5 Wer oder was ist verantwortlich für den therapeutischen Erfolg? Von Interesse ist nun natürlich die Frage: Was wirkt in der Therapie? Darauf soll im Folgenden eingegangen werden. 5.1 Die unspezifischen Wirkstoffe Die Frage nach der Bedeutsamkeit der unspezifischen Faktoren in der Psychotherapie ist eine Frage von großem Interesse. Viele Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten kommen zum Schluss, dass die unspezifischen Effekte die spezifischen Effekte deutlich überwiegen (Shapiro, 1997, p. 104). Mehr als 600 Studien zur Psychotherapie (Herink, 1980) und 230 Studien zu Therapietechniken bei Kindern (Kazdin, 1988) lassen dennoch keine einhellige Meinung zu: „Es gibt keine Schlussfolgerung, was spezifisch wirkt in der Psychotherapie.“ (Shapiro, 1997, p. 105). Die differenzierte Betrachtung der unspezifischen Effekte Wenn nun spezifische Inhalte nur 1% der Varianz der Ergebnisse erklären und generelle Inhalte 4 %, interessiert es, welche generellen Inhalte es genau sind, die zum therapeutischen Erfolg beitragen. In den folgenden Abschnitten wird zum einen die Loyalität eines Therapeuten zu seiner angewandten Technik sowie die unbedingte Überzeugtheit an eine Therapieform betrachtet; anschließend werden die Effekte durch die Therapeuten beleuchtet. 5.2 Allegiance and Adherence: Die Überzeugtheit und die Manualtreue der Therapeuten 5.2.1 Definition 5.2.1.1 Allegiance oder die Überzeugtheit des Therapeuten Unter der Überzeugtheit des Therapeuten ist in dieser Arbeit der Grad des Glaubens des Therapeuten an die Wirksamkeit der Therapie, die er dem Klienten verabreicht, zu verstehen. Eine der „hochheiligsten“ Annahmen der Klienten ist die Annahme, dass der Therapeut an das glaubt, was er tut. Da Psychotherapie ein Unternehmen ist, welches auf Vertrauen aufbaut, würde eine Verletzung dieser Annahme die Grundlagen der Profession un51 tergraben. Meistens wählen sich praktizierende Therapeuten den psychologischen Zugang aus, der am besten in ihr eigenes Weltbild und in ihr Verständnis von Krankheit und Heilung passt. Aufgrund dessen kann der Klient sicher annehmen, dass der Therapeut sich einer psychologischen Theorie verpflichtet hat, und an die er auch glaubt. Betrachtet man die Überzeugtheit eines Therapeuten unter diesem Gesichtspunkt, kann man sie als einen allgemeinen Faktor bezeichnen, der über alle Therapieformen existiert. 5.2.1.2 Adherence oder die Manualtreue des Therapeuten Die Manualtreue des Therapeuten ist definiert als „das Ausmaß, mit welchem ein Therapeut die Interventionen und Anwendungen des Behandlungsmanuals anwendet und gleichzeitig diejenigen Interventionen vermeidet, welche durch das Manual verboten werden.“ (Waltz, 1993, p620). Kurz gesagt: die Manualtreue bedeutet eine extreme Anhängerschaft an eine bestimmte Therapierichtung, die die Anwesenheit eines spezifischen Inhaltes einer bestimmten Behandlung und die gleichzeitige Abwesenheit eines spezifischen Inhaltes einer anderen Behandlung beinhaltet. 5.2.2 Die Überzeugtheit als kritische Komponente Für das kontextbezogene Modell ist die Überzeugtheit eine kritische Komponente, die für den Erfolg einer Psychotherapie notwendig ist. In jedem Fall ist sie ein Merkmal, welches in allen praktischen Settings auftaucht. Es gibt Grund zur Annahme, dass in klinischen Studien die Überzeugtheit der Therapeuten variiert. Nimmt man beispielsweise ein Kreuz-Design (siehe Kapitel 5.5.3.), in welchem KVT und interpersonale Therapie miteinander verglichen werden: In einem solchen Design würde der Therapeut beide Behandlungsformen anwenden, aber eine von beiden persönlich bevorzugen, also von einer der beiden überzeugter sein. Wenn klinische Studien von Befürwortern einer bestimmten Therapierichtung durchgeführt werden, sind die mitwirkenden Therapeuten oft Graduierte oder ehemalige Studenten des Befürworters oder ein anderweitiges Mitglied des Instituts, also mit dem von den Befürwortern bevorzugten Therapiemodell eher liebäugelnd denn mit dem Vergleichsmodell. So sind die mitwirkenden Therapeuten von ihrem bevorzugten Therapieverfahren überzeugt und nicht vom Vergleichsverfahren. In medizinischen Medikamenten-Studien ist dieser Faktor kontrolliert, denn die Personen, die die Medikamenten ausgeben wissen 52 nicht, ob es das Placebo ist oder das Medikament (Doppel-Blind-Studien.); in der Psychotherapieforschung sind vergleichbare Blind-Studien nicht möglich (siehe oben), denn der Therapeut ist sich immer der momentan angewandten Therapieform bewusst. In Psychotherapiestudien kann deshalb eine Konfundierung zwischen der Überzeugtheit der Therapeuten und der Behandlungsform vorhanden sein (wenn die Therapeuten die eine Behandlungsform mit mehr Überzeugtheit als die zu vergleichende anwenden). Da die Überzeugtheit variiert, können ihre Effekte auf die Ergebnisse untersucht werden. 