Wissenschaft verbreiteten Luthers Gedanken rasant, das half anfangs sehr, und Luther ließ es geschehen, weil er keine kommerziellen Interessen hatte. Er entwickelte dann schnell eigene Ideen, wie er seine Botschaft unter Religion Martin Luther spaltete einst die Kirche – als erster Mediendie Leute bringen konnte. Und er hatte stratege der Welt, sagt der Historiker Andrew Pettegree. klare Vorstellungen, wie seine Schriften aussehen sollten. Er kümmerte sich bis ins Detail um seine VeröffentPettegree, Jahrgang lichungen, stand ständig in den 1957, arbeitet am InDruckereien. Wenn ein Produkt stitut für Reformaschlecht war, sagte er das auch. tionsstudien der University of St Andrews SPIEGEL: Zu Beginn des 16. Jahrin Schottland. In seihunderts konnten weniger als nem neuen Buch fünf Prozent der Menschen lesen. „Brand Luther“ (Penguin Press) beTrotzdem wurde Luther zum Suschäftigt er sich mit dem Aufstieg perstar. Pettegree: In den Städten war der des Reformators als dem meistgeAnteil potenzieller Leser höher, er druckten Autor seiner Zeit. lag teilweise bei 30 Prozent der SPIEGEL: Martin Luther lebte vor Männer. Tatsächlich kauften viele 500 Jahren – und beeinflusst noch Menschen nun erstmals in ihrem immer maßgeblich das Leben vieLeben etwas Gedrucktes. Die Hürler Menschen. Sie sagen, das war de war nicht mehr so hoch, denn kein Zufall – warum? es gab handliche, günstige Drucke, Pettegree: Luther setzte seine sogenannte Flugschriften, sie waIdeen mit solcher Wucht in die ren überall. Für die Drucker sank Welt, weil er Medien auf eine völmit den Flugschriften das Investitilig neuartige Weise nutzte, um seionsrisiko. Innerhalb eines Tages ne Botschaft zu verbreiten. Diese hergestellt, waren sie oft schon am Medienstrategie machte ihn beEnde der Woche profitabel. Deskannt – und sie wirkt bis heute halb entstanden immer mehr Drunach. ckereien, und immer mehr MenSPIEGEL: Bis 1517 hatte Luther fast schen kamen mit Gedrucktem in nichts veröffentlicht, dann wurde Kontakt. Die Reformation schuf er schlagartig bekannt. Wie kam auf lange Sicht einen Markt für das? Neuigkeiten. Pettegree: Seine 95 Thesen über SPIEGEL: Sie behaupten, dass Luther den Ablass, mit denen die Refordie Reformation ohne diese Medimation 1517 begann, veröffentlichte enkampagne wahrscheinlich nicht Titelholzschnitt einer Lutherschrift, 1538 Luther noch ganz konventionell auf überlebt hätte … „Ohne immense Aufmerksamkeit hätte man ihn hingerichtet“ Pettegree: … ja, natürlich, weil er Latein, für Fachleute. Aber völlig ohne diese immense Aufmerksamunerwartet fand seine Kirchenkritik große Aufmerksamkeit – und Luther ten erfahrene Drucker nach Wittenberg keit in einem Gefängnis in Rom verreagierte radikal: Er entschied, auf Deutsch und erhöhten so die Produktionskapazitä- schwunden wäre. Oder man hätte ihn als zu schreiben, für das Volk. Sein „Sermon ten. Entscheidend aber war, dass Cranach Häretiker hingerichtet. Aber so konnten von dem Ablass und Gnade“, der im März eine ganz neue Form des Titelblatts schuf. weder Kaiser noch Papst kurzen Prozess 1518 erschien, war die entscheidende Luthers Name und der Druckort Witten- mit ihm machen. Weil Luther so schnell Wende. Das Werk umfasst nur 1500 Wör- berg waren darauf erstmals deutlich abge- so berühmt geworden war, hätten sie damit ter, es konnte in weniger als zehn Minuten setzt, für die Käufer auf den ersten Blick das Volk gegen sich aufgebracht. Luther gelesen oder vorgelesen werden, und es erkennbar. Bis dahin wurde der Autor auf hat sofort verstanden, dass maximale Öfkondensierte die Kritik an Papst und Kir- den Titelseiten nie sehr prominent ge- fentlichkeit sein bester Schutzschild war. che zu 20 prägnanten Punkten. In kürzes- nannt. Nun aber konnten die Menschen Und um möglichst viele Menschen zu erter Zeit wurde das Werk überall in gezielt nach Luthers Werken suchen. So reichen, brauchte er das Massenmedium Deutschland nachgedruckt. So verbreite- hat Cranach eine eigene Markenidentität Buch. Die öffentliche Meinung war schon ten sich seine Ideen viral, jeder konnte sie für die Wittenberger Lutherdrucke ent- damals ausgesprochen mächtig. Wir würwickelt. verstehen. den uns heute wohl nicht mehr an ihn erSPIEGEL: Er hatte eben Glück. Aber wie SPIEGEL: Mithilfe der Wittenberger Drucker innern, hätte es den Buchdruck noch nicht wurde daraus eine Strategie? wurden Luthers Schriften zu Bestsellern gegeben. Interview: Eva-Maria Schnurr Pettegree: Luther begann, eng mit dem Ma- in Millionenauflage, bis heute ist er der Lesen Sie zu diesem Thema auch ler und Grafiker Lucas Cranach dem Älte- meistgedruckte Autor Europas, schreiben das aktuelle Heft von ren zusammenzuarbeiten. Die beiden hol- Sie in Ihrem neuen Buch*. Woher wusste SPIEGEL GESCHICHTE: er, wie er vorgehen sollte? Es gab ja keine Die Reformation. Aufstand Animation: Vorbilder. gegen Kaiser und Papst Luthers Leben Pettegree: Ja, das ist erstaunlich. Zum Teil Für 7,80 Euro am Kiosk, im Buchwar es Bauchgefühl, zum Teil sein ausgehandel oder im SPIEGEL SHOP spiegel.de/sp512015luther prägter Sinn fürs Praktische. Nachdrucke www.spiegel.de/shop oder in der App DER SPIEGEL AKG ALAN RICHARDSON / PIX-AR.CO.UK „Sinn fürs Praktische“ 118 DER SPIEGEL 51 / 2015