Theorie und Praxis - Institut für Geographie

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Theorie und Praxis einer Theorie der Praxis
Bourdieus praxeologischer Ansatz als Grundlage einer reflexiven Humangeographie1
Roland Lippuner (Jena)
1 Einleitung: Geographie und Gesellschaftstheorie
In der deutschsprachigen Diskussion herrschte noch Ende der 1990er-Jahre die Auffassung,
dass die Human- oder Anthropogeographie eine Sozialwissenschaft sei oder zu sein habe.
„Fast jeder Anthropogeograph“, schreibt beispielsweise Hard (1999, S. 137), „hält (…) die
Anthropogeographie für eine Sozialwissenschaft – und zwar im allgemeinen de facto und de
jure.“ Humangeographinnen und Humangeographenen suchten und fanden ihre theoretischen Grundlagen dann auch vorrangig in der Sozial- und Gesellschaftstheorie. Umgekehrt
stellten Sozialwissenschaftler anderer Fachrichtungen, wie zum Beispiel der Soziologe
Anthony Giddens (1992, S. 423), fest, dass „das Werk der Geographen heutzutage ebenso viel
zur Soziologie beizutragen hat, wie umgekehrt die Soziologie der Geographie anzubieten hat.“
Diese recht eindeutige Ausrichtung auf Sozial- und Gesellschaftstheorie (im engeren Sinne)
scheint heute, einige Jahre nach dem so genannten cultural turn, nicht mehr in gleichem
Maße gegeben zu sein. In der Theoriediskussion und der empirischen Forschung der Humangeographie werden mit großer Selbstverständlichkeit auch Bezüge zu kultur- und sprachtheoretische, philosophische und historische sowie psychologischen und (in jüngster Zeit) auch
neurologischen oder naturwissenschaftlichen Konzeptionen und Denkweisen hergestellt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich (zunächst) die Frage, welche Bedeutung und welchen
Stellenwert Sozial- und Gesellschaftstheorie gegenwärtig (noch oder wieder) annehmen. Die
Beantwortung dieser Frage setzt eine Bestimmung dessen voraus, was mit Sozial- und Gesellschaftstheorie gemeint ist. Darüber hinaus wäre grundlegen zu diskutieren, welches die Funktion oder „Leistung“ von sozialwissenschaftlichen Theorien ist (oder sein soll). Beides kann
hier nur andeutungsweise geschehen, indem drei Funktionen sozialwissenschaftlicher Theorie
unterschieden werden:
1) Theorien können, im Sinne eines kritisch-rationalen Wissenschaftsverständnisses, als Thesengebäude begriffen werden, deren Sätze es in empirischer Forschung zu prüfen (verifizieren/falsifizieren) gilt.
2) Theorie kann aber auch „nur“ als allgemeiner Bezugsrahmen, Denkweise oder Denkgebäude dienen. Ihre Aufgabe besteht dann vornehmlich darin, eine Perspektive zu generieren
und Fragen aufzuwerfen, die es (empirisch) zu untersuchen gilt, um soziale Praxis zu erklären.
1
Dieser Text basiert in wesentlichen Teilen auf einem Vortrag im Rahmen des Workshops „Geographie der
(feinen) Unterschiede: Bourdieus Beitrag für eine relationale Humangeographie vom 4./5. Nov. 2011 am Geographischen Institut der Universität Bonn. Siehe für weiterführende Erörterungen zum Verhältnis von
wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Praxis auch Lippuner (2005), zur Bedeutung von Bourdieus Theorie
für die Geographie Lippuner (2006) und für Ausführungen zu den Grundbegriffen der Theorie der Praxis zum
Beispiel Lippuner (2011).
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3) Davon unterschieden werden kann die Vorstellung, dass Theoriearbeit selbst eine (empirische) Beobachtung und Beschreibung von Praxis darstellt, das heißt eine Erfassung von
praktischen Sachverhalten und gegenstandsbezogene Beschreibung beinhaltet. (Die konventionelle Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis wird dabei aufgebrochen.) Dieses Verständnis von Theorie(arbeit) korrespondiert mit Bourdieus Auffassung, die laut Wacquant in
der Überzeugung besteht, »dass jeder Forschungsakt empirisch ist (da er es mit der Welt der
beobachtbaren Erscheinungen zu tun hat) und zugleich theoretisch (da er notwendig mit
Hypothesen über die grundlegende Struktur von Relationen arbeitet, die durch die Beobachtung erfasst werden sollen)« (Wacquant 1996, 61).
Gemäß der unter 1) genannte Auffassung wäre Bourdieus Entwurf einer Theorie der Praxis
eine mehr oder weniger gut umsetzbare Theorie, die in verschiedensten Studien schon erfolgreich ausprobiert wurde, aber auch noch weiterer Forschung bedarf. Als allgemeiner Bezugsrahmen (2) leitet sie neben vielen anderen sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklungen
auch die spezifisch geographische Theoriearbeit an und wird eingesetzt, um geographische
Theoriekonzeption voranzubringen. Begreift man die Theorie der Praxis hingegen als eine Beschreibung sozialer Praxis, die aufgrund ihres Gegenstandsbezugs immer schon empirisch ist
(3), ginge es darum, ihr Verhältnis zu anderen, insbesondere alltagsweltlichen oder „praktischen“ Beschreibungen zu klären. Dabei kann, wie Nassehi (2006) gezeigt hat, die Theorie der
Praxis von der Systemtheorie (Luhmann) lernen (die Systemtheorie aber auch von der Theorie der Praxis).
Ich möchte in meinem Beitrag vor allem diesen dritten Punkt aufgreifen und fragen, welche
wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Reflexionen die Theorie der Praxis uns ermöglicht. Dazu will ich zuerst (in drei Schritten) die sozialtheoretischen Grundlagen der Theorie
der Praxis vorstellen und die meines Erachtens zentralen Grundbegriffe umreißen. Ich
möchte kurz erläutern, wie ich die Begriffe sozialer Raum, Kapital, Felder, Habitus, sozialer
Sinn und Praktiken verstehe. Ich glaube, dass es diesbezüglich durchaus Interpretationsspielraum gibt und es hilfreich ist anzugeben, wie man diesen Interpretationsspielraum ausfüllt.
Im den letzten beiden Abschnitten möchte ich zeigen, was es heißt, mit eben diesen Grundbegriffen, die Theoriearbeit selbst als Praxis in den Blick zu nehmen.
2 Sozialtheoretische Grundlagen
Zu den sozialtheoretischen Grundlagen von Bourdieus Theorie gehören an erster Stelle die
Werke von Emile Durkheim, Karl Marx und Max Weber. Diese drei „Gründerväter“ der Soziologie stehen für je spezifische theoretische Einstellungen, die Bourdieu in seiner Theorie
der Praxis aufnimmt und weiterentwickelt. Daneben gibt es in Bourdieus weitreichenden Erörterungen und Untersuchungen eine ganze Reihe zusätzlicher Theoriebezüge. Bevor im Folgenden auf Bourdieus Rezeption der „Klassiker“ eingegangen wird, sollen von den weiteren
Theoriebezügen, die Bourdieu in seinem Werk mehr oder weniger explizit herstellt, die auffälligsten zumindest genannt werden.