5.2.2.1 Die Effekte aufgrund Überzeugtheit In einem kontextbezogenen Modell wäre die Hypothese: Je größer die Überzeugtheit, desto besser die Ergebnisse. Im medizinischen Modell hat die Überzeugtheit des Therapeuten zwar Auswirkung auf die Ergebnisse, aber keine gravierenden. Dass im letztgenannten Modell die Überzeugtheit relativ unbedeutend ist, zeigt die Tatsache, dass die Überzeugtheit nicht berücksichtigt wird, wenn mit dem Kontrollgruppendesign (Placebo oder alternative Behandlungsformen) gearbeitet wird. Für klinische Wissenschaftler scheint es offenbar von keiner Wichtigkeit zu sein, dass die Therapeuten der Kontrollgruppen keine Überzeugtheit zur Kontrollgruppe haben; es gilt die Annahme, dass Effekte aufgrund von Überzeugtheit nicht existieren. 5.2.2.2 Die Effekte aufgrund der Manualtreue Die Manualtreue der Therapeuten führt zu klaren Aussagen: Das medizinische Modell besagt, dass wenn spezifische Inhalte für die Ergebnisse (z.B. die Genesung des Klienten) relevant sind, auch die Manualtreue des Therapeuten an das gegebene Manual relevant ist. Wenn also ein Therapeut sehr seinem gewählten Therapieverfahren anhängt und dieses auch verantwortlich gemacht wird für die Heilung beim Klienten mit seiner spezifischen Krankheit, dann müssten in diesem Fall bessere Ergebnisse zu verzeichnen sein, als bei Therapeuten, die bei der selben Krankheit andere, nicht als heilsam deklarierte Interventionen anwenden. Die Manualtreue an ein Therapieverfahren mit unwirksamen Inhalten dürfte keine Auswirkung auf die Ergebnisse haben: Wenn die spezifischen Inhalte einer Intervention sich nicht heilend auf eine spezifische Krankheit auswirken, dann dürfte sich auch kein Effekt zugunsten der Genesung des Klienten aufgrund der Manualtreue des Therapeuten einstellen. Im kontextbezogenen Modell wird eine Intervention gefordert, deren Inhalte konsistent sind mit dem Nachvollziehbaren einer Behandlung. Dieses Model ist weniger dogmatisch und erlaubt Eklektizismus, solange der 53 Behandlung etwas unterliegt, was überzeugend, kohärent und psychologisch fundiert ist. 5.2.3 Die Rolle der Manualtreue im kontextbezogenen Modell Sol Garfiel (1992) beschreibt die Rolle der Manualtreue in einem kontextbezogenen Modell: „Diese eklektisch arbeitenden Therapeuten tendieren dazu, die Theorie oder Methode zu wählen, von der sie glauben, sie sei die Beste für den Klienten. Die Prozeduren wurden speziell auf das Problem des Klienten hin ausgewählt und angewandt, anstelle den Klienten dem speziellen vorgegebenen Therapieprozedere anzupassen. Eine eklektischeTherapie erlaubt dem Therapeuten die potentielle Nutzung vieler Techniken, was auch meiner persönlichen Sichtweise entspricht. Dieser Zugang steht selbstverständlich im krassen Gegensatz zu der Sichtweise, die viele Therapieschulen inne haben: Psychotherapeuten werden nicht mit Psychotherapiemanualen trainiert, und nicht dazu angehalten sich strikt an eine bestimmte Form der Psychotherapie zu halten, um die Integrität der jeweiligen Psychotherapie zu gewährleisten, die gerade evaluiert wird.“ (S.172). Im kontextbezogenen Modell ist die Manualtreue nicht notwendig und wird auch nicht für die Ergebnisse verantwortlich gemacht. Im medizinischen Modell haben die Therapeuten aufgrund der Manualtreue eine überzeugende Begründung für all ihre Behandlungsformen und konsequenterweise sind die therapeutischen Handlungen konsistent mit der Begründung (siehe Abb. 4). 5.2.3.1 Kongruenz und Kohärenz in der Behandlung Nimmt man zum Beispiel einen Therapeuten, der einen phobischen Klienten behandeln soll. Der Klient ist wenig psychologisch geschult, sieht die Welt eher aus einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt und sieht den Therapeuten als eine Art Doktor, der die Heilung bringt. Viele Möglichkeiten der Behandlung stehen dem Therapeuten offen, jedoch wählt der Therapeut die systematische Desensibilisierung, da sie am besten in das Weltbild des Klienten passt und ihre volle Wirksamkeit so entfalten kann. Der Therapeut, der dem kontextbezogenen Modell anhängt, weiß, dass die Wirksamkeit der Behandlung nicht allein auf die