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„Vergessen Sie, was Sie bisher über den genetischen Code wissen“, hatte
er damals seine Zuhörer aufgefordert. „Betrachten Sie die DNA einfach
als eine Wendeltreppe mit zwei Nanometern Durchmesser und einer
Steighöhe von dreieinhalb Nanometern pro Windung.“ Es war faszinierend gewesen zuzusehen, wie er mit DNA-Modellen spielte. Er verdrillte eindimensionale Nukleotid-Stränge zu Würfeln und anderen
geometrischen Formen. Was beim ersten Hinsehen wie die Spiellaune
eines Tüftlers anmutete, galt in Fachkreisen als ein Forschungsfeld mit
ungeheurem Potenzial. Schließlich war man kurz davor, räumliche
DNA-Gerüste herzustellen. Der erste Schritt zur Nanofabrik titelte das
letzte Kapitel des Artikels. Innerhalb dieser nanoskopisch kleinen
Parzellen eines dreidimensionalen DNA-Gitters sollten bald Polymere
wie Nylon mit hoher Präzision herstellbar sein. Vielleicht war dies der
Raum, in dem sich die Elektronik der Zukunft selbst organisierte, der
Rohbau für künstliche Neurone, für die neuen Superhirne, eine verkehrte Welt, in der die DNA nur peripher war, ein Exoskelett, und
doch maßgeblich für eine andere Lebensform. Aber all dies beschäftige
Wanda weniger, als die Frage, was Sabine damit zu tun haben mochte.
Sabine war Biologin. Weshalb interessierte sie sich für Kristallografie?
Vielleicht war es nur eine Laune, ein Blick über den Tellerrand der eigenen Forschung gewesen. Wanda überflog den Wust an Literatur, der
sich über dem Schreibtisch verteilte. Sie bemühte sich, nichts anzufassen. Da lagen ausschließlich Kopien von Originalarbeiten zum gleichen
Thema. Das war es also, womit sich Sabine gerade befasste. Sie waren
Freundinnen und Kolleginnen, aber Sabine ließ sie nicht wirklich an
ihrem Leben teilhaben. Es kränkte sie und sie musste sich eingestehen,
kaum etwas über die Wissenschaftlerin Sabine Mertens zu wissen.
Auf dem Monitor tanzten die Textzeilen des Bildschirmschoners.
Wanda zögerte. Es war nicht ihre Art, in den privaten Dingen anderer
zu stöbern. Gab es hier etwas, über das sie informiert sein sollte? Wenn
es mit dem BIT-Projekt zu tun hatte, betraf es auch sie. Wie beiläufig
tippte ihr Zeigefinger gegen die Computermaus. Plötzlich raschelte es
hinter ihr. Wanda fuhr herum. Panisch huschte ihr Blick durch die Tür
in den Flur hinaus und wieder zurück durch den Raum. Auf dem
Fußboden neben dem Heizkörper entdeckte sie einen Käfig. Ein rosa
Näschen reckte sich in ihre Richtung und schnüffelte.
„Ach, Josy.“ Wanda atmete erleichtert auf. Die Ratte rollte sich wieder
ein und drückte die Nase in die Streu. Wanda schaute zurück zum
Monitor und starrte in das offene Textfenster einer Nachricht. Sabine
hatte vergessen, ihre elektronische Mailbox zu schließen. Wanda las die
kurze Antwort auf eine Anfrage ihrer Freundin.
Bitte schicken Sie das Material direkt an mein Labor. Wir werden sehen, was
wir tun können.
Der Absender hieß Nadrian Seeman.
) 140 (
) 141 (
Der Bus zockelte die Lahnberge hinauf und Wanda fühlte sich auf einmal müde und enttäuscht. Insgeheim ärgerte sie sich, dass sie nicht weiter gelesen hatte. Sie hatte plötzlich Skrupel bekommen. Scheiß Loyalität, verfluchte sie sich. Außerdem hätte Sabine jeden Moment zurückkommen können. Sie hielt es für besser, ihre Freundin direkt zu befragen. Nur wie sollte sie es anstellen, ohne einen Krach zu riskieren?
Sabine wird ausrasten, wenn sie erfährt, dass ich bei ihr herumspioniere.
Auf ihrem Anrufbeantworter piepste wieder die Stimme der Sprechstundenhilfe. Diesmal war es keine freundliche Einladung. Doktor
Gläser müsse sie dringend sprechen, beharrte sie, und die Bitte um
Rückruf klang eher wie die Aufforderung der Bundeskasse nach Rückzahlung des Bafög-Darlehens. Die Kosten bezahlte die Krankenkasse.
Sie schuldete ihm nichts.
„Ich soll mich beim Arzt melden“, schrieb Wanda in ihren Computer.
„Melden?“
„Ja, ich finde das gar nicht toll. Außerdem bin ich wütend auf Sabine.“
„Nach dem Bundesseuchengesetz ist Tollwut eine meldepflichtige Erkrankung“, stand nun auf dem Monitor.
„Vergiss es“, zischte Wanda und unterbrach das Programm.
Sie las ihre E-mails. Der Herausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift hatte geantwortet. Das Manuskript, das sie ihm vor acht Wochen
geschickt hatte, war abgelehnt, aber man räumte ihr ein, es zu überarbeiten und noch einmal einzureichen. Eilig überflog sie die Gutachten,
die im Anhang mitgeschickt waren. Der erste Gutachter fasste sich kurz
und schlug nur geringfügige Korrekturen vor. Beim zweiten Gutachter
stutzte sie. Er hatte ganze Textpassagen aus ihrem Manuskript wie ein
Lektor verbessert, ihr Englisch als german stile bezeichnet und nach
einer Korrektur durch einen native speaker verlangt. Außerdem bemängelte er die Statistik als unzureichend und verlangte nach statistischen
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