Mag. Dr. Manfred Gabriel

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Mag. Dr. Manfred Gabriel
Forschungsprogramm
I. Ausgangsthesen:
1. Soziologie als Handlungswissenschaft
Die Sozialwissenschaften und insbesondere die Soziologie werden relativ unstrittig als Handlungswissenschaften begriffen. Einige Gründe hierfür lassen sich exemplarisch anführen: Da ist zum einen
vorausgesetzt, dass die „soziale Welt” im Gegensatz zur Natur erst durch menschliche Handlungen
hervorgebracht wird (Balog 1989; Nassehi 1994). Weiters bedarf ein einigermaßen erfolgreiches Agieren in dieser sozialen Welt einer angemessenen Interpretation und Typologisierung menschlicher
Handlungen und Handlungszusammenhänge, die gleichzeitig auch die wesentlichen Phänomene des
Objektbereichs der Soziologie darstellen. Diese Implikationen bedingen eine spezifisch soziologische
Sichtweise menschlicher Handlungen, für die sich durchaus Schnittpunkte mit anderen Wissenschaften ergeben können.
2. Paradigmenstruktur der Soziologie
Es ist unschwer zu diagnostizieren, dass sich in der Wissenschaft Soziologie immer wieder neue
(Re-)Formulierungen von Paradigmen ergeben, ohne dass es deswegen zu Ab- oder Auflösungserscheinungen von bereits bestehenden Paradigmen kommt. Das ursprüngliche – von Thomas Kuhn
so konzipierte – Ablauf- bzw. Phasenmodell der Paradigmenentwicklung ist für die Soziologie, als
auch für viele andere Geistes-, Human-, Kultur- und Sozialwissenschaften nicht gültig.
Während laut Kuhn in den Naturwissenschaften Phasen des Konsensus Phasen mit wenig Konsens
ablösen, gibt es in der der Soziologie nur sehr wenig Konsens, wenn man von einem einigermaßen
homogenen und stabilen Repertoire von „Grundbegriffen“, also einer (Quasi-)Ontologie absieht.
II. Grundsätzliche Überlegungen
1. Die Struktur der soziologischen Handlungstheorie
Ausgangspunkt aller gegenwärtigen soziologischen Überlegungen zur Handlungstheorie ist die klassische Definition von Max Weber (1921), der Handeln als ein mit subjektivem Sinn versehenes Verhalten festlegte. Damit grenzt Weber Handeln klar vom (bloß reaktivem) Verhalten ab womit sich von
Seiten der Soziologie, bis in die Gegenwart, eine deutliche Abgrenzung zur Psychologie ergibt. Talcott
Parsons (1937)betont im Anschluss an Weber (sowie Durkheim, Marshall u. Pareto) den voluntaristischen Aspekt des Handelns. Dabei bringt er folgende Komponenten ins Spiel: (a.) Ein Akteur muss
einen gewissen energetischen Aufwand in seine Handlungen investieren; (b.) Handlungen sind zielgerichtet; (c.) Handeln findet in konkreten Situationen statt, die bestimmte Mittel erfordern; (d.) Handlungen sind regelgeleitet. Damit stellte sich Parsons einerseits rein utilitaristischen Konzeptionen entgegen, indem er die Abhängigkeit von Regeln (Standards) bei der Beurteilung von Zweck-Mittel-Relationen postulierte, andererseits distanzierte er sich von Auffassungen, die Handeln als nur von externen
Bedingungen abhängig modelliert sehen wollten und somit dem Eigenbeitrag des Akteurs, als auch
dem Wahlcharakter des Handelns zu wenig Beachtung schenkten.
Für Alfred Schütz (1932) ist – im Anschluss an Weber - die Sinnzuschreibung und deren Sozialität ein
wesentlicher Aspekt. Er verweist auf die Notwendigkeit des "richtigen” Sinnverstehens bei der interpretativen Eigenleistung von Akteuren im Rahmen der Bewältigung von Situationen als wesentlich für
die erfolgreiche Interaktion, worin auch die wesentliche Verbindung des Individuums zu seiner Umwelt
gesehen werden kann. Die Sozialwelt wird von Schütz als eine intersubjektiv mit anderen geteilte
Welt, bestehend aus sozial geteilten Sinnzuschreibungen und Wissensvorräten, wie u. a. Rezeptwissen oder Routinen, gesehen. Damit sind wesentliche – klassische – Ausgangspositionen eines handlungstheoretischen Zugangs benannt.
