditären Kardiomyopathie. Seltener entsteht eine autosomal dominante EDMD durch Mutationen von Nesprin 1, Nesprin 2 und
TMEM43.
Klinisches Bild
Während der frühen Kindheit und im Jugendalter kommt es zur Entwicklung von auffallenden Muskelkontrakturen, die oft vor der Muskelschwäche auftreten. Diese Kontrakturen persistieren während des
gesamten Verlaufs der Erkrankung, vor allem im Bereich von Ellenbogen, Sprunggelenken und Nacken. Die Muskelschwäche betrifft zunächst humerale und peroneale Muskulatur und breitet sich dann zu
einer gliedergürtelförmigen Verteilung aus. Die Kardiomyopathie ist
potenziell lebensbedrohlich und kann zum plötzlichen Herztod führen. Es treten Vorhofrhythmusstörungen mit Überleitungsstörungen,
einschließlich Vorhofflimmern und Vorhofstillstand, und atrioventrikuläre Blöcke auf. Einige Patienten entwickeln eine dilatative Kardiomyopathie. Konduktorinnen der X-chromosomalen Variante können
ebenfalls klinisch relevante kardiale Beschwerden entwickeln.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serum-CK kann zwei- bis zehnfach erhöht sein. Das Elektromyogramm ergibt einen myopathischen Befund. Die Muskelbiopsie zeigt
unspezifische dystrophische Veränderungen, obwohl bei FHL1-Mutationen Zeichen einer myofibrillären Myopathie möglich sind. Die Immunhistochemie deckt die fehlende Emerin-Färbung der Muskelzellkerne bei der X-chromosomalen Form durch Emerinmutationen auf.
Im Elektrokardiogramm werden atriale und atrioventrikuläre Rhythmusstörungen nachgewiesen.
Die X-chromosomale Muskeldystrophie Typ Emery-Dreifuss entsteht durch Defekte im Gen für Emerin, ein Protein in der Kernhüll-
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462e-9
Teil 17
α
Neurologische Erkrankungen
Dystroglykane
Extrazellulär
β
Intrazellulär
Dystrophin
Myotilin
Nebulin
Nukleus
Aktin
α-Aktinin
Telethonin
Myosin
Titin
Emerin
Z-Linie
Kernpore
Kontraktile Proteine
im Sarkomer
Lamin A/C
Abbildung 462e-7 Ausgewählte Muskeldystrophie-assoziierte Proteine in der
Kernmembran und im Sarkomer. Wie in der Explosionsdarstellung gezeigt, sind Emerin
und Lamin A/C Bestandteile der inneren Kernmembran. Einige Muskeldystrophie-assoziierte Proteine sind im Sarkomer dargestellt, darunter Titin, Nebulin, Calpain, Telethonin,
Aktinin und Myotilin. Die Position des Dystrophin-Dystroglykan-Komplexes ist ebenso abgebildet.
membran. FHL1-Mutationen führen zur skapuloperonealen Dystrophie oder können mit einem EDMD-Phänotyp einhergehen. Die autosomal dominante Krankheit kann durch Mutationen in dem für Laminin A und C kodierenden LMNA-Gen oder dem für synaptisches
nukleäres Envelope-Protein 1 (SYNE1) oder 2 (SYNE2) kodierenden
Genen Nesprin 1 und Nesprin 2 entstehen. Vor kurzem wurden auch
Mutationen in dem für TMEM43 kodierenden LUMA-Gen entdeckt.
Diese Proteine sind essenzielle Komponenten eines filamentären
Netzwerks, das die innere Kernmembran auskleidet. Schädigungen
der strukturellen Integrität der Kernhüllmembran infolge von Defektzuständen im Emerin oder Lamin A/C sind für die überlappenden
Phänotypen dieser Muskeldystrophien verantwortlich (Abb. 462e-7).
BEHANDLUNG: MUSKELDYSTROPHIE TYP EMERY-DREIFUSS
Es sollten unterstützende Maßnahmen zur Förderung der Mobilität angeboten werden. Eine Behandlung der Kontrakturen ist
schwierig. Die symptomatische Therapie der Kardiomyopathie
und der Herzrhythmusstörungen (z. B. frühe Implantation eines
Schrittmachers) kann Leben retten.
Das Zentralnervensystem ist bei manchen Formen der kongenitalen Muskeldystrophien betroffen. Beim Merosin- und Fukutin-related-Protein-Mangel kann in der Magnetresonanztomografie eine zerebrale Hypomyelinisierung nachgewiesen werden, obwohl nur eine
geringe Anzahl der Patienten unter mentaler Retardierung und
Krampfanfällen leidet. Drei Formen der kongenitalen Muskeldystrophien zeigen eine schwere zerebrale Störung: die kongenitale Muskeldystrophie Typ Fukuyama, die Muskel-Auge-Gehirn-Erkrankung
(muscle-eye-brain disease, Typ Santavuori) und das Walker-WarburgSyndrom. Patienten mit diesen genannten Formen sind schwer behindert. Bei der Muskel-Auge-Gehirn-Erkrankung und dem WalkerWarburg-Syndrom, nicht aber bei der kongenitalen Muskeldystrophie
Typ Fukuyama, beeinträchtigen die okulären Fehlbildungen die Sehkraft. Das Walker-Warburg-Syndrom ist die schwerste kongenitale
Muskeldystrophie und führt innerhalb des 1. Lebensjahres zum Tod.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serumwerte der Kreatinkinase (CK) sind deutlich erhöht. Das
Elektromyogramm (EMG) ergibt myopathische und die Muskelbiopsie unspezifische dystrophische Veränderungen. Der Mangel an Merosin oder der Laminin-α2-Kette (einem Protein der Basalmembran)
führt dazu, dass Merosin im Sarkolemm nicht nachweisbar ist. Die
Hautbiopsien können auch Defekte der Laminin-α2-Kette zeigen. Bei
anderen Erkrankungen (Fukutin-related-Protein-Mangel, kongenitale
Muskeldystrophie Typ Fukuyama, Mukel-Auge-Gehirn-Erkrankung,
Walker-Warburg-Syndrom) gibt es eine abnome Färbung für α-Dystroglykan im Muskel. Beim Merosinmangel ist eine zerebrale Hypomyelinisierung häufig und viele zerebrale Fehlbildungen werden bei
der kongenitalen Muskeldystrophie Typ Fukuyama, der Muskel-Auge-Gehirn-Erkrankung und dem Walker-Warburg-Syndrom beobachtet.
Alle Formen der kongenitalen Muskeldystrophien werden autosomal rezessiv vererbt. Spezielle chomosomale Kopplung und spezielle Gendefekte sind in Tabelle 462e-8 dargestellt. Bis auf den Defekt
des Gens für Merosin betreffen andere Gendefekte die posttranslationale Glykosylierung des α-Dystroglykans. Dies beeinträchtigt vermutlich die Bindung mit Merosin, führt zur Schwächung des DystrophinGlykoprotein-Komplexes und damit zur Instabilität der Muskelmembran und/oder zur gestörten Muskelkontraktion. Die kongenitalen
Muskeldystrophien mit zerebraler und okulärer Beteiligung gehen
wahrscheinlich mit einer gestörten Glykosylierung zusätzlicher Proteine einher. Dies führt zu vielfältigen Phänotypen.
BEHANDLUNG: KONGENITALE MUSKELDYSTROPHIE
Es gibt keine spezielle Behandlung der kongenitalen Muskeldystrophien. Ein richtiges Sitzen im Rollstuhl ist wichtig. Die Behandlung epileptischer Anfälle und kardialer Symptome ist bei manchen Patienten notwendig.
& MYOTONE DYSTROPHIE
Hierbei handelt es sich nicht um eine Krankheitsentität, sondern eher
um eine Gruppe von Erkrankungen, die mit unterschiedlicher Ausprägung von Muskelschwäche, pathologischen Veränderungen des
Zentralnervensystems und der Augen einhergeht.
Die myotone Dystrophie ist auch als Dystrophia myotonica (DM) bekannt. Sie besteht aus mindestens zwei klinischen Erkrankungen mit
überlappenden Phänotypen und verschiedenen molekulargenetischen
Defekten: myotone Dystrophie Typ 1 (DM1), die klassische, von
Curschmann und Steinert beschriebene Erkrankung (myotone Dystrophie Typ Curschmann-Steinert oder Curschmann-Steinert-Syndrom), und myotone Dystrophie Typ 2 (DM2), auch proximale myotone Myopathie (PROMM) oder selten das Ricker-Syndrom genannt.
Klinisches Bild
Die Patienten mit kongenitalen Muskeldystrophien zeigen von Geburt
an oder seit den ersten Lebensmonaten eine Muskelhypotonie und
proximale oder generalisierte Muskelschwäche. Bei einigen Patienten
wird eine Wadenmuskelhypertrophie beobachtet. Die vom Nervus facialis innervierten Muskeln können geschwächt sein, die von den anderen Hirnnerven innervierten Muskeln bleiben jedoch verschont
(z. B. sind die extraokulären Muskeln unauffällig). Die meisten Patienten haben Kontrakturen unterschiedlichen Grades im Bereich der
Ellenbogen-, Hüft-, Knie- und Sprunggelenke. Die Kontrakturen, die
schon bei Geburt vorhanden sind, werden als Arthrogryposis bezeichnet. In einzelnen Fällen kann auch eine Ateminsuffizienz vorkommen.
Klinisches Bild
Die klinische Manifestation der myotonen Dystrophie Typ 1 variiert
beträchtlich und schließt viele andere Systeme ein, nicht nur die Muskulatur. Viele Patienten haben infolge der Atrophie und Schwäche
von Temporalis-, Masseter- und mimischen Muskeln ein typisches
Gesicht, die Facies myotonica. Eine Stirnglatze ist für diese Krankheit
charakteristisch. Die Halsmuskulatur, einschließlich der Beuger und
der Mm. sternocleidomastoidei sowie die distalen Extremitätenmuskeln sind frühzeitig befallen. Paresen der Hand- und Fingerstrecker
und -beuger sowie der intrinsischen Handmuskeln beeinträchtigen
ihre Funktion. Eine Schwäche der Fußhebermuskeln führt zum Fallfuß. Proximale Muskeln bleiben im Krankheitsverlauf insgesamt kräftiger, obwohl bei vielen Patienten vorzugsweise eine Atrophie und
& KONGENITALE MUSKELDYSTROPHIE
462e-10
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462e
Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
TABELLE 462e-8 Kongenitale Muskeldystrophiena
Erkrankung
Klinisches Bild
Apparative und Laborbefunde
Gen oder Locus
Merosinmangel
Beginn von Geburt an mit Muskelhypotonie, Muskelkontrakturen im
Serum-CK 5- bis 35-facher Normalwert Laminin-α2-Kette
Bereich der Gelenke, verzögerter motorischer Entwicklung, generalisierter EMG myopathisch
Muskelschwäche
NG abnorm in manchen Fällen
Zerebrale Hypomyelinisierung, selten kortikale Fehlbildung
Meistens normale Intelligenz, etwa 6 % der Patienten leiden unter
mentaler Retardierung und etwa 8 % unter epileptischen Anfällen
Bei unvollständigem Mangel leichterer Phänotyp (klinisches Bild einer
Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp)
Fukutin-related-ProteinMangelb
Beginn von Geburt an oder kurz danach
Muskelhypotonie und Fütterungsprobleme
Serum-CK 10- bis 50-facher Normalwert
Proximale Muskelschwäche, vor allem des Schultergürtels
EMG myopathisch
Hypertrophie der Beinmuskulatur
NG normal
Fukutin-related-Protein
Muskelkontrakturen im Bereich der Gelenke
Kognition normal
Kongenitale Muskeldystro- Beginn von Geburt an
phie Typ Fukuyamab
Muskelhypotonie, Muskelkontrakturen im Bereich der Gelenke
Generalisierte Muskelschwäche
EMG myopathisch
Hypertrophie der Wadenmuskulatur
NG normal
Epileptische Anfälle, mentale Retardierung
MRT zeigt Hydrozephalus sowie periventrikuläre und frontale Hypomyelinisierung
Kardiomyopathie
Muskel-Auge-Gehirn-Erkrankung (Syn. Typ Santavuori)
Serum-CK 10- bis 50-facher Normalwert
Beginn von Geburt an, Muskelhypotonie
Pathologische Veränderungen der Augen beinhalten: fortschreitende
Myopie, Katarakt sowie Glaukom, Optikus- und/oder Retinaatrophie
Fortschreitende Muskelschwäche
Fukutin
Serum-CK 5- bis 20-facher Normalwert Protein-O-Mannose-βMRT zeigt Hydrozephalus, Pflasterstein- 1,2-N-acetylglucosamiLissenzephalie, Hypoplasie des Corpus nyltransferase
callosum und des Kleinhirns, zerebrale (POMGnT1)
Hypomyelinisierung
Muskelkontrakturen im Bereich der Gelenke
Epileptische Anfälle, mentale Retardierung
Walker-Warburg-Syndromb Beginn von Geburt an, Muskelhypotonie
Serum-CK 5- bis 20-facher Normalwert Protein-O-MannosylMRT zeigt Pflasterstein-Lissenzephalie, transferase 1 (POMT1)
Generalisierte Muskelschwäche
Muskelkontrakturen im Bereich der Gelenke
Mikrophthalmie, Fehlbildung der Retina, Ochsenauge, Glaukom, Katarakt
Hydrozephalus, Enzephalozele, fehlendes Corpus callosum
Epileptische Anfälle, mentale Retardierung
a
Erbgang jeweils rezessiv.
Es besteht eine phänotypische Überschneidung der Krankheiten mit gestörter Glykolysierung. Im Muskel beruht dies auf der veränderten Glykosylierung der Dystroglykane, in Gehirn und Auge sind
andere Glykolysierungsprodukte beteiligt. Klinische ist das Walker-Warburg-Syndrom schwerer und führt meist binnen eines Jahres zum Tod.
Abkürzungen: CK = Kreatinkinase; EMG = Elektromyografie; NG = Neurografie.
b
Schwäche der Mm. quadricipites femorum auftreten kann. Die Beteiligung der palatopharyngealen und der Zungenmuskulatur führt zur
dysarthrischen Aussprache, einer näselnden Stimme und zu Schluckstörungen. Die Patienten können durch eine Schwäche des Zwerchfells und der Interkostalmuskulatur eine Ateminsuffizienz entwickeln.
Die Myotonie, die sich üblicherweise vor Beginn der Paresen entwickelt und häufig bereits im 5. Lebensjahr nachweisbar ist, kann
durch Perkussion am Thenar, an der Zunge und an den Handstreckern nachgewiesen werden. Sie bewirkt eine verzögerte Relaxation
des Handgriffs nach kräftigem Faustschluss. Eine fortgeschrittene
Muskelatrophie macht es schwerer, die Myotonie nachzuweisen.
Kardiale Störungen treten besonders bei Patienten mit der DM1
auf. Zu den elektrokardiografischen Befunden gehören ein AV-Block
1. Grades und schwerere Erregungsleitungsstörungen. Ein kompletter
Leitungsblock und ein plötzlicher Herztod können auftreten. Eine
Stauungsherzinsuffizienz ist selten und kann sekundär durch ein Cor
pulmonale infolge einer Lungenfunktionsstörung auftreten. Ein Mitralklappenprolaps kommt ebenfalls häufig vor. Weitere klinische Manifestationen sind eine intellektuelle Beeinträchtigung, Hypersomnie,
hintere subkapsuläre Katarakte, Hodenatrophie, Insulinresistenz und
eine herabgesetzte Ösophagus- und Kolonmotilität.
Die kongenitale myotone Dystrophie ist eine viel schwerere Form
der DM1, die bei etwa 25 % der Kinder erkrankter Mütter auftritt. Sie
ist durch eine ausgeprägte Schwäche der mimischen und bulbären
Muskulatur, eine transiente Ateminsuffizienz bei Neugeborenen und
eine mentale Retardierung gekennzeichnet.
