Modellierung der Selbstorganisation nanopartikulärer Systeme: Wachstum und Keimbildung von Zinkoxid- und Silbernanopartikeln Der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des Doktorgrades Dr. rer. nat. vorgelegt von Theodor Milek aus Radebeul Als Dissertation genehmigt von der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Tag der mündlichen Prüfung: 14. April 2015 Vorsitzender des Promotionsorgans: Prof. Dr. Jörn Wilms Gutachter/in: Prof. Dr. Dirk Zahn Prof. Dr. Tim Clark Prof. Dr. Helmut Cölfen 2 Danksagung Mein Dank gebührt an aller erster Stelle meinem Betreuer Prof. Dirk Zahn. Seine Betreuung und Förderung gab mir die Freiheit, selbstständig zu arbeiten, meine eigenen Ideen zu verwirklichen und trotzdem dabei nicht das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Aber viel mehr noch bin ich für die Freundschaft und persönliche Unterstützung dankbar. Die stets positive Lebenseinstellung hat mich oft inspiriert und motiviert. Ich habe die Zeit der Promotion bei dir sehr genossen – Danke. Prof. Tim Clark danke ich für die freundlichen und lehrreichen Unterhaltungen, welche mich nicht nur wissenschaftlich bereichert haben. Ebenso bedanke ich mich bei Prof. Bernd Meyer für seine wertvolle Hilfe bei quantenchemischen Fragestellungen und insbesondere bei der Anwendung der Car-Parinello-Molekulardynamik. Für die fruchtbare wissenschaftliche Zusammenarbeit bedanke ich mich bei Prof. Andreas Görling, Prof. Wolfgang Peukert, Prof. Thomas Drewello und Prof. Robin N. Klupp Taylor. In diesem Zusammenhang geht mein Dank auch an Christian Neiß, Tibor Döpper, Doris Segets, Monica Distaso, Mirjam Zobel und Johannes Hirschmann für den anregenden Austausch und die neuen wissenschaftlichen Perspektiven. Meinen Kollegen im Computer-Chemie-Centrum danke ich für die schöne und oft spaßige Zeit. Besonders mit Patrick Duchstein, Philipp Ectors, Markus Walther, Hanno Diettrich, Dejan Zagorac, Alexander Urban, Christina Ebensperger, Konstantin Weber, Christof Jäger, Pavlo Dral, Maximilian Kriebel und Nico van Eikema Hommes habe ich viele fröhliche Stunden verbracht. Für ihren Beitrag zu dieser Arbeit danke ich zudem Achim Brunch und Philipp Köder. Von ganzem Herzen danke ich meiner Frau Magdalena für die immerwährende Unterstützung, Liebe, Motivation und auch den manchmal notwendigen Ansporn. Zum Abschluss geht mein Dank an die zahlreichen anderen Menschen, an meine Eltern, an meine gesamte Familie und an meine Freunde, welche meinen Lebensweg begleitet und bereichert haben und immer für mich da waren. 3 Zusammenfassung Diese Arbeit befasst sich mit der Modellierung atomarer Vorgänge während der Keimbildung und des Wachstums von Zinkoxid- und Silbernanopartikeln. Im Vordergrund steht dabei die Entstehung komplexer, geordneter Strukturen ohne äußere Steuerung, gemeinhin als Selbstorganisation bezeichnet. Die methodische Herangehensweise umfasst das Erarbeiten und Aufstellen von geeigneten Modellreaktionen, sowie die Entwicklung von Simulationsprotokollen und Analysemethoden. Hauptsächlich wird dabei auf Molekulardynamiksimulationen in Verbindung mit Kraftfeldern zurückgegriffen. Unterstützt werden diese Simulationen von statischen Berechnungen mittels der Dichtefunktionaltheorie und ab initio Methoden. Die untersuchte Modellreaktion für das Wachstum von Silbernanopartikeln ist die sogenannte „Polyol“-Synthese. Bei dieser wird ein Silbersalz in einem Mehrfachalkohol (hier: Ethylenglykol) gelöst und anschließend reduziert und ausgefällt: Red + n Ag Ox Agm+ n ↓ Die Modellierung des Wachstums der Silberpartikel Ion für Ion erfolgte mit dem KawskaZahn-Schema. Um die unbekannte Reduktionsreaktion Red −−→ Ox abzubilden, wurde ein implizites, thermodynamisches Reduktionspotential der Lösung verwendet. Damit war es möglich, eine realistische Aggregation als Funktion eines allgemeinen Redoxpotentials zu simulieren. Eine besondere Herausforderung stellte die Molekulardynamiksimulation geladener Silberpartikel dar. Die Entwicklung und der Test eines geeigneten Wechselwirkungsmodells machen daher eine wesentlichen Teil der Arbeit aus. Als Resultat wird eine Kombination der embedded atom method für die Metallbindung und der charge equilibrium method für die Ladungspolarisation verwendet. Im Vergleich mit Dichtefunktionaltheorieberechnungen erwies sich dieser Ansatz als effizient zur Modellierung von Ladungsverteilung und Bindungsenergie. Das Wachstum kleiner Silbernanopartikel (Atomzahl 13 bis 163) unter verschiedenen Redoxbedingungen konnte umfangreich studiert werden. Es zeigte sich ein systematischer Zusammenhang zwischen Ladung, Packung und Form der Cluster. Eine hohe Ladung – respektive ein schwaches Reduktionsmittel – führte zu stark verzwillingten, gestreckten Partikeln mit einer rauen Oberfläche. Im deutlichen Gegensatz dazu, entstanden bei moderaten Ladungen kaum verzwillingte Polyeder mit einer wohlgeordneten inneren Struktur bei zugleich immer noch relativ großer Oberfläche. Erst bei schwachen Ladungen, d.h. starken Reduktionsmitteln, dominierten mehrfachverzwillingte Polyeder wie Ikosaeder und Dekaeder mit sehr kompakten Oberflächen. Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass das Redoxpotential allein bereits die Packung und Form von Silbernanopartikeln signifikant beeinflussen kann. Ag+3 163 Ag+8 163 Ag+15 163 Beispiele für unter verschiedenen Redoxbedingungen gewachsene geladene Silbercluster. Im zweiten Teil der Arbeit stand die Enstehung von Zinkoxidpartikeln in der SolGel-Synthese im Mittelpunkt. Bei dieser Synthese reagiert ein Zinksalz (ZnAc2 ) in ethanolischer Lösung durch Zugabe einer Base (LiOH) zu Zinkoxid: EtOH ZnAc2 + 2LiOH −−−→ ZnO ↓ + H2 O + 2Li+ + 2Ac− Die Reaktion durchläuft verschiedene Stadien, wobei für diese Arbeit nur zwei Szenarien untersucht wurden: die Reifung kleiner Vorläuferverbindungen und das Oberflächenwachstum bestehender Kristalle. Für die Modellierung stellte auch hier die Wahl eines geeigneten Kraftfeldes einen wesentlichen Teil der Voruntersuchungen dar. Aufgrund der stöchiometrischen Beschränkung und der Notwendigkeit ausreichend langer Simulationszeiten (um statistische Signifikanz zu gewähren), werden angepasste nichtpolarisierbare Kraftfelder verwendet. Zusätzlich wird ein abstrahiertes, effizientes Modell für die im Gesamtablauf enthaltende Reaktion 2 OH– −−→ O2– + H2 O genutzt. Der erste untersuchte Schritt des Zinkoxidwachstums ist die Aggregation und Reifung von Zn4 O(Ac)6 -Clustern. Diese Verbindung, basisches Zinkacetat genannt, bildet sich in Lösung bereits ohne Basenzugabe. Die durchgeführten Simulationen offenbarten eine durch die Ionen Li+ und OH– unterstützte Aggregation der Cluster. Dabei nehmen die Ionen eine überbrückende Funktion ein und wirken somit zumindest katalytisch auf die 6 Clusterassoziation. Die eigentliche Reifung konnte in Molekulardynamiksimulationen nicht beobachtet werden. Eine Studie mit systematischen Dichtefunktionaltheorierechnungen zeigte schließlich die weiteren Reaktionsmöglichkeiten durch Ligandenaustauschreaktionen (Ac– gegen OH– ). Diese Austauschreaktionen stabilisieren nicht nur Clusterdimere, sondern öffnen auch Reaktionspfade zur weiterführenden Reifung. OH– Ac– Beispiel eines Ligandenaustauschs (OH– gegen Ac– ) bei einem Zn4 O(Ac)6 -Dimer. Weiterhin wurde das Wachstum der wichtigsten Zinkoxidoberflächen – (1 0 1 0) und (0 0 0 1) – durch die Abscheidung der Ionen Zn2+ und OH– simuliert. Ein hoher Grad von Selbstorganisation kann bei der Bildung von gerichteten Wachstumskanten auf der unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche beobachtet werden. Die Oberfläche wuchs nicht Atomlage für Atomlage, sondern bildete eine Front, welche kristallographisch der (1 0 1 0)Ausgangsoberfläche äquivalent ist (z.B. (1 1 0 0)≡(1 0 1 0)). Die polare (0 0 0 1)-Oberfläche zeigte hingegen eine andere Art der Selbstorganisation. Es bildeten sich lokale Inseln (auf der Oberfläche) ohne bevorzugte Ausrichtung, welche sich während des Wachstums vereinten. (1 0 1 0) (0 0 0 1) Momentaufnahmen aus dem Oberflächenwachstum auf der (1 0 1 0) und (0 0 0 1)-Oberfläche. 