Die Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie kann man nach folgenden Kriterien inventarisieren:
Entweder werden soziale Phänomene aus der Handlungsperspektive betrachtet, also Struktur als
handlungsabhängig oder sogar als – intendiertes oder nichtintendiertes – Resultat von Handlungen
begriffen oder man betrachtet Handlungen als strukturbestimmt bzw. strukturgeleitet.
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Der Strukturbegriff hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: Einmal Regeln (Normen, Werte, Rollen
etc. aber auch kulturell und einmal sozial vorgegebene Wissensbestände,) oder nicht-sinnhafte Konstanten oder Muster (Verteilungen), die man auch als Ressourcen bezeichnen könnte (Reckwitz
1997).
Aus dieser Betrachtung ergeben sich vier Paradigmen(-familien):
Handlungsperspektive
Strukturperspektive
Sinnhafte Konstanten
1interpretative Theorien
3Strukturfunktionalismus
Nicht sinnhafte Konstanten
2RC-Theorien
4structural sociology
ad 1:
ad 2:
ad 3:
ad 4:
Interpretative Theorien: Diesen ist gemeinsam, die Betonung der Fähigkeit von Akteuren zur
Interpretation (Definition) und Bewältigung von Situationen, vor dem Hintergrund von mehr
oder weniger impliziten sozial-kulturellen Regeln. Im Vordergrund der Fragestellung stehen
Methoden des Handelns im Alltag, auch Alltagswelt oder Lebenswelt.
Theorien des rationalen Handelns (im speziellen Rational choice): Die Kernstücke der RCHandlungstheorie sind das RREEMM (restricted, resourceful, expecting, evaluating, maximizing man) Menschenbild und die SEU-Theorie (subjective expected utility). In neueren Varianten ließe sich die ausschließliche Konzentration auf nicht-sinnhafte Konstanten so wohl
nicht aufrechterhalten
Als dominantes Paradigma der Nachkriegssoziologie wird Parsons Strukturfunktionalismus
identifiziert, der schließlich in eine „Theorie des allgemeinen Handlungssystems“ mündet. Die
Pointe des Strukturfunktionalismus liegt in der Modellierung des Sozialen als normativer Ordnung: als eine Struktur von Sollensregeln. Anders als im interpretativen Paradigma sind Akteure hier Strukturreproduzenten. Das Normensystem ist eher Voraussetzung als Ergebnis
des Handelns.
Als eigenständiger Paradigmen-Typus kann die so genannte „structural sociology” besprochen
werden. Struktur wird dabei rein quantitativ als Verteilung von sozialen Positionen, die Einfluss
auf Interaktion und Rollenbeziehungen (Rollenhandeln) von Menschen haben, betrachtet.
Sozialstruktur ist ein multidimensionaler Raum sozialer Positionen. Strukturen sind Ressourcenverteilungen, wie Einkommen, Bildung, Beruf aber auch Geschlecht oder Alter. Vermehrtes Interesse hat dieses Paradigma durch seinen Wiederaufgriff in der Lebensstilforschung
erfahren.
Synthetische Positionen können in den Konzepten der (a.) multidimensionalen Handlungstheorie von
Jeffrey Alexander, (b.) den Konzepten Habitus, Feld, Kapital von Pierre Bourdieu, (c.) der Sozialtheorie von James Coleman, (d.) der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens und (e.) der Dichotomie
System-Lebenswelt von Jürgen Habermas identifiziert werden. Diese Positionen können als so genannte Mischparadigmen aufgefasst werden.
2. Facetten des Paradigmenbegriffs
Alltagssprachlich kann „Paradigma“ als „Muster“ oder „Vorbild“ bezeichnet werden, aber auch als
etwas, das als „prototypisch“ oder „normal“ angesehen wird. In der ursprünglichen Fassung bei Kuhn
scheint auch diese alltagssprachliche Bedeutung von Paradigma durch. Eine Vielfalt von dem was
eine wissenschaftliche Gemeinschaft als Konsens akzeptieren kann (akzeptiert hat), gewinnt bei Kuhn
den Status eines Paradigmas wie z. B.: konkrete Problemlösungen, wissenschaftliche Klassiker mit
Vorbildfunktion, in Klassikern enthaltene Theorien, forschungsleitende Theorien, forschungsleitende
Theorien plus Hintergrundparameter oder exemplarische (konkrete) Problemlösungen.