Die DM2 oder PROMM zeigt ein unterschiedliches Muster der
Muskelschwäche, betrifft aber überwiegend proximale Muskelgruppen, zunächst der unteren Extremitäten. Andere klinische Aspekte
überlappen sich mit der DM1, wie Katarakte, die Hodenatrophie, die
Insulinresistenz, die Obstipation, Hypersomnie und die kognitiven
Defekte. Kardiale Erregungsleitungsstörungen sind seltener und eine
Facies myotonica sowie die Stirnglatze nur gelegentlich vorhanden.
Ein sehr wesentlicher Unterschied ist die Tatsache, dass es nicht gelang, eindeutig eine kongenitale Form der DM2 zu identifizieren.
Apparative und Labordiagnostik
Die Diagnose einer myotonen Dystrophie kann meistens anhand klinischer Befunde gestellt werden. Die Serum-CK kann normal oder
leicht erhöht sein. Der elektromyografische Nachweis einer Myotonie
(myotone Serien) ist in den meisten Fällen der DM1 vorhanden, bei
der DM2 jedoch weniger häufig. Die Muskelbiopsie zeigt eine Muskelatrophie, die in 50 % der Fälle selektiv Typ-I-Fasern betrifft und
„Ringbinden“ (subsarkolemmale Myofibrillenbündel, welche die Muskelfaser wie einen Ring umschließen, auch als Ringfaser bezeichnet),
nicht nur bei der DM1, sondern auch bei der DM2. Typischerweise
können sowohl vermehrte zentral gelegene Kerne in einzelnen Muskelfasern als auch atrophische Fasern mit Haufen pyknotischer Kerne
bei der DM1 und der DM2 gesehen werden. Muskelfasernekrosen
und vermehrtes Bindegewebe sind bei der myotonen Dystrophie im
Gegensatz zu anderen Muskeldystrophien weniger ausgeprägt.
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462e-11
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
DM1 und DM2 sind autosomal dominante Erkrankungen. Die
DM1 wird durch eine Mutation in Form einer großen instabilen Expansion einer Cytosin-Thymin-Guanin(CTG)-Trinukleotid-Wiederholungssequenz (Repeat) in einem Intron des Gens für die SerinThreonin-Proteinkinase (DMPK, myotonic dystrophy protein kinase)
auf Chromosom 19q13.3 verursacht. Eine phänotypische Zunahme
der Erkrankungsschwere in nachfolgenden Generationen (genetische
Antizipation) wird von einer Zunahme der Anzahl der TrinukleotidWiederholungssequenzen begleitet. Ein ähnlicher Mutationstyp wurde bei dem fragilen X-Syndrom (Kap. 451e) identifiziert. Die Triplett-Wiederholungssequenz bei der myotonen Dystrophie kann zur
pränatalen Diagnostik benutzt werden. Die kongenitale Erkrankung
tritt beinahe exklusiv bei Kindern erkrankter Mütter auf. Es ist möglich, dass Spermien mit ausgedehnt expandierten Triplett-Wiederholungssequenzen nicht ausreichend funktionsfähig sind.
Die DM2 wird durch eine Mutation in Form einer großen Expansion einer Cytosin-Cytosin-Thymin-Guanin(CCTG)-TetranukleotidWiederholungssequenzen im Intron 1 des Gens für das Zinkfingerprotein-9 (ZNF9) verursacht. Dieses Gen befindet sich auf dem Chromosomenabschnitt 3q13.3-q24 und kodiert vermutlich für ein RNSBindungsprotein, das in vielen verschiedenen Geweben, einschließlich
Skelettmuskulatur und Herzmuskel, exprimiert wird.
Die DNS-Expansionen bei der DM1 und DM2 beeinträchtigen fast
immer die Funktion von Muskeln durch eine schädliche Wirkung
(„toxic gain of function“) der mutierten mRNS. Sowohl bei der DM1
als auch bei der DM2 scheint die mutierte RNS intranukleäre Einschlüsse aus aberranter RNS zu bilden. Diese RNS-Einschlüsse sequestrieren RNS-Bindungsproteine, die essenziell für das korrekte Spleißen verschiedener anderer mRNS ist. Dies führt zu einer abnormen
Transkription vieler Proteine in unterschiedlichen Geweben/Organen,
was wiederum die Manifestation der DM1 und DM2 hervorruft.
BEHANDLUNG: MYOTONE DYSTROPHIE
Die Myotonie bei der DM1 muss nur selten behandelt werden,
hingegen fühlen sich manche Patienten mit DM2 durch die Muskelsteifigkeit stärker beeinträchtigt. Phenytoin und Mexiletin sind
die Medikamente der ersten Wahl bei Patienten, die ein antimyotones Medikament benötigen. Andere Substanzen, insbesondere
Chinin und Procainamid, können kardiale Rhythmusstörungen
verschlechtern. Etwa die Hälfte der Patienten berichtet über zum
Teil ausgeprägte Myalgien, die sich durch Gabapentin oder Pregabalin, Wärmeanwendung, Massagen und manuelle Therapien bessern lassen. Eine Herzschrittmacherimplantation sollte bei Patienten mit unklaren Synkopen oder fortgeschrittenen Störungen des
kardialen Erregungsleitungssystems mit AV-Block zweiten Grades
oder trifaszikulärem Leitungsblock mit markanter Verlängerung
des PR-Intervalls erwogen werden. Gut angepasste Fußgelenkorthesen können bei Patienten mit distalen Paresen an den unteren
Extremitäten zur Vorbeugung von Fallfüßen beitragen. Eine vermehrte Tagesmüdigkeit mit oder ohne Schlafapnoe ist häufig. Ein
nächtliches Apnoe-Screening, Schlaflaboruntersuchungen, nicht
invasive Beatmung (BIPAP) und eine Therapie mittels Modafinil
können vorteilhaft sein.
& FAZIOSKAPULOHUMERALE MUSKELDYSTROPHIE (FSHD)
Diese auch als Muskeldystrophie Typ Landouzy-Déjérine bezeichnete
Form der Muskeldystrophie hat eine Prävalenz von ungefähr 1 auf
20.000 Einwohner. Es gibt zwei Formen der fazioskapulohumeralen
Muskeldystrophie mit ähnlicher Pathogenese (siehe unten). Am häufigsten ist der Typ 1 (95 %), die übrigen 5 % entfallen auf den Typ 2.
Die beiden Formen sind klinisch und histopathologisch identisch.
Wichtig ist die Abgrenzung gegen eine ähnliche Erkrankung, die skapuloperoneale Muskeldystrophie.
Klinisches Bild
Das typische Bild der Erkrankung zeigt sich in der Kindheit und im
jungen Erwachsenenalter. Meistens tritt initial eine mimische Schwäche mit der Unfähigkeit, zu lächeln, zu pfeifen oder die Augen komplett zu schließen, auf. Die faziale Schwäche kann jedoch subtil sein
und lediglich durch eine verminderte Mundwinkelhebung und einen
reduzierten Tonus des M. orbicularis oculi auffällig werden. Die Patienten werden meistens wegen der Schultergürtelparesen und weni-
462e-12
ger wegen der Schwäche der mimischen Muskeln vorstellig. Der Verlust der skapulastabilisierenden Muskeln erschwert die Elevation des
Armes. Eine Scapula alata (siehe Abb. 462e-3) wird bei Versuchen
deutlich, die Arme zu abduzieren und nach vorne zu führen. Die
Musculi bicipites und tricipites brachiorum können stark betroffen
sein, mit relativer Aussparung der Musculi deltoidei. Die Schwäche
der Handstrecker ist stets ausgeprägter als die der Handbeuger, die
Paresen der Fußheber- und Zehenstrecker können zu einem Fallfuß
führen.
Bei den meisten Patienten beschränken sich die Paresen auf die mimischen Muskeln, die oberen Extremitäten und die distalen Beinmuskeln. Bei 20 % der Patienten schreitet die Schwäche fort und umfasst
auch die Beckengürtelmuskulatur, wobei eine schwere funktionelle
Beeinträchtigung und mögliche Rollstuhlabhängigkeit entstehen
kann. Typisch ist auch eine Beteiligung der Bauchmuskulatur an der
Erkrankung. Selten kann eine bevorzugte Affektion der paraspinalen
und Hüftmuskulatur zu einer dominanten Störung der aufrechten
Rumpfhaltung (Camptocormie) führen. Über die Hälfte der Patienten
berichtet über zum Teil ausgeprägte, nächtlich betonte Myalgien,
Muskelverkrampfungen und eine verstärkte Ermüdbarkeit der Muskulatur.
Häufig sind bei der fazioskapulohumeralen Muskeldystrophie ein
labiler Hypertonus, Herzrhytmusstörungen, seltener eine relevante
Beteiligung der Atemmuskulatur zu finden, wobei viele Patienten eine
Belastungsdyspnoe berichten. Bekannt ist eine erhöhte Inzidenz für
eine neurale Taubheit. Auch die Coats-Krankheit mit Teleangiektasien, Exsudation und Netzhautablösung tritt auf.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serum-CK kann normal oder leicht erhöht sein, häufiger ist die
LDH deutlicher erhöht als die CK. Das EMG zeigt meistens ein myopathisches Muster. In der Muskelbiopsie werden unspezifische myopathische Veränderungen gefunden. In einigen Muskelbiopsaten zeigt
sich ein deutliches entzündliches Infiltrat, das oft multifokal verteilt
ist. Auch in der MRT können Hinweise auf entzündliche Veränderungen in einzelnen Muskeln gefunden werden. Die Ursache oder Bedeutung dieser Befunde ist noch ungeklärt.
Es wurde ein autosomal dominanter Erbgang mit beinahe vollständiger Penetranz nachgewiesen, wobei jedes Familienmitglied auf die
Erkrankung hin untersucht werden sollte, da sich etwa 30 % der Betroffenen subjektiv gesund fühlen oder lediglich über eine Symptomatik mit Myalgien und verstärkter Ermüdbarkeit der Muskulatur klagen, die oft als Fibromyalgie fehlinterpretiert wird. Obwohl das für
die fazioskapulohumerale Muskeldystrophie verantwortliche Gen bis
heute nicht identifiziert werden konnte, ist eine genetische Diagnostik
möglich. Die fazioskapulohumerale Muskeldystrophie wird durch die
Deletion in einer Region auf Chromosom 4q35 verursacht, die aus
3,3 kb großen Wiederholungssequenzen (Repeats) besteht. Die Deletion reduziert die Zahl der Wiederholungssequenzen bei den meisten
Patienten mit fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie auf ein Fragment von weniger als 35 kb. Dies kann zu einer Überexpression von
vorgeschalteten Genen und zum Verlust der DNS-Bindung eines Multiproteinkomplexes führen, der die Transkription der DNS-Region
auf dem Chromosom 4q35 verhindert. Innerhalb dieser Wiederholungssequenzen liegt das DUX4-Gen, das in der Regel nicht exprimiert wird. Bei fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie Typ 1 führen die Deletionen im Rahmen eines bestimmten Polymorphismus
zur Änderung der Chromatinstruktur und zur toxischen Expression
des DUX4-Gens. Bei fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie Typ 2
gibt es keine Deletion, trotzdem kommt es im Rahmen desselben Polymorphismus zur analogen Änderung der Chromatinstruktur und
zur permissiven Expression des DUX4-Gens. In jedem Fall leitet der
permissive Polymorphismus ein Polyadenylierungssignal ein, das zu
einem aberranten, toxischen DUX4-Transkript führt.
BEHANDLUNG: FAZIOSKAPULOHUMERALE MUSKELDYSTROPHIE
Eine spezifische Behandlung ist nicht verfügbar. Fußgelenkorthesen sind bei Patienten mit Fallfuß hilfreich. Schulterblattstabilisationen können eine Scapula alata zwar kosmetisch, nicht aber
funktionell verbessern.
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
& OKULOPHARYNGEALE MUSKELDYSTROPHIE
Diese Form der Muskeldystrophie entspricht einer von mehreren
Krankheiten, die durch eine progressive externe Ophthalmoplegie gekennzeichnet sind. Sie geht mit einer langsam fortschreitenden Ptose
und Einschränkungen der Augenbewegungen einher, wobei die Pupillenreaktion auf Licht und Akkommodation normal ist. Die Patienten
klagen im Gegensatz zu solchen mit akuterem Beginn der Augenmuskelschwäche (z. B. bei Myasthenia gravis) normalerweise nicht über
Doppelbilder.
Klinisches Bild
Die okulopharyngeale Muskeldystrophie beginnt spät. Sie manifestiert sich üblicherweise in der 4.–6. Lebensdekade mit einer Ptose
und/oder Dysphagie. In der Frühphase ist die externe Augenmuskelschwäche wenig auffällig, kann aber später massiv werden. Das
Schluckproblem kann zur Behinderung führen und die Ansammlung
von Speichel zu wiederholten Aspirationsepisoden. Eine leichte
Schwäche der Nacken- und Extremitätenmuskeln kann ebenfalls auftreten.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serum-CK-Werte können um das Zwei- bis Dreifache erhöht
sein. Typisch ist ein myopathisches Muster im Elektromyogramm.
Die Muskelbiopsie zeigt so genannte „rimmed vacuoles“ („umrandete
Vakuolen“ – im Querschnitt unregelmäßig runde Vakuolen, begrenzt
durch einen in der Hämatoxylin-Eosin-Färbung basophil angefärbten
Ring) in den Fasern, die elektronenmikroskopisch membranöse Wirbel, Glykogenakkumulationen sowie anderes unspezifisches und für
Lysosomen charakteristisches Material enthalten. Ein besonderes
Kennzeichen der okulopharyngealen Muskeldystrophie ist der Nachweis von tubulären Filamenten in den Muskelzellkernen mit einem
Durchmesser von 8,5 nm. Aufgrund des charakteristischen klinischen
Bildes ist jedoch oft eine Muskelbiopsie nicht indiziert, und es kann
primär die humangenetische Diagnostik veranlasst werden.
Die okulopharyngeale Muskeldystrophie wird mit vollständiger Penetranz autosomal dominant vererbt. Die Inzidenz ist in frankokanadischen und hispanoamerikanischen Familien im Südwesten der USA
hoch. Außerdem wurden große Familien italienischer und osteuropäischer jüdischer Abstammung beschrieben. Der Molekulardefekt bei
okulopharyngealer Muskeldystrophie ist eine kurze Expansion einer
Guanin-Cytosin-Guanin(GCG)-Trinukleotid-Wiederholungssequenz
(Repeat) im Exon 1 des Gens für das Poly-A-RNS-Bindungsprotein-2
(PABP2) auf Chromosom 14q11.2-q13. Dies führt zu einer Akkumulation der Polyalanin-Moleküle, die sich als tubuläre Filamente im
Muskelzellkern zeigen.
462e
Klinisches Bild
Die distalen Myopathien Typ Welander, Udd und Markesbery-Griggs
sind Krankheiten mit spätem Beginn und dominantem Vererbungsmodus, die die distalen Extremitätenmuskeln betreffen und sich normalerweise nach dem 40. Lebensjahr manifestieren. Die distale Myopathie Typ Welander betrifft vor allem die Hand- und Fingerstrecker,
während die anderen distalen Myopathien mit der Schwäche des M. tibialis anterior verbunden sind, was zu einem fortschreitenden Fallfuß
führt. Die distale Myopathie Typ Laing ist ebenfalls eine dominant
vererbte Erkrankung mit tibialer Schwäche. Sie zeichnet sich jedoch
durch den Beginn in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter
aus. Die distale Myopathie Typ Nonaka und die distale Myopathie Typ
Miyoshi lassen sich durch ihren autosomal rezessiven Erbgang und ihren Beginn im späten Jugendalter bis zum Ende der 3. Lebensdekade
unterscheiden. Die distale Myopathie Typ Nonaka geht mit einer
Schwäche des M. tibialis anterior einher, wohingegen die Myopathie
Typ Miyoshi als einzige, vor allem zu Beginn, eine Präferenz für eine
Schwäche der Mm. gastrocnemii zeigt. Schließlich sind die myofibrillären Myopathien (MFM) eine klinisch und genetisch heterogene
Krankheitsgruppe, die mit deutlicher distaler Schwäche verbunden
sein können. Sie können autosomal dominant oder rezessiv vererbt
werden. Die Markesbery-Griggs-Myopathie (durch ZASP-Mutationen) und die LGMD1B (durch Myotilinmutationen) sind tatsächlich
Subtypen der myofibrillären Myopathie.
