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CHINA
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
wer sich im Westen mit der Zukunft Chinas beschäftigt, sollte zumindest versuchen, eurozentrische
Denkmuster abzulegen. Denn das, was wir als universell auslegen, wird in einer multipolaren Welt relativiert. Für den Westen sind die europäische Aufklärung, die Industrialisierung, Individualisierung etc.
von weltgeschichtlicher Bedeutung, aus einer chinesischen Sichtweise sind sie lediglich ein Intermezzo in
der Geschichte. Bis vor dem wirtschaftlichen Aufstieg
Europas vor 200 Jahren war China die grösste Wirtschaftsmacht weltweit. China ist eine der ältesten
Hochkulturen überhaupt. China hat den Buchdruck
vor Europa erfunden; interessanterweise konnte er
sich dort infolge der zentralistischen Strukturen nicht
durchsetzen. Der gegenwärtige Aufstieg, so der Autor
Urs Schoettli, Asienexperte und ehemaliger NZZ-Korrespondent in Peking, wird in China deshalb als eine
Renaissance gelesen.
erung liegt nicht in der zunehmenden Geldabgängigkeit des Adels, sondern in der zunehmenden Adelsunabhängigkeit des Geldes.»
Im Herbst wird China neue Regierung einsetzen. Diese Regierung in der Einparteienlandschaft wird mit
hoher Wahrscheinlichkeit den Modernisierungskurs
von Deng Xiaoping, der China von 1979 bis 1997
führte, weiterführen. Der Prozess soll 100 Jahren nach
der Gründung der Volksrepublik China – also 2049 –
abgeschlossen sein. Aber was bedeutet «Modernisierung»? Im Westen versteht man darunter auch unter
anderem Liberalismus, Indivi-dualisierung, Demokratisierung. Letzteres trifft mit Sicherheit nicht zu, zwar
hat die Kommunistische Partei knapp 80 Mio. Mitglieder, aber sie verkörpert eine Einparteienherrschaft,
deren operationeller Arm, so Schoettli, die Finanzindustrie und die grossen Geschäftsbanken bilden.
Bis ins Jahr 2049 kann noch viel passieren. Der Fall des
blinden Bürgerrechtsaktivisten Chen Guangcheng
hat zu einer diplomatischen Krise zwischen den USA
und China geführt. Es ist durchwegs denkbar, dass in
einer globalen Medienwelt ein einzelnes Individuum
die Supraplanung empfindlich stört.
Diese Entkopplung einer entfesselten Wirtschaft und
politischer Herrschaft findet in China nicht statt. Der
Sinologe Harro von Senger spricht in seinem Beitrag
von einer «Supraplanung» (moulüe). Diese unterliegt
nicht nach einem ideologischen Konzept, sondern einer Handlungsanweisung, die auf einer Symbiose von
Kriegstaktik und Sinomarxismus basiert. Im Zentrum
steht ein «Hauptwiderspruch» – nämlich zwischen
ökonomischem Fortschritt und sozialer Rückständigkeit. Die chinesische Modernisierung bezieht sich somit primär auf Wirtschaft, Technologie, Wissenschaft
und Agrarwirtschaft. Im Westen wird man sich wohl
oder übel mit der Tatsache abfinden müssen, dass es
verschiedene Vorstellungen von Modernisierung gibt.
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und
einen schönen Sommer.
Francis Müller
Folgt man den soziologischen Differenzierungstheorien, dann bedeutet Modernisierung die Trennung
von Sphären wie Wirtschaft und Politik. Die europäische Modernisierung war eine Folge von dezentralen
Strukturen; ein aufkommender Individualismus und
eine monetarisierte Wirtschaft sprengten alte Herrschaftsstrukturen. Niklas Luhmann schreibt: «Die Neu-
| China |
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INHALT
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Editorial
3
Chinas Rückkehr auf die Weltbühne | Urs Schoettli
6
Chinas Männerüberschuss | Wei Zhang
8
Die angeblich unbekannten Zukunftsziele Chinas | Harro von Senger
12
Key Events driving the Future of Chinese Economy | Joergen Oerstroem Moeller
15
Chinas Rolle im 21. Jahrhundert: Partner, Vorbild oder Zerrbild? |
Andrea Riemenschnitter
19
China – Land welcher Energiezukunft? | Daniel Stanislaus Martel
23
Cultural Dynamics in China: Today and in 2020 | Fenggang Yang
29
Dem Wald Grenzen setzen, doch die Bäume wachsen lassen | John und Doris Naisbitt
33
Abstracts
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Veranstaltungen
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| swissfuture | 02/12
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