7 Ergänzend zum „ungestörten“ Wachstum wurde der Einfluss verschiedener Additive untersucht. Acetat- und 2-Ethylhexanoationen schirmten die Oberflächen nach wenigen Adsorptionsschritten vollständig ab und verhinderten so jedes weitere Wachstum. Es konnte keine besondere Selektivität bezüglich der verschiedenen Flächen festgestellt werden. Hingegen wurden mehrzähnige Citrationen bevorzugt an Kanten adsorbiert, wo sie optimal mit allen drei Carboxylatgruppen eine Bindung zur Oberfläche ausbilden können. Auf der unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche führt dies dazu, dass in Verbindung mit einer beobachteten hohen Mobilität gezielt die Wachstumskante stabilisiert wurde. Eine vergleichbare Selektivität konnte auf der polaren (0 0 0 1)-Oberfläche nicht ausgemacht werden. Als Vertreter nichtionischer Additive zeigte n-Hexylamin ein ähnliches Bindungsverhalten wie das Lösungsmittel Ethanol selbst. Die Bindung hängt stark vom OH– -Gehalt auf der Oberfläche ab; je mehr exponierte Oxoionen vorhanden sind, desto stärker binden die Moleküle. Letztlich ist n-Hexylamin jedoch nicht geeignet, das Wachstum anders zu kontrollieren, als es durch Ethanol ohnehin schon erfolgt. Die vorliegende Arbeit demonstriert das große Potential von molekularen Simulationen zur Ergründung des vielschichtigen, kollektiven Zusammenwirkens zahlreicher Teilchen und der Faktoren bei der Bildung kristalliner Strukturen. Einerseits illustrieren die ausgewählten Modellsysteme die Vielschichtigkeit der Fragestellung und können anderseits als Stellvertretersysteme für die jeweilige Methodenentwicklung angesehen werden. 8 Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung 3 Abkürzungsverzeichnis 12 Einleitung 15 1 Theoretische Grundlagen 1.1 Molekularmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Konventionelle Kraftfelder . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Vielteilchenkraftfelder . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.1 Metallkraftfelder . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.2 Polarisierbare Kraftfelder . . . . . . . . . 1.1.2.3 Weitere Kraftfelder . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Langreichweitige elektrostatische Wechselwirkungen 1.2 Quantenchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Born-Oppenheimer-Näherung . . . . . . . . . . . . 1.2.2 ab initio Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Hartree-Fock-Methode . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Møller-Plesset-Störungstheorie . . . . . . . 1.2.3 Dichtefunktionaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.1 Pseudopotentiale . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.2 Car-Parinello-Molekulardynamik . . . . . 1.3 Simulationstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Molekulardynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . 1.3.1.2 Thermo- und Barostat . . . . . . . . . . . 1.3.1.3 Periodische Randbedingungen . . . . . . . 1.3.2 Statistische Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.1 Thermodynamische Integration . . . . . . 19 20 20 22 22 24 33 33 37 38 39 39 40 41 43 44 46 46 46 47 48 48 50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Inhaltsverzeichnis 1.3.3 1.3.4 1.3.2.2 Umbrella Sampling . . . Simulation seltener Ereignisse . . 1.3.3.1 Seltene Ereignisse . . . . 1.3.3.2 Kawska-Zahn-Methode . Analysemethoden . . . . . . . . . 1.3.4.1 Nachbarschaftsanalyse . 1.3.4.2 Accessible-Surface-Area . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wachstum von Silberpartikeln 2.1 Einführung - Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Anwendungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Synthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Partikelstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.1 Clustertypen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3.2 Alternative Strukturen . . . . . . . . . . 2.1.4 Wachstumskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Modellentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Modellsynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Kraftfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Simulationsprotokoll . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.1 Simulationstemperatur . . . . . . . . . . 2.3 Wachstumssimulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Neutrale Ladung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Konstantes Ladungsverhältnis . . . . . . . . . . . 2.3.3 Konstantes Redoxpotential . . . . . . . . . . . . . 2.4 Ergänzende Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Ionisationspotential kleiner Cluster . . . . . . . . 2.4.2 „Magische“ Cluster . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Intermediäre Cluster . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1 Packung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2 Bindungsenergie und Ladungsverteilung 2.5 Diskussion und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 53 53 55 57 57 59 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 62 62 63 65 67 71 72 75 75 78 81 85 86 86 91 96 101 101 103 107 107 111 117 3 Wachstum von Zinkoxid 119 3.1 Einführung - Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.1.1 Anwendungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3.1.2 Synthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 10 Inhaltsverzeichnis 3.2 3.3 3.4 3.5 3.1.3 Kristall- und Oberflächenstrukturen . . . . . 3.1.4 Wachstumsmechanismus . . . . . . . . . . . Modellentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Modellsynthese . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Protonentransfer . . . . . . . . . . 3.2.2 Kraftfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Zinkoxid . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Ethanolische Lösung . . . . . . . . 3.2.2.3 LiOH . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Simulationsprotokoll . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Protonentransfer . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Clusterreaktion . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Oberflächenwachstum . . . . . . . Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern . . . . . . . . . . 3.3.1 Aggregation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Acetat-Hydroxid-Austausch . . . . . . . . . 3.3.2.1 Mechanismus . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Mehrfachaustausch . . . . . . . . . Oberflächenwachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Ungestörtes Wachstum . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 (1 0 1 0)-Oberfläche . . . . . . . . . 3.4.1.2 (0 0 0 1)-Oberfläche . . . . . . . . . 3.4.2 Wachstumskontrolle . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.1 Ethanol . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.2 Acetation und 2-Ethylhexanoation 3.4.2.3 Citration . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4 n-Hexylamin . . . . . . . . . . . . Diskussion und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 124 126 126 127 129 129 131 131 132 133 135 136 139 139 142 142 144 149 149 150 153 155 155 158 162 169 171 Schlusswort 175 Literaturverzeichnis 177 Liste der Veröffentlichungen 199 Lebenslauf 201 11 Abkürzungsverzeichnis bcc dec fcc hcp ico Ac Cit 2EH HA ASA BON BUCK CN CNA CNP CPMD DFT DSF-Coul EA EAM EG GA IDEK IKO IP 12 body-centered cubic. decahedral packing. face-centered cubic. hexagonal close packing. icosahedral packing. Acetation. Citration. 