Apparative und Labordiagnostik
Die Serum-CK ist besonders hilfreich bei der Diagnose der distalen
Myopathie Typ Miyoshi, da sie hier sehr erhöht ist. Ansonsten ist die
Serum-CK nur leicht erhöht. Das Elektromyogramm zeigt einen myopathischen Befund. Bei den myofibrillären Myopathien (MFM) kommen oft myotone oder pseudomyotone Entladungen vor. Die Muskelbiopsie zeigt unspezifische dystrophische Veränderungen und weist,
mit Ausnahme der distalen Myopathie Typ Laing, „rimmed vacuoles“
auf. Die myofibrillären Myopathien sind mit Ansammlungen sowohl
von dichten Einschlüssen als auch von amorphem Material am besten
nachweisbar in der Gomori-Trichrom-Färbung sowie der myofibrillären Zerreißung in der Elektronenmikroskopie. Immunhistochemische
Färbungen zeigen manchmal Ansammlungen von Desmin und anderen Proteinen bei den MFM, große Ablagerungen der schweren Myosinkette in der subsarkolemmalen Region der Typ-I-Muskelfasern bei
der distalen Myopathie Typ Laing sowie reduziertes oder fehlendes
Dysferlin bei der Myopathie Typ Miyoshi.
Die betroffenen Gene und ihre Genprodukte sind in Tabelle 462e9 aufgeführt. Das Gen für die distale Myopathie Typ Welander wurde
bislang nicht identifiziert.
BEHANDLUNG: OKULOPHARYNGEALE MUSKELDYSTROPHIE
BEHANDLUNG: DISTALE MYOPATHIEN
Die Dysphagie kann zu einer signifikanten Unterernährung sowie
zur Kachexie führen und macht die okulopharyngeale Muskeldystrophie zu einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung. Eine
proteinreiche und hochkalorische Ernährung, Zerkleinerung der
Mahlzeiten und Andicken der Getränke sind erste Behandlungsschritte. Eine krikopharyngeale Myotomie kann zwar die Schluckstörung verbessern, nicht aber eine Aspiration verhindern. Eine
(weniger invasive) wiederholte Dilatation des oberen Ösophagussphincters kann alternativ bei ausgewählten Patienten indiziert
sein. Die Raffung der Augenlider kann das Sehen bei Patienten mit
ausgeprägter Ptose erleichtern. Kandidaten für eine solche PtoseOperation müssen sorgfältig ausgesucht werden; Patienten mit
schwerer Schwäche der mimischen Muskulatur sind nicht geeignet.
Zur Verbesserung der Handfunktion werden krankengymnastische
Maßnahmen empfohlen. Fußgelenksorthesen können die distalen
Beinmuskeln unterstützen. Die myofibrillären Myopathien können
mit einer Kardiomyopathie (Stauungsherzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen) und einer Ateminsuffizienz einhergehen, die
einer Behandlung bedürfen. Auch bei der distalen Myopathie vom
Typ Laing kann eine Kardiomyopathie auftreten.
& DISTALE MYOPATHIEN
Eine Gruppe von Muskelerkrankungen, die distalen Myopathien, sind
bemerkenswert wegen ihrer bevorzugten Manifestation distaler Muskeln, während die meisten Myopathien ihren Schwerpunkt in proximalen Muskelgruppen aufweisen. Die hauptsächlichen distalen
Myopathien sind in Tabelle 462e-9 aufgelistet.
KONGENITALE MYOPATHIEN
Diese seltenen Erkrankungen unterscheiden sich von den Muskeldystrophien durch zahlreiche histochemische und strukturelle Muskelanomalien. Es handelt sich überwiegend um Erkrankungen des Säuglingsalters oder der Kindheit, an dieser Stelle werden drei Formen beschrieben, die erst im Erwachsenenalter manifest werden: die Central-Core-Krankheit, die Nemalin-Myopathie und die zentronukleäre
(myotubuläre) Myopathie. Die sarkotubuläre Myopathie entsteht
durch TRIM-32-Mutationen und ist identisch mit der LGMD2H.
Weitere seltene Formen, wie die Minicore-Krankheit (MultiminicoreKrankheit), die Fingerprint-Body-Myopathie und die Kappenmyopathie werden hier nicht berücksichtigt.
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462e-13
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
TABELLE 462e-9 Distale Myopathien
Krankheit
Klinische Befunde
Apparative und Laborbefunde
Erbgang/Locus oder Gen
Distale Myopathie Typ
Welander
Beginn 5. Lebensdekade
Serum-CK 2- bis 3-facher Normalwert
AD
Schwäche beginnt an den Händen
EMG myopathisch
Chromosom 2p13
Tibiale Muskeldystrophie
Typ Udd
Langsames Fortschreiten mit Ausbreitung auf distale NG normal
untere Extremitäten
Muskelbiopsie zeigt dystrophische VerändeLebenserwartung normal
rungen
TIA1
Beginn 4.–8. Lebensdekade
Serum-CK 2- bis 4-facher Normalwert
AD
Distale Schwäche der unteren Extremitäten (tibiales
Verteilungsmuster)
EMG myopathisch
Titin
NG normal
Obere Extremitäten meist normal
Muskelbiopsie zeigt dystrophische Veränderungen und „rimmed vacuoles“
AR (stärkere proximale Schwäche –
LGMD2J)
Lebenserwartung normal
Titin fehlt in M-Linie des Muskels
Distale Myopathie Typ
Markesbery-Griggs
Beginn 4.–8. Lebensdekade
Distale Schwäche der unteren Extremitäten (tibiales EMG zeigt ein myopathisches Muster mit
Verteilungsmuster) mit Ausbreitung auf distale obere Spontanaktivitäten
Extremitäten und proximale Muskeln im Verlauf
Muskelbiopsie weist „rimmed vacuoles“und
Zeichen einer myofibrillären Myopathie auf
Protein ZASP (Z-Band alternatively
spliced PDZ motif-containing protein)
Distale Myopathie Typ
Laing
Beginn in Kindheit bis 3. Lebensdekade
Serum-CK normal oder leicht erhöht
AD
Früh beginnende distale Schwäche der unteren
Extremitäten (anteriores tibiales Verteilungsmuster)
und Schwäche der Halsbeuger
Muskelbiopsie ohne „rimmed vacuoles“, aber Schwere Myosinkette 7
oft mit Hyalinkörpern mit Akkumulation von
Myosin
Evtl. Kardiomyopathie
Große Ablagerungen der schweren Myosinkette in Typ-I-Muskelfasern
Beginn 2.–3. Lebensdekade
Serum-CK 3- bis 10-facher Normalwert
Distale Myopathie Typ
Nonaka (autosomal rezessive hereditäre Einschlusskörperchenmyopathie)
Serum-CK leicht erhöht
Distale Schwäche der unteren Extremitäten (anterio- EMG myopathisch
res tibiales Verteilungsmuster)
NG normal
Leichte Schwäche der oberen Extremitäten kann früh Dystrophische Veränderungen in der Muskelvorhanden sein
biopsie plus „rimmed vacuoles“ und 15–
Im Verlauf Beteiligung anderer Muskeln außer
M. quadriceps femoris
AD
AR
GNE-Gen: UDP-N-Acetylglukosamin-2Epimerase/N-Acetylmannosamin-Kinase
Allelische Beziehung zur hereditären
Einschlusskörperchenmyopathie
19 nm dicke Filamente innerhalb der Vakuolen
Gehverlust nach 10–15 Jahren möglich
Distale Myopathie Typ
Miyoshia
Beginn 2.–3. Lebensdekade
Serum-CK 20- bis 100-facher Normalwert
AR
Beinschwäche der ischiokruralen Muskulatur
EMG myopathisch
Im Verlauf Schwäche in anderen Muskelgruppen
NG normal
Allelische Beziehung zur Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp 2B
(Tab. 462e-7)
Gehverlust nach 10–15 Jahren bei etwa einem Drittel Muskelbiopsie zeigt unspezifische dystrophider Fälle
sche Veränderungen, oft mit deutlich entzündlichen Zellinfiltraten ohne „rimmed
vacuoles“
Dysferlin
Williams-Myopathie
Distale Beinschwäche (anteriores tibiales Verteilungsmuster)
In der Muskelbiopsie plus „rimmed vacuoles“ X-chromosomal
und Zeichen der MFM
Filamin-C
Myofibrilläre Myopathien
Beginn zwischen früher Kindheit und hohem Erwachsenenalter
Serum-CK normal oder mäßig erhöht
Schwäche kann proximal, distal oder generalisiert
sein
Kardiomyopathie und Ateminsuffizienz sind nicht
ungewöhnlich
Genetisch heterogen
EMG myopathisch und oft mit myotonen und
pseudomyotonen Entladungen
AD:
Myotilin (auch als Muskeldystrophie
vom Gliedergürteltyp 1A bekannt)
Muskelbiopsie weist Ansammlungen von DesZASP (siehe distale Myopathie Typ
min und anderen Proteinen, „rimmed vacuoMarkesbery-Griggs)
les“ und myofibrilläre Degeneration auf
Filamin-C
Desmin
Alpha-B-Crystallin
Bag3
Titin
DNAJB6
TNPO3
AR
Desmin
X-chromosomal
FHL1
a
Die distale Myopathie Typ Miyoshi tritt auch bei Mutationen im ANO-5-Gen auf, das für Anoctamin 5 (allelisch zu LGMD2L) kodiert.
Abkürzungen: AD = autosomal dominant; AR = autosomal rezessiv; CK = Kreatinkinase; EMG = Elektromyografie; MFM = myofibrilläre Myopathie; NG = Neurografie.
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
& CENTRAL-CORE-KRANKHEIT
Bei Patienten mit Central-Core-Krankheit können abgeschwächte
Kindsbewegungen und Beckenendlage festgestellt werden. Typisch
sind eine Muskelhypotonie und eine Verzögerung der motorischen
Entwicklung, besonders beim Gehen (Floppy Infant). In der späten
Kindheit haben die Patienten zunehmende Schwierigkeiten beim
Treppensteigen, beim Rennen und beim Aufstehen vom Boden. Bei
der Untersuchung findet man eine leichte mimische, eine Nackenbeuger- und eine proximale Extremitätenschwäche, wobei die Beine stärker als die Arme betroffen sind. Skelettanomalien bestehen in Form
von kongenitalen Hüftluxationen, Skoliose und einem Pes cavus.
Auch Klumpfüße treten auf. Die meisten Fälle sind nicht fortschreitend, aber Ausnahmen sind ebenfalls beschrieben. Die Neigung zur
malignen Hyperthermie muss als ein besonderer Risikofaktor bei der
Central-Core-Krankheit beachtet werden. Aktuelle Serien haben gezeigt, dass viele Fälle der axialen Myopathie mit spätem Beginn, die
sich mit einer nach vorn gebeugten Wirbelsäule (Kamptokormie)
oder einer Schwäche der Halsstrecker (Myopathie der Halsextensoren) äußern, durch Mutationen im Ryanodinrezeptorgen (RYR1) entstehen. Dies zeigt das interessante Spektrum der RYR1-Mutation.
Die Serum-CK-Werte sind üblicherweise normal. Das Nadel-EMG
demonstriert ein myopathisches Muster. Die Muskelbiopsie zeigt Fasern mit singulären oder multiplen zentral oder exzentrisch gelegenen
Zonen (Cores) mit mangelnden oxidativen Enzymen. Cores kommen
überwiegend in Typ-I-Fasern vor und enthalten ungeordnete Sarkomere, verbunden mit Z-Linien-Strömen (irreguläre Ausdehnung der
Z-Linie in die I- bzw. A-Bänder).
Typisch ist eine autosomal dominante Vererbung, wobei auch sporadische Fälle vorkommen. Wie ebreits erwähnt, wird die Krankheit
durch Punktmutationen im RYR1-Gen für den Ryanodinrezeptor auf
dem langen Arm von Chromosom 19 verursacht, das für den kalziumfreisetzenden Kanal im sarkoplasmatischen Retikulum des Skelettmuskels kodiert. Mutationen dieses Gens sind auch für einige Fälle
der hereditären malignen Hyperthermie verantwortlich (Kap. 23).
Die maligne Hyperthermie gilt als allelische Erkrankung; Mutationen
am C-terminalen Ende des Gens für den Ryanodinrezeptor 1 (RYR1)
prädisponieren zu dieser Komplikation.
Eine spezifische Behandlung ist nicht erforderlich, aber es ist extrem wichtig, die Diagnose einer Central-Core-Krankheit zu sichern,
da diese Patienten unter Anästhesie oft eine maligne Hyperthermie
entwickeln.
& NEMALIN-MYOPATHIE
(Synonym: Rod-Myopathie, Stäbchenmyopathie) Der Ausdruck Nemalin bezieht sich auf die Anwesenheit bestimmter Stäbchen oder fädiger Strukturen (griech. nema = „Faden“) in der Muskelfaser. Die
Nemalin-Myopathie ist klinisch heterogen. Eine schwere Neugeborenenform ist mit Muskelhypotonie und Fütterungsproblemen verknüpft. Atemschwierigkeiten können zum frühen Tod führen. Meistens beginnt die Nemalin-Myopathie im Säuglingsalter oder in der
Kindheit mit einer verzögerten motorischen Entwicklung. Der Verlauf ist entweder nicht oder nur langsam fortschreitend. Das körperliche Erscheinungsbild kann wegen des langen, schmalen Gesichts,
des hoch gewölbten Gaumens und des offenen Mundes aufgrund einer Prognathie beeindruckend sein. Weitere Skelettanomalien sind
ein Pectus excavatum, eine Kyphoskoliose, ein Pes cavus und Klumpfußdeformitäten. Eine mimische und eine generalisierte Muskelschwäche, einschließlich der Beteiligung der Atemmuskulatur, sind
häufig. Auch eine Erkrankungsform mit Manifestation im Erwachsenenalter mit fortschreitender proximaler oder distaler Schwäche tritt
auf. Eine Beteiligung des Myokards ist gelegentlich sowohl bei der
Kindes- als auch bei der Erwachsenenform nachweisbar. Die SerumCK ist gewöhnlich normal oder leicht erhöht. Das Elektromyogramm
zeigt ein myopathisches Muster. Die Muskelbiopsie zeigt Anhäufungen von kleinen Stäbchen (rods oder nemaline bodies), die vorzugsweise, aber nicht ausschließlich im Sarkoplasma der Typ-I-Fasern
vorkommen. Gelegentlich sind die Stäbchen auch in den Muskelzellkernen nachweisbar. Der Muskel weist oft eine Typ-I-MuskelfaserPrädominanz auf. Die Stäbchen entstehen aus Z-Linien-Material der
Muskelfaser.
Sechs Gene wurden mit der Nemalin-Myopathie in Verbindung gebracht. Davon kodieren fünf für Proteine der dünnen Filamente, wobei man vermutet, dass der entscheidende Mechanismus aus einer gestörten Anordnung oder einem gestörten Wechselspiel dieser Struktu-
462e
ren besteht. Mutationen des Gens für Nebulin (NEB) sind für die
meisten Fälle verantwortlich, einschließlich der beiden schweren Neugeborenen- und frühkindlichen Formen, die als autosomal rezessive
Erkrankungen vererbt werden. Neugeborenen- und kindliche Fälle
werden überwiegend als autosomal dominante Erkrankungen vererbt
und werden durch eine Mutation des Gens für das Skelettmuskel-αActinin (ACTA1) verursacht. Bei einer günstigeren Form der Erkrankung mit autosomal dominanter Vererbung wurden Mutationen im
Gen für das langsame α-Tropomyosin (TPM3) und das β-Tropomyosin (TPM2) identifiziert, die für weniger als 3 % der Fälle verantwortlich sind. Mutationen im Gen für Muskel-Troponin T (TNNT1)
scheinen auf die nordamerikanischen Amish-People beschränkt zu
sein. Eine spezifische Behandlung gibt es nicht. Vor kurzem wurden
Mutationen in einem sechsten Nemalin-Myopathie-Gen, NEM6, beschrieben. Dieses Gen kodiert vermutlich für ein BTB/Kelch-Protein.