Grundsätzlich kann man in zwei Richtungen differenzieren:
a) Paradigmen im Sinne von „exemplarischen“ Problemlösungen, die als forschungsleitend akzeptiert werden und dazu führen, dass wissenschaftliche Forschungen in Analogie zu diesen „exemplarischen“ Problemlösungen durchgeführt werden. Dies impliziert, dass „exemplarische“ Problemlösungen relevante Problemstellungen und anzuwendende Methodologien anleiten.
b) Paradigmen im Sinne von „disziplinären Matrizen“, deren Komponenten als normativ-evaluativ von
den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft angenommen und wechselseitig vorausgesetzt werden. Dies impliziert, dass die Komponenten des Paradigmas befolgt und (zumindest
teilbewusst) als richtig anerkannt werden.
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2.1 Soziologische Facetten
Auch eine „soziologische Sicht“ kann einiges zur Klärung beitragen: Paradigmen sind ein Konsens
zwischen Fachleuten, der aus einem Gruppenkontext entwickelt wird. Dieser Konsens kann – muss
aber nicht notwendigerweise - räumlich organisiert sein, ist in jedem Fall aber durch Etikettierung
(labeling) institutionalisiert.1
Der Konsens wird gestiftet, durch explizite Begriffsdefinition und einem Kriterium zur Begriffsverwendung. Methodologische Regeln können ebenfalls Bestandteil dieses Konsens sein.
Damit kann postuliert werden: Paradigmen haben für Wissenschaft, die unzweifelhaft eine soziale
Aktivität ist, den Stellenwert eines normativen Gefüges. Dieses wird von einer Gruppe geteilt und ist in
deren Denken und Handeln identifizierbar. Paradigmen enthalten somit Handlungsanweisungen,
steuern wissenschaftliche Gewohnheiten (Scientific habits) und ermöglichen wissenschaftliches Routinehandeln. So wie normative Gefüge des Alltagslebens können auch normative Gefüge von Paradigmen und damit die Paradigmen selbst thematisiert werden. Diese Form der Thematisierung ist in
der Regel jedoch stärker konventionalisiert.
2.2 Paradigmenvergleich
Thematisierung von bestehenden Paradigmen ist eine der wesentlichen Aufgaben von Wissenschaft,
denn nur sie kann der Ausgangspunkt für wissenschaftliche Entwicklung sein. Dies gilt auch, und vor
allem, für den Bereich der sozialwissenschaftlichen Theoriekonstruktion. Thematisierung bedeutet
auch Vergleich. Grob skizziert lassen sich drei Herangehensweisen beim Vergleich von Paradigmen
beobachten.
1. Paradigmenvergleich ist zulässig und soll nach den Kriterien logische Konsistenz, empirische
Bewährung und Problemlösungskapazität erfolgen.
2. Eine Art Inkommensurabilitätsmodell, das die Möglichkeit jedes Paradigmenvergleichs ausschließt.
3. Paradigmen sollen in einer „pluralistischen Struktur“ das Problem der sozialen Ordnung lösen.
Dabei wird impliziert, dass alle Paradigmen „gleich gut“ sind und unterschiedliche Aspekte des
zentralen Themas „soziale Ordnung“ beleuchten. D. h., dass sozialwissenschaftliche Paradigmen
bezüglich ihres Gehalts kompatibel und komplementär sind. Die Konsequenz aus diesem Schluss
wäre eine Dokumentation des Nebeneinanders verschiedener Paradigmata zum Zweck einer
ständig fortschreitenden Approximation.
Punkt 1. bringt insofern Schwierigkeiten mit sich, als die Beurteilung des Kriteriums „empirische Bewährung“ von erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Prämissen, Vorstellungen über Logik, Gültigkeit und Wahrheit abhängt.
Punkt 2. ist zu verwerfen, weil er schlicht und einfach ein Armutszeugnis für jede Wissenschaft wäre.
Eine Wissenschaft, die aufhört – zumindest den Versuch zu unternehmen – die Problemlösungen
ihrer Fragestellung hinsichtlich ihres Erfolgs miteinander zu vergleichen, hat kapituliert.
Punkt 3. birgt einige versöhnliche Aspekte. Trotzdem ist er nicht frei von den Problemen die in Punkt
1. und 2. thematisiert werden. Nach welchen Kriterien werden Paradigmen als „gleich gut“ bewertet
und wenn alle gleich gut sind: Wozu sie dann vergleichen?