2-Ethylhexanoation. n-Hexylamin. Accessible-Surface-Area. Born-Oppenheimer-Näherung. Buckinghampotential. Koordinationszahl. Common-Neighbour-Analysis. Common-Neighborhood-Parameter. Car-Parinello-Molekulardynamik. Dichtefunktionaltheorie. damped shifted force Coulombpotential. Elektronenaffinität. embedded atom method. Ethylenglykol. Glykolaldehyd. Inodekaeder. Mackayikosaeder. Ionisationspotential. Abkürzungsverzeichnis KOKT LAMMPS LJ MD MDEK MM NPA OKT OPLS-AA PMF PP PVP QEq QM SA SCF SERS TI WHAM WOKT Kuboktaeder. Large-scale Atomic/Molecular Massively Parallel Simulator. Lennard-Jones-Potential. Molekulardynamik. Marksdekaeder. Molekularmechanik. natural orbital analysis. Oktaeder. optimized potential for liquid simulation - all atom. potential of mean force. Pseudopotential. Polyvinylpyrrolidon. Charge-Equilibrium-Methode. Quantenmechanik. simulated annealing. self-consistent field. surface enhanced raman spectroscopy. thermodynamische Integration. weighted histogramm analysis method. Wulffoktaeder. 13 Einleitung Wie entstehen Kristalle? Was bestimmt ihre Form, ihr Aussehen oder ihre Zusammensetzung? Schon in der Antike1 beschäftigten sich Naturforscher mit diesen Fragen und versuchten eine Systematik zu entdecken. Zunächst stand lange Zeit die rein enzyklopädische Kategorisierung der Eigenschaften und des Vorkommens kristalliner Stoffe im Mittelpunkt. Erst mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaften gewannen auch die Genese und die Gesetzmäßigkeiten der Beschaffenheit kristalliner Materialien zunehmend an Bedeutung. Dank der Entwicklung der Röntgendiffraktrometrie durch Max von Laue (1921) konnten die periodischen Kristallstrukturen aufgeklärt werden. Die Gesetze der Gleichgewichtsthermodynamik von J. Willard Gibbs (1878) gaben Erklärungen für die verschiedenen Kristallmorphologien. Schließlich gewährte die sogenannte klassische Keimbildungstheorie aus den 1920er Jahren Einblicke in die Stabilität während der Entstehung von Kristallen. All diese Forschung liegt nun bereits gut ein Jahrhundert zurück und man könnte meinen, die Bildung eines Kristalls ist leicht zu verstehen und vorherzusagen. Dies ist aber mitnichten der Fall. Bei aller fundamentaler Arbeit ist das Verständnis der Mechanismen der Keimbildung und des Kristallwachstums immer noch sehr begrenzt. Während in den letzten Jahren zunehmend systematische Ansätze zur Ergründung der Fülle an möglichen stabilen und auch metastabilen Kristallmodifikationen entwickelt wurden (z.B. von Jansen [1]), werden die komplexen Reaktionswege vorwiegend rein empirisch und deskriptiv ergründet. Allein für die zehn Jahre zwischen 2003-2013 lassen sich mehr als 20 000 Publikationen mit den Schlagwörtern „crystal growth + nucleation“ finden2 . Ein Großteil dieser Veröffentlichungen beschäftigt sich mit der Kontrolle nur eines einzelnen Aspektes der Kristallbildung, sei es die Form, Größe oder Zusammensetzung. Dabei ist eine enorme Vielfalt der untersuchten chemischen Systeme zu beobachten; von biochemischen über organische bis zu rein anorganischen Verbindungen ist alles vertreten. Die älteste erhaltene Abhandlung zu diesem Thema stammt bereits aus dem 1. Jahrhundert (die Naturalis historica) 2 Abgefragt auf http://apps.webofknowledge.com 08/2014 1 15 Einleitung Das mangelnde Verständnis der angesprochenen Komplexität ist oft in den Größenskalen der zugrundeliegenden Prozesse begründet. Häufig bestimmen bereits die lokalen Reaktionen und Bewegungen einzelner Atome über wesentliche Aspekte der globalen Mechanismen. Leider ist, trotz zunehmend präziser chemischer Analytik, eine lokal atomare Auflösung von Messungen meist nicht erreichbar. Dies gilt umso mehr, wenn nicht nur statische Zustände, sondern auch dynamische Vorgänge betrachtet werden sollen. Gerade jedoch die zeitliche Änderung der Anordnung von zum Teil nur wenigen Atomen kann eine gewaltige Rolle bei der Bildung und dem Wachstum von Kristallen spielen. An dieser Stelle tritt die molekulare Simulation in Erscheinung. Sie versucht, die Lücke zwischen dem Experiment und der reinen Theorie zu schließen. Durch die Simulation der Bewegung und Reaktion von einzelnen Atomen können gerade jene fehlende Erkenntnisse gewonnen werden, welche zu einem tieferen Verständnis der Mechanismen führen. In der Praxis sind jedoch solche Computersimulationen von realen, chemischen Vorgängen mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten verbunden. Wie auch in einem Experiment muss ein „Versuchsaufbau“ oder Simulationsprotokoll entwickelt, die richtigen Methoden gewählt und eine kritische Analyse der Ergebnisse durchgeführt werden. All diese Punkte sind Kernelemente der vorliegenden Arbeit, deren Schwerpunkt die Durchführung von computergestützten Simulationen zur Beschreibung atomarer Prozesse im Zusammenhang mit Keimbildung und Kristallwachstum ist. Untersucht wurden nicht alle in diesem Zusammenhang denkbaren Prozesse und Materialien, sondern eine besondere Klasse der Festkörper: die Nanopartikel. Allgemein versteht man unter Nanopartikeln kleine Festkörper deren Abmessung im Bereich weniger Nanometer liegt. Sie weisen mitunter im Vergleich zu makroskopischen Festkörpern völlig andere Eigenschaften auf. Es gibt zahlreiche Abhandlungen (z.B. von Ying [2] oder Vollath [3]) zu den Ursachen und Details dieses Effektes, welche an dieser Stelle nicht diskutiert werden sollen. Für die Computersimulation sind Nanopartikel aus zwei Gründen – neben ihrer allgemeinen Bedeutung als Material – besonders interessant. Einerseits sind ihre Eigenschaften noch deutlich empfindlicher von atomaren Details abhängig als bei den makroskopischen Vertretern. Konkret bedeutet dies, dass kleinste Variationen in Form, Zusammensetzung oder Größe schon entscheidend für mögliche Anwendungen sind. Im Umkehrschluss ist damit die Aufklärung der Mechanismen, welche genau diese Parameter kontrollieren, von immenser Bedeutung. Der zweite Grund ist die Limitierung von Simulationen. Normale makroskopische Systeme beinhalten etwa 1023 Teilchen (Atome, Ionen oder Moleküle). Möchte man 16 atomare Prozesse studieren, so ist es heute und auch in absehbarer Zukunft ausgeschlossen, Systeme dieser Größe direkt zu modellieren. Man muss auf lokale oder stark vereinfachte Modelle zurückgreifen. Nanopartikel hingegen bestehen aus wenigen hundert bis einigen tausend Teilchen; eine Größenordnung, welche mehr oder wenig direkt simulierbar ist. Anders ausgedrückt ist der Grad der Vereinfachung der Modelle zur Simulation von Nanopartikeln (ausgehend von nichtempirischen ab-initio Theorien) deutlich kleiner als bei makroskopischen Systemen. Auch bei Nanopartikeln gibt es eine große Vielfalt der möglichen Stoffe und Synthesen. In der vorliegenden Arbeit wurden daher zwei prominente Materialien gewählt und exemplarisch untersucht: Silber und Zinkoxid. Silber als Metall und Zinkoxid als Halbleiter wurden und werden intensiv studiert und verwendet. Sie erreichen fast den Status einer „Drosophila melanogaster der Nanomaterialien“. Es gibt zu beiden Materialien eine Fülle von experimentellen Daten mit denen Simulationen verglichen werden können. Dieser Umstand und ihre hohe Relevanz für die Anwendung machen sie zu idealen Kandidaten für die Studien in dieser Arbeit. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zuerst werden die benötigten Grundlagen der Computerchemie sowie die verwendeten Methoden und Konzepte erläutert. Dieser Teil ist relativ umfangreich, da die benutzten Techniken so vielfältig wie die untersuchte Fragestellung waren. Es schließen sich die beiden Kapitel zu Silber und Zinkoxid an. Da sich die Details der jeweiligen Simulationen mitunter stark unterscheiden, werden sie getrennt voneinander beschrieben und diskutiert. Die Kernaussagen werden schließlich in einem allgemeinen Schlusswort zusammengefasst. 