Es gibt keine spezifische Behandlung.
& ZENTRONUKLEÄRE (MYOTUBULÄRE) MYOPATHIE
Es treten drei verschiedene Varianten der zentronukleären Myopathie
auf. Eine Neugeborenenform, auch als myotubuläre Myopathie bezeichnet, präsentiert sich mit schwerer Muskelhypotonie und Schwäche bei Geburt. Die Form mit Beginn im späten Säuglingsalter bis
zum frühen Kindesalter tritt mit verzögerter motorischer Entwicklung auf, später zeigen sich Schwierigkeiten beim Rennen und Treppensteigen. Ein marfanoider, schlacksiger Habitus mit einem langen,
schmalen Gesicht und einem hochgewölbten Gaumen ist typisch. Eine Skoliose und Klumpfüße können vorhanden sein. Die meisten Patienten entwickeln eine fortschreitende Muskelschwäche, einige sind
auf den Rollstuhl angewiesen. Eine progressive externe Ophthalmoplegie mit Ptose und unterschiedlich beeinträchtigten extraokulären
Muskeln sind sowohl für die Neugeborenenformen als auch für die
Formen mit Beginn im späten Säuglingsalter charakteristisch. Eine
dritte Variante (Form mit Manifestation in später Kindheit bis Erwachsenenalter) beginnt in der 2.–3. Lebensdekade. Die Patienten haben eine uneingeschränkte Augenmotilität und nur selten eine Ptose.
Es besteht eine leichte, langsam fortschreitende Gliedmaßenschwäche,
die distal betont sein kann. (Bei manchen dieser Patienten wurde die
Diagnose der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit Typ 2 [hereditäre motorisch-sensible Neuropathie Typ II] gestellt; Kap. 459.)
Normale oder leicht erhöhte CK-Werte werden bei allen diesen
Formen gefunden. Die Neurografie kann reduzierte Amplituden der
distalen Muskelsummenaktionspotenziale, besonders bei der Erwachsenenform, zeigen, die der Charcot-Marie-Tooth-Krankheit Typ 2 ähnelt. Im Elektromyogramm ergeben sich oft besondere Befunde, positive scharfe Wellen und Fibrillationen, komplexe und repetitive Entladungen und selten myotone Serien. Die Muskelbiopsie zeigt in den
Längsschnitten Reihen zentral gelegener Kerne, oft von einem Halo
umgeben. In Querschnitten finden sich zentrale Kerne in 25–80 %
der Muskelfasern.
Ein Gen für die Neugeborenenform der zentonukleären Myopathie
wurde auf Xq28 lokalisiert. Dieses Gen kodiert für Myotubularin, eine
Protein-Tyrosinphosphatase. Missense-Mutationen, Rasterverschiebungen und Spleißstellenmutation führen zum Funktionsverlust von
Myotubularin bei Betroffenen. Die Identifikation von Konduktorinnen ist ebenso möglich wie eine pränatale Diagnostik. Autosomal rezessive Formen entstehen durch Mutationen von BIN1, das für Amphyphysin 2 kodiert, während manche Fälle mit der autosomal dominanten Form mit spätem Beginn, die allelisch zu einer Form der
Charcot-Marie-Tooth-Krankheit Typ 2 sind, sind mit Mutationen im
Gen, das für Dynamin-2 kodiert, verbunden sind. Derzeit gibt es keine spezifische medikamentöse Therapie.
KRANKHEITEN DES MUSKELENERGIESTOFFWECHSELS
Es gibt zwei hauptsächliche Energiequellen für den Skelettmuskel –
Fettsäuren und Glukose. Störungen in der Glukose- oder Lipidverwertung können mit ausgeprägten klinischen Erscheinungen verbunden
sein, die von einem akuten, schmerzhaften Syndrom mit Rhabdomyolyse und Myoglobulinurie bis zu einer chronischen fortschreitenden
Muskelschwäche, ähnlich einer Muskeldystrophie, reichen.
& GLYKOGENSPEICHER- UND GLYKOLYSEDEFEKTE
Glykogenspeichererkrankungen mit fortschreitender Muskelschwäche
α-Glukosidase(oder Saure-Maltase)-Mangel (Pompe-Krankheit) Es
werden drei klinische Formen (die Säuglings- oder Kindheitsform,
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462e-15
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
die Jugendlichenform und die Erwachsenenform) des α-GlukosidaseMangels (Glykogenose Typ II) unterschieden, die jeweils autosomal
rezessiv vererbt werden. Das Gen für saure Maltase befindet sich auf
dem langen Arm von Chromosom 17. Die Säuglings- oder Kindheitsform ist die häufigste mit Beginn in den ersten 3 Lebensmonaten
(auch als die eigentliche Pompe-Krankheit bezeichnet). Die Säuglinge
entwickeln eine schwere Muskelschwäche, Kardiomegalie, Hepatomegalie und eine Ateminsuffizienz. Die Glykogenakkumulation in den
Motoneuronen von Rückenmark und Hirnstamm trägt zur Muskelschwäche bei. Der Tod tritt gewöhnlich bis zum Ende des 1. Lebensjahrs ein. Die Jugendlichenform ähnelt einer Muskeldystrophie. Die
verzögerte motorische Entwicklung ist auf eine proximale Muskelschwäche der Extremitäten zurückzuführen sowie auf eine Beteiligung der Atemmuskeln. Das Herz kann auch beteiligt sein, Leber
und Gehirn bleiben verschont. Die Erwachsenenform beginnt normalerweise in der 3.–4. Lebensdekade, kann sich jedoch auch erst in der
7. Lebensdekade manifestieren. Eine Ateminsuffizienz und eine
Zwerchfellschwäche stellen oft die initialen Symptome dar und kündigen eine fortschreitende proximale Muskelschwäche an. Herz und
Leber sind nicht beteiligt.
Bei der Säuglings- und Kindheitsform sowie bei der Jugendlichenform des Saure-Maltase-Mangels sind die CK-Werte im Serum um
das Zwei- bis Zehnfache erhöht, bei der Erwachsenenform können
die CK-Werte normal sein. Die Elektromyografie zeigt ein myopathisches Muster, wobei andere Merkmale besonders kennzeichnend sind:
myotone Entladungen, Serien von Fibrillationen und positive Wellen
sowie komplexe repetitive Entladungen. Die EMG-Entladungen sind
in der paraspinalen Muskulatur besonders deutlich. Die Muskelbiopsie zeigt typischerweise bei den Säuglingen Vakuolen, die Glykogen
und das lysosomale Enzym saure Phosphatase enthalten. In der Elektronenmikroskopie zeigen sich membrangebundene und freie Glykogengranula. Beim Saure-Maltase-Mangel mit später Manifestation
kann eine Muskelbiopsie nur unspezifische Veränderungen zeigen.
Die Enzymanalyse aus getrocknetem Blut ist eine neue und sensitive
Methode zum Screening für den Saure-Maltase-Mangel. Eine definitive Diagnose kann durch die Enzymbestimmung im Muskel oder in
den Fibroblastenkulturen oder durch eine genetische Untersuchung
erreicht werden.
Der Saure-Maltase-Mangel wird autosomal rezessiv vererbt und
entsteht durch Mutationen im Gen für die α-Glukosidase. Die Ersatztherapie mit intravenöser rekombinanter menschlicher α-Glukosidase
hat eine positive Wirkung bei der Säuglings- und Kindheitsform. Der
klinische Nutzen der Ersatztherapie besteht bei der Säuglings- und
Kindheitsform in einer weniger ausgeprägten Kardiomegalie, einer
verbesserten Muskelfunktion, einem reduzierten Bedarf der Atemunterstützung und einer höheren Lebenserwartung. Bei den Spätformen
führte die Ersatztherapie zu keinem dramatischen Ansprechen, wie
bei der klassischen infantilen Pompe-Krankheit, trotzdem stabilisiert
sie den Krankheitsprozess.
tische Defekt, der mit einer Belastungsintoleranz verbunden ist. Die
glykolytischen Defekte führen zu einer unzureichenden Energiebereitstellung zu Beginn einer körperlichen Anstrengung, wobei der
genaue Ort dieser energetischen Insuffizienz umstritten bleibt.
Die klinischen Muskelmanifestationen dieser Glykolysedefekte beginnen üblicherweise im Jugendalter. Die Symptome werden durch
kurze Episoden intensivster körperlicher Anstrengung, wie Rennen
oder Heben schwerer Lasten, ausgelöst. Anamnestisch gehen den äußerst schmerzhaften Muskelkontraktionen meist Myalgien und Muskelsteifigkeit voraus, im Gefolge kann eine Myoglobinurie auftreten.
Ein akutes Nierenversagen geht mit einer signifikanten Urinverfärbung einher.
Bestimmte klinische Befunde tragen dazu bei, einige der Enzymdefekte voneinander unterscheiden zu können. Bei der McArdle-Krankheit kann eine Belastungstoleranz durch langsame Aufwärmphasen
und kurze Ruheperioden verbessert werden, wobei die Umstellung
auf die Fettsäureverwertung in Gang gebracht wird. (Das so genannte
Second-wind-Phänomen – Linderung der Beschwerden nachdem die
initiale Belastung, die zum Auftreten der Beschwerden geführt hat,
auf einem geringeren Niveau fortgesetzt wird, was mit der Mobilisierung freier Fettsäuren als Energiequelle für die Muskeln verbunden
ist.) Eine unterschiedlich ausgeprägte hämolytische Anämie begleitet
den Mangel von Phosphofruktokinase (leichte Ausprägung) und
Phosphoglyzeratkinase (schwere Ausprägung). Beim Phosphoglyzeratkinasemangel besteht das klinische Bild üblicherweise aus einer
Epilepsie mit mentaler Retardierung, während die Belastungsintoleranz ein eher seltenes Phänomen darstellt.
Bei allen diesen Krankheiten fluktuieren die CK-Werte im Serum
stark und können auch in symptomfreien Intervallen erhöht sein. Die
CK-Werte liegen um das 100-Fache über der Norm, begleitet von einer Myoglobinurie. Alle Patienten mit Verdacht auf einen glykolytischen Defekt mit Belastungsintoleranz sollten einem Unterarmbelastungstest unterzogen werden. Ein fehlender oder abgeschwächter Anstieg des venösen Laktats ist in hohem Maße wegweisend für einen
Glykolysedefekt. Beim Laktatdehydrogenasemangel steigt das venöse
Laktat nicht an, aber das Pyruvat steigt nach Belastung wie bei Gesunden an. Die definitive Diagnose der Glykogenspeicherkrankheiten
wird anhand der Muskelbiopsie und der anschließenden enzymatischen Analyse oder anhand der genetischen Untersuchungen gestellt.
Myophosphorylasemangel, Phosphofruktokinasemangel und Phosphoglyzeratmutasemangel werden autosomal rezessiv vererbt, der
Phosphoglyzeratkinasemangel X-chromosomal rezessiv. Mutationen
können in den Genen nachgewiesen werden, die für die jeweiligen
Proteine kodieren.
Training kann die Belastungstoleranz verbessern, möglicherweise
durch erhöhte Muskeldurchblutung. Einnahme von freier Glukose
oder Fruktose vor Belastung kann die Muskelfunktion verbessern.
Man sollte jedoch aufpassen, dass die vermehrte Kalorienzufuhr nicht
zur Adipositas führt.
Andere Glykogenspeicherkrankheiten mit fortschreitender Muskelschwäche Beim Entzweigungsenzymmangel (Amylo-1,6-Glukosidase-Mangel, Glykogenose Typ III, Cori-Krankheit oder Forbes-Krankheit) kann sich nach der Pubertät eine langsam fortschreitende Form
der Muskelschwäche entwickeln. Selten besteht eine Myoglobulinurie.
Die Krankheit wird jedoch wegen der Muskelhypotonie und der verzögerten motorischen Entwicklung, der Hepatomegalie, der Hypoglykämie und des Minderwuchses schon im Säuglingsalter diagnostiziert. Der Verzweigungsenzymmangel (Amylo-1,4-1,6-Transglukosidase-Mangel, Glykogenose TypIV, Andersen-Krankheit) ist eine seltene und tödlich verlaufende Glykogenspeicherkrankheit mit
Hepatomegalie und Gedeihstörung. Muskelhypotonie und Muskelschwund können vorliegen, die Skelettmuskelmanifestationen sind
aber verglichen mit dem Leberversagen zweitrangig.
& FETTSÄUREN ALS ENERGIEQUELLE UND LIPIDSTOFFWECHSELKRANK-
Glykogenspeicherkrankheiten mit Belastungsintoleranz
Einige Defekte der Glykolyse sind mit einer rezidivierenden Myoglobinurie verbunden: der Myophosphorylasemangel (Glykogenose
Typ V, McArdle-Krankheit), der Phosphofruktokinasemangel (Glykogenose Typ VII, Tarui-Krankheit), der Phosphoglyzeratkinasemangel
(Glykogenose Typ IX), der Phosphoglyzeratmutasemangel (Glykogenose Typ X), der Laktatdehydrogenasemangel (Glykogenose Typ XI)
und der Beta-Enolasemangel. Der Myophosphorylasemangel, auch
bekannt als McArdle-Krankheit, ist der bei weitem häufigste glykoly-
462e-16
HEITEN
Fettsäuren sind für den Muskel eine wichtige Energiequelle in Ruhe
und bei anhaltender, submaximaler Belastung. Sie werden aus zirkulierenden Lipoproteinen mit sehr geringer Dichte (very low density
lipoprotein, VLDL) im Blut oder aus Triglyzeriddepots im Muskel bezogen. Die Fettsäureoxidation erfolgt in den Mitochondrien. Um in
die Mitochondrien zu gelangen, muss die Fettsäure erst in eine „aktivierte Fettsäure“, in Acyl-CoA, umgewandelt werden. Dieses muss für
den Transport in die Mitochondrien mithilfe des Enzyms CarnitinPalmityltransferase (CPT) I an Carnitin gekoppelt werden. CPT I befindet sich an der Innenseite der äußeren Mitochondrienmembran.
Carnitin wird durch CPT II, ein Enzym an der Innenseite der inneren
Mitochondrienmembran, wieder entfernt, was den Transport von
Acyl-CoA in die mitochondriale Matrix zur β-Oxidation ermöglicht.
Carnitin-Palmityltransferase-II-Mangel
Der Carnitin-Palmityltransferase-II-Mangel ist die am häufigsten festgestellte Ursache für eine rezidivierende Myoglobinurie (häufiger als
die glykolytischen Defekte). Die Erkrankung beginnt meistens im Jugendalter oder am Anfang der dritten Labensdekade. Muskelschmerzen und Myoglobinurie treten typischerweise nach einer anhaltenden
körperlichen Belastung auf. Sie können jedoch auch durch Fasten oder
Infektionen ausgelöst werden. Dennoch zeigen bis zu 20 % der Patien-
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
ten keine Myoglobinurie. Die Kraft zwischen den Attacken ist normal.
Im Gegensatz zu den Krankheiten, die von Defekten der Glykolyse
verursacht werden und bei denen Muskelkrämpfe nach einer kurzen,
akuten und intensiven körperlichen Anstrengung auftreten, entsteht
der Muskelschmerz beim CPT-II-Mangel erst, wenn die Grenze der
Fettsäureverwertung überschritten ist und es zum Muskelzerfall gekommen ist. Episoden mit Rhabdomyolyse können eine schwere Muskelschwäche hervorrufen. Bei kleinen Kindern und Neugeborenen mit
einem Carnitin-Palmityltransferase-II-Mangel kann ein sehr schweres
klinisches Bild mit hypoketotischer Hypoglykämie, Kardiomyopathie,
Leberversagen und plötzlichem Tod auftreten.
