Zur Offenlegung von Geheimarchiven

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Geisteswissenschaft im Dialog ­ Verschlusssache ­ streng geheim! Geheimdienstakten und
Geheimarchive
Zur Offenlegung von Geheimarchiven
Dr. Lutz Klinkhammer
Zur Person
ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent für den Forschungsbereich der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Deutschen Historischen Institut in Rom. Er war als Sachverständiger u. a. der Enquete­Kommission des italienischen Parlaments zur Untersuchung der Strafvereitelung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Italien tätig. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen die italienische wie deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie nationale Erinnerungskulturen seit 1945.
Statement
I. Es war eine politisch ausgesprochene weitsichtige Entscheidung, die Papst Leo XIII. 1880, zehn Jahre nach dem Untergang der weltlichen Herrschaft des Papsttums, fällte: er gab das Vatikanische Geheimarchiv zur Benutzung frei für Geschichtsforscher aller Länder und aller Konfessionen, und zwar für die Bestände bis zum Jahr 1800. In kürzester Zeit strömten Historiker aus allen Ländern nach Rom, um aus dem bisher unzugänglichen und kaum erschlossenen Archiv Schätze aus 10 Jahrhunderten zu heben. Es war wie ein Goldfieber. Etliche europäische Staaten, darunter Österreich 1882 und Preußen 1888, errichteten in Rom historische Institute, um Quellen zur Geschichte der jeweiligen Länder zu erschließen. Diese Entscheidung eines „Staatsoberhaupts", die Regierungsakten seiner Vorgänger offenzulegen, war mutig. Bis dahin waren außenpolitisch wichtige Archive für die Forschung weitgehend verschlossen geblieben. So auch das vatikanische Geheimarchiv, das um 1610 von Papst Paul V. geschaffen worden war, um die verstreuten Archivalien der kurialen Überlieferung zu zentralisieren. Das Archiv galt, wie das damals europaweit üblich war, als Privatarchiv des regierenden Fürsten. Dass Archivzugänge allein vom Herrscher genehmigt werden konnten, wurde schon im 18. Jahrhundert zunehmend kritisch gesehen. Doch es gab auch Stimmen, denen schon der privilegierte Zugang durch Hofhistoriker zu weit ging. Als Pufendorf, vom Großen Kurfürsten beauftragt, sein Werk veröffentlichte, hagelte es Kritik von anderen Höfen, die darauf hinwiesen, dass jeder seine Geheimnisse habe und dass derjenige Unheil anrichte, der veröffentliche, was in den heiligen Schränken liege. Die Kritik an Wikileaks­Gründer Julian Assange klingt heute ganz ähnlich.
II.
Erst die französische Revolution brach mit der Deutung der Archive als Privat­ oder Familiengut regierender Fürstenhäuser. Doch der revolutionäre (und napoleonische) Umgang mit den Archiven, der zur massenhaften Verschleppung und Zentralisierung in Paris führte, war nur von kurzer Dauer. Wichtiger war der durch die Revolution beförderte Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Zeit der Nationalstaatsgründungen in Deutschland und Italien brachte einen rapiden Wandel, vor allem hin zur Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des Archivwesens, was sich an ersten systematisierenden Archivführern und Archivordnungs­gesetzen ablesen lässt. War der Archivar früherer Zeiten ein Art Geheimsekretär, so wurde das Archiv im 19.Jahrhundert zum Ort der wissenschaftlichen Arbeit. Sein Personal hatte dem Wissensbedürfnis von Staat und Gesellschaft zu dienen. „Das Licht der Öffentlichkeit leuchtet mit unabweisbarer Energie in die dunkelsten Kammern", verkündete ein damaliger Archivar selbstbewusst. Eine Öffnung der Kabinettsarchive konnte die bürgerliche Öffentlichkeit aber nicht herbeiführen. Papst Leo setzte insofern 1880 neue Maßstäbe. Allerdings nicht nur im Hinblick auf die Öffnung, sondern auch im Hinblick darauf, Archivalien als historische Argumente einzusetzen. Denn so uneigennützig war die päpstliche Öffnungspolitik nicht, obwohl er den zuständigen Kardinälen das