Im Sinne einer Abgrenzung rekurriert Bourdieu an zentraler Stelle seiner theoretischen Konzeption auf den französischen Strukturalismus, wie er von Ferdinand de Saussure und Claude
Lévi-Strauss begründet wurde. Bourdieu lehnt die strukturalistische Vorstellung von Praxis
als einer mechanischen Ausführung eines vorgegebenen „Reglements“ ab und betont stattdessen die Spielräume, die die Akteure zu kreieren und für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Er
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wendet sich gleichzeitig gegen die Vorstellung von Praxis als einer von den Individuen völlig
frei und vollständig bewusst hervorgebrachten Verkettung von zielgerichteten, rationalen
Handlungen. Selbst die ethnomethodologische Auffassung (Garfinkels), wonach eine Erklärung von Praktiken primär die von den Akteuren selbst verfolgte Handlungsrationalität hervorkehren soll, lehnt Bourdieu (1987, S. 127) mit dem Argument ab, dass „die Handelnden
nie ganz genau wissen, was sie tun“ und dass ihr Tun stets „mehr Sinn [hat], als sie selber wissen“.
Neben diesen expliziten Bezügen, an denen Bourdieu seine Theorie ausrichtet, gibt es eine
Reihe von Denkweisen und Theorien, die in der Theorie der Praxis eher implizit aufgenommen und mit einzelnen Begriffen weitergeführt werden. So tritt Bourdieu, obwohl diese Beziehung von ihm nicht in den Vordergrund gestellt wird, zusammen mit anderen französischen Intellektuellen das epistemologische Erbe von Gaston Bachelard an. Dabei ist es bei
Bourdieu weniger das Denken in epistemologischen Epochen (Epistemen), das sich Bachelards Einfluss verdankt, als vielmehr die Idee, dass wissenschaftliche Erkenntnis – auch und
gerade sozialwissenschaftliche – gegen die Evidenz der Alltagssprache und des Alltagsdenkens
gewonnen wird. Außerdem macht Bourdieu verschiedentlich Anleihen in der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty – vor allem wenn es um die Bedeutung
des Körpers und um das „körperliche Gespür“ für soziale Situationen geht, das Bourdieu mit
dem „praktischen Sinn“ der Akteure zu fassen versucht. Die praxeologische Ausrichtung der
Theorie und die Idee von Praxis als einem „Spiel“ sind außerdem an Ludwig Wittgensteins
Sprachphilosophie orientiert. Darüber hinaus gibt es einige terminologische Übereinstimmungen mit der Feldtheorie des Sozialpsychologen Kurt Lewin. In seinen letzten Publikationen gibt Bourdieu schließlich zu Protokoll, dass er sich stets einer Idee von Kritik im Sinne
Kants und vor allem dem Denken Pascals verpflichtet gefühlt habe, der fern von jeder „populistischen Naivität“ sich für den „gemeinen Mann“ interessiert und stets nach dem Grund für
die „scheinbar inkonsequentesten und lächerlichsten Verhaltensweisen“ gefragt habe (Bourdieu 2001, S. 8).
Trotz dieser vielfältigen Einflüsse aus dem weiteren Umfeld der Philosophie und der Geisteswissenschaften sind letztlich die Werke von Durkheim, Marx und Weber die wesentlichen Bezugsquellen seiner Theorie der Praxis. Von Durkheim übernimmt Bourdieu die Überzeugung,
dass das Soziale eine Realität sui generis und somit einen eigenständigen Forschungsgegenstand für die Sozialwissenschaften darstellt. Auch Durkheims Devise, dass das Soziale durch
Soziales zu erklären sei, setzt Bourdieu in konsequenter Weise um, indem er versucht mit sozialtheoretischen Begriffen zu erfassen, was sich jenseits des subjektiv Gedachten und jenseits
der biologischen Natur der Menschen als eine eigenständige soziale Wirklichkeit abzeichnet.
Bourdieu betreibt vor diesem Hintergrund eine „Soziologisierung“ der Erkenntnistheorie, die
über Durkheim hinaus geht und die Produktion von wissenschaftlichem Wissen selbst als soziale Praxis und damit als einen Vorgang in der sozialen Welt begreift. Bei der Untersuchung
dieser sozialen Welt wendet sich Bourdieu allerdings von Durkheim ab. Laut Bourdieu fußen
Durkheims Denkweise und Methode nämlich auf einem naiven Realismus. Sie führen seiner
Ansicht nach in eine „Sozialphysik“, die die soziale Wirklichkeit auf die soziawissenschaftlich
konstruierten Kategorien, Klassen und Gruppen reduziert (vgl. z. B. Bourdieu 1987, S. 49 u.
52). Zu dieser Absetzung von Durkheims Regel der soziologischen Methode verhilft Bourdieu
vor allem die Auseinandersetzung mit den Werken von Marx und Weber.
Von Marx übernimmt Bourdieu die Auffassung, dass die zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtbare Ordnung der sozialen Welt nicht das Resultat eines kausalen Mechanismus ist,
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sondern das historische (kontingente) Produkt der praktischen Herstellung und Durchsetzung sozialer Einteilungen (Klassen, Gruppen, Ethnien, Kulturen, Geschlechter). Diese Einteilungen sind der vorläufige Stand im Kampf um die Aufteilung der sozialen Welt, das heißt
das Produkt einer Auseinandersetzung um Vorstellungen, Repräsentationen und die symbolische Ordnung. Deshalb muss, gemäß Bourdieu, bei der Analyse sozialer Prozesse eine historische Perspektive eingenommen und eine Untersuchung der Genese der aktuell wirksamen
Klassifikationen vorgenommen werden (vgl. Bourdieu 1985, S. 7ff. und 1998a, S. 11ff.).
Die Produktion der sozialen Welt wird von Bourdieu als ein sinnhafter Prozess begriffen, das
heißt als ein Prozess der Sinn- und Bedeutungsproduktion. Diese Auffassung übernimmt
Bourdieu von Weber, der in seiner berühmten Definition der Soziologie postuliert, dass diese
den subjektiv gemeinten Sinn sozialen Handelns erschließen solle, um so das soziale Handeln
deutend verstehen und erklären zu können (Weber 1980, S. 1). Auch Bourdieus Theorie der
Praxis ist eine Theorie der sinnhaften Produktion der sozialen Welt. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen dem, was aus sozialwissenschaftlicher Sicht der Sinn von Handlungen zu
sein scheint und dem, was tatsächlich die praktische Bedeutung von Tätigkeiten und Äußerungen – der „praktische Sinn“ – ist. Bourdieu stimmt Weber im Grunde zu, wenn dieser sagt,
dass Handelnde mit ihrem Tun einen subjektiven Sinn verbinden. Gleichzeitig muss man
aber, Bourdieu zufolge, in Rechnung stellen, dass die Handelnden nicht bei allem, was sie tun,
diese Sinnkomponente reflektieren, sondern sie in den meisten Fällen praktisch beherrschen,
dass sie sie also auch dann reproduzieren, wenn sie sie nicht diskursiv durchdringen.
Die theoretischen Grundzüge von Bourdieus Theorie der Praxis lassen sich in den folgenden
Grundannahmen zusammenfassen: 1. Der Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften, die
soziale Wirklichkeit, ist weder auf individuelle Bewusstseinsdispositionen, noch auf natürliche
Determinanten zu reduzieren. 2. Die soziale Welt ist das historisch kontingente Produkt einer
fortwährenden „Repräsentationsarbeit“ (Bourdieu 1985, S. 16). Sie ist das Ergebnis der symbolischen Produktion von Unterschieden und Einteilungen. 3. Die Herstellung und Durchsetzung von Prinzipien der Unterscheidung ist ein „Kampf“ um die Herrschaft über die legitime
Sicht der sozialen Welt bzw. um die Art und Weise ihrer Konstruktion. 4. Die Sozialwissenschaft enthält sich selbst als Teil ihres Gegenstandsbereichs. Daraus resultieren nicht nur besondere Anforderungen, sondern auch der privilegierte Standpunkt sozialwissenschaftlicher
Beobachtung.