Die CK-Werte im Serum und die EMG-Befunde sind in den beschwerdefreien Intervallen meist normal. Ein normaler Anstieg des
venösen Laktats im Unterarmbelastungstest unterscheidet diesen Defekt von glykolytischen Defekten, insbesondere vom Myophosporylasemangel. Die Muskelbiopsie zeigt keine Lipidablagerungen und ist
zwischen den Attacken meist normal. Im Serum kann bei CPT-IIMangel ein pathologisches Profil der Acylcarnitine mit Vermehrung
der langkettigen Acylcarnitine und pathologischem Verhältnis zwischen diesen und Carnitin vorliegen. Zur Sicherung der Diagnose
können die CPT-II-Aktivität in Lymphozyten bzw. direkt im Muskel
gemessen oder die genetische Untersuchung durchgeführt werden.
Der Carnitin-Palmityltransferase-II-Mangel tritt bei Männern viel
häufiger auf als bei Frauen (5 : 1). Trotzdem weist alles darauf hin,
dass ein autosomal rezessiver Erbgang vorliegt. Eine Mutation im Gen
für Carnitin-Palmityltransferase II (Chromosom 1p36) verursacht die
Krankheit in manchen Fällen. Versuche zur Verbesserung der Belastungstoleranz wie häufige Mahlzeiten und eine fettarme, kohlenhydratreiche Diät oder Substitution von mittelkettigen Triglyzeriden erwiesen sich als nicht nützlich.
Myoadenylat-Desaminase-Mangel
Das Muskelenzym Myoadenylat-Desaminase wandelt Adenosin-5’Monophosphat (5’-AMP) in Inosinmonophosphat (IMP) um, wobei
Ammoniak freigesetzt wird. Die Myoadenylat-Desaminase ist an der
Regulierung des ATP-Spiegels im Muskel beteiligt. Die meisten Fälle
mit Myoadenylat-Desaminase-Mangel sind asymptomatisch. Es gibt
wenige Berichte von Patienten mit diesem Mangel, die belastungsinduzierte Myalgien und Myoglobinurie haben. Es bestehen viele Fragen zu den klinischen Auswirkungen des Myoadenylat-DesaminaseMangels, insbesondere zur Beziehung zu Belastungsmyalgie und vorschneller Ermüdbarkeit. Ein Konsens wurde bisher nicht erzielt.
MITOCHONDRIALE MYOPATHIEN
Im Jahre 1972 beobachteten Olson und Mitarbeiter, dass Muskelfasern mit einer signifikanten Anzahl an abnormen Mitochondrien
durch die modifizierte Gomori-Trichrom-Färbung hervorgehoben
werden konnten. Der Terminus Ragged-red Fibers (RRF, „zerrissene
rote Fasern“ – in der Lichtmikroskopie Fasern mit fuchsinophiler
subsarkolemmaler Vermehrung und zerrissenem Querschnitt) wurde
geprägt. Im Elektronenmikroskop sind die Mitochondrien in Raggedred Fibers vergrößert, oft bizarr geformt und weisen parakristalline
Einschlüsse auf. Seit dieser wegweisenden Beobachtung hat das Verständnis für diese Erkrankungen von Muskeln und anderen Geweben
zugenommen (Kap. 61).
Mitochondrien spielen eine Schlüsselrolle bei der Energieproduktion. Die Oxidation der Nahrungshauptbestandteile: Kohlenhydrate,
Fette und Eiweiße führt zur Bildung von Reduktionsäquivalenten.
Diese werden in einem Prozess, der als „oxidative Phosphorylierung“
bekannt ist, durch die Atmungskette geschleust. Die Energie, die
durch die Oxidations-Reduktions-Vorgänge in der Atmungskette entsteht, wird in einem elektrochemischen Gradienten gespeichert, der
an die ATP-Synthese gekoppelt ist.
Ein neuer, die Mitochondrien betreffender Aspekt ist ihre genetische Zusammensetzung. Jedes Mitochondrium besitzt ein DNS-Genom, das sich von der nukleären DNS unterscheidet. Menschliche mitochondriale DNS (mtDNS) besteht aus einem doppelsträngigen, zirkulären Molekül aus 16.569 Basenpaaren. Es kodiert für 22 transferRNS (tRNS), zwei ribosomale RNS (rRNS) und 13 Polypeptide der
Atmungskettenenzyme. Die Genetik mitochondrialer Krankheiten
unterscheidet sich von der Genetik chromosomaler Erkrankungen.
Die DNS von Mitochondrien wird direkt durch das Zytoplasma der
Gameten, hauptsächlich der Oozyten, vererbt. Das Spermium trägt
zum Zeitpunkt der Befruchtung nur sehr wenige seiner Mitochon-
462e
drien für die Nachkommen bei. Deswegen stammen die mitochondrialen Gene fast ausschließlich von der Mutter und sind für die mütterliche Vererbung mancher mitochondrialer Erkrankungen verantwortlich.
Patienten mit mitochondrialen Erkrankungen haben Symptome,
die sich drei Gruppen zuordnen lassen: eine chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO), Syndrome mit Beteiligung der Skelettmuskulatur und des Zentralnervensystems sowie Syndrome mit
reiner Myopathie, die einer Muskeldystrophie oder metabolischen
Myopathie ähneln.
& SYNDROME MIT CHRONISCH PROGRESSIVER EXTERNER
OPHTHALMOPLEGIE UND RAGGED-RED FIBERS
Das am häufigsten vorkommende Zeichen einer mitochondrialen
Myopathie ist die chronisch progressive externe Ophthalmoplegie, die
in mehr als 50 % der Fälle aller mitochondrialen Myopathien vorkommt. Eine unterschiedliche Schwere der Ptose und Schwäche der
extraokulären Muskeln wird beobachtet, meist ohne Diplopie, ein differenzialdiagnostisches Merkmal zur Abgrenzung von anderen
Krankheiten mit fluktuierender Augenmuskelschwäche (z. B. Myasthenia gravis).
Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Das Kearns-Sayre-Syndrom ist eine Multisystem- und Multiorganerkrankung mit einer definierten Trias klinischer Befunde: Beginn vor
dem 20. Lebensjahr, chronisch progressive externe Ophthalmoplegie,
Retinopathia pigmentosa und einer oder mehrere der folgenden Befunde: kompletter AV-Block, Liquorprotein über 1,0 g/l (100 mg/dl) und
zerebelläre Ataxie. Einige Patienten mit chronisch progressiver externer
Ophthalmoplegie und Ragged-red Fibers erfüllen nicht alle Kriterien
für das Kearns-Sayre-Syndrom. Die Herzkrankheit umfasst synkopale
Attacken und Herzstillstand, entsprechend den Anomalien im kardialen Erregungsleitungssystem: verlängerte intraventrikuläre Leitungszeiten, Schenkelblockbilder, kompletter AV-Block. Der Tod durch Leitungsblock betrifft etwa 20 % der Patienten. Fortschreitende Muskelschwäche verschiedenen Ausmaßes und leichte Ermüdbarkeit der Muskulatur beeinträchtigen den Alltag. Endokrine Störungen sind häufig,
einschließlich einer gonadalen Dysfunktion bei beiden Geschlechtern
mit verzögerter Pubertät, Kleinwuchs und Infertilität. Diabetes mellitus
ist ein häufiges Symptom einer mitochondrialen Erkrankung und wird
bei etwa 13 % der Patienten mit Kearns-Sayre-Syndrom angetroffen.
Seltenere Endokrinopathien sind Schilddrüsenerkrankungen, Hyperaldosteronismus, Addison-Krankheit und Hypoparathyreoidismus. Sowohl mentale Retadierung als auch Demenz treten bei diesen Erkrankungen häufig auf. Die Serum-CK ist normal oder leicht erhöht. Serumlaktat und -pyruvat können erhöht sein. Die Elektromyografie zeigt
myopathische Veränderungen. Die Neurografie kann im Sinne einer assoziierten Neuropathie verändert sein. Die Muskelbiopsie zeigt Raggedred Fibers, in oxidativen Enzymfärbungen (z. B. Cytochrom-C-Oxidase/Succinat-Dehydrogenase[COX/SDH]-Färbung) werden viele Fasern
mit Defekten der Cytochromoxidase dargestellt. In der Elektronenmikroskopie imponiert eine erhöhte Anzahl oft vergrößerter Mitochondrien mit parakristallinen Einschlüssen.
Das Kearns-Sayre-Syndrom ist eine sporadische Erkrankung. Die
Krankheit wird durch singuläre mtDNS-Deletionen verursacht, die
vermutlich spontan in der Oozyte oder in der Zygote entstehen. Die
häufigste Deletion bei etwa einem Drittel der Patienten entfernt 4977
Basenpaare aus der mtDNS. Die Überwachung der kardialen Leitungsstörungen ist essenziell. Eine prophylaktische Schrittmacherimplantation ist bei bifaszikulärem Schenkelblock indiziert. Beim Kearns-SayreSyndrom konnten keine Erfolge mit supplementären Therapien, einschließlich Multivitaminen oder Coenzym-Q10-Gaben, erzielt werden.
Von allen vorgeschlagenen Optionen ist die Krankengymnastik am
sinnvollsten, sollte aber wegen der kardialen Erregungsleitungsstörungen vorsichtig vorgenommen werden.
Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie
Diese Störung wird durch Mutationen nicht nur in der mitochondrialen DNS, sondern auch in der nukleären DNS verursacht. Im zweiten
Fall kommt es zu einer negativen Auswirkung auf die Kopiezahl und
Integrität der mtDNS und die chronisch progressive externe Ophthalmoplegie wird durch einen Mendel-Vererbungsmodus weitergegeben.
Diese Erkrankung beginnt üblicherweise nach der Pubertät. Ermüdbarkeit, Belastungsintoleranz und Klagen über Muskelschwäche sind
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462e-17
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
typisch. Einige Patienten haben Schluckprobleme. Bei der neurologischen Untersuchung findet man eine Ptose und eine externe Ophthalmoplegie, meist asymmetrisch in der Verteilung. Ein sensorineuraler
Hörverlust kann vorliegen. Eine leichte mimische, Nackenbeuge- und
proximale Extremitätenschwäche sind typisch. Selten ist die Atemmuskulatur so stark betroffen, dass dies direkt zum Tode führen kann.
Die Serum-CK ist normal oder nur leicht erhöht. Das Ruhelaktat ist
ebenso normal bis leicht erhöht, kann aber nach Belastung exzessiv
ansteigen. Das Liquorprotein ist normal. Die Elektromyografie zeigt
einen myopathischen Befund und die Neurografie fällt meist normal
aus. In der Muskelbiopsie sind Ragged-red Fibers in hoher Anzahl
vertreten. Die Southern-Blot-Analyse aus dem Muskel zeigt ein normales mtDNS-Band bei 16,6 kb und zusätzlich verschiedene mtDNSDeletionsbanden mit Genomstücken, die zwischen 0,5 und 10 kb variieren (sog. multiple Deletionen der mtDNS infolge von Mutationen
in der nukleären DNS).
Diese autosomal dominante Form der chronisch progressiven externen Ophthalmoplegie (CPEO) ist mit Genloci auf drei Chromosomen verknüpft: 4q35, 10q24 und 15q22-26. Bei der 4q35-Variante der
Erkrankung werden Mutationen in einem Gen gefunden, das die
herz- und skelettmuskelspezifische Isoform des AdeninnukleotidTranslokators 1 (ANT1) kodiert. Diese in hoher Zahl vorkommenden
Proteine formen einen homodimeren inneren Mitochondrienkanal,
durch den ADP eintritt und ATP die mitochondriale Matrix wieder
verlässt. Bei der dem Chromosom 10q zugeordneten Erkrankung
werden Mutationen im Gen C10orf2 gefunden. Ihr Genprodukt
Twinkle ist mit mtDNS kolokalisiert, seinen Namen hat es wegen seines funkelnden, punkt- und sternförmigen Aussehens nach der Färbung. Dem Twinkle-Protein wird die Funktion einer mtDNS-Helikase
zugeschrieben. Da Helikasen für die Auftrennung der Doppelhelix in
Einzelstränge verantwortlich sind und bei der Replikation, Reparation
und Transkription der DNS eine wichtige Rolle spielen, können Defekte des Twinkle-Proteins zu Mutationen der mtDNS führen. Bei
den auf Chromosom 15q liegenden Fällen wird durch eine Mutation
ein Gen verändert, das für die mtDNS-Polymerase Gamma (POLG)
kodiert, ein für die Replikation der mtDNS wichtiges Enzym. Die autosomal rezessive chronisch progressive externe Opthalmoplegie wurde ebenso mit Mutationen im Gen für die mitochondriale DNS-Polymerase Gamma (POLG) beschrieben. Es wurden auch Punktmutationen in verschiedenen tRNS-Genen (für Leucin, Isoleucin, Asparagin,
Tryptophan) der mtDNS bei Familien mit mütterlicher Vererbung
der chronisch progressiven externen Ophthalmoplegie identifiziert.
Krankengymnastik kann zur Funktionsverbesserung beitragen, dies
hängt aber von der Kooperationsfähigkeit des Patienten ab.
& mtDNS-Syndrome mit Beteiligung der Skelettmuskulatur und des
Zentralnervensystems
Myoklonus-Epilepsie mit Ragged-red Fibers (MERRF-Syndrom)
Der Beginn der Erkrankung ist unterschiedlich und reicht von der
späten Kindheit bis zum mittleren Erwachsenenalter. Charakteristisch
sind die Myoklonus-Epilepsie, die zerebelläre Ataxie und die fortschreitende Muskelschwäche. Die Epilepsie ist ein integraler Bestandteil der Erkrankung und kann das Erstsymptom sein. Die zerebelläre
Ataxie geht ihr voraus oder begleitet sie. Sie ist langsam fortschreitend und hat einen generalisierten Charakter. Der dritte Hauptaspekt
der Erkrankung ist die gliedergürtelförmig verteilte Muskelschwäche.
Andere, variablere Befunde sind eine Demenz, eine Polyneuropathie,
eine Optikusatrophie, ein Hörverlust und ein Diabetes mellitus.
Die Serum-CK ist normal oder leicht erhöht. Das Serum-Laktat
kann erhöht sein. Das Elektromyogramm zeigt einen myopathischen
Befund. Die Neurografie weist bei einigen Patienten auf eine Neuropathie hin. Das Elektroenzephalogramm ist abnorm und bestätigt
den klinischen Befund der Epilepsie. In der Muskelbiopsie finden sich
typische Ragged-red Fibers. Das MERRF-Syndrom wird durch mütterlich vererbte Punktmutationen innerhalb mitochondrialer transferRNS(tRNS)-Gene verursacht. Die häufigste Mutation bei 80 % der
MERRF-Patienten ist ein Austausch von Adenin gegen Guanin an
Nukleotidposition 8344 der mtDNS im tRNS-Gen für Lysin (neue Bezeichnung 8344A>G und alte Bezeichnung A8344G tRNS Lys). Andere Mutationen im tRNS-Gen für Lysin beinhalten einen Austausch
der Basenpaare: Thymin gegen Guanin und Guanin gegen Adenin an
Nukleotidpositionen: 8356 und 8363 der mtDNS (8356T>C tRNS Lys
und 8363G>A tRNS Lys). Es ist lediglich eine symptomatische Therapie möglich, insbesondere der Epilepsie.
462e-18
Mitochondriale Myopathie, Enzephalopathie, Laktazidose und schlaganfallähnliche Episoden (MELAS)
Das MELAS-Syndrom ist die bekannteste mitochondriale Enzephalomyopathie. Der Terminus schlaganfallähnlich ist passend, weil sich
die zerebralen Läsionen nicht streng an vaskuläre Territorien halten.
Außerdem wird während der schlaganfallähnlichen Episoden ein vasogenes Hirnödem in der diffusionsgewichteten Magnetresonanztomografie nachgewiesen (im Gegensatz zum zytotoxischen Hirnödem
bei ischämischem Schlaganfall). Bei den meisten Patienten beginnt
die Erkrankung vor dem 20. Lebensjahr. Epileptische Anfälle mit fokalen motorischen oder generalisierten Entäußerungen sind häufig
und können das erste klar erkennbare Zeichen der Erkrankung sein.