17 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen 19 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen 1.1 Molekularmechanik Die Molekularmechanik (MM) ist die Beschreibung der Bewegung von Atomen und Molekülen unter Verwendung der klassischen Mechanik. Dabei werden Atomkerne, basierend auf der Born-Oppenheimer-Näherung (BON) (Abschnitt 1.2.1), als wechselwirkende Punktmassen betrachtet. Da Elektronen nicht klassisch beschrieben werden können, muss in der MM die Wechselwirkung durch parametrisierte, mathematische Funktionen genähert werden. Dies grenzt die MM von der Quantenmechanik (QM) ab, da die Komplexität der elektronischen Struktur in den Atomen vereinfacht und gemittelt wird. Damit beschreibt diese Mechanik nur die Atome explizit und die Elektronen lediglich implizit. Aufgrund dieser Mittelung spricht man bei den die Energien und Kräfte charakterisierenden Funktionen auch oft von effektiven Potentialen oder Kraftfeldern. 1.1.1 Konventionelle Kraftfelder Die erste Art von Kraftfeldern sind die konventionellen oder linearen Kraftfelder. Sie unterteilen die Wechselwirkungen zumeist in einen intra- und intermolekularen bzw. bindenden und nichtbindenden Teil. Die Annahme beruht darauf, dass innerhalb von Molekülen sehr starke, nicht brechbare Bindungen bestehen, welche man mit relativ einfachen Potentialen beschreiben kann. Solche Potentiale sind oft sehr schnell und effizient zu berechnen. Allerdings können Änderungen der chemischen Bindungszustände und damit chemische Reaktionen nicht dargestellt werden. Typischerweise werden die Wechselwirkungen nach der Anzahl der Bindungen zwischen Atomen charakterisiert. Eine 1-2 Wechselwirkung entspricht einer einfachen Bindung zwischen zwei Atomen, 1-3 einem Winkel zwischen drei Atomen und 1-4 einem Diederwinkel zwischen vier Atomen. Wechselwirkungen weiter als 1-4 werden in der Regel als nichtbindend betrachtet. Beispiel für Potentiale V1−n aus dem optimized potential for liquid simulation - all atom (OPLSAA) Kraftfeld [4, 5]: V1−2 (r) = Kr (r − req )2 V1−3 (Θ) = KΘ (Θ − Θeq )2 Kφ,1 Kφ,2 V1−4 (φ) = (1 + cos(φ + ϕ1 )) + (1 − cos(2φ + ϕ2 )) 2 2 Kφ,3 (1 + cos(3φ + ϕ3 )) + 2 20 (1.1) (1.2) (1.3) 1.1 Molekularmechanik Die Parameter r, Θ, φ geben jeweils den Abstand, den Winkel und den Diederwinkel an. Des Weiteren ist K jeweils eine Kraftkonstante und ϕ eine Phasenverschiebung. Der Index eq bezeichnet den Gleichgewichtszustand. Die nichtbindenden Wechselwirkungen in konventionellen Kraftfeldern werden zumeist auf elektrostatische und van-der-Waals Kräfte beschränkt. Das Coulombpotential beschreibt die Elektrostatik zwischen Punktladungen q auf den Atomen im Vakuum: Vcoul (rij ) = 1 qi q j 4πǫ0 rij (1.4) rij ist der Abstand zwischen Atom i und j und ǫ0 ist die elektrische Feldkonstante des Vakuums. Für die van-der-Waals-Kräfte wird häufig (so auch im OPLS-AA Kraftfeld) das Lennard-Jones-Potential (LJ) verwendet: σ VLJ (rij ) = 4ǫ rij !12 σ − rij !6 (1.5) Der Koeffizient ǫ gibt die Bindungsstärke und σ die Nullstelle des Potentials an. Physikalisch steht der r−12 Anteil für die Abstoßung durch die Pauli- und die Kern-KernRepulsion und r−6 für die attraktive Dispersionswechselwirkung. Ein weiteres, vor allem bei ionischen Kristallen verbreitetes Potential ist das Buckinghampotential (BUCK): VBuck (rij ) = Ae− ij/ρ − r C 6 rij (1.6) Die Koeffizienten A, ρ bestimmen die Härte der Repulsion und C die Stärke der attraktiven Dispersion. Der exponentielle, repulsive Teil beschreibt die Pauli-Repulsion besser als das LJ, ist allerdings numerisch instabiler, da für lim VBuck (r) = −∞ gilt. r→0 Nichtbindende Wechselwirkungen müssen im Prinzip zwischen allen Atomen ausgewertet werden. Ausgenommen sind die bereits durch Bindungen, Winkel und Diederwinkel beschriebenen Interaktionen. Ein Sonderfall sind die 1-4 Wechselwirkungen, bei welchen in der Regel bereits einen Teil nichtbindender Wechselwirkungen hinzugenommen wird. Beim OPLS-AA beträgt der Wert 50% einer normalen nicht-bindenden Wechselwirkung. Um die Rechenzeit vertretbar zu halten, werden sogenannte cut-off Abstände definiert. Wechselwirkungen von Atomen, welche weiter als diese Abstände von einander entfernt sind, werden nicht mehr berücksichtigt. Für van-der-Waals-Interaktionen sind diese Grenzwerte in der Regel kein Problem, da die Potentiale mit r−6 abfallen und schnell 21 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen gegen null konvergieren. Das Coulombpotential ist ein schwierigerer Fall und wird in einem gesonderten Kapitel (Abschnitt 1.1.3) besprochen. 1.1.2 Vielteilchenkraftfelder Ein spezielle Kategorie von Kraftfeldern sind sogenannte many-body oder Vielteilchenkraftfelder. Die Wechselwirkung zwischen Atomen hängt bei ihnen nicht nur von deren Positionen, sondern auch denen aller anderen Atomen ab. Ein allgemeiner Zugang ist die Vorstellung, dass die Energie eines jeden Systems über eine Entwicklung von n-Zentren Potentialen V1−n theoretisch exakt beschrieben werden kann. E=E (0) + N X i=1 V1−1 (ri ) + N X j>i V1−2 (ri , rj ) + N X k>j (V1−3 (ri , rj , rk ) + · · · ) (1.7) 1-Zentren Potentiale (V1 ) sind zum Beispiel extern anliegende Felder. Allgemein wird von Vielteilchenkraftfeldern bei n >= 3 gesprochen (eine Ausnahme sind die gebundenen Wechselwirkungen). Da die vollständige Summe unmöglich zu berechnen ist, wird sich auf einzelne Terme beschränkt. 1.1.2.1 Metallkraftfelder Historisch werden Vielteilchenkraftfelder vor allem für Metalle verwendet, wo sie direkt aus der tight-binding Näherung für die elektronische Bandstruktur hergeleitet werden können [6, 7]. In dieser Arbeit wird die sogenannte embedded atom method (EAM) von Daw und Baskes verwendet [8, 9]. Die Grundidee ist, dass ein Atom eine Störstelle in der Elektronendichte der bestehenden Atome darstellt. Die Elektronendichte am Ort des Atoms i selber ist unbekannt, kann aber durch eine atomare Koordinationsdichte ρ genähert werden. ρi = X ρ̃(rij ) (1.8) i6=j Die Dichtefunktion ρ̃ ist dabei eine parametrisierte Funktion, welche zum Beispiel aus n einer Linearkombination von exponentiellen Funktionen der Form e−β(r−σ) besteht. Sie ist eine sphärisch gemittelte Funktion und beinhaltet keinerlei gerichtete Komponenten. Für Metalle mit fast vollständig delokalisierten Valenzelektronen (zum Beispiel viele face-centered cubic (fcc) Metalle) funktioniert diese Näherung sehr gut. Probleme entste- 22 1.1 Molekularmechanik hen bei Materialien mit höherem kovalenten, gerichteten Bindungsanteil (zum Beispiel Silizium). Die Erweiterung der Dichtefunktion um einen 3-Zentren Winkelanteil bei der sogenannten modified embedded atom method [10] wirkt dem entgegen, erhöht allerdings den Rechenaufwand beträchtlich. Die atomare Energie Ei ist in der EAM eine Funktion F der atomaren Koordinationsdichte. Ei = X V (rij ) + F (ρi ) (1.9) i6=j Die Funktion F wird rein empirisch anhand von experimentellen Festkörpereigenschaften bestimmt und kann zum Beispiel als Polynomfunktion dargestellt werden. Das Paarpotential V ist ähnlich den nichtbindenden Wechselwirkungen und sorgt für die repulsive Kraft durch die Kern-Kern- und Pauli-Abstoßung. Es gibt keine festgelegte, physikalisch hergeleitete Form. Im einfachsten Fall ist das Paarpotential die Coulombabstoßung zwischen den abgeschirmten, effektiven Kernladungen. Es werden aber auch komplexere Funktionen, zum Beispiel aus Kombinationen von Morse-Funktionen verwendet. In manchen Fällen werden die empirischen Werte auch schlicht als Tabelle gespeichert (LAMMPS verwendet sie in dieser Form). Als Beispiel für mögliche empirische Funktionen, soll das konkret in dieser Arbeit verwendete Potential [11] dienen: 2 ρ̃(r) = A1 e−β1 (r−σ1 ) + e−β2 (r−σ2 ) χ V (r) = VM (r) 3 X 1 (n) V (σs )(r − σs )n n! M + n=0 4 X 5 X n=1 r − rc h (1.10) ∀ r ≥ σs Sn H(σs(n) − r)(r − σs(n) )4 ∀ r < σs 1 qn (ρ − 1)n+2 F (ρ) = F (0) + F (2) (ρ − 1)2 + 2 n=1 (1.11) (1.12) (1.13) mit r − rc VM (r) = (A2 M (r, σ3 , α1 ) + A3 M (r, σ4 , α2 ) + δ) χ h −2α(r−σ) −α(r−σ) M (r, σ, α) = e − 2e (1.14) (1.15) An , Sn , αn , βn , σn , σs(n) , h, δ, qn sind zu bestimmende, empirische Parameter. F (0) und F (2) entsprechen der Kohäsionsenergie respektive dem Bulkmodulus. Die Funktion χ sorgt 23 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen für eine stetig differenzierbare Funktion am cut-off Abstand rc und H ist eine HeavisideSprungfunktion. Für eine detaillierte Beschreibung der Herleitung und Parametrisierung sei an dieser Stelle auf die Originalliteratur verwiesen [11, 12]. 