Unter Punkt 3. wird aber klar herausgestrichen, dass man Paradigmen aufgrund ihrer grundsätzlich
gegebenen Kompatibilität und Komplementarität aneinander annähern kann.
Dazu ist es notwendig, dass Paradigmen wechselseitig übersetzbar sind, d. h. über eine gemeinsame
Sprache verfügen. Sieht man einmal von Luhmanns Systemtheorie ab – für die es sogar ein eigenes
Lexikon gibt, (Krause 1999) ist das Problem der Übersetzbarkeit in der Soziologie nur bedingt gegeben, was sich in der Existenz einer ziemlich stabilen Quasi-Ontologie (Grundbegriffe) äußert.
2.3. Beziehungen von Paradigmen
Die Beziehungen, die Paradigmen zueinander haben, lassen sich so zusammenfassen:
1. Pseudopluralismus: Man spricht über denselben Objektbereich und hat ähnliche theoretische
Kerne und methodologische Vorgangsweisen, spricht aber eine unterschiedliche, prinzipiell aber
wechselseitig übersetzbare, Sprache.
2. Normative Rivalität: Paradebeispiel hierfür wäre der Unterschied von empirisch-analytischen Theorien, die nach „objektiver Erkenntnis“ streben und kritischen Theorien, die gesellschaftliches Engagement zum Ziel haben.
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Beispiele für räumliche Organisation und Etikettierung wären die zahlreichen Chicago-Schools, die es
interessanterweise in zahlreichen Disziplinen gibt.
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3. Machtpolitische Rivalität, die sich nicht unwesentlich in der Verteilung von Forschungsgeldern und
damit auch in der Institutionalisierung von Paradigmen äußert.
Interaktionen zwischen Paradigmen können sich folgendermaßen gestalten:
1. Anteilnahmslosigkeit
2. Pseudokooperation, Bekenntnis zur Toleranz
3. Intoleranz und Bekämpfung
4. Kognitive Konkurrenz, Versuch es besser zu lösen
5. Kooperation auf
a) theoretischer
b) empirischer
c) methodologischer Ebene
Punkt 1. wird vor allem in der Beziehung Systemtheorie – Handlungstheorie zu beobachten sein.
Punkt 2. und 5. sind wohl die zurzeit vorherrschenden Interaktionsformen zwischen den verschiedenen Formen der Handlungstheorie.
Punkt 3. war stark vorherrschend während der Auseinandersetzungen um qualitativ-quantitativ.
Wesentlich für einen differenzierten Vergleich der soziologischen Paradigmen wird es sein, wenigstens drei Ebenen des Vergleichs einzuführen:
a) Paradigmen höherer Ordnung (auch Superparadigma). Zu diesen gelangt man durch Abstraktion verschiedener Komponenten eines Paradigmas.
b) Mischparadigmen
c) Abgeleitete Paradigmen
Paradigmen höherer Ordnung für die Soziologie sind Evolutionstheorie, Handlungstheorie und Systemtheorie, bzw. die methodologischen Komponenten qualitativ vs. quantitativ, empirisch-analytisch
vs. hermeneutisch etc.
Mischparadigmen bestehen aus mindestens zwei Superparadigmen.
Abgeleitete Paradigmen sind Variationen eines Super- oder Mischparadigmas.
III. Akteurszentrierte Soziologie
Systematische und historische Rekonstruktion der Grundprobleme der akteurszentrierten Soziologie mit dem Ziel einer inhaltlichen Approximation.
1. Systematische Probleme:
A) Handlungen im Zwiespalt von Sollen und Wollen
B) Die Zweck-Mittel-Relation:
Rationalität und Routine (habitualisierte Rationalität vs. refllektierte Rationalität)
Emotionen
C) Interdependenzen:
Konflikt, Kooperation, Koordination
Reziprozität
Macht
D) Formen und Entstehung sozialer Ordnung
Gruppen, Institutionen, Organisationen
2. Theorien-Historie:
Vorgeschichte: Th. Hobbes, schottische Moralphilosophie
Soziologische Klassik (Weber, Durkheim, Simmel, Pareto, Schütz, Parsons…)
Interpretative Theorien (Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie)
Klassischer Funktionalismus
Theorien struktureller Selektion (Bourdieu, Giddens, Merton)
RC Theorien
3. Das Problem soziologischer Erklärung
Klassische Nomologie
Funktionalistische Erklärungen
Soziale Mechanismen
MSE
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