Die schlaganfallähnlichen Episoden verursachen typischerweise eine
Hemiparese, eine Hemianopsie oder eine kortikale Blindheit. Bei einer mutmaßlichen Schlaganfallsymptomatik vor dem 40. Lebensjahr
sollte der Differenzialdiagnose der mitochondrialen Enzephalomyopathie ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Assoziierte Befunde
sind Hörverlust, Diabetes mellitus, eine hypothalamische Hypophysenvorderlappeninsuffizienz mit Wachstumshormonmangel, Hypothyreose und fehlende sekundäre Geschlechtsmerkmale. In seiner vollen Ausprägung führt das MELAS-Syndrom zu Demenz, Bettlägerigkeit und tödlichem Ausgang. Das Serumlaktat ist typischerweise erhöht. Das Liquorprotein ist ebenfalls erhöht, liegt aber meist unter
1,0 g/l (100 mg/dl). Die Muskelbiopsie zeigt Ragged-red Fibers. Die
Bildgebung zeigt in einem hohen Prozentsatz der Fälle eine Basalganglienverkalkung. Fokale Läsionen, die Infarkte imitieren, werden vorzugsweise im Okzipital- und Parietallappen angetroffen. Sie lassen
sich keinem einzelnen vaskulären Territorium zuordnen, und die zerebrale Angiografie kann in den großen zerebralen Blutgefäßen keine
Läsionen nachweisen. MR-tomografisch kann sich in der Läsion in
den verschiedenen Wichtungen ein vasogenes Ödem darstellen.
Das MELAS-Syndrom wird durch mütterlich vererbte Punktmutationen in mitochondrialen tRNS-Genen verursacht. Die meisten dieser tRNS-Mutationen sind letal und erklären die Dürftigkeit familiärer Stammbäume bei diesem Syndrom. Die Punktmutation (Austausch von Adenin gegen Guanin) an Nukleotidposition 3243 der
mtDNS (neue Bezeichnung 3243A>G und alte Bezeichnung A3243G)
im tRNS-Gen für Leucin [tRNS Leu(UUR)], die zu einem Aminosäureaustausch in der tRNS für Leucin führt, ist die am häufigsten anzutreffen und umfasst etwa 80 % der MELAS-Fälle. Ungefähr 10 % der
MELAS-Patienten haben andere Mutationen im tRNS-Gen für Leucin: 3252A>G, 3256C>T, 3271T>C und 3291T>C. Daneben wurden
weitere Mutationen in tRNS-Genen für Phenylalanin, Valin, Glutaminsäure und Lysin beim MELAS-Syndrom beschrieben: 583G>A
tRNS Phe, 1642G>A tRNS Val, 4332G>A tRNS Glu und 8316T>C
tRNS Lys. Auch über Mutationen in Polypeptid-kodierenden Genen
der mtDNS wurde berichtet. Zwei Mutationen fanden sich in der Untereinheit ND5 des Komplexes I der Atmungskette. Eine MissenseMutation wurde an Nukleotidposition 9957 der mtDNS im Gen für
die Untereinheit III der Cytochrom-c-Oxidase nachgewiesen. Eine
spezifische Behandlung ist nicht möglich. Die symptomatischen Maßnahmen für die schlaganfallähnlichen Episoden, epileptischen Anfälle
und Endokrinopathien sind essenziell.
Syndrome mit reiner Myopathie
Muskelschwäche und Ermüdbarkeit können die führenden Symptome
bei mtDNS-Mutationen sein. Wenn ausschließlich Muskeln betroffen
sind (reine Myopathie), wird es schwierig, die Krankheit zu erkennen.
Gelegentlich können sich die mitochondrialen Myopathien mit einer
rezidivierenden Myoglobinurie ohne permanente Muskelschwäche
manifestieren und dadurch einer Glykogenspeichererkrankung oder
dem CPT-II-Mangel ähneln.
Mitochondriales DNS-Depletionssyndrom
Das mitochondriale DNS-Depletionssyndrom (MDS) ist eine heterogene Gruppe von Erkrankungen mit autosomal rezessivem Erbgang,
die im Kleinkindalter oder beim Erwachsenen auftreten können. Ursachen sind Mutationen in Genen (TK2, DGUOK, RRM2B, TYMP,
SUCLA1 und SUCLA2), die zur Depletion der Pools von mitochondrialem Deoxyribonukleotid (dNTP) führen, die für die mtDNS-Replikation erforderlich sind. Die andere wichtige Ursache sind Mutationen
in Genen, die für die mtDNS-Replikation essenziell sind (z. B. POLG1
und C10orf2). Die klinischen Phänotypen sind unterschiedlich. Die
Patienten können eine schwere Enzephalopathie (z. B. Leigh-Syn-
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
drom), eine progressive externe Ophthalmoplegie, eine isolierte Myopathie, eine Myo-neuro-gastrointestinal-Enzephalopathie (MNGIE)
oder eine sensible Neuropathie mit Ataxie entwickeln.
KRANKHEITEN DER MUSKELMEMBRANERREGBARKEIT
Die Erregbarkeit der Muskelmembran wird durch eine Gruppe von
Krankheiten beeinträchtigt, die als Kanalerkrankungen bezeichnet
werden (engl. Channelopathies). Bei Beteiligung des Herzmuskels sind
lebensbedrohliche Komplikationen möglich (Tab. 462e-10).
& KALZIUMKANALERKRANKUNGEN DES MUSKELS
Hypokaliämische periodische Paralyse (HypoKPP)
Die Erkrankung tritt im Jugendalter auf, Männer sind häufiger betroffen, da Frauen eine geringere Penetranz zeigen. Eine episodische
Schwäche mit Beginn nach dem 25. Lebensjahr wird beinahe niemals
durch eine periodische Paralyse ausgelöst, mit Ausnahme einer thyreotoxischen periodischen Paralyse (siehe unten). Die Attacken werden oft durch kohlenhydrat- oder natriumreiche Mahlzeiten provoziert und können in Ruhe nach längerer körperlicher Belastung
auftreten. Die Schwäche betrifft mehr die proximale als die distale Extremitätenmuskulatur. Augenmuskeln und bulbäre Muskeln sind seltener betroffen. Die Atemmuskulatur ist meist ausgespart, eine Beteiligung kann letale Folgen haben. Die Schwäche kann 24 Stunden anhalten. Während der Attacken können lebensbedrohliche kardiale Arrhythmien infolge der Hypokaliämie auftreten. Als Spätkomplikation
entwickeln die Patienten eine schwere, beeinträchtigende proximale
Beinschwäche.
Die Attacken bei thyreotoxischer periodischer Paralyse ähneln denen der primären hypokaliämischen periodischen Paralyse. Trotz einer höheren Inzidenz einer Hyperthyreose bei Frauen sind Männer,
besonders jene mit asiatischer Abstammung, mehr prädisponiert, diese Komplikation zu entwickeln. Die Attacken lassen bei Behandlung
der zugrunde liegenden Schilddrüsenerkrankung nach.
Ein niedriger Serumkaliumwert während der Attacke sichert die
Diagnose, wenn sekundäre Ursachen ausgeschlossen sind. Die im
freien Intervall durchgeführte Muskelbiopsie zeigt einzelne oder multiple zentral liegende Vakuolen oder tubuläre Aggregate. Provokationstests mit Glucose und Insulin sind zur Diagnosestellung nicht erforderlich und potenziell gefährlich.
Während einer Schwächeattacke kann die motorische Neurografie
reduzierte Amplituden zeigen, das Elektromyogramm (EMG) weist
eine elektrische Stille in den besonders betroffenen Muskeln auf. Zwischen den Attacken sind das EMG und die Neurografie normal. Bei
einem Belastungstest über einen längeren Zeitraum sinkt die Amplitude jedoch oft und es zeigen sich Muskelaktionspotenziale motorischer Einheiten (MUAPs) mit myogenem Muster.
462e
Die hypokaliämische periodische Paralyse ist durch Mutationen in
einem von zwei Genen verursacht. Die hypokaliämische periodische
Paralyse Typ 1 ist die häufigste Form und wird als eine autosomal dominante Krankheit mit inkompletter Penetranz vererbt. Diese Patienten haben Mutationen im Gen für den skelettmuskulären spannungsabhängigen Kalziumkanal (CALCL1A3) (Abb. 462e-8). Die hypokaliämische periodische Paralyse Typ 2 macht etwa 10 % der Fälle aus,
die durch Mutationen im Gen für den spannungsabhängigen Natriumkanal (SCN4A) hervorgerufen wird. In jedem Fall führen die
Mutationen zu einem anormalen Stromfluss in der Gating-Pore,
durch den die Muskelzelle bei niedrigem Kaliumspiegel depolarisiert
wird. Inzwischen ist zudem bekannt, dass manche Fälle der thyreotoxischen hypokaliämischen periodischen Paralyse durch genetische
Varianten des Kaliumkanals (Kir 2.6) entstehen, dessen Expression
vom Schilddrüsenhormon gesteuert wird.
Den Chloridkanal stellt man sich aus zehn membranüberspannenden Domänen zusammengestellt vor. Die Position der Mutationen,
welche die dominant und rezessiv vererbten Formen der Myotonia
congenita verursachen, sind dargestellt, zusammen mit Mutationen,
die diese Krankheit in Mäusen und Ziegen hervorrufen.
BEHANDLUNG: HYPOKALIÄMISCHE PERIODISCHE PARALYSE
Die akute Schwäche bessert sich nach Kaliumverabreichung. Muskelkraft und EKG sollten überwacht werden. Das Kaliumchlorid
(0,2–0,4 mmol/kg) sollte alle 30 Minuten oral gegeben werden.
Nur selten ist eine intravenöse Therapie erforderlich (z. B. bei
Schluckstörungen oder Erbrechen). Die Gabe von Kalium in einer
Glukoselösung, die zu einer weiteren Senkung des Kaliumwerts
führen kann, sollte vermieden werden. Mannit ist das vorzuziehende Vehikel, um Kalium intravenös zu applizieren. Das langfristige Behandlungsziel ist die Attackenprävention. Dieses kann die
Spätkomplikation einer persistierenden Schwäche verringern. Die
Patienten sollten auf die Bedeutung einer kohlenhydrat- und natriumarmen Diät und auf die Folgen einer exzessiven körperlichen
Belastung hingewiesen werden. Die prophylaktische Gabe von
Acetazolamid (125–1000 mg/d in aufgeteilten Dosen) reduziert die
Attackenfrequenz bei der hypokaliämischen periodischen Paralyse
Typ 1 oder kann diese sogar ganz beheben. Paradoxerweise wird
das Kalium erniedrigt, was jedoch durch den günstigen Effekt einer metabolischen Azidose aufgehoben wird. Wenn die Attacken
unter Acetazolamid persistieren, sollte zusätzlich Kaliumchlorid
oral gegeben werden. Einige Patienten benötigen eine Behandlung
mit Triamteren (25–100 mg/d) oder Spironolacton (25–100 mg/
d). Durch die Therapie mit Acetazolamid können jedoch die
Schwächeattacken bei Patienten mit der hypokaliämischen periodischen Paralyse Typ 2 verschlimmert werden.
TABELLE 462e-10 Klinische Aspekte der periodischen Paralyse und der nicht dystrophischen Myotonien
Aspekte
Kalziumkanal
Natriumkanal
Kaliumkanal
Hypokaliämische PP
Hyperkaliämische PP
Paramyotonia congenita
Andersen-Syndromb
Vererbungsmodus
AD
AD
AD
AD
Alter bei Beginn
Jugendalter
Frühe Kindheit
Frühe Kindheit
Frühe Kindheit
Myotoniea
Nein
Ja
Ja
Nein
Episodische Schwäche
Ja
Ja
Ja
Ja
Frequenz der Schwächeattacken
Täglich bis jährlich
Etwa 2–3 täglich
Bei Kälte, ansonsten selten
Täglich bis jährlich
Dauer der Schwächeattacken
2–12 h
Von 1–2 h bis > 1 Tag
2–24 h
2–24 h
Serumkaliumspiegel während der
Schwächeattacken
Erniedrigt
Erhöht oder normal
Meist normal
Variabel
Effekte bei Kaliumzufuhr
Besserung der Schwäche
Verstärkte Myotonie, dann
Schwäche
Verstärkte Myotonie
Keine Änderung
Effekte bei Muskelkühlung
Keine Änderung
Verstärkte Myotonie
Verstärkte Myotonie, dann
Schwäche
Keine Änderung
Permanente Schwäche
Ja
Ja
Ja
Ja
a
Kann paradox sein bei Paramyotonia congenita.
Dysmorpher Aspekt und kardiale Arrhythmien sind Unterscheidungsmerkmale (siehe Text).
Abkürzungen: AD = autosomal dominant; AR = autosomal rezessiv; PP = periodische Paralyse.
b
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462e-19
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
& NATRIUMKANALERKRANKUNGEN DES MUSKELS
Hyperkaliämische periodische Paralyse (HyperKPP)
Der Terminus „hyperkaliämisch“ ist irreführend, da die Patienten
während der Attacken oft normwertige Kaliumwerte haben. Der Umstand, dass die Attacken durch Kaliumzufuhr herbeigeführt werden
können, charakterisiert die Erkrankung am besten. Der Beginn ist in
der 1. Lebensdekade, Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Die Attacken sind kurz (Dauer 30 Minuten bis 4 Stunden) und
leicht. Die Schwäche betrifft die proximalen Extremitätenmuskulatur,
bulbär versorgte Muskulatur ist ausgespart. Die Attacken treten in
Ruhe nach körperlicher Belastung oder nach Fasten auf. Bei einer Variante der Erkrankung ist die Myotonie ohne Muskelschwäche das
Hauptsymptom (kaliumsensitive Myotonie). Die Symptome verstärken sich bei Kälte und die Myotonie führt zu einer schmerzhaften
Muskelsteifigkeit. Diese Erkrankung kann mit einer Paramyotonia
congenita, einer Myotonia congenita und einer myotonen Dystrophie
Typ 2 (proximale myotone Myopathie, PROMM) verwechselt werden.
Kalium ist während einer Attacke leicht erhöht, kann aber auch
normal sein. Analog zur hypokaliämischen periodischen Paralyse
kann die motorische Neurografie auch bei der hyperkaliämischen periodischen Paralyse reduzierte Amplituden zeigen. Das Elektromyogramm kann eine elektrische Stille in den besonders betroffenen Muskeln aufweisen. In attackenfreien Intervallen ist die Neurografie normal. Im EMG treten während der Attacken und im Intervall oft myotone Entladungen in Erscheinung.
Die Muskelbiopsie zeigt im Vergleich zur hypokaliämischen Form
kleinere, weniger zahlreiche und peripherer liegende Vakuolen oder
tubuläre Aggregate. Provokationstests mit Gabe von Kalium können
eine Muskelschwäche induzieren, sie sind aber zur Diagnosestellung
nicht erforderlich. Die hyperkaliämische periodische Paralyse und die
kaliumsensitive Myotonie werden autosomal dominant vererbt. Mutationen im Gen für den spannungsabhängigen Natriumkanal SCN4A
(Abb. 462e-8) sind die Ursache. Bei Patienten mit häufigen Attacken
ist Acetazolamid (125–1000 mg/d) hilfreich. Mexiletin scheint hilfreich bei Patienten mit einer signifikanten Myotonie zu sein.
Paramyotonia congenita
Bei der Paramyotonia congenita treten die Schwächeattacken kälteinduziert oder spontan auf und sind eher leichtgradig ausgeprägt. Die
Myotonie ist das führende Symptom, sie verstärkt sich aber während
der Muskelaktivität (paradoxe Myotonie) im Gegensatz zur klassischen Myotonie, bei der sich die Myotonie durch Tätigkeit bessert.
Die Schwächeattacken sind selten so schwer, dass sie eine notfallmäßige Behandlung erfordern. Mit der Zeit entwickeln die Patienten auch
zwischen den Attacken eine Muskelschwäche, genauso wie bei anderen periodischen Paralysen. Die Paramyotonia congenita ist üblicherweise mit Normokaliämie oder Hyperkaliämie verknüpft.
Die Serum-CK ist normalerweise leicht erhöht. Die sensible und
motorische Neurografie zeigt einen Normalbefund. Ein kurzer Belastungstest kann jedoch anormal sein und die Kühlung der Muskeln
senkt oft bedeutsam die Amplituden der Muskelsummenaktionspotenziale (Compound Muscle Action Potentials, CMAP). Das Elektromyogramm zeigt diffuse myotone Entladungen. Unter einer lokalen Kühlung des Muskels verschwinden die myotonen Entladungen,
weil der Patient unfähig wird, die Muskelaktionspotenziale motorischer Einheiten (Motor Unit Action Potentials, MUAPs) zu aktivieren.