1.1.2.2 Polarisierbare Kraftfelder Eine zweite, prominente Gruppe von Vielteilchenwechselwirkungspotentialen sind die sogenannten polarisierbaren Kraftfelder. Ihre Bedeutung wurde erst kürzlich durch die Verleihung des Nobelpreises 2013 an Warshel, Karplus und Levitt hervorgehoben [13, 14]. Das elektrische Potential φ eines molekularen Systems an einem Ort r ist über die integrierte kontinuierliche Ladungsdichte ρ definiert: 1 Z ρ(r′ ) dr′ φ(r) = 4πǫ0 |r − r′ | (1.16) R 1 ′ Weder ist die exakte Ladungsdichte bekannt, noch kann man das Integral |r−r ′ | dr analytisch lösen. Das Integral kann über eine Taylorentwicklung genähert werden; es resultiert die sogenannte Multipolentwicklung, in welcher das Potential eine Summe verschiedener Multipolmomente ist. 1 φ(r) = 4πǫ0 1 Z ρ(r′ )dr′ r | {z } Monopolmoment r Z ′ ′ ′ 1 rrT Z ′ ′T ′ ′ ′ (3r r − r 1)ρ(r )dr + 3 r ρ(r )dr + + . . . 5 |r {z } |2 r {z } Dipolmoment Quadrupolmoment (1.17) Der Entwicklungspunkt ist r′ = 0 und r = |r|. Üblicherweise wird nur bis zum Quadrupolmoment genähert. Das Integral über die gesamte Ladungsdichte kann im einfachsten Fall durch die Summe über N Punktladungen q genähert werden. Z ρ(r′ )dr′ = N X (1.18) qi i=1 Beide Näherungen zusammen führen zu einer Darstellung über die Monopole, Dipole und Quadrupole: " 1 rrT r 1 1 Q + ... Q + 3p + φ(r) = 4πǫ0 r r 2 r5 24 # (1.19) 1.1 Molekularmechanik mit Monopol Dipol Quadrupol Q= p= Q= N X i=1 N X i=1 N X i=1 qi (1.20) ri qi (1.21) (3ri rTi − ri2 1)qi (1.22) In Kraftfeldern können die Ladungsverteilungen sowohl von Molekülen als auch einzelner Atome als Multipole betrachtet werden. Das Konzept der intermolekulare Kräfte beruht auf den Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Ladungsdichten (Multipolen) von Molekülen. Diese können in vier Hauptkomponenten zerlegt werden: Elektrostatik, Induktion, Dispersion und Austausch [15]. Elektrostatische Interaktion nennt man die Coulombwechselwirkungen der permanenten Multipole von Molekülen. Wenn ein permanenter Multipol in einem anderen Molekül einen Multipol induziert und mit diesem wechselwirkt, spricht man von Induktion. Die Interaktion zwischen temporären, simultan gegenseitig induzierten Multipolen auf zwei Moleküle nennt man Dispersion. Überlappen die Elektronendichten bei sehr kurzen Abständen stark, kommt die Austauschrepulsion der Elektronen (oft als Pauli-Repulsion bezeichnet) hinzu. In konventionellen Kraftfeldern werden die permanenten Multipole der Moleküle durch die Monopole der Punktladungen auf den einzelnen Atomen genähert. Dabei werden aus Gründen der Effizienz nur die sogenannten additiven Komponenten1 der Wechselwirkungen berücksichtigt. Die Dispersion und die Austauschrepulsion stecken teilweise in den van-der-Waals-Potentialen. Für viele Moleküle ist damit bereits eine relativ gute Näherung der Interaktionsenergie möglich. Problematisch ist jedoch, dass die Ladungsverteilung für eine bestimmte chemische Umgebung angepasst wurde (beispielsweise Vakuum oder eine Lösung) und zuweilen schlecht andere Umgebungen wiedergeben kann. Zudem können die vernachlässigten Bestandteile einen relativen Fehler von bis zu 40% [15] ausmachen. In polarisierbaren Kraftfeldern werden die nichtadditive Bestandteile intermolekularer, elektrischer Potentiale berücksichtigt. Drei Modelle haben sich in diesem Bereich am weitesten verbreitet und sollen im Folgenden vorgestellt werden: Übertragung der Ladun- 1 Als additiv bezeichnet man Komponenten, welche paarweise aufsummiert werden 25 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen gen zwischen Atomen (sogenannte fluktuierende Ladungen), induzierte Punktdipole und Drude-Oszillatoren. Induzierte Punktdipole Dieses oft verwendete Modell erweitert die Monopoldarstellung der Punktladungen einzelner Atome um induzierbare Dipole. Nicht nur verbessert dies die Beschreibung des Gesamtmultipols der Moleküls, es erlaubt auch die Veränderung der Ladungsdichte durch das elektrische Feld aller anderen Atome. Die Polarisationsenergie Epol ist dabei die Summe der Wechselwirkungen der atomaren Dipole pi mit dem (0) elektrischen Feld Ei aller N atomaren, permanenten Monopole (Punktladungen) q. Epol = − N 1X (0) pi E i 2 i=1 (1.23) mit (0) Ei = N X qj rij j6=i (1.24) 3 rij Die atomaren Dipole sind zum anliegenden elektrischen Feld Ei direkt proportional: pi = αi Ei = (0) αi Ei + N X j6=i Tij pj (1.25) Die Proportionalitätskonstante α wird in diesem Zusammenhang auch als atomare Polarisierbarkeit bezeichnet. Das resultierende elektrische Feld beinhaltet nicht nur die permanenten Punktladungen, sondern auch alle anderen induzierten Dipole. Die Interaktion wird über den Dipoltensor Tij ausgedrückt. 1 Tij = 3 rij ! 3rij rTij −1 2 rij (1.26) Temporäre Dipole erzeugen entsprechend der Minimumsbedingung (Elektronen passen sich sofort an das äußere Feld an) ein nichtlineares Gleichungssystem: ∂Epol =0 ∂pi (1.27) In der Praxis werden die Dipole dabei mit einem self-consistent field (SCF) Verfahren bestimmt [16]. Zunächst wird das Feld aus den Monopolen erzeugt, anschließend werden 26 1.1 Molekularmechanik die Dipole mit dem Feld berechnet. Mit den Dipolen und Monopolen wird das neue Feld erzeugt und dann die Dipole mit Gleichung (1.25) aktualisiert. Dies wird wiederholt bis die Dipole konsistent bleiben (Abb. 1.1). (0) (0) Ei (0) pi = αi Ei (n+1) pi = h (0) αi Ei + (n) j6=i Tij pj PN i (n+1) pi (n) = pi Epol , pi Abbildung 1.1: Schematische Darstellung des SCF Verfahrens, um die Punktdipole pi aus (0) einem initialen Elektrischen Feld Ei zu errechnen. Das ursprüngliche Verfahren wurde von Applequist [17] eingeführt und beinhaltete die Wechselwirkungen von allen atomaren Punktdipolen untereinander, auch wenn sie sich gebunden in einem Molekül befinden. Allerdings können sehr nah beieinander liegende Dipole zur sogenannten Polarisationskatastrophe führen, bei welcher die Ladungsdichten von zwei Atomen extrem große Werte annehmen. Ursache dafür ist die Reduktion der eigentlich diffusen Ladungen auf Punktdipole und die Vernachlässigung, dass es auch eine Austausch-Induktion- und Austausch-Dispersion-Korrelation gibt. Eine genauere Betrachtung der einzelnen Bestandteile der Wechselwirkungen und deren Korrelation miteinander gelingt mit der Rayleigh-Schrödinger- oder der Symmetrie-adaptierten Störungstheorie (für weiterführende Details sei die Übersicht von Jeziorski et al. [18] empfohlen). Um das Problem der Polarisationskatastrophe zu verringern führt Thole [19] eine Dämpfung der Dipolinteraktionen ein. In vielen modernen Implementationen, welche auf die Wasserkraftfelder der 90er Jahre zurückgehen [20, 21, 22], werden ähnlich den konventionellen Kraftfeldern die 1-2 und 1-3 Dipol-Dipol-Wechselwirkungen nicht berücksichtigt. Ein Nachteil der induzierten Dipole ist der relativ hohe Rechenaufwand, besonders wenn sie noch um Quadrupole erweitert werden. Zudem konvergiert das SCF Verfahren in vielen Fällen schlecht bis gar nicht. Die atomaren Polarisierbarkeiten hängen stark von der chemischen Umgebung ab und sind kaum transferierbar. Drude-Oszillatoren Drude-Oszillatoren werden oft auch als Schalenmodelle bezeichnet [23] und wurden nach Paul Drude benannt [24]. Es wird eine zusätzliche flexible, virtuelle Punktladung für jedes Atom eingeführt, welche die polarisierbare Elektronenhülle 27 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen repräsentiert. Die Gesamtladung eines Atoms q ist dabei die Summe aus Kern- qk und Schalenpunktladung qs . q = q k + qs (1.28) Zwischen Kern und Schale (mit Verschiebungsvektor ds = rs − rk ) wirkt dabei ein Federpotential VS . 