Cicero­Wort mit auf den Weg gab: „Erstes Gesetz der Geschichtsschreibung ist, dass sie nicht wagen darf, Falsches zu sagen, ferner nicht Wahres zu verschweigen, damit auch nicht einmal der Anschein entstehen kann, dass Sympathie oder Antipathie die Feder gelenkt haben." Dem Papst ging es jedoch darum, Geschichte nicht zum Argument der Gegner der Kirche werden zu lassen. Die Historie ­ so Leo XIII. in Saepenumero considerantes ­ sei zu einer Waffe gegen die Kirche und das Papsttum geworden, im Dienste der Revolution: „Von unserer Zeit kann man gewißlich sagen, daß die Historie eine Verschwörung gegen die Wahrheit ist. (...) Und die Lüge steckt nicht nur in den dicken Bänden und in den fliegenden Blättern der Zeitungen, sondern sie durchsetzt auch den Unterricht in den Schulen und die Erziehung der Jugend. Aller geschichtliche Unterricht hat nur ein Ziel: die Kirche suspekt zu machen, die Päpste in ein schlechtes Licht zu setzen, vor allem aber die Leute glauben zu machen, die weltliche Gewalt der Päpste sei für die Unversehrtheit und Größe Italiens verhängnisvoll." Leos Öffnungspolitik war also ein Verteidigungs­ und Befreiungsschlag, um das Negativbild, das gerade in der Spätzeit des Kirchenstaats überhand­genommen hatte, zu konterkarieren. Allerdings steckte dahinter durchaus eine neue Haltung gegenüber Wissenschaft und Öffentlichkeit: die Botschaft nämlich, dass der Heilige Stuhl gar nichts zu verbergen habe. Dieses Kalkül zahlte sich aus: kurz vor seinem Tod 1903 wurde Leo XIII. signalisiert, man habe bereits 80.000 Dokumente publiziert, aber bisher nichts für den Heiligen Stuhl Peinliches gefunden. Dem Weg, das Vatikanische Geheimarchiv der Forschung zu öffnen, den Leo XIII. mit Mut und Weitblick beschritt, sind seine Nachfolger nur zögerlich gefolgt. Insbesondere, wenn es um das Verhältnis der Kurie zu den faschistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts geht. Seit Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter" ist eine Diskussion im Gange, die die Weltöffentlichkeit spaltet und die durch die unvollständige Offenlegung der vatikanischen Archive noch befördert wird.
III. Der Wunsch nach Zugang zu den Geheimarchiven erhielt erst mit dem Ersten Weltkrieg einen neuen Schub. Wirkmächtig war zum einen das Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson und sein Ruf nach Abschaffung der kriegstreibenden Geheimdiplomatie und der fried­lichen Regelung von Streitigkeiten über eine „allgemeine Gesellschaft der Nationen": „Diplomatie soll aufrichtig und vor aller Welt passieren." Doch stärker noch war der Kriegs­schuldparagraph des Versailler Friedens mit seinen wirtschaftlichen und juristischen Folgen, der Zahlung der Reparationen und der geplanten Initiierung eines großangelegten Kriegsver­brecher­Bestrafungsprogramms, das am liebsten den Kaiser selbst auf der Anklagebank gesehen hätte. Die erst vom Rat der Volksbeauftragten und dann von der Reichsregierung beabsichtigte Veröffentlichung der Akten des Auswärtigen Amts zum Kriegsausbruch 1914 wurde rasch auf die ganze Epoche des deutschen Kaisertums von 1871 bis 1914 ausgeweitet: „Dafür sprach vor allem auch", so hieß es 1922, „dass namentlich in der französischen Publizistik mehr und mehr die Neigung hervortritt, die deutsche Schuld am Weltkriege schon aus dem Bismarckschen Streben nach europäischer Hegemonie oder gar nach Weltherrschaft abzuleiten." Geschichte ­ in Form von Editionen bislang geheimer Akten ­ wurde als Argument im politischen Kampf benutzt, um die Widerlegung des Kriegsschuldparagraphen voran­zutreiben.
Das faschistische Italien gewährte nur besonders regimetreuen Historikern, wie Gioacchino Volpe, Akteneinsicht für die Zeit des Ersten Weltkriegs. Ansonsten behielt man eine restriktive Archivpolitik bei. 1939 endete die zeitliche Grenze für die Akteneinsicht mit dem Jahr 1870, also mit der Vollendung der nationalstaatlichen Einigung Italiens. Einsehbar waren die Akten der prä­unitarischen Staaten.