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Sozialer Raum, Kapital und Felder
Bourdieus Theorie der Praxis weist hinsichtlich ihrer Grundhaltung einige Ähnlichkeiten mit
der Theorie der Strukturierung auf, die von Giddens etwa zur gleichen Zeit entwickelt wurde.
Beide Theorien zielen darauf ab, die Dichotomie von Handeln und Struktur zu überwinden.
Laut Bourdieu (1987, S. 49) handelt es sich bei dieser Dichotomie um den „verderblichsten“
aller Gegensätze, „die die Sozialwissenschaften künstlich spalten“. Bourdieu nimmt im Hinblick auf die Überwindung dieses Gegensatzes jedoch eine andere Schwerpunktsetzung vor als
Giddens und vollzieht eine „reflexive Wende“: Ihm geht es nicht in erster Linie um die Frage,
wie weit die individuelle Freiheit des Handelns reicht und wie stark dieses umgekehrt von sozialen Zwängen begrenzt ist. Was Bourdieu überwinden möchte, ist der Gegensatz zweier
Arten sozialwissenschaftlicher Beobachtung. Bourdieu behauptet, dass Subjektivismus und
Objektivismus die soziale Praxis je einseitig und verzerrt darstellen. Dementsprechend besteht
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das Ziel seiner Theorie der Praxis darin, diese Verzerrungen der wissenschaftlichen Sicht hervorzukehren, um dadurch eine unverfälschte Erkenntnis der Praxis und der praktischen Erkenntnis möglich zu machen. Die Kritik objektivistischer und subjektivistischer Erkenntnisweise ist für Bourdieu also der Ausgangspunkt für die Konzeption einer Theorie, die die „tatsächliche Logik der Praxis“ sichtbar macht (Bourdieu 1987, S. 53).
Sozialer Raum
Unter den Kernkonzepten von Bourdieus Theorie der Praxis ist, mit Blick auf die humangeographische Forschung, an erster Stelle der Begriff des sozialen Raums zu behandeln. Dabei
muss gleich zu Beginn deutlich gemacht werden, dass Bourdieu damit keinen geographischen
Sachverhalt bezeichnet. Der soziale Raum ist nicht das Territorium von Individuen oder der
Lebensraum einer Gruppe. Sozialer Raum im Sinne Bourdieus ist nichts, was irgendwie als
Struktur auf der Erdoberfläche zu finden wäre. Wenn bei Bourdieu von sozialem Raum die
Rede ist, geht es um die soziale Welt, um die Gesellschaft. Die Bezeichnung „Raum“ fungiert
dabei als eine Metapher, die bei der Beschreibung der Gesellschaft „einer substantialistischen
bzw. essentialistischem Spontantheorie“ vorbeugen soll (Schultheis 2004, S. 16). Dass ausgerechnet der Raumbegriff gegen die Verdinglichung sozialer Wirklichkeit helfen soll, muss zunächst überraschen – ist es doch gerade die Raummetapher, die mit ihrer „Quasi-Ontologie“
(Fuchs 2003, S. 27) zu essentialistischem Denken verleitet. Auch Bourdieu (1991, S. 29) weist
an anderer Stelle darauf hin, dass Raumbegriffe „Fallen“ darstellen, weil sie unvorsichtige Beobachter „in einen substantialistischen und realistischen Ansatz“ führen (vgl. zur Problematik
der „Raumfalle“ auch Lippuner/Lossau 2004 und 2010).
Die Tendenz, soziale und kulturelle Differenzen als vorgegeben oder natürlich erscheinen zu
lassen, hängt jedoch vor allem mit der Idee des absoluten Raums im Sinne Newtons, das heißt
mit der Vorstellung von Raum als einer Art Container zusammen (vgl. dazu Werlen 1999, S.
135ff). Bourdieu begreift den Raum jedoch, in Anlehnung an Leibniz, als ein relationales Gefüge von Positionen. In einem solchen relationalen Raum besteht keine Beziehung zwischen
den Objekten und einem eigenständigen Raum. Der Raum selbst ist gemäß dieser Auffassung
nichts anderes als das Beziehungsverhältnis von Objekten zueinander. Der soziale Raum ist in
diesem Sinne also ein Ensemble von Positionen, die durch Relationen von Nähe und Entfernung bestimmt sind (Bourdieu 1998, S. 18). Er bildet weniger ein Gefäß als vielmehr ein Geflecht sozialer Lagebeziehungen, das heißt eine Art „soziale Topologie“ (Lippuner 2007). Das
Maß der Entfernung zwischen den verschiedenen Punkten im Raum und damit so etwas wie
die Koordinatenachsen des sozialen Raums sind verschiedene Formen von Kapital. Neben
dem ökonomischen Kapital behandelt Bourdieu gleichberechtigt soziales und kulturelles Kapital. Diese drei Kapitalsorten sind die hauptsächlichen Determinanten der Bestimmung von
Positionen im sozialen Raum.
Kapital
Die Bezeichnung Kapital steht bei Bourdieu (1985, S. 10f. und 1998, S. 15ff.) auch für ökonomisches Kapital im engeren Sinne (Geld, Einkommen, Eigentum), meint aber allgemeiner
Formen der Verfügungsmacht über Produkte, Akteure und Deutungen. Es umfasst also auch
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die Macht über Vorstellungen und Weltbilder, Identitäten und Differenzen. Besondere Formen dieser Verfügungsmacht sind neben dem ökonomischen Kapital, soziales und kulturelles
Kapital. Unter sozialem Kapital können unterschiedliche Formen von Verfügungsmacht über
Personen und deren Tätigkeiten begriffen werden. Diese Verfügungsmacht kann auf festgeschriebenen sozialen Beziehungen, zum Beispiel (Arbeits-)Verträgen, beruhen, genauso gut
aber aus freundschaftlichen Verpflichtungen und Ähnlichem erwachsen. Kulturelles Kapital
bezeichnet Kenntnisse und Fertigkeiten, die durch Bildung erworben werden. Der Begriff des
kulturellen Kapitals umfasst allerdings nicht nur Bildung im Sinne schulischer oder universitärer Ausbildung, sondern alle Arten von Kompetenz im Umgang mit Zeichen und Bedeutungen. Es umfasst also unter anderem auch die Fähigkeit, an spezifischen Sprachspielen in
einem bestimmten Umfeld teilzunehmen und entsprechende Erwartungen zu erfüllen. Neben
diesen Hauptdeterminanten des sozialen Raums erwähnt Bourdieu hin und wieder noch weitere Kapitalsorten, die in speziellen sozialen Kontexten relevant werden. So spricht er beispielsweise von „symbolischem Kapital“ als derjenigen Form, die jede Art von Kapital annimmt, wenn sie als Distinktionsmedium anerkannt wird (vgl. Bourdieu 1998, S. 108f. u.