1 VS (|ds |)) = · k · |ds |2 (1.29) 2 Die Stärke der Feder k hängt dabei direkt mit der Polarisierbarkeit des freien Atoms zusammen [25]. q2 α= s (1.30) k Alle Punktladungen interagieren wie bei den konventionellen Kraftfelder mittels Coulomb(Gleichung (1.4)) und van-der-Waals- (Gleichungen (1.5) und (1.6)) Wechselwirkungen. Eks = N X i=1 VS (|di |) + k,s X k,s N X X j>i l m (Vcoul (|ri,l − rj,m |) + Vvdw (|ri,l − rj,m |)) (1.31) Diese Oszillatorenergie muss ähnlich den induzierten Punktdipolen (Gleichung (1.27)) minimiert werden. ∂Eks = 0 = ki di,s − qi,s Ei ∂di,s (1.32) Das elektrische Feld des Systems wird analog zu Gleichung (1.24) mit allen Punktladungen berechnet. Wieder kann ein SCF Schema (siehe Abb. 1.1) zur Lösung des resultierenden Gleichungssystems verwendet werden. Prinzipiell muss die Bewegung der Elektronenschale von jener der Atome adiabatisch entkoppelt werden (Born-Oppenheimer-Näherung, siehe Abschnitt 1.2.1). Sobald sich die Positionen der Atome ändern, wie in einer Simulation, muss der SCF Zyklus wiederholt werden. Um den Aufwand zu reduzieren, fügten Jacucci et al. die Schalenpunkte als masselose Teilchen in die klassischen Bewegungsgleichungen der Atome ein [26]. Diese Bewegungsgleichungen fungieren damit als implizites Einschrittgradientenverfahren, um die Positionen der Schalen zu optimieren. In Ionenkristallen funktioniert dieser Ansatz 28 1.1 Molekularmechanik relativ gut. Später wurden den Schalen fiktive Massen µi (aus der Gesamtmasse des Ions) zugeordnet, um die Dynamik und Energieerhaltung von Simulationen zu verbessern [27]. µi di.s = − ∂Eks ∂di,s (1.33) Solange die Frequenz der Schalen-Kern-Schwingung deutlich höher als die Atomschwingungen ist, bleiben die Bewegungen weitestgehend entkoppelt. Lamoureux und Roux haben die Drude-Oszillatoren erfolgreich auf Lösungsmittel bei höheren Temperaturen angewandt und mit dem Nosé-Hoover-Thermostat gekoppelt [28, 29]. Ein großer Vorteil ist, dass zur Simulation der Drude-Oszillatoren dieselben Algorithmen und Potentiale wie bei Simulationen mit konventionellen Kraftfeldern verwendet werden können. Damit ist die Implementierung in bestehende Programme relativ leicht – verglichen mit anderen polarisierbaren Kraftfeldern. Die Verdopplung der Teilchenzahl macht die Auswertung allerdings aufwendig und wie bei induzierten Dipolen sind Parameter nicht ohne Weiteres transferierbar. Zudem besteht stets die Gefahr der Kopplung der Bewegungen von Schalen und Kernen, welche im schlimmsten Fall zum sogenannten „flying icecube“-Effekt2 führen können. Fluktuierende Ladungen Ein komplett anderer Ansatz von Polarisierbarkeit wird bei fluktuierenden Ladungen umgesetzt. Bisher wurden Atomen feste Partialladungen zugeordnet und ausschließlich versucht, die Darstellung der Ladungsverteilung (z.B. über Dipole) zu verbessern. Eine andere Idee besteht darin, die Ladungen nicht festzulegen und deren Verteilung auf die bestehenden atomaren Monopole dynamisch zu optimieren. Die permanente Ladungsverteilung passt sich so der chemischen Umgebung an und somit können ebenfalls molekulare Multipole induziert werden. Die verbreitetste Variante, die Charge-Equilibrium-Methode (QEq), geht auf die Arbeit von Rappé und Goddard III [30] zurück. Ähnliche Ansätze wurden aber zuvor bereits von Mortier et al. formuliert [31]. 2 Ein Effekt, bei welchem zunehmend auf Kosten der hochfrequenten, molekularen und atomaren Schwingungen die niederfrequente Gesamttranslation angeregt wird. Dadurch kühlt das System lokal ab und fängt an immer schneller in eine Richtung zu „fliegen“. 29 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Analog der n-Zentren Darstellung von Wechselwirkungspotentialen (Gleichung (1.7)) kann die Energie in Abhängigkeit der atomaren Partialladungen beschrieben werden. N X E(q1 , . . . , qN ) = Ei (qi ) + N N X X Vij (qi , qj ) (1.34) i=1 j>i i=1 Es werden nur die Eigenenergie oder Selbstwechselwirkung Ei und das 2-Zentren Potential Vij berücksichtigt (entspricht der Monopolnäherung des elektrischen Potentials (Gleichung (1.19))). Die Eigenenergie ist eine komplexe Funktion der elektronischen Struktur und ihre analytische Form ist unbekannt, kann jedoch über eine Taylorentwicklung genähert werden. Ei (qi ) = (0) Ei + ∂Ei ∂qi 1 + 6 !(0) 3 i ∂ Ei ∂qi3 1 qi + 2 !(0) qi3 i ∂ 2 Ei ∂qi2 1 + 24 !(0) qi2 i 4 ∂ Ei ∂qi4 !(0) qi4 + . . . (1.35) i (0) Entwicklungspunkt ist das neutrale Atom mit qi = 0 und die gesamte Energie kann als Störung des freien, neutralen Atoms betrachtet werden. Die ersten Koeffizienten sind mit den physikalischen Größen Ionisationspotential (IP) und Elektronenaffinität (EA) verknüpft (die ersten Betrachtungen dazu gehen auf Mulliken zurück [32]). ∂Ei ∂qi ∂ 2 Ei ∂qi2 (0) !(0) i !(0) i (0) = χi = (0) = ηi 1 (IP + EA) 2 = IP − EA (0) (1.36) (1.37) χi entspricht der atomaren Elektronegativität und ηi der atomaren Härte eines freien, neutralen Atoms i. Höhere Koeffizienten haben keine direkte physikalische Entsprechung. In den originalen Implementierungen wird nach der zweiten Ordnung abgebrochen, neuere Arbeiten nutzen auch Terme bis zur vierten Ordnung [33]. Die Paarwechselwirkungen der Ladungen qi , qj können prinzipiell in Form eines Coulombpotentials (Gleichung (1.4)) in Abhängigkeit vom Atomabstand rij berechnet werden. Allerdings führt die Vernachlässigung der diffusen Natur von überlappenden Elektronendichten zum bereits bei induzierten Dipolen beschriebenen Fehler des Potentials bei kleinen Abständen (bis hin zur Polarisationskatastrophe). Um dies zu verhindern, führt man daher ein abge- 30 1.1 Molekularmechanik schirmtes Potential Jij (rij ) ein, dessen Verhalten nur bei großen Abständen dem eines Coulombpotentials entspricht. Vij = qi qj Jij (rij ) = Vcoul (rij ) R R ρi (r)ρj (r′ ) 1 drdr′ ′ 4πǫ0 |r−r | ∀ rij >> 0 ∀ rij → 0 (1.38) Rappé und Goddard III schlagen vor, die normierten Ladungsdichten ρi (r) an den Atomen über Slaterorbitale φi (r) zu nähern, da deren Lösungen für das Integral bekannt sind. ρi (r) = φi (r)φ∗i (r) (1.39) φi (r) = N (n, ζi )(|ri − r|)n−1 e−ζi |ri −r| (1.40) n ist die Hauptquantenzahl und N die Normierungskonstante. Der Orbitalkoeffizient ζi gibt die Ausdehnung der Ladungsdichte an und ist mit dem Kovalenzradius des Atoms verknüpft. In modernen Ansätzen wird auf eine weniger aufwendige Variante über eine empirische Funktion zurückgegriffen. Jij (rij ) = q k 1 k γij−k + rij (1.41) Louwen und Vogt haben gezeigt, dass für k = 3 diese Funktion fast exakt der quantenmechanischen Lösung entspricht [34]. Der Parameter γij ist vom Atomtyp abhängig und wird daher oft als Funktion der Härte der Atome beschrieben γij = γ(ηi , ηj ) [33, 35]. Um die Energie mit der Nebenbedingung der Erhaltung der Gesamtladung zu verbinden, wird eine Lagrangefunktion L definiert. N X L = E(q1 , . . . , qN ) − λ( i qi − qtot ) (1.42) Die Minimumsbedingung der Lagrangefunktion ergibt das Gleichungssystem: ∂L ∂qi ! ! = χi − λ = 0 mit i = 1 . . . N (1.43) Der Ladungsgradient der Energie wurde bereits als Elektronegativität χi eingeführt. Der Lagrangekoeffizient λ kann als eine Art gemittelte Elektronegativität aller Atome aufge- 31 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen fasst werden. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Konsequenz der Gleichungen (1.43) betrachtet: alle Elektronegativitäten müssen gleich sein. χ1 = χ2 = · · · = χN (1.44) Aus diesem Grund wird die Methode auch als electronegativity equalization method bezeichnet [31]. Dieses Prinzip wurde bereits von Sanderson in seinem Konzept der Atombindungen postuliert [36]. Die Lösung des nichtlinearen Gleichungssystem kann wieder über ein SCF Verfahren bestimmt werden. Dazu werden die Gleichungen (1.43) und (1.44) zu χi −χ1 umformuliert. Der Index 1 erhält eine Sonderstellung, was allerdings keine numerischen Problem verursachen sollte [33]. Die ladungsabhängige Elektronegativität erhält man aus den Gleichungen (1.34), (1.35) und (1.38): (0) χi = χi + Jii qi + X (1.45) Jij qj j6=i mit Jii = (0) ηi 1 + 2 ∂ 3 Ei ∂qi3 !