Die Paramyotonia congenita wird autosomal dominant vererbt;
Mutationen im Gen für den spannungsabhängigen Natriumkanal
(Abb. 462e-8) sind verantwortlich und dadurch ist diese Erkrankung
allelisch zur hyperkaliämischen periodischen Paralyse und zur kaliumsensitiven Myotonie. Die Patienten suchen selten während ihrer
Attacken ärztliche Hilfe auf. Die orale Gabe von Glukose oder anderen Kohlenhydraten führt rasch zur Normalisierung des Zustandes.
Da sich nach wiederholten Episoden eine Schwäche im attackenfreien
Intervall entwickeln kann, ist eine prophylaktische Therapie indiziert.
Thiaziddiuretika (wie Chlorothiazid 250–1000 mg/d) und Mexiletin
(langsame Aufdosierung bei einer Initialdosis von 450 mg/d) wurden
als erfolgreich beschrieben. Den Patienten sollte empfohlen werden,
sich möglichst kohlenhydrathaltig zu ernähren.
462e-20
α-Untereinheit des Natriumkanals
I
II
III
IV
Außenseite
1 2 34 5 6
Innenseite
COO2
1
NH3
PC
HyperKPP
KSM
α-Untereinheit des Kalziumkanals
I
II
III
IV
H G
H
Außenseite
R
R
Innenseite
1
NH3
COO2
Chloridkanal
2
1
Außenseite
Δ
3
4
5
6
7
8
9
1112
Δ
Δ
1
NH3
Dominante
Myotonia
congenita
10
Rezessive Myotonia
congenita
Myotone Ziege
Ala
Pro
13
Innenseite
COO2
ADR (Insertion
bei Mäusen)
adrmto-Stopp
(bei Mäusen)
Abbildung 462e-8 Die Natrium- und Kalziumkanäle sind mit ihren vier homologen
Domänen dargestellt, wobei jede Domäne aus sechs membranüberspannenden Segmenten besteht. Das vierte Segment einer jeden Domäne trägt positive Ladungen und arbeitet
als „Spannungsfühler“ für den Kanal. Die Assoziation der vier Domänen bildet vermutlich
eine Porenöffnung, durch welche die Ionen permeieren. Mutationen im Gen für den Natriumkanal sind zusammen mit ihren Phänotypen dargestellt. HyperKPP = hyperkaliämische periodische Paralyse; KSM = kaliumsensitive Myotonie; PC = Paramyotonia congenita. Einzelheiten siehe Text.
& KALIUMKANALERKRANKUNGEN
Andersen-Tawil-Syndrom
Diese seltene Erkrankung, die auch als Andersen-Syndrom bezeichnet
wird, ist durch episodisch auftretende Muskelschwäche, Herzrhythmusstörungen und durch Dysmorphiezeichen mit Kleinwuchs, Skoliose, Klinodaktylie, Hypertelorismus, kleine oder tief sitzende Ohren,
eine Mikrognathie und eine breite Stirn charakterisiert. Die Herzrhythmusstörungen sind schwer und potenziell lebensbedrohlich. Sie
bestehen aus einer verlängerten QT-Zeit, einer ventrikulären Ektopie,
einer bidirektionalen ventrikulären Tachykardie und anderen Tachykardien. Viele Jahre war die Klassifikation dieser Krankheit unsicher,
da die Schwächeepisoden mit erhöhten, normalen oder auch erniedrigten Kaliumwerten einhergehen. Hinzu kommt, dass sich die Kaliumspiegel unter Verwandten unterscheiden, innerhalb einer Familie
jedoch konstant sind. Die Vererbung ist autosomal dominant mit inkompletter Penetranz und variabler Expressivität. Die Krankheit wird
durch Mutationen im Gen für den nach innen gerichteten Kaliumkanal (Kir 2.1) verursacht, das die Exzitabilität der Muskelzelle erhöht. Die Behandlung ist vergleichbar mit der Behandlung anderer
periodischer Paralysen und muss ein kardiales Monitoring einschließen. Die Schwächeepisoden können sich bei Patienten wegen verschiedener Kaliumwerte unterscheiden. Acetazolamid senkt die Attackenfrequenz und vermindert die Schwere der Anfälle.
& CHLORIDKANALERKRANKUNGEN
Myotonia congenita Typ Thomsen und Becker
Zwei Formen dieser Krankheit, die autosomal dominante (ThomsenMyotonie) und die autosomal rezessive (Becker-Myotonie), werden
durch dieselbe Genveränderung verursacht. Die Symptome treten im
Säuglingsalter und in der frühen Kindheit auf. In der 3.–4. Lebensdekade lässt die Krankheit an Schwere nach. Die Myotonie wird
durch Kälte verschlechtert und durch Aktivität verbessert. Das Gang-
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
bild kann zunächst verlangsamt und mühsam erscheinen, verbessert
sich aber nach längerem Gehen. Bei der Thomsen-Myotonie ist die
Muskelkraft normal, bei der Becker-Myotonie, die normalerweise einen schwereren Verlauf hat, kann eine Muskelschwäche bestehen.
Meist liegt eine Muskelhypertrophie vor. Die myotonen Entladungen
zeigen sich im EMG eindrücklich.
Die Serum-CK ist normal oder nur leicht erhöht. Die Muskelbiopsie zeigt hypertrophierte Fasern. Die Erkrankungen werden dominant
und rezessiv vererbt und sind durch eine Mutation im Gen für den
Chloridkanal verursacht (Abb. 462e-8). Hierdurch wird die Exzitabilität der Muskelzelle erhöht. Viele Patienten brauchen keine Behandlung und lernen, dass die Symptome durch Tätigkeit verbessert werden. Medikamente, welche die Myotonie bessern, sind z. B. Mexiletin
(1. Wahl, off-label), Phenytoin und Carbamazepin (2. Wahl). Vor und
unter Medikation mit Mexiletin müssen relevante Herzrhythmusstörungen kardiologisch ausgeschlossen werden, die QT-Zeit muss regelmäßig bestimmt werden.
ENDOKRINE UND METABOLISCHE MYOPATHIEN
Viele endokrine Erkrankungen verursachen eine Muskelschwäche. Eine Muskelermüdung (Fatigue) ist dabei häufiger als eine echte Schwäche. Die Ursachen für die Schwäche bei diesen Erkrankungen sind
nicht vollständig geklärt. Es ist sogar unklar, ob die Schwäche das Resultat einer Muskelerkrankung darstellt, oder ob nicht ein anderer
Abschnitt der motorischen Einheit betroffen ist, da die CK-Werte im
Serum oft normal sind (ausgenommen bei Hypothyreose) und die
Muskelbiopsie mehr durch Atrophie, als durch Destruktion von Muskelfasern gekennzeichnet ist. Nahezu alle endokrinen Myopathien
sprechen auf eine Behandlung an.
462e
okuläre Myopathie mit Proptosis (endokrine Ophthalmopathie). Die
CK-Werte im Serum sind bei thyreotoxischer Myopathie nicht erhöht,
das Elektromyogramm zeigt typischerweise einen Normalbefund. Die
Muskelbiopsie kann eine unspezifische Typ-IIb-Faser-Atrophie zeigen.
& ERKRANKUNGEN DER NEBENSCHILDDRÜSEN
(Siehe auch Kap. 424).
Hyperparathyreoidismus
Muskelschwäche ist ein integraler Bestandteil des primären und sekundären Hyperparathyreoidismus. Eine proximale Muskelschwäche,
Muskelschwund und lebhafte Muskeleigenreflexe sind die wichtigsten
Merkmale dieser Endokrinopathie. Manche Patienten entwickeln eine
Schwäche der Nackenstrecker (Teil des Dropped-Head-Syndroms).
Die CK-Werte im Serum sind üblicherweise normal oder leicht erhöht. Die Werte der Nebenschilddrüsenhormone im Serum sind erhöht. Die Kalzium- und Phosphatspiegel im Serum korrelieren nicht
mit den klinischen neuromuskulären Manifestationen. Die Muskelbiopsien zeigen nur unterschiedliche Atrophiegrade ohne Muskelfaserdegeneration.
Hypoparathyreoidismus
Eine offenkundige Myopathie infolge einer Hypokalzämie tritt nur
selten auf. Neuromuskuläre Symptome sind meist mit fokaler oder
generalisierter Tetanie verknüpft. Die Serum-CK kann sekundär
durch eine Muskelschädigung nach länger anhaltender Tetanie erhöht
sein. Meistens ist eine Hyporeflexie oder Areflexie vorhanden, im Gegensatz zur Hyperreflexie bei Hyperparathyreoidismus.
& SCHILDDRÜSENERKRANKUNGEN
& ERKRANKUNGEN DER NEBENNIEREN
(Siehe auch Kapitel 405) Veränderungen der Schilddrüsenfunktion
können ein breites Spektrum pathologischer Muskelveränderungen
hervorrufen. Dies hängt mit der wichtigen Rolle von Schilddrüsenhormonen bei der Stoffwechselregulation von Kohlenhydraten, Lipiden, der Proteinsynthese und der Enzymproduktion zusammen.
Schilddrüsenhormone stimulieren auch die Wärmebildung in Muskeln, erhöhen den Vitaminbedarf der Muskeln und steigern die Empfindlichkeit von Muskeln auf zirkulierende Katecholamine.
(Siehe auch Kap. 406) Mit einem Glukokortikoidexzess einhergehende Umstände führen zur Myopathie. Tatsächlich ist die Steroidmyopathie die am häufigsten diagnostizierte endokrine Muskelerkrankung. Ein endogener oder exogener Glukokortikoidexzess (siehe „arzneimittelinduzierte Myopathien“ weiter unten) führt zu einer unterschiedlich ausgeprägten proximalen Gliedmaßenschwäche. Der
Muskelschwund kann beeindruckend sein. Ein cushingoides Erscheinungsbild geht normalerweise mit dem klinischen Zeichen der Myopathie einher. Histologische Schnitte zeigen eine Muskelatrophie, besonders der Typ-IIb-Fasern und weniger eine Degeneration oder Nekrose von Muskelfasern. Eine Nebenniereninsuffizienz verursacht im
Allgemeinen eine Muskelermüdung. Sie ist in ihrem Ausmaß schwer
einzuschätzen, aber typischerweise nur leicht. Beim primären Hyperaldosteronismus, dem Conn-Syndrom, sind die neuromuskulären
Komplikationen eine Folge des Kaliumverlusts. Das klinische Bild ist
das einer persistierenden Muskelschwäche. Ein lang bestehender Hyperaldosteronismus kann zu proximalen Paresen und Atrophien führen. Die Serum-CK kann erhöht sein. In der Muskelbiopsie können
eine Faserdegeneration und Vakuolen in den Muskelfasern nachweisbar sein. Diese Veränderungen lassen sich durch die Hypokaliämie erklären und sind kein direkter Effekt von Aldosteron auf den Skelettmuskel.
Hypothyreose
Patienten mit einer Hypothyreose haben häufig Muskelbeschwerden,
und eine proximale Muskelschwäche tritt bei ungefähr einem Drittel
der Patienten auf. Muskelkrämpfe, -schmerzen und -steifigkeit sind
häufige Beschwerden. Manche Patienten zeigen eine Muskelhyperthrophie. Eine verlangsamte Muskelkontraktion und -erschlaffung
tritt bei 25 % der Patienten auf. Die Relaxationsphase der Muskeleigenreflexe ist charakteristischerweise verlängert und beim Auslösen
des Achillessehnenreflexes und des Bizepssehnenreflex am besten zu
sehen. Die CK-Werte im Serum sind oft bis auf das Zehnfache erhöht,
sogar wenn nur minimale klinische Zeichen einer Muskelerkrankung
bestehen. Das Elektromyogramm weist typischerweise einen Normalbefund auf. Die Ursache für die Muskelhypertrophie ist nicht bekannt. Die Muskelbiopsie zeigt keine charakteristischen Veränderungen.
Hyperthyreose
Hyperthyreote Patienten haben klinisch häufig eine proximale Muskelschwäche und eine Atrophie, klagen selbst aber nur selten über
Muskelbeschwerden. Die Muskeleigenreflexe können gesteigert sein.
Die bulbäre, Atem- und sogar die Ösophagusmuskulatur können gelegentlich betroffen sein, was Schluckstörungen, Dysphonie und Aspiration verursacht. Wenn die bulbären Muskeln einbezogen sind, ist
dies meistens mit einer chronischen proximalen Gliederschwäche verbunden, aber mitunter tritt dies auch in Abwesenheit einer generalisierten thyreotoxischen Myopathie auf. Faszikulationen können vorkommen und zusammen mit lebhaften Muskeleigenreflexen zur falschen Diagnose einer amyotrophen Lateralsklerose führen. Bei der
Hyperthyreose kann eine Form der hypokaliämischen periodischen
Paralyse auftreten. Vor kurzem wurden bei bis zu einem Drittel der
Patienten Mutationen im KCNJ18-Gen, das für den nach innen gerichteten Kaliumkanal Kir 2.6 kodiert, entdeckt. Auch andere neuromuskuläre Erkrankungen kommen in Verbindung mit der Hyperthyreose vor, wie die Myasthenia gravis (Kap. 461) und die progressive
& HYPOPHYSENERKRANKUNGEN
(Siehe auch Kap. 403) Patienten mit Akromegalie haben oft eine
leichte proximale Schwäche ohne Muskelatrophien. Die Muskeln erscheinen oft vergrößert, haben aber eine niedrigere Kraftentwicklung.
Die Schwere der Myopathie korreliert mit der Dauer der Akromegalie, weniger mit dem Wachstumshormonspiegel.
& DIABETES MELLITUS
(Siehe auch Kap. 417) Neuromuskuläre Komplikationen bei Diabetes
mellitus sind meistens Neuropathien mit kranialen oder peripheren
Nervenlähmungen oder eine distale sensomotorische Polyneuropathie. Die „diabetische Amyotrophie“ ist ein ungeschickter Terminus,
da die Neuropathie proximale Nervenstämme und den Lumbosakralplexus betrifft. Geeignetere Bezeichnungen dieser Erkrankung sind
diabetische proximale Neuropathie und lumbosakrale Radikulo-PlexoNeuropathie.
Die einzige bemerkenswerte Myopathie bei Diabetes mellitus ist die
ischämische Infarzierung von Beinmuskeln, die normalerweise einen
der Oberschenkelmuskeln, gelegentlich auch die distale Muskulatur
der unteren Extremitäten befällt. Diese Affektion ereignet sich bei Pa-
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462e-21
Teil 17
Neurologische Erkrankungen
tienten mit schlecht eingestelltem Diabetes mellitus und besteht aus
akut einsetzenden Schmerzen, Druckempfindlichkeit und Ödem im
Oberschenkel. Die Stelle des Muskelinfarkts ist hart und induriert.
Die am häufigsten betroffenen Muskeln sind der M. vastus lateralis,
die Oberschenkeladduktoren und der M. biceps femoris. Computertomografie oder Magnetresonanztomografie können fokale Anomalien der betroffenen Muskulatur zeigen. Eine Diagnose durch Bildgebung ist der Muskelbiopsie, wenn möglich, vorzuziehen, weil eine
Blutung in die Biopsiestelle auftreten kann.