spezifischen Inhalte, die systematische Desensibilisierung, zurückzuführen ist, sondern auch auf viele Faktoren, die in keiner direkten Beziehung zu den spezifischen Inhalten stehen. Und obwohl der Therapeut nicht generell davon überzeugt ist, der theoreti54 schen Vorgehensweise der Desensibilisierung stets peinlichst genau zu folgen, würde die Behandlung in diesen Fall dennoch mit einer solchen vorgegebenen Vorgehensweise kongruent sein, z.B. würde es der Therapeut vermeiden, Interpretationen zu machen. Das kontextbezogene Modell besagt, dass Behandlungen kohärent und kongruent sein sollen, eine strenge protokoll-vorgegebene Vorgehensweise ist aber nicht notwendig. Ergebnis Geringe Manualtreue: weder Behandlung A noch B führt zur Heilung einer bestimmten Krankheit T Starke Manualtreue: Behandlung A führt zur Heilung einer bestimmten Krankheit T Abbildung 4: Vorhersagen für die Auswirkungen durch Manualtreue nach dem medizinischen Modell: TxA beinhaltet Interventionen, die heilend für die Krankheit wirken, TxB hat keine solcher Inhaltsstoffe. 5.2.3.2 Beweise für die Effekte aufgrund der Überzeugtheit der Therapeuten Ellis wandte sich 1957 von der Psychoanalyse ab und formulierte seine eigene Therapieform, die Rational-Emotive-Therapie. In seiner Studie (1957) verglich er drei Techniken der Psychotherapie: Orthodoxe Psychoanalyse, psychoanalytisch orientierte Psychotherapie und die rationale Psychotherapie. Ellis wollte den wichtigen generellen Faktor „die therapeutische Erfahrung und Fertigkeiten“ ausschließen und gleichzeitig einen Therapeuten haben, der den Therapien gleichwertig begeistert und offen entgegentrat. Er wählte sich selbst als den geeignesten Therapeuten aus. Ellis (1957) behandelte 78 Klienten mit der rationalen Psychotherapie, verglich 55 diese mit 78 Fällen der psychoanalytischen Psychotherapie und 12 Fällen der reinen Psychoanalyse. Die ausgewerteten Ergebnisse sprachen für die rationale Therapie; diese Klienten hatten die besten Fortschritte gemacht. Man muss statistisch kein Genie sein, um zu realisieren, dass in dieser Studie von Ellis die Validität in vielen Punkten verletzt worden ist. Problematisch war beispielsweise die Frage nach der Überzeugtheit des Therapeuten: Obwohl Ellis behauptete, er sei gleichwertig begeistert und offen, ist es allzu offensichtlich, dass es doch seine Enttäuschung über die Psychoanalyse war, die ihn die Rational-Emotive-Therapie entwickeln ließ. Ellis wird in der Studie seinen eigenen Ansprüchen wohl kaum gerecht geworden sein. Man darf annehmen, dass gerade er der Rational-Emotiven Therapie sehr angetan war und den beiden anderen Therapieformen nicht offen oder begeistert entgegengetreten ist. In dieser Studie lag eine offensichtliche Konfundierung von Therapieform und Überzeugtheit des Therapeuten vor. Clark et al. (1994) verglichen in ihrer Studie die kognitive Therapie mit der angeleiteten Entspannung und einer psychopharmakologischen Versuchsbedingung. Der Leiter der Untersuchung, David M. Clark, ist ein Befürworter der kognitiven Therapie; die Untersuchung wurde gemacht, um die kognitive Therapie zu validieren. Alle zitierten Autoren waren mehr oder weniger ebenfalls Befürworter der kognitiven Therapie. Clark selbst fungierte auch als klinischer Supervisor. Die Überzeugtheit der Autoren zu einer bestimmten therapeutischen Richtung ist unübersehbar; dadurch wurden auch die mitwirkenden Therapeuten auf die Überzeugtheit von der kognitiven Therapie festgelegt. Dieses Beispiel beschreibt, wie die Überzeugtheit der Versuchsleiter auf die Therapeuten übertragen wird. 5.2.3.3 Minimale Überzeugtheitsauswirkungen Studien können aber auch so konstruiert werden, dass die Auswirkung der Überzeugtheit minimiert oder gar eliminiert wird. Ein gutes Beispiel für eine minimierte Überzeugtheit ist die Studie des National Institute of Mental Health Treatment of Depression Collaborative Research Programm (NIMH TDCPR; Elkin, 1994): Die Autoren waren keine Anhänger der beiden zu vergleichenden Behandlungen (Kognitive Verhaltenstherapie versus Interpersonale Psychotherapie) und das Design der Studie wurde von verschiedenen Experten-Komitees entwickelt. Die Therapeuten wurden jeweils von Befürwortern der einzelnen Richtungen angeleitet und trainiert. (Die gefundene Effektstärke von 0.29 sprach gegen die spezifischen Inhalte und ihre Effekte und für das Dodo-Bird-Verdikt.) Über den Vergleich der Ergebnisse kann der Effekt der Überzeugtheit untersucht werden. 56