1985, S. 11ff.) oder von „wissenschaftlichem Kapital“, welches in zwei verschiedenen Erscheinungsformen – als Reputation und als administrative Kontrollkapazität (etwa Bestimmungsmacht bei der Vergabe der Mitteln oder der Beurteilung von Forschungsvorhaben) – im Feld
der Wissenschaft zirkuliert (vgl. Bourdieu 1998b).
Die verschiedenen Kapitalsorten sind laut Bourdieu nur bedingt austauschbar, sodass es zu
einem Kampf um die Geltung des Kapitals, um den „Wechselkurs“ zwischen den verschiedenen Sorten von Kapital kommt. Diese Auseinandersetzung über die verschiedenen Sorten von
Kapital und über deren Wechselkurs hängt eng mit der Aufteilung des sozialen Raums zusammen. Der soziale Raum ist nämlich, gemäß Bourdieu (1985, S. 7ff. und 1998, S. 11ff.) in
eine Vielzahl von Subräumen (Felder) unterteilt.
Felder
Jedes soziale Feld hat, wie Bourdieu betont, seine eigene „Logik“. Es zeichnet sich durch ein
feldspezifisches Unterscheidungsprinzip aus, mit dem Bewertungen vorgenommen, Positionen zugeschrieben, Ereignisse gedeutet und Probleme behandelt werden. Deshalb bildet jedes
Feld ein mehr oder weniger autonomes soziales Universum, in dem ein bestimmtes Prinzip
der Unterscheidung und Bezeichnung, das heißt eine je eigene Distinktionslogik vorherrscht
(Bourdieu/Wacquant 1996, S. 127 und Bourdieu 2001, S. 30). Damit trägt die Theorie der
Praxis dem Rechnung, was an anderer Stelle als Ausdifferenzierung sozialer Systeme beschrieben wird. Die Felder des sozialen Raums entsprechen den Teilsystemen der Gesellschaft, wie
sie zum Beispiel von der Systemtheorie (Luhmann 1997) konzipiert werden, das heißt der
Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kunst, der Religion usw. Vergleichbar mit entsprechenden Vorstellungen in der Systemtheorie, definiert auch ein Feld einen besonderen
Blickwinkel, unter dem die soziale Welt beobachtet wird. Ein Feld beinhaltet, mit anderen
Worten, einen Standpunkt und eine Perspektive, in der ein Bild von der sozialen Welt und
damit die soziale Welt selbst konstruiert wird (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134).
Im Gegensatz zur Systemtheorie, bei der ein gesellschaftliches Funktionssystem im Kern aus
einem binären Code – einer Leitunterscheidung – besteht, auf die alle Systemaktivitäten zurückgeführt werden können, betont Bourdieu die Strategien der Akteure und rechnet mit der
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Heteronomie von Feldern. Diese zeige sich „wesentlich durch die Tatsache, dass (…) äußere
Fragestellungen“ in einem Feld auch „halbwegs ungebrochen zum Ausdruck kommen“ können (Bourdieu 1998b, S. 19). Deshalb hebt Bourdieu hervor, dass die Theorie der Praxis und
die Systemtheorie nur „oberflächliche Ähnlichkeiten“ hätten (Bourdieu/Wacquant 1996, S.
134). Bei genauerer Betrachtung zeige sich jedoch, dass sie in mehrfacher Hinsicht „radikal
verschieden“ seien (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134). Der Begriff des Feldes schließe funktionalistische Erklärungen aus. Er ziele vielmehr darauf ab, dass jedes Feld „ein Ort von
Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels“ sei (Bourdieu/Wacquant 1996, S.
134f.). Daraus folge, dass die Kohärenz, „die in einem gegebenen Zustand des Feldes zu beobachten ist (…), (…) ein Produkt von Konflikt und Konkurrenz und kein Produkt irgendeiner
immanenten Eigenentwicklung der Struktur“ sei (Bourdieu/Wacquant 1996, S. 134). Außerdem verbindet Bourdieu die in Feldern wirksamen Unterscheidungsprinzipien mit den Dispositionen der Akteure und stellt dabei einen Zusammenhang von objektiven und subjektiven
Strukturen her. Auf diese Verknüpfung der Differenzierung sozialer Felder mit den handlungsleitenden Einstellungen individueller Akteure stellen die Begriffe des Habitus und des
sozialen Sinns ab.
4 Habitus, sozialer Sinn und Praktiken
Die feldspezifischen Prinzipien der Unterscheidung (Distinktion) schlagen sich laut Bourdieu
in den Köpfen und in den Körpern der Akteure nieder. Der Distinktionslogik des Feldes entsprechend bilden sich bei den Akteuren Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und des
Handelns aus. Diese Kongruenz von feldspezifischen Unterscheidungsformen einerseits und
Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata andererseits bezeichnet Bourdieu als den
„Habitus“ der Akteure (vgl. dazu Krais/Gebauer 2002). Der Habitus ist gemäß Bourdieu also
ein Produkt der Konditionierungen, die mit einer Positionierung im sozialen Raum einher
gehen (Bourdieu 1998a, S. 21). Die Habitus der Akteure sind deshalb so unterschiedlich wie
die Positionen, deren Produkt sie sind. Man muss allerdings hinzufügen, dass die Habitus
nicht nur differenziert, sondern auch differenzierend sind: Sie enthalten die Deutungsschemata, mit deren Hilfe Äußerungen und Gegenstände interpretiert und Praktiken reproduziert
werden. Der Habitus hat also zwei Seiten. Auf der einen Seite ist er ein System von strukturierten Erwartungen. Auf der anderen Seite ist er das strukturierende Prinzip von Praktiken.
Dabei ist zu beachten, dass der Habitus stets in und durch Praxis erworben wird. Dieses Erwerben erfolgt nicht allein durch reflektierendes Lernen. Vielmehr handelt es sich zum größten Teil um eine Inkorporierung, die sich außerhalb des Bewusstseins abspielt. Die Verinnerlichung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die den Habitus ausmachen,
erfolgt vor allem durch eine stillschweigende Einübung von Verfahrensweisen zur Bewältigung sozialer Situationen. Auch die Anwendung dieser Denk- und Handlungsschemata, ihre
Veräußerung, findet in aller Regel ohne reflexive Durchdringung statt. Ein Großteil dessen,
was wir an Unterscheidungsvermögen an den Tag legen, unsere Kompetenz im Umgang mit
sozialen Situationen, unser Verständnis für den Sinn von Äußerungen und für die Bedeutung
von Gegenständen, kommt routinemäßig zur Anwendung. Wir verfügen über eine praktische
Beherrschung der geltenden Regeln und Gepflogenheiten. Der Habitus bildet damit die
Grundlage für eine Art von Kenntnis oder Fähigkeit, die nicht artikuliert werden muss und
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vielfach auch gar nicht ohne weiteres artikuliert werden kann, ohne die aber soziales Handeln
und Kommunikation auch nicht ablaufen könnten. Bourdieu (2001a, S. 178) spricht in diesem
Zusammenhang auch von einem „körperlichen Antizipieren“ der Erfordernisse sozialer Situationen in bestimmten Feldern. Die soziale Differenzierung schlägt sich also nicht nur „in den
Köpfen“ der Akteure als Denk- und Handlungsschemata nieder, sondern überträgt sich mehr
oder weniger direkt auf den Körper:
„Man könnte in einer Abwandlung eines Wortes von Proust sagen, Arme und Beine seien voller verborgener
Imperative. Und man fände kein Ende beim Aufzählen der Werte, die durch jene Substanzverwandlung verleiblicht worden sind, wie sie die heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik bewirkt, die es vermag, eine
komplette Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik über so unscheinbare Ermahnungen wie ‚Halte dich gerade!’ oder ‚Nimm das Messer nicht in die linke Hand!’ beizubringen und über die scheinbar unbedeutendsten
Einzelheiten von Haltung, Betragen oder körperliche und verbale Manieren den Grundprinzipien des kulturell
Willkürlichen Geltung zu verschaffen, die damit Bewusstsein und Erklärung entzogen sind“ (Bourdieu 1987, S.