(0) i 1 qi + 6 ∂ 4 Ei ∂qi4 !(0) qi2 + .. . . . (1.46) i Letztendlich erhält man N −1 Gleichungen, welche noch um die Randbedinung erweitert wird. J21 − J11 J31 − J11 .. . J22 − J12 J32 − J12 .. . · · · J2N · · · J3N ... JN 1 − J11 JN 2 − J12 · · · 1 1 ··· − J1N − J1N .. . JN N − J1N 1 q1 q2 .. . qN −1 qN = χ01 − χ02 χ01 − χ03 .. . P i qi = qtot 0 0 χ1 − χN (1.47) qtot Das SCF Verfahren lässt sich schlecht parallelisieren. Die atomaren Informationen zur Erstellung der Matrix aus Gleichung (1.47) müssen von einem Prozess gesammelt und anschließend wieder auf alle Prozesse verteilt werden. Deshalb werden stattdessen erweiterte Bewegungsgleichungen (analog Gleichung (1.33)) genutzt [35]. Den Ladungen werden fiktive Massen µi zugeordnet: µi qi = −χi 32 (1.48) 1.1 Molekularmechanik Es gelten jedoch dieselben Problematiken und Einschränkungen (Kopplung von Bewegungen etc.) wie bei den Drude-Oszillatoren. 1.1.2.3 Weitere Kraftfelder Es gibt noch wesentlich mehr Kraftfelder die auf N -Zentren (N > 2) Wechselwirkungen beruhen. Generell sind die Konzepte doch meist sehr ähnlich zu den bereits Vorgestellten. Bekannt sind noch die nichtbindenden 3-Zentren-Wechselwirkungen von Stillinger und Weber [37] und Tersoff [38, 39]. Sie beruhen auf der Kombination von Paarpotentialen mit einer Winkelabhängigkeit V (Θ). E3−Zentren = N X N X i=1 j>i V2 (rij ) + N X k6=i,j V3 (rij , rik , Θijk ) (1.49) Der Unterschied zu den konventionellen Kraftfeldern ist, dass der Winkelterm für alle Atome und nicht nur die gebundenen gilt. Allerdings verwendet man in der Regel stark gedämpfte Potentiale, welche schnell abklingen. Eine Mischung aus fluktuierenden Ladungen und dem Tersoffpotential ist das charged optimized many-body Potential [40], welches versucht, die Vorteile beider Methoden zu verbinden. Der letzte wichtige Typ sind bond-order-Potentiale, welche die Stärke von Wechselwirkungen an eine sogenannte Bindungsordnung BO knüpfen. BO ∼ X e /r0 r (1.50) Sie gibt an, wie stark ein Atom koordiniert ist und das gesamte Konzept ist sehr ähnlich zu der EAM bei Metallen. Einzig die empirischen Wechselwirkungsfunktionen sind näher an konventionelle, molekulare Kraftfelder angelehnt. Bekanntestes Beispiel ist das ReaxFF [41], welches das bond-order-Modell mit fluktuierenden Ladungen verknüpft. 1.1.3 Langreichweitige elektrostatische Wechselwirkungen Im Abschnitt über konventionelle Kraftfelder wurde bereits angedeutet, dass Paarpotentiale V (r) aus Effizienzgründen nur bis zu einem cut-off Abstand rc berücksichtigt werden. V (r) ∀ r ≤ rc (1.51) Ṽ (r) = 0 ∀ r > rc 33 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Viele Wechselwirkungen sind sehr kurzreichweitig, besonders wenn sie auf der Überlappung von Elektronendichten beruhen. In diesen Fällen fällt das Potential für große Abstände schnell gegen null ab und es entsteht nur ein kleiner, zu vernachlässigender Fehler. Eine wichtige Ausnahme ist das elektrostatische Potential zwischen Ladungen in großen oder periodisch unendlichen atomaren Systemen. Im einfachen periodischen Fall (Abschnitt 1.3.1.3) kann die Wechselwirkung als Summe über die N atomaren Punktladungen (Gleichung (1.4)) in einer Einheitszelle und ihrer periodischen Replika verstanden werden. N N X ∞ X 1X Vcoul (|rij + Lt|) (1.52) Eele = 2 t i=1 j6=i=1 Der Translationsvektor t = (tx , ty , tz ) geht über alle ganzzahligen Permutationen der Vervielfältigungen in alle Raumrichtungen. Die Gittermatrix L enthält die Gitterkonstanten in kartesischen Koordinaten. Eine Konvergenz der Reihe in Gleichung (1.52) erfolgt nur unter der Bedingung, dass die Gesamtladung qc = 0 ist. Bei einer konstanten Nettoladung einer Einheitszelle qc 6= 0 divergiert die Reihe: ∞ X qc k rk ≈ Z ∞ qc 0 r dr = ∞ (1.53) Ein zusätzliches Problem lässt sich anhand eines eindimensionalen Ionenkristalls mit gleichmäßig verteilten Ionen der Ladung ±q illustrieren. Die endliche Summe ist alternierend und hat zwei Lösungen, abhängig vom letzten Summanden. n∈N X i (−1)i q = q 0 ∀ 2n ∀ 2(n + 1) (1.54) Auf reale Systeme übertragen bedeutet dies, dass beim Abschneiden nahezu immer ein Fehler in der Ladungssumme ∆q entsteht. Der Betrag des Fehlers skaliert mit ∆q/rc und man braucht große Grenzwerte rc , um diesen zu minimieren. Der am weitesten verbreitete Ansatz ist die sogenannte Ewaldsummation [42]. Die Idee besteht in der Zerlegung der Gesamtsumme in einen kurzreichweitigen und einen 34 1.1 Molekularmechanik langreichweitigen Teil, welche beide absolut konvergent3 sein sollen. Zur Zerlegung wird die Fehlerfunktion (erf ) und ihre Komplementärfunktion (erfc) genutzt: Eewald ! N N X ∞ X 1 1X qi q j = 4πǫ0 2 t i=1 j6=i=1 erfc(α|rij + Lt|) erf (α|rij + Lt|) + |rij + Lt| |rij + Lt| (1.55) Die physikalische Interpretation und mathematische Umsetzung ist relativ umfangreich und wurde von de Leeuw et al.[43, 44] detailliert beschrieben. Als Resultat wird der langreichweitige Teil mit der Fehlerfunktion durch eine absolut konvergierende Fourierreihe im reziproken Raum beschrieben. Der verbleibende kurzreichweitige Teil konvergiert durch die komplementäre Fehlerfunktion schnell im Ortsraum. Eewald tc X N N X 1 1X qi q j = 4πǫ0 2 t i=1 j6=i=1 |rij |<rc | − 2 N X cos(kri ) i=1 {z ! } 2 N X + sin(kri ) i=1 } Summe im reziproken Raum α 4π 3/2 ǫ0 | {z Summe im Ortsraum 2 2 kc 1 X e−|k| /4α + 2|L|ǫ0 k6=0 |k|2 | erfc(α|rij + Lt|) |rij + Lt| {z N X i=1 qi2 } Eigenkorrektur 2 N X 1 qi ri − 2(2ǫs + 1)ǫ0 |L| i=1 | {z Dipolkorrektur (1.56) } α ist der Dämpfungs- oder Konvergenzparameter, welcher bestimmt wie schnell der Ortsraumanteil konvergiert. Je größer α, desto kürzer kann ein Grenzabstand rc (und damit die Grenze des Translationsvektors tc ) sein, mit dem Nachteil, dass die Grenzen für die Summierung im reziproken Raum kc sich dann vergrößern. k ist ein reziproker Translationsvektor und ǫs die Dielektrizitätskonstante eines fiktiven, umgebenden Mediums. Die letzten beiden Terme in der Ewaldenergie sind Korrekturen. Zum einen die Eigenkorrektur, da im reziproken Raum die Wechselwirkung eines Atomes mit seiner eigenen Ladungsdichte nicht aus der Summe gelöst werden kann. Zum anderen die Dipolkorrektur, welche verhindern soll, dass sich temporäre Nettodipole in molekularen Systemen aufaddieren. Dies ist relevant in Systemen mit erzwungener Periodizität, wie zum Beispiel Lösungsmittel in periodischen Simulationszellen. ǫs reguliert dabei, ob ein 3 d.h. sie konvergieren für r → ∞ immer gegen eine Konstante, hier konkret gegen null 35 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Medium wie ein Lösungsmittel einen Dipol dämpfen würde (ǫs > 0) oder ob, wie im Falle von Kristallen der Dipol unbeeinflusst bliebe (ǫs = 0). Die Ewaldsummation oder ähnliche Verfahren sind de facto der Standard in molekularmechanischen Simulationen. Allerdings gibt es einige Limitierungen und Nachteile, welche besonders für diese Arbeit von Bedeutung sind. Der numerische Aufwand der Ewaldsummation, insbesondere des reziproken Anteils, ist trotz effizienter Algorithmen zur Fouriertransformation erheblich. Besonders für große, aperiodische Systeme steht der Aufwand kaum im Verhältnis zum Nutzen. Des Weiteren wird stets eine Periodizität erzwungen, welche in zweidimensionalen und pseudodreidimensionalen Systemen (z.B. Simulationen von Schichten oder Oberflächen) explizit falsch sein kann. Zuletzt erzwingt die Ewaldsummation eine neutrale Simulationszelle4 . Möchte man Systeme mit lokalen Ladungshäufungen (zum Beispiel