Editionen von Geheimakten, die auch als politische Argumente wirken sollten, erwiesen sich am Ende des Zweiten Weltkriegs erneut als wichtig. Nach der deutschen Kapitulation kam es zur sofortigen Auswertung und Publikation relevanter Akten des Dritten Reiches, die sich aus den Erfordernissen der Anklage für die Nürnberger Prozesse und die alliierten Kriegsver­brecherbestrafungsprogramme ergaben. Sequestrierte und verfilmte Akten ermöglichten dauer­haft eine internationale Erforschung der geheimen Bestände des nunmehr untergegangenen Dritten Reiches, ohne Rücksicht auf archivalische Sperrfristen. Und die NSDAP­Personalakten des Berlin Document Centers wurde erst nach 1990 wieder in die deutsche Verfügungsgewalt übergeben.
Auch die von Papst Paul VI. in Auftrag gegebene Edition vatikanischer Akten zum Zweiten Weltkrieg hatte eine politische Stoßrichtung: die 12 Bände sollten Hochhuths These vom „Schweigen" Pius XII. widerlegen helfen.
Geheimarchive waren lange Zeit in erster Linie Kabinettsarchive, in denen Arkana herrscher­lichen Handelns dokumentiert wurden: in Außenpolitik, Bündnispolitik und Kriegführung. Erst mit den modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts trat der Polizei­ und Sicherheitsbereich zu den Arkana hinzu. Erst nach dem Untergang dieser Herrschaften und nach der Demo­kratisierung der jeweiligen Gemeinwesen wurden deren Geheimakten zugänglich ­ wie sich ja auch im Fall der Stasi­Unterlagen gezeigt hat. Eine Öffnung dieses Geheimarchivs war nur durch den Untergang der DDR möglich. Ein starker Druck von Seiten der internationalen Öffentlichkeit hat hingegen noch kaum zu Öffnungen, wohl aber zu ausgewählten Akten­editionen geführt.
Arkanbereiche werden auch in demokratischen Staaten weiter geschützt. Entsprechend unzugänglich bleiben daher Geheimdienstakten und besonders klassifizierte Geheimbestände, die der Öffentlichkeit entzogen werden sollen. Gerade in Italien hat eine Reihe von konkurrierenden Geheimdiensten jahrzehntelang eine hochproblematische Rolle gespielt, die nicht nur darin bestand, hunderttausende Personen geheimpolizeilich zu überwachen, sondern auch den Terrorismus von rechts zu manipulieren, um über Attentate und Androhung von Staatsstreichszenarien die Handlungsoptionen führender Politiker so zu beeinflussen, dass eine Öffnung nach Links stark abgebremst wurde. Über parlamentarische Untersuchungs­kommission zu den Bombenattentaten sind diese Vorgänge zum Teil an das Licht der Öffentlichkeit gebracht worden. Insofern kann eine kritische Diskussion durchaus zu einer teilweisen Öffnungspolitik führen. Sie könnte z.B. auch dazu beitragen, Asymmetrien zwischen alter Bundesrepublik und DDR bei der Zugänglichkeit der Akten abzubauen.
Vielleicht hat aber die internationale Verflechtung einen noch größeren Einfluss auf eine Öffnung von Geheimarchiven. Vor allem die US­amerikanische Öffnungspolitik des Freedom of Information Acts und des Nazi War Crimes Disclosure Act hat auch auf Deutschland ausgestrahlt und à la longue zu Auftragsforschungen über den Umgang mit der NS­Vergangenheit in bundesdeutschen Behörden (Auswärtiges Amt, BKA, BND usw.) geführt. Nur mit großem zeitlichem Abstand erfährt die Öffentlichkeit nun von internen Ermittlungs­ergebnissen wie dem Crome­Bericht des BND, den die FAZ publiziert hat. Das Eis gebrochen hatte jedoch m. E. die Freigabe der amerikanischen OSS/CIA­
Akten, aus denen hervorging, wie viele ehemalige Angehörige der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei durch den BND oder den OSS beschäftigt worden sind.
Wie im 18. Jahrhundert wird offenbar auch heute gelegentlich wieder ein privilegierter Aktenzugang gewährt für Forscher, die eine Geschichte der jeweiligen Institution verfassen (so z.B. im Falle von Keith Jeffery, der eine Geschichte des britischen Geheimdienstes MI6 verfasst hat). Ein allgemeiner Archivzugang, wie er von Papst Leo XIII. geschaffen wurde, ist daher auch heute ­ bei zunehmender Auftragsforschung ­ kein unwichtiges Postulat.
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