128).
Mit dem Konzept des Habitus wendet sich Bourdieu gegen die idealistischen Konzeptionen
von Praxis in gewissen Handlungstheorien (vor allem rational choice-Ansätzen), die Handlungen als Produkte von Kalkulationen oder bewusster Planungen und Entscheidungen begreifen. Dieser Auffassung hält Bourdieu entgegen, dass es einen „praktischen Sinn“ und eine
praktische Beherrschung der sozialen Praxis gibt, die nichts mit dieser Art von Handlungsrationalität zu tun hätten:
„Der praktische Sinn als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit sorgt dafür, dass Praktiken in dem, was an ihnen dem Auge ihrer Erzeuger verborgen bleibt, und eben die über das einzelne Subjekt hinausreichende Grundlage ihrer Erzeugung
verrät, sinnvoll, d. h. mit Alltagsverstand ausgestattet sind“ (Bourdieu 1987, S. 127).
Bourdieu (1987, 122) bezeichnet diesen praktischen Sinn auch als einen „Sinn für das Spiel“,
wobei mit „Spiel“ das (ernste) soziale Geschehen im Allgemeinen gemeint ist. Die Felder des
sozialen Raums sind dann die „Spiel-Räume“ mit den je spezifischen „Spiel-Regeln“. Zwischen den Feldern und den Habitus besteht ein unmittelbares Verhältnis, insofern die Akteure dieses „Spiel“ quasi intuitiv beherrschen und weitgehend unhinterfragt reproduzieren.
Da die Habitus abgestimmt sind auf die in einem Feld vorherrschenden Prinzipien der Distinktion, repräsentieren sie einerseits die sozialen Bedingungen, unter denen sie erworben
werden. Andererseits wird die Struktur des sozialen Raums (die Felder und ihre Logiken)
durch eben jene symbolischen Praktiken produziert, die von den Dispositionen dieses Habitus
generiert werden. Daraus folgt nicht, dass die sozialen Bedingungen stets gleichförmig reproduziert werden, sondern dass diejenigen, die in ein soziales Feld involviert sind, dessen Vorgaben nicht als äußeren Zwang wahrnehmen. Der praktische Sinn ist auch eine Art „praktischer Glaube“ an das „Spiel“ und daran, dass dieses wert ist, gespielt zu werden. Als eine illusio (Bourdieu 1998, S. 140f.) sorgt er dafür, dass das, was in einem Feld geschieht, weitgehend
selbstverständlich erscheint. Das bedeutet nicht, dass soziale Akteure mit allem einverstanden
sind, was in ihrem sozialen Umfeld geschieht. Vielmehr geht es darum, dass der Habitus Erwartungshaltungen bestimmt und somit definiert, welche Ereignisse als Überraschungen irritieren können.
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Habitus als blind spot: Zur operationalistischen Perspektive der Theorie der Praxis
In einer eher randlichen Bemerkung über den Begriff des Habitus erklärt Luhmann einmal,
Bourdieu löse mit diesem Begriff das Problem, dass der Kommunikationsprozess den Akteuren nicht genügend Zeit zur Verfügung stellt, um die individuellen Beiträge eingehend zu
prüfen und ihr Anschlussverhalten vorzubereiten (Luhmann 1990, S. 33). Beim Handeln im
Alltag, so könnte man diesen Gedanken vielleicht zuspitzen, bleibt zum Denken normalerweise keine Zeit. Dieses Problem werde in der Theorie von Bourdieu mit dem Begriff des Habitus (theoretisch) eingefangen, weil der Habitus eine intuitive Beherrschung sozialer Situationen erlaubt, die keine reflexive Durchdringung der Notwendigkeiten der Situation erfordert. Luhmann fügt allerdings hinzu, dass es vielleicht sinnvoller wäre, das Problem einfach
als solches zu bezeichnen und zu zeigen, welche Lösungen in der Praxis von der Praxis selbst
gefunden werden – Lösungen, die „von Überforderung bis zu Routinierung“ (Luhmann 1990,
S. 33) gehen oder „sehr unterschiedliche Halblösungen“ (Luhmann 1990, S. 33) sein können.
Ich möchte im Folgenden behaupten, dass Bourdieu im Grunde genau das tut. Er bezeichnet
mit dem Habitus ein Problem und fragt, wie die Praxis dieses Problem löst. Mit dem Begriff
des Habitus wird also kein theoretisches Rätsel gelöst, sondern ein Problemgesichtspunkt erzeugt. Dieser Problemgesichtspunkt ist die Zeitlichkeit sozialer Praxis. Es geht um das (praktische) Problem, dass soziale Praxis in der Zeit fortschreitet und nur als zeitliches Phänomen,
das heißt in ihrem Fortschreiten existiert. Die Rede von Praxis besagt, dass bestimmte Ereignisse (Handlungen) andere Ereignisse auslösen, die wiederum Anschlussereignisse nach sich
ziehen. Soziale Praxis ist also eine durch und durch temporalisierte Angelegenheit (Nassehi
2006, S. 244ff.). Man findet diese Auffassung von Praxis auch in anderen Theorien. So macht
zum Beispiel Giddens klar, dass man soziales Handeln nur schwer in einzelne Sequenzen zerlegen kann, man es eher als ein Fluss begreifen muss. Man kann den Verlauf der Praxis nicht
anhalten. Man kann wohl innehalten und etwas anderes tun, als das, was man davor getan hat.
Man kann aber nicht aufhören zu praktizieren. Es gibt keine Freeze-Taste, keinen PausenKnopf für die soziale Praxis.
Das ist die einen Seite des Zeitproblems sozialer Praxis. Die andere besteht darin, dass soziale
Praxis, wenn sie im Sinne einer Absicht oder eines Plans gelingen soll, auch „über die Zeit
kommen“ muss. Es müssen Anschlussereignisse bzw. Anschlusshandlungen gefunden werden, mit denen zum Beispiel eine Interaktion in einer bestimmten Richtung fortgeführt werden kann. Die Frage ist dann, wie es in der Interaktion gelingt, weitere Kommunikation an die
bereits gemachten (und damit auch schon vergangenen) Äußerungen anzuschließen (siehe
dazu auch Baecker 2005 und 2007). Dieses Problem des Anschlusses, ebenfalls ein praktisches
Zeitproblem, das die Frage nach der Bedeutung von Medien aufwirft, ist der Problemgesichtspunkt, der bei Luhmann im Zentrum steht. Luhmann begreift gelingende Kommunikation als
etwas höchst Unwahrscheinliches und fragt, wie es der Kommunikation gelingt, sich fortzupflanzen, das heißt Anschlussereignisse zu finden, mit denen das kommunikative Geschehen
weitergeführt wird. (Das geschieht hauptsächlich dadurch, dass Medien benutzt werden, die
Spielraum der Selektion von Anschlüssen einschränken.)