an einer Oberfläche) untersuchen, muss man die Zelle sehr groß wählen um Ladungsneutralität zu gewährleisten. All diese Einschränkungen haben zur Entwicklung der gedämpften Coulombpotentiale geführt. Erstmals wurden sie von Wolf et al. [46] eingeführt und später von Zahn et al. [47] und Fennell und Gezelter [48] weiterentwickelt. Sie besteht aus zwei Teilen: einem gedämpften Paarpotential und einer Korrekturenergie. EDSF 1 X = 4πǫ0 i X j6=i=1 |rij |<rc " " 2α e−2α erfc(αrc ) qi qj erfc(α|rij |) erfc(αrc ) √ + − + 2 |rij | rc rc2 π rc | # erfc(αrc ) α + + √ qi2 2rc π | {z Korrekturterm {z damped-shifted-force Potential 2 r2 c ! # (|rij | − rc ) } (1.57) } Die Dämpfung des Paarpotentials erfolgt nach Wolf, wie beim Ortsteil der Ewaldsummation, über eine komplementäre Fehlerfunktion. Zahn und Fennell haben zur Gewährleistung der Stetigkeit des Potentials und seiner Ableitung (der Kraft) ein sogenanntes damped 4 Es gibt Korrekturen für geladene Systeme, welche aber meistens abhängig vom Volumen der gesamten Zelle sind [45] 36 1.2 Quantenchemie shifted force Coulombpotential (DSF-Coul) entwickelt. Ein solches Potential hat die allgemeine Form: Vdsf (r) = V (r) − V (rc ) − (r − rc ) dV dr 0 (rc ) ∀ r ≤ rc (1.58) ∀ r > rc Die Korrekturenergie setzt sich aus der schon bekannten Eigenkorrektur (aus der Ewaldsummation) und einer Ladungsneutralisationsenergie zusammen. Wolf stellte fest, dass der wesentliche Energieanteil der reziproken Raumsumme aus der artifiziellen Wechselwirkung der Eigenladungsdichte mit sich selbst resultiert. Zusätzlich führt er eine Neutralisationsenergie ein, welche die kompensierende Nettoladung durch eine verteilte Ladung auf der Oberfläche einer Sphäre mit Radius rc beschreibt. In einer Studie zum Vergleich von Ewald- und Wolfsummation in ionischen Kristallen an Grenzflächen stellen Gdoutus et al. [49] die Vorteile letzterer umfangreich dar. 1.2 Quantenchemie In diesem Abschnitt werden für diese Arbeit relevante Grundlagen und Methoden der Quantenmechanik erläutert. Da der thematische Fokus der Aufgabenstellung eher auf der Entwicklung und Auswertung von größeren molekularen Modellen mithilfe der MM liegt, nehmen „echte“ QM Rechnungen nur die Rolle von einem Hilfsmittel ein. Dementsprechend stehen hier nur kurze Erläuterungen mit Verweis auf die entsprechende Literatur. Der wesentliche Unterschied der QM zur klassischen Mechanik ist die Einführung einer Zustandsfunktion (Wellenfunktion) Ψ, deren Betragsquadrat die Wahrscheinlichkeit W angibt, mit welcher ein atomares System sich in einer bestimmten Konfiguration {r, R} zum Zeitpunkt t befindet. W ({r, R, t}) = |Ψ({r, R, t})|2 (1.59) {r} gibt die Positionen der Elektronen, {R} die der Kerne an. Zustandsgrößen (Observable) können nicht mehr über Funktionen von Punkten im Phasenraum von Ort und Impuls (wie in der klassischen Hamiltonmechanik) dargestellt werden [50]. Vielmehr sind die möglichen Ergebnisse von Observablen über Operatoren (Messungen) mit der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wellenfunktion verknüpft. Der sicherlich bekannteste und 37 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen wichtigste Zusammenhang ist in der stationären (zeitunabhängigen) Schrödingergleichung [51] für die Energie E beschrieben: EΨ = ĤΨ (1.60) Der Hamiltonoperator Ĥ beschreibt die Kinetik und die Wechselwirkungen des Systems: Ĥ = T̂r + T̂R + Vr,r′ + Vr,R′ + VR,R′ (1.61) Der kinetische Operator T̂ und das Wechselwirkungspotential V wurden in ihre Anteile abhängig von den Kernpositionen R und Elektronenpositionen r aufgeteilt. Je nach Randbedingungen hat diese Gleichung mehrere Lösungen mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten. Prinzipiell kann unter Kenntnis der exakten Wellenfunktion der Zustand jedes System beschrieben und alle Observablen bestimmt werden. Leider existiert das Dreikörperproblem. Es macht die allgemeine, analytische Lösung der Gleichung und damit das Finden der exakten Wellenfunktion für mehr als zwei wechselwirkende Objekte unmöglich. In den letzten hundert Jahren wurden daher eine Reihe von Ansätzen entwickelt, um möglichst gute Näherungen der Lösung zu erhalten. 1.2.1 Born-Oppenheimer-Näherung Diese Näherung ist essentiell, da sie die Grundlage der gesamten Molekularmechanik und der meisten QM-Techniken legt. Weil sich die Massen der Kerne und der Elektronen um mehrere Größenordnungen unterscheiden, werden deren Bewegungen bei diesem Ansatz voneinander adiabatisch entkoppelt betrachtet [52]. Die Wellenfunktion von einem mehratomigen System wird dazu in einen elektronischen (ψ) und einen nuklearen (χ) Teil zerlegt. Ψ({r, R}) = ψ({r}; {R})χ({R}) (1.62) Die Positionen der Kerne {R} werden dabei im elektronischen Teil als konstant betrachtet. Der Hamiltionoperator (Gleichung (1.61)) wird ebenfalls zerlegt und die Bewegung der Kerne vernachlässigt [53, 54]: Ĥ = Ĥele + Ĥnuk Ĥele = T̂r + Vr,r′ + Vr,R′ Ĥnuk = T̂R + VR,R′ ≈ VR,R′ 38 (1.63) (1.64) 1.2 Quantenchemie Die Schrödingergleichung muss nun nur noch für die elektronische Wellenfunktion gelöst werden. (Ĥele + VR,R′ )ψ({r}; {R}) = (Eele + Enuk )ψ({r}; {R}) (1.65) Die wegfallende Kinetik der Kerne T̂R kann über klassische Mechanik oder QM mit der nuklearen Wellenfunktion beschrieben werden. 1.2.2 ab initio Methoden Ansätze ohne empirische Parameter oder Funktionen nennt man ab initio5 Methoden. Die Bezeichnung wird oft synonym für die auf Wellenfunktionen basierenden ab initio Methoden verwendet. Es handelt sich dabei um Methoden, welche versuchen eine möglichst genaue Näherung der unbekannten Wellenfunktion zu finden. 1.2.2.1 Hartree-Fock-Methode Die Hartree-Fock-Methode beruht auf der Grundidee, das komplexe Vielteilchen-Gleichungssystem der Schrödingergleichung auf n Einteilchen- oder Einelektronengleichungen zu reduzieren [54]. Der elektronische Teil des Hamiltonoperators (Gleichung (1.63)) kann in einen Einelektronenteil ĥ = T̂r + Vr,R und einen Mehrelektronenteil Vr,r′ zerlegt werden. Statt explizit den Mehrelektronenteil zu berücksichtigen, wird die ElektronElektron-Wechselwirkung in der Wirkung eines gemittelten Felds aller Elektronen auf ein einzelnes Elektron zusammengefasst. Den so entstehenden Einelektronenoperator nennt man Fockoperator f und der gesamte Hartree-Fock-Hamiltonoperator ĤHF ist die Summe aller Fockoperatoren. fˆi = ĥi + okk NX u 2Jˆu (xi ) − K̂u (xi ) mit ĤHF = n X fi (1.66) i Jˆ ist der sogenannte Coulomboperator, welcher die elektrostatische Wechselwirkung von Elektronen untereinander berücksichtigt und K̂ der Austauschoperator für die Energie der Spin-Korrelation (Berücksichtigung der antisymmetrischen Permutationssymmetrie bei Fermionen) [54]. Der Index u geht über alle N okk besetzten (okkupierten) Spinorbitale und i ist der Index des Elektrons mit der Spin-Ortskoordinate xi = {ri ; ωi }. Aus dem Pauli-Prinzip hervorgehend, wird hier dem Elektron eine zusätzliche Koordinate, der Spin 5 lat. von Anfang an 39 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen ω, zugeordnet [54]. Spinorbitale sind Einelektronenorbitale ϕ, aus welchen die Gesamtwellenfunktion Ψ0 in der Hartree-Fock-Methode über eine sogenannte Slaterdeterminante als Produkt von Einelektronenzuständen konstruiert wird. ϕα (x1 ) ϕβ (x1 ) · · · ϕω (x1 ) 1 ϕα (x2 ) ϕβ (x2 ) · · · ϕω (x2 ) Ψ0 ({x, R}) = √ .. .. .. .. n! . . . . ϕα (xn ) ϕβ (xn ) · · · ϕω (xn ) (1.67) Die Wellenfunktion erfüllt die Bedingung der antisymmetrischen Permutationssymmetrie für Fermionen und soll die unbekannte, exakte Vielelektronenwellenfunktion annähern. Es resultiert letztendlich das Hartree-Fock-Gleichungssystem von Einelektronengleichungen. fˆi ϕα (i) = ǫα ϕα (i) (1.68) ϕα (i) ist das vom i-ten Elektron besetzte Orbital α mit der Einelektronenenergie ǫα . Die Lösungen für ϕ und ǫ werden iterativ mit einem SCF Verfahren bestimmt. Da nach dem Variationsprinzip die beste