TABELLE 462e-11 Substanzinduzierte Myopathien
Arzneimittel und Drogen
Hauptsächliche toxische Reaktion
Lipidsenker
Fibrate
HMG-CoA-ReduktaseHemmer
Niacin (Nikotinsäure)
Medikamente aller drei Hauptklassen von Lipidsenkern können ein Spektrum toxischer Reaktionen
bilden: asymptomatische CK-Erhöhung, Myalgien,
Belastungsschmerz, Rhabdomyolyse und Myoglobinurie
Glukokortikoide
Die akute hoch dosierte Glukokortikoidbehandlung
kann eine akute Myopathie mit Tetraplegie verursachen. Diese hohen Steroiddosen sind oft kombiniert
mit nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzien, die
Schwäche kann aber auch ohne sie auftreten
& VITAMINMANGELZUSTÄNDE
Der Vitamin-D-Mangel (Kap. 96e), entweder durch erniedrigte Zufuhr oder Absorption oder durch beeinträchtigten Vitamin-D-Stoffwechsel (z. B. bei Nierenerkrankungen), kann zur chronischen Muskelschwäche führen. Der Schmerz deutet auf die zugrunde liegende
Knochenerkrankung hin (Osteomalazie). Ein Vitamin-E-Mangel
kann durch eine Malabsorption entstehen. Klinisch manifestiert er
sich mit einer sensorischen ataktischen Neuropathie infolge des Verlusts der Propriozeption und einer Myopathie mit proximaler Schwäche. Muskelbioptisch können schmale rundliche Einschlüsse, die sich
in der HE-Färbung violett anfärben und saure Phosphatase enthalten,
nachgewiesen werden. Eine progressive externe Ophthalmoplegie
kann auftreten. Es wurde nicht belegt, dass auch andere Vitaminmangelzustände eine Myopathie verursachen.
MYOPATHIEN BEI SYSTEMISCHEN ERKRANKUNGEN
Systemische Erkrankungen, wie die chronische Atem-, Herz- oder Leberinsuffizienz, sind häufig mit schwerem Muskelschwund und mit
Klagen über Schwächezustände verknüpft. Eine Ermüdbarkeit (Fatigue) ist ein größeres Problem als die Muskelschwäche, die typischerweise nur gering ist.
Die Myopathie kann Manifestation einer chronischen Niereninsuffizienz sein, unabhängig von der bekannten urämischen Polyneuropathie. Anomalien der Kalzium- und Phosphathomöostase und des
Knochenstoffwechsels bei chronischem Nierenversagen resultieren
aus der Reduktion von 1,25-Dihydroxyvitamin D, was zu einer verminderten intestinalen Kalziumresorption führt. Eine Hypokalzämie,
die zusätzlich durch Hyperphosphatämie infolge der erniedrigten renalen Phosphat-Clearance verstärkt wird, führt zu einem sekundären
Hyperparathyreoidismus. Eine renale Osteodystrophie ist wiederum
eine Folge des kompensatorischen Hyperparathyreoidismus, der zu
einer Osteomalazie wegen der reduzierten Kalziumverfügbarkeit und
zu einer Osteitis fibrosa infolge des Überschusses an Parathormon
führt. Das klinische Bild der Myopathie bei chronischem Nierenversagen ist identisch mit dem bei primärem Hyperparathyreoidismus
und Osteomalazie. Es besteht eine proximale Gliederschwäche mit
Knochenschmerzen.
Die gangränöse Kalzifikation ist eine seltene und manchmal tödliche Komplikation bei chronischer Niereninsuffizienz. Es entwickeln
sich unter diesen Umständen ausgedehnte arterielle Verkalkungen,
die Ischämien verursachen. Extensive Hautnekrosen können zusammen mit einer schmerzhaften Myopathie und sogar einer Myoglobinurie auftreten.
ARZNEIMITTELINDUZIERTE MYOPATHIEN
Arzneimittelinduzierte Myopathien sind relativ selten in der klinischen Praxis mit Ausnahme der durch Cholesterinsenker oder
durch Glukokortikoide hervorgerufenen. Andere Medikamente spielen eine geringere Rolle, sollten aber in einer besonderen Situation in
Betracht gezogen werden. Tabelle 462e-11 gibt eine Übersicht arzneimittelinduzierter Myopathien mit ihren besonderen klinischen Befunden.
& MYOPATHIE DURCH LIPIDSENKER
Alle Klassen der Substanzen mit lipidsenkenden Eigenschaften sind
mit einer Muskeltoxizität behaftet, einschließlich der Fibrate (Clofibrat, Gemfibrozil), der HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (als Statine
bezeichnet), Niacin (Nikotinsäure) und Ezetimib. Muskelschmerzen,
-empfindlichkeit und Unwohlsein sind die Hauptsymptome der Erkrankung. Der Muskelschmerz kann belastungsabhängig auftreten.
Die Patienten können eine proximale Schwäche entwickeln. Unterschiedliche Ausmaße von Muskelnekrosen bis hin zu einer Rhabdomyolyse mit Myoglobinurie können in schweren Fällen auftreten. Ei-
462e-22
Die chronische Steroidgabe verursacht eine überwiegend proximale Schwäche
Nicht depolarisierende
Muskelrelaxanzien
Akute Myopathie mit Tetraplegie kann mit oder ohne
gleichzeitige Gabe von Glukokortikoiden auftreten
Zidovudin
Mitochondriale Myopathie mit Ragged-red Fibers
Suchtmittel
Alkohol
Amphetamine
Kokain
Heroin
Phencyclidin
Meperidin
Alle Substanzen in dieser Gruppe können zu
ausgedehnter Muskelschädigung, Rhabdomyolyse
und Myoglobinurie führen
Autoimmun-toxische
Myopathie
D-Penicillamin
Der Gebrauch dieses Medikaments kann eine Polymyositis und Myasthenia gravis verursachen
Kationisch-amphiphile
Substanzen
Amiodaron
Chloroquin
Hydroxychloroquin
Alle amphiphilen Substanzen haben das Potenzial,
schmerzlose, proximale Schwächen hervorzurufen.
Die Muskelbiopsie zeigt autophagische Vakuolen
Antimikrotubulär wirkende
Medikamente
Colchicin
Diese Substanz verursacht eine schmerzlose, proximale Schwäche, insbesondere bei Niereninsuffizienz mit autophagischen Vakuolen in der
Muskelbiopsie, die Folge einer Störung des myotubulären Zytoskeletts sind (antimikrotubuläre Myopathie)
Lokale Injektionen verursachen Muskelnekrosen,
Hautverhärtung und Muskelkontrakturen im Bereich
der Extremitäten
ne Kombination von Statinen mit Fibraten und Ciclosporin verursacht häufiger diese Nebenwirkungen als wenn die Medikamente
allein eingenommen werden. Eine erhöhte Serum-CK ist ein wichtiger
Indikator für die Toxizität. Die Muskelschwäche geht mit myopathischen EMG-Veränderungen einher, die Muskelnekrosen können
durch eine Muskelbiopsie sichtbar gemacht werden. Heftige Muskelschmerzen, -schwäche, deutliche CK-Erhöhung im Serum (über das
Dreifache) und Myoglobinurie sind Warnsymptome, um das Medikament abzusetzen. Nach Absetzen des Medikaments bessert sich normalerweise der Zustand der Patienten, obwohl dies einige Wochen
dauern kann. In seltenen Fällen kommt es trotz Absetzen zu einem
weiteren Fortschreiten der Beschwerden. Es ist möglich, dass Statine
in solchen Fällen eine immunvermittelte nekrotisierende Myopathie
auslösen. Die Patienten benötigen oft eine Immuntherapie (z. B. Prednison sowie evtl. andere Medikamente) und meistens kommt es nach
deren Absetzen zu Rezidiven. In vielen dieser Fälle wurden gegen den
100-kD-HMG-CoA-Reduktase-Rezeptor auf den Muskelfasern gerichtete Antikörper nachgewiesen.
& GLUKOKORTIKOIDMYOPATHIEN
Glukokortikoidmyopathien treten nach langer Behandlung oder als
akute Myopathie mit Tetraplegie (auch als akute quadriplegische
Myopathie oder akute Intensivmyopathie bezeichnet, engl. AQU –
acute quadriplegic myopathy) nach hoch dosierter intravenöser Zufuhr auf. Die chronische Gabe führt zu einer proximalen Schwäche
mit einem cushingoiden Erscheinungsbild, die erheblich sein kann.
Der chronische Einsatz von Prednison in einer Tagesdosis von mehr
als 30 mg/d ist am häufigsten mit einer Toxizität verbunden. Patienten, die fluorierte Glukokortikoide (Triamcinolon, Betamethason, Dexamethason) einnehmen, haben ein besonders hohes Risiko, eine
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Muskeldystrophien und andere Muskelerkrankungen
Myopathie zu entwickeln. Bei der chronischen Steroidmyopathie ist
die Serum-CK meist normal. Das Serum-Kalium kann niedrig sein.
Die Muskelbiopsie zeigt in chronischen Fällen vorzugsweise eine TypII-Muskelfaseratrophie. Dies wirkt sich nicht auf das EMG aus, das
üblicherweise normal ausfällt. Patienten, die wegen eines Status asthmaticus, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, einer Organtransplantation oder aus anderen Gründen behandelt werden,
können eine schwere allgemeine Schwäche entwickeln (Critical-illness-Myopathie). Diese Myopathie, die auch als akute quadriplegische
Myopathie bezeichnet wird, kann auch im Rahmen einer Sepsis auftreten. Die Beteiligung von Zwerchfell und Interkostalmuskeln verursacht eine Ateminsuffizienz und erfordert eine Atemhilfe. Diese
Komplikation wird durch die Gabe von Glukokortikoiden, zusammen
mit nicht depolarisierenden Muskelrelaxanzien, potenziert. Bei den
akuten Fällen mit einer akuten Myopathie mit Tetraplegie ist die Muskelbiopsie abnorm und zeigt einen deutlichen Verlust von dicken Filamenten (Myosin) im Elektronenmikroskop. Lichtmikroskopisch zeigt
sich ein fokaler Verlust von ATPase-Färbung in zentralen oder parazentralen Regionen der Muskelfaser. Calpain-Färbungen ergeben diffus reaktive atrophische Fasern. Das Absetzen von Glukokortikoiden
kann die chronische Myopathie verbessern. Bei akuter Myopathie mit
Tetraplegie dauert die Erholung lange. Die Patienten benötigen unterstützende Maßnahmen und Rehabilitation.
& MEDIKAMENTENINDUZIERTE MITOCHONDRIALE MYOPATHIE
Zidovudin wird in der Behandlung der HIV-Infektion eingesetzt und
ist ein Thymidinanalogon, das die virale Replikation durch Blockierung der reversen Transkriptase hemmt. Die Myopathie ist eine gut
bekannte Komplikation dieser Substanz. Die Patienten klagen über
Muskelschmerzen und Muskelschwäche, die Muskelatrophie betrifft
die Oberschenkel und Waden. Diese Komplikation tritt bei ungefähr
17 % der Patienten auf, die mit Dosen von 1200 mg/d für 6 Monate
behandelt werden. Die Einführung von Proteaseinhibitoren zur Behandlung der HIV-Infektion führt zu einer niedrigeren Zidovudindosiserung und zu einer Abnahme der Inzidenz von Myopathien. Die
Serum-CK ist erhöht und das EMG weist myopathische Veränderungen auf. Die Muskelbiopsie zeigt Ragged-red Fibers und eine minimale Entzündung. Das geringe Ausmaß an Entzündung hilft dabei, die
Zidovudintoxizität von der HIV-Myopathie zu unterscheiden. Wenn
die Myopathie medikamentenausgelöst erscheint, sollte die Medikation beendet oder reduziert werden.
& MYOPATHIE DURCH SUCHTMITTELMISSBRAUCH
Myotoxizität ist eine potenzielle Folge von Alkoholabusus und Einnahme illegaler Drogen. Ethanol ist eine der häufigsten missbräuchlich benutzten Substanzen, die eine Muskelschädigung hervorrufen
können. Andere potenzielle Toxine sind Kokain, Heroin und Amphetamine. Die schädlichsten Folgen nach einer Überdosis führen zu Koma und epileptischen Anfällen und verursachen Rhabdomyolyse,
Myoglobinurie und Nierenversagen. Eine direkte toxische Reaktion
kann durch Kokain, Heroin und Amphetamine ausgelöst werden, mit
Muskelzerfall und unterschiedlich ausgeprägten Muskelschwächen.
Bei Alkohol ist unbekannt, ob es sich um einen direkten oder indirekten Mechanismus handelt (z. B. Mangelernährung – sekundär Muskelschädigung). Eine direkte Muskelschädigung ist weniger wahrscheinlich, da die Toxizität meist mit einer Mangelernährung und
möglichen Begleitfaktoren wie Hypokaliämie und Hypophosphatämie
einhergeht. Alkoholiker sind besonders durch eine Neuropathie bedroht (Kap. 467).
462e
Eine fokale Myopathie kann durch Selbstapplikation von Meperidin, Heroin und Pentazocin entstehen und führt zu Schmerzen,
Schwellungen, Muskelnekrosen und Blutung. Die Ursache ist multifaktoriell: Nadeltrauma, direkte Toxizität von Droge oder Vehikel sowie Infektion. In schweren Fällen kann die darüberliegende Haut verhärtet sein und es können Kontrakturen mit Ersatz der Muskulatur
durch Bindegewebe entstehen. Erhöhte Serum-CK und myopathische
EMG-Veränderungen sind charakteristisch. Die Muskelbiopsie zeigt
diffuse oder fokale Nekrosen. Wenn eine Rhabdomyolyse auftritt,
müssen die Patienten adäquat hydratisiert werden, um das Myoglobin
zu reduzieren und ein Nierenversagen zu verhindern. In allen diesen
Fällen ist die Beratung zur Kontrolle des Drogenmissbrauchs essenziell.
& SUBSTANZINDUZIERTE AUTOIMMUNMYOPATHIEN
Wie bereits erwähnt, ist die autoimmune nekrotisierende Myopathie
mit Autoantikörpern gegen HMG-CoA bei der Einnahme von Statinen selten. D-Penicillamin kann eine entzündliche Myopathie auslösen. Dieser Kupferchelatbildner wird zur Therapie der WilsonKrankheit, der Sklerodermie, der rheumatoiden Arthritis und der primär biliären Zirrhose verwendet. Die Inzidenz dieser entzündlichen
Muskelerkrankung liegt bei etwa 1 %. Auch eine Myasthenia gravis
kann durch D-Penicillamin ausgelöst werden, die Inzidenz ist höher
und beträgt etwa 7 %. Diese Erkrankungen verschwinden nach Absetzen des Medikaments, obwohl in schweren Fällen eine immunsuppressive Therapie angesagt ist.
Einzelberichte über andere Substanzen, die eine inflammatorische
Myopathie auslösen können, sind selten und umfassen eine heterogene Gruppe von Wirkstoffen: Cimetidin, Phenytoin, Procainamid und
Propylthiouracil. In den meisten Fällen ist die Ursache-Wirkung-Beziehung unsicher. Eine in der Öffentlichkeit bekannt gewordene Nebenwirkung wurde L-Tryptophan zugeschrieben. 1989 kam es zum
epidemischen Auftreten eines Eosinophilie-Myalgie-Syndroms
(EMS), das durch eine Verunreinigung im Produkt eines Herstellers
verursacht wurde. Dieses Produkt wurde vom Markt genommen und
die Inzidenz des Eosinophilie-Myalgie-Syndroms ging abrupt zurück.
& ANDERE SUBSTANZINDUZIERTE MYOPATHIEN
Bestimmte Medikamente verursachen schmerzlose, überwiegend proximale Muskelschwächen. Dazu gehören kationisch-amphiphile Substanzen (Amiodaron, Chloroquin, Hydroxychloroquin) und antimikrotubulär wirkende Medikamente wie Colchicin (Tab. 462e-11). Die
Muskelbiopsie kann bei der Identifikation der Toxizität nützlich sein,
da bei diesen Toxinen autophagische Vakuolen einen bemerkenswerten Aspekt darstellen.
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
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DYSTROPHIES: Diagnostic approach to the congenital muscular dystrophies. Neuromuscul Disord 24(4):289–311, 2014
BROCCOLINI A, MIRABELLA M: Hereditary inclusion-body myopathies.
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FINSTERER J, RUDNIK-SCHÖNEBORN S: Myotonic dystrophies: clinical presentation, pathogenesis, diagnostics and therapy. Fortschr Neurol
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NIGRO V, SAVARESE M: Genetic basis of limb-girdle muscular dystrophies: the 2014 update. Acta Myol 33(1):1–12, 2014
WANG LH, TAWIL R: Facioscapulohumeral Dystrophy. Review. Curr
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