Bourdieu dagegen scheint eher das andere Zeitproblem der Praxis oder besser gesagt, die andere Seite des Zeitproblems in den Mittelpunkt zu stellen: die Zeitknappheit der sozialen Praxis. Er sieht, dass die Akteure mit ihren Absichten und Motiven der Praxis im Grunde „hinterher rennen“. Man lebt (subjektiv) natürlich in der Vorstellung, dass ein Motiv oder der
gemeinte Sinn am Anfang stehen und betrachtet Äußerungen als Ausdruck von Mitteilungs-
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absichten. Man merkt aber auch immer wieder, dass man etwas tun muss, wenn man eine Absicht verfolgen oder ein Motiv in die Tat umsetzen will und mehr noch: Man hat immer schon
etwas getan, wenn man im Sinne eines gemeinten Sinns eine Äußerung gemacht hat. Man hat
sich nämlich geäußert und hat damit die Äußerung für die Interpretation (durch andere) freigegeben. Es ist dann keineswegs gesagt, dass die Äußerung auch so verstanden wird, wie sie
gemeint war. Damit der „gemeinte Sinn“ realisiert (verstanden und verwirklicht) wird, müssen weitere Äußerungen gemacht werden (die wiederum interpretiert und falsch verstanden
werden können). Der Punkt dabei ist, dass Praxis immer schon stattgefunden hat, wenn man
über die Praxis nachdenkt und/oder versucht die Praxis reflexiv zu steuern. Reflexivität ist,
wie die Kybernetik lehrt, die Anwendung eines Prozesses auf sich selbst. Das heißt, dass der
Prozess dabei immer auch abläuft.
Dass Praxis immer schon stattgefunden hat oder besser gesagt, gerade stattfindet, wenn Beobachtungen und Beschreibungen von Praktiken angefertigt werden, kann vielleicht noch treffender beschreiben werden, wenn man zwischen der Operation (Praxis) der Beobachtung und
der Beobachtung von Operationen (Praktiken) unterscheidet. Dann gilt: Die Operation der
Beobachtung läuft, wenn es zur Beobachtung von Operationen kommt. Deshalb braucht man
Zeit, um Operationen (Praxis) zu beobachten. Man kann vor allem die eigene Praxis nur zeitlich versetzt – im Nachhinein, oder in der différance, wie man mit Derrida sagen könnte – beobachten (Fuchs 2001, S. 121). Für die (sozial-)wissenschaftliche Beobachtung, die darauf spezialisiert ist, Beobachtungen zu beobachten gilt das ganz konkret: Man braucht, wie Bourdieu
(1998) betont, Zeit, um wissenschaftlich zu Arbeiten. Zeit zu haben und „von den Zwängen
und Begrenzungen der besonderen historischen Umstände befreit“ (Bourdieu 1998, S. 205) zu
sein, ist eine Vorbedingung (sozial-)wissenschaftlicher Praxis.
Das Zeitproblem der Beobachtung von Praxis ist einfach zu lösen, wenn man von Fremdbeobachtung ausgeht. Dann kann man einen Beobachter ansetzen, der mit bestimmten Ressourcen (insbesondere Zeit) ausgestattet ist und die Alltagspraxis beobachtet (und beschreibt).
Komplizierter wird es, wenn es um Selbstbeobachtung der Praxis geht, das heißt um die Frage
inwiefern die Praxis für sich selbst transparent ist. Eine solche Transparenz wird von der
Handlungstheorie traditionellerweise unterstellt: Konventionelle Handlungstheorie geht davon aus, dass die Akteure insofern Subjekte sind, als sie die Praxis reflexiv durchdringen und
steuern. Das heißt, dass sie die Praxis nicht nur praktizieren sonder auch noch beobachten.
Dieses Beobachten selber ist aber wiederum eine Praxis, so dass die Praxis in sich selbst noch
einmal enthalten ist. Dieses Selbstenthaltensein der Praxis führt zu Paradoxieproblemen und
bedeutet, dass Praxis nie zu vollständiger Selbsttransparenz gelangen kann. Vereinfacht gesagt: Wann immer man Praxis beobachtet, tut man etwas (nämlich beobachten), das man
nicht gleichzeitig auch noch beobachten bzw. reflektieren kann. Eben deshalb muss die Operation der Beobachtung – die Praxis selbst – zunächst unreflektiert vonstatten gehen. Die Praxis braucht also eine Grundlage jenseits der subjektiven Gründe, Motive, Intentionen und Absichten, jenseits des gemeinten Sinns. Sie muss auf der operativen Ebene naiv verfahren und
wird erst durch weitere Praxis reflexiv (Nassehi 2006, S. 251ff.). Praxis muss deshalb gedacht
werden, als etwas, was den Subjekten eher passiert (widerfährt) als dass sie sie durchführen.
Man könnte auch sagen: Jede Praxis besitzt notwendiger Weise einen blinden Fleck. Dieser
blind spot ist der Habitus, als Erzeugungsgrundlage von Praktiken, die „vernünftig sind, ohne
deswegen das Produkt eines durchdachten Plans oder gar einer rationalen Begründung zu
sein, denen eine Art objektiver Zweckmäßigkeit innewohnt, ohne dass sie deswegen auf einen
explizit gesetzten Zweck bewusst hinorganisiert wären; die verstehbar und schlüssig sind,
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ohne aus gewollter Schlüssigkeit und reiflich überlegter Entscheidung hervorgegangen zu sein,
die auf Zukunft abheben, ohne Ergebnis eines Vorhabens oder Plans zu sein“ (Bourdieu 1987,
95).
6 Der scholastische Blick: Operationen der Beobachtung und Beobachtung von
Operationen
In Bezug auf die Frage, nach der wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Position, die sich
für eine Theorie der Praxis daraus ergibt, ist weiter aufschlussreich, was Bourdieu (1998 und
2001) zur „scholastischen Sicht“ und zum „scholastischen Trugschluss“ (scholastic fallacy)
schreibt. Dieser besteht grob gesprochen darin, dass der Beobachter von Praxis (der Sozialwissenschaftler oder die Sozialwissenschaftlerin) seine bzw. ihre Sicht der Dinge in die Praxis hineinprojiziert und zum Funktionsprinzip der Praxis macht. Bourdieu benennt zwei Versionen
dieses scholastischen Fehlers, zu dem die scholastische Sicht der wissenschaftlichen Beobachtung verleitet: einen subjektivistischen und einen objektivistischen. Beide führen zu einer verzerrten Darstellung der Praxis.
Die objektivistische Version besteht darin, „die Klassen auf dem Papier“ mit realen, effektiven
Klasse zu verwechseln (Bourdieu 1985, 12). Damit ist im Grunde nichts anderes gemeint, als
dass man „Aussagen nicht mit ihren eigenen Gegenständen verwechseln [darf]; (…) dass (…)
wissenschaftliche Aussagen nur wissenschaftliche Aussagen sind“ (Luhmann 1984, 30). Das
ist leicht gesagt. Es ist aber gar nicht leicht, klar zu machen, dass die objektiven Regelmäßigkeiten sozialer Praxis, die die objektivistische Beschreibung zutage fördert, nicht die Regeln
sind, nach denen die Praxis praktisch vollzogen wird. Noch weniger auffällig aber nicht minder folgenreich ist die subjektivistisch Version des scholastischen Fehlers. Sie besteht darin,
die Einstellung des Wissenschaftler unter der Hand als diejenige zu betrachten, die auch den
Akteure der Praxis eigen ist. Das heißt, dass man (stillschweigend) annimmt oder so tut, die
Akteure seien selbst in einer ähnlichen Lage wie der professionelle Beobachter, der Zeit und
Muße hat, sich über die Voraussetzungen des Handelns und alle denkbaren Konsequenzen
Gedanken zu machen, der also über die Praxis nachdenkt, um sie zu verstehen und zu beschreiben, anstatt an der Praxis praktisch teilzunehmen. Dieser scholastische Irrtum führt laut
Bourdieu dazu, dass wir den Akteuren unterstellen, sie würden von wohldurchdachten Absichten ausgehen und seien sich der Folgen ihres Tuns jederzeit vollumfänglich bewusst.
Bourdieu behauptet, wohlgemerkt nicht, dass Akteure überhaupt nicht wüssten, was sie tun.
Er betont jedoch, dass ein solches Wissen in der Praxis oft nicht gefragt ist, manchmal sogar
unterdrückt bzw. verschwiegen wird und dass jede Handlung/Äußerung mehr Folgen hat, als
das, was die Akteure damit erreichen wollen oder meinen.
Bourdieu erläutert die scholastische Sicht der Wissenschaft und das Zustandekommen eines
scholastischen Trugschlusses verschiedenltich am Beispiel der sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gabe. Die Gabe ist ein Phänomen, das die Sozialwissenschaften schon sehr lange beschäftigt. Die wahrscheinlich bekannteste Arbeit und der wichtigste Referenzpunkt für Auseinandersetzungen mit der Gabe ist die berühmte Studie von
Marcel Mauss (1990 [1950]). Mauss sammelt darin Beobachtungen über Formen der nichtkommerziellen (anökonomischen) Veräußerung von Gütern. Paradigmatisch ist dabei der
Potlatsch, wie er von den Ethnologen unter anderem bei Ureinwohnern in Nordamerika beschrieben wurde: Ein gegenseitiges sich überbieten mit Gaben (Geschenken), das so weit gehen kann, dass ganze Stämme in den materiellen Ruin getrieben werden, aber symbolisch den
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Sieg davon tragen. Bei einem antagonistischen Potlatsch ist derjenige überlegen, der mehr geben konnte; unterlegen derjenige der die Gaben annehmen muss, ohne sie noch einmal erwider zu können. (Das funktioniert auch bei uns. Wenn sich in einer Bürogemeinschaft einmal
eingespielt hat, dass jeder Mitarbeiter zum Geburtstag, von den Kollegen ein Geschenk bekommt, kann man beim eigenen Geburtstag nicht einfach auf das Geschenk verzichten. Man
wird kaum durchsetzen können, nichts geschenkt zu bekommen. Eine Ablehnung des Geschenks würden die anderen vermutlich als Beleidigung auffassen. (Die Akteure müssen natürlich prädestiniert oder besser: prädisponiert sein für solche Spiele, das heißt, sie müssen die
Gepflogenheiten kennen und wissen, dass man auf mehr oder weniger ausgewogene Geschenke achten sollte. Und vor allem: Sie müssen für sich behalten, dass sie wissen, dass das
ganze am Ende ein Nullsummenspiel ist, bei dem jeder 10 mal 2 Euro bezahlt und einmal ein
Geschenk für ca. 20 Euro bekommt. Das ist zwar jedem klar, wird aber nicht explizit gemacht.)
Von außen gesehen und nüchtern betrachtet sind solche Geschenke-Zirkel aber so etwas wie
Tauschgeschäfte. Das ist auch den Interpreten von Mauss’ Untersuchung aufgefallen. Überall,
wo Mauss nach der wahren Gabe, als einem uneigennützigen Geben, gesucht hat, stieß er auf
Gegengaben und Tausch gestoßen. Levi-Strauss (1989) hat das in seiner berühmten Interpretation von Mauss Arbeit klar gemacht und Derrida (1993) hat in einer lesenswerten Studie herausgestellt, dass es eine „wahre Gabe“ gar nicht geben könne. Er (Derrida 193) hat darauf
hingewiesen, dass das uneigennützige Geben, das nicht mit einer Gegengabe quittiert wird
und auch nicht mit einer solchen rechnet, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Denn jede Gabe
verpflichtet den Beschenkten zumindest dazu, sich dankbar zu zeigen. Eine Gabe wäre nur
dann wahrhaft ein Gabe, wenn sie zu nichts verpflichten würde. Sie beinhaltete dann aber die
Verpflichtung nicht zurückgeben und zu nichts zu verpflichten also die Pflicht der Nicht-Verpflichtung. Damit ist die wahre, uneigennützige Gabe ein Paradox.
Für Bourdieu ist Derridas Analyse ein Ausdruck der scholastischen Sicht eines Philosophen,
der nicht nur zur Zeit zum Nachdenken hat, sondern auch von den praktischen Verpflichtungen befreit ist, weil er beim Nachdenken über die Gabe nicht die Konsequenzen des NichtEinhaltens der „Spielregeln“ fürchten muss. Die von Derrida dargestellten Antinomien entstehen nur, wenn wir von einem Akteur ausgehen, der wie ein Philosoph im Kämmerchen
über das Prinzip der Gabe nachdenkt und dann versucht, aus seinen Schlüssen Handlungsmaximen abzuleiten. Ein solcher Akteur verstrickt sich in auswegslose Widersprüche. Bourdieu argumentiert dagegen, dass wir die Praxis ernst nehmen müssen, wenn wir sie verstehen
wollen. Wir müssen sowohl die subjektivistische als auch die objektivistische Verzerrung
vermeiden. Dann sehen wir, dass die Gabe erfolgreich praktiziert wird. In der sozialen Praxis
gibt es Gaben, obwohl sie aus Sicht des reflektierenden Philosophen ein Ding der Unmöglichkeit sind. Für Bourdieu stellt sich deshalb die Frage, wie es der Praxis gelingt, Gaben zu reproduzieren?
Eine Beantwortung dieser Fragen im Sinne der Theorie der Praxis geht davon aus, dass in der
Praxis vor allem etwas getan wird. Sie zeigt unter anderem, dass die Gabe gelingt, wenn das
Zeitmanagement stimmt. Die Akteure müssen die Gegengabe nämlich richtig terminieren.
Wenn sie ein Geschenk zu schnell erwidern, wird offensichtlich, dass es um einen Tausch
geht. Sie müssen auch den Inhalt variieren, müssen Gegenstände benutzen, die genügend
„Symbolwert“ besitzen, damit ihr ökonomischer Wert nicht in den Vordergrund tritt und aus
der Gabe ein Tauschgeschäft wird. Vor allem aber muss es so etwas wie ein stillschweigendes
Einverständnis darüber geben, dass dieses soziale Spiel von allen Beteiligten ernsthaft gespielt
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wird und dass alle dabei verschweigen, dass sie wissen, was gespielt wird. Dieses Verschweigen
ist kein erzwungenes Stillschweigen, kein auferlegtes Redeverbot, sondern erscheint denen als
vollkommen normal und angebracht, die über ein Verständnis des sozialen Spiels verfügen,
die, mit anderen Worten, einen entsprechenden Habitus haben:
„Für den, der über die zur Logik der Ökonomie der symbolischen Güter passenden Dispositionen verfügt, geht
großzügiges Verhalten nicht aus einer Entscheidung für Freiheit und Tugend, nicht aus einem überlegt getroffenen, freien Entschluss hervor, der auch anders hätte ausfallen können: Es stellt sich ihm als ‚das einzig Mögliche‘
dar« (Bourdieu 2001, 249).
Das Wissen darum, was zu tun ist und womit man es zu tun hat, führt dazu, dass man dieses
Wissen nicht explizit macht, nicht öffentlich werden lässt und nicht zur Grundlage des Handelns macht und eben deshalb – aufgrund des Nichtwissens oder Nicht-wissen-wollens – ein
Experte der sozialen Praxis ist, der weiß, was zu tun ist. Akteure, die das verinnerlicht haben
und sich die Prinzipien sozialer Praktiken in bestimmten Feldern auf diese Weise zueigen gemacht haben, befindet sich, wie Bourdieu (1998) schreibt, in einer illusio. Als illusio bezeichnet Bourdieu eine Sphäre von Überzeugungen, nach denen gehandelt wird, darunter insbesondere auch das „gemeinsame Verkennen“ der „objektiven Wahrheit“ der Praxis. Die illusio
ist keine Illusion, weil nur derjenige, der diese sie besitzt, bei den entsprechenden Praktiken
im Sinne der Praxis mitmachen kann, „im Spiel“ ist. (Illusio, so Bourdieu, komme von ludus
(lat. Spiel) – was aber wohl nur eine Scheinetymologie ist.)
Was für die alltagsweltliche Beobachtung bzw. das alltägliche Handeln gilt, gilt auch für die
wissenschaftliche Praxis, die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung der Welt.
Auch sie verfährt auf operativer Ebene „naiv“, das heißt auf der Basis eines Habitus` der dem,
was getan wird, eine praktischen Sinn gibt. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
befinden sich in einer illusio, einer „Sphäre“ stillschweigend anerkannter (und zu eigen gemachter) Überzeugungen, die nicht hinterfragt bzw. unausgesprochen reproduziert werden.
(Es ist vielleicht wichtig, noch einmal zu betonen, dass das „gemeinsame Verkennen“ der objektiven Bedingungen nicht mit Unkenntnis gleichzusetzen oder zu verwechseln ist. Es muss
in der Praxis praktisch hergestellt werden und steht fortwährend auf dem Spiel. So bedarf es
zum Beispiel praktischer Anstrengungen, nicht zutage treten zu lassen, dass Geschenke ein
Tauschgeschäft sind. Es kostet aber auch Mühe, nicht sichtbar werden zu lassen, dass die Bedeutung wissenschaftlicher Aussagen letztlich auch von der Autorität des Sprechers abhängt
und nicht nur von ihrem Wahrheitsgehalt oder Erkenntniswert.)
Vor dem Hintergrund der Einsicht, dass auch wissenschaftliche Beobachtung nicht zu vollständiger Transparenz führt, weil ihre Grundlage ein Habitus ist und sie damit einen blinden
Fleck aufweist, nimmt Bourdieu wissenschafts- und erkenntnistheoretische Positionierung
der Theorie der Praxis eine überraschende Wendung – überraschend vor allem aus Sicht der
Systemtheorie. Die Systemtheorie (Luhmann) leitet aus dieser Einsicht nämlich die Folgerung
ab, dass wissenschaftliche Beobachtung anderen Beobachtungen nicht übergeordnet, sondern
zur Seite gestellt ist. Wissenschaftliche Beobachtung ermöglicht keine hierarchisch höhere,
sondern „nur“ eine andere Beschreibung der Praxis. Sie bietet „lediglich“ alternative Deutungen, die nicht an die Zwänge der anderen Funktionssysteme oder mit Bourdieu gesprochen,
nicht an die Logiken der anderen Felder gebunden sind (vgl. z. B. Luhmann 1993)
Bourdieu versucht stattdessen zu begründen, warum die sozialwissenschaftliche Perspektive
eine besondere und privilegierte Beschreibung sozialer Praxis ermöglicht. Diese privilegierte
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Sicht der Dinge gründet laut Bourdieu darin, dass Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, wenn sie die soziale Praxis zu ihrem Gegenstand machen, das theoretische und
methodische Werkzeug besitzen, um auch ihr eigenes Tun (die wissenschaftliche Beobachtung und Beschreibung) als Praxis zum Gegenstand zu machen. Als Spezialisten für die Beschreibung von Praxis haben sie (und dabei sind die Sozialwissenschaften als wissenschaftliche Disziplin speziell angesprochen) die Möglichkeit, die Bedingungen des eigenen Handelns
zu reflektieren. Sie haben die Mittel, um die Grenzen ihrer Beobachtungen und Beschreibungen zu erkennen und können sich dadurch ein genaueres Verständnis der Praxis erarbeiten.
Das setzt aber voraus, dass man nicht nur die Alltagspraxis beobachtet, sondern immer Aufmerksamkeit für die Beobachtung der eigenen Praxis (Beobachtung) abzweigt. Die theoretischen und methodischen Werkzeuge dafür sind diejenigen, mit denen man auch die Alltagspraxis analysiert. Man erzeugt die Reflexivität sozialwissenschaftlicher Beobachtungen durch
eine sozialwissenschaftliche Analyse der wissenschaftlichen Praxis, mit den gleichen Methoden, mit denen man die Alltagspraxis analysiert:
„Die Soziologie der Soziologie, mit der sich bereits vorliegende Errungenschaften dieser Wissenschaft gegen
diese in ihrem Fortgang kehren lassen, ist ein unerlässliches Instrument der soziologischen Methode: Man treibt
Wissenschaft – zumal Soziologie – mit deren und gegen deren Bestand“ (Bourdieu 1985, 50).
Dieses sozialwissenschaftliche Mitbeobachten (Mitanalysieren) der wissenschaftlichen Beobachtung ist für Bourdieu nicht einfach nur eine (besonders avancierte) Form von Sozialwissenschaft, sondern eine Grundbedingung jeder sozialwissenschaftlichen Arbeit, die das epistemologische Privileg eine besseren Sicht der Dinge für sich beansprucht:
„Weit davon entfernt, die Fundamente der Sozialwissenschaften zu untergraben, stellt die Soziologie der sozialen
Determinanten der soziologischen Praxis vielmehr die Grundlage einer potentiellen Freiheit gegenüber diesen
Determinanten dar. Und nur wenn er sich selbst des vollen Gebrauchs dieser Freiheit dadurch versichert, dass er
sich unablässig selbst der Analyse unterzieht, kann der Soziologe eine stringente Wissenschaft von der sozialen
Welt entwickeln (…)“ (Bourdieu 1989, 94).
Wir haben es also nicht nur mit einer „doppelten Hermeneutik“ (Giddens), das heißt „mit
einer Welt zu tun, die schon innerhalb von Bedeutungsrahmen durch die gesellschaftlich
Handelnden selbst konstituiert ist“ und von den Sozialwissenschaften im Rahmen ihrer Theoriekonzepte reinterpretiert wird (Giddens 1984, S. 199). Wir müssen darüber hinaus das wissenschaftliche Interpretieren von Interpretationen analysieren, weil nur so der privilegierte
Standpunkt gewonnen werden kann, von dem aus das Interpretieren von Interpretationen
erfolgen kann. Bourdieu hinterlässt uns also mit seiner Theorie ein Erbe, das deutlich mehr zu
tun gibt als die meisten Ansätze, die in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Geographie
ansonsten gerne verwendet werde.
Quelle: http://www.uni-jena.de/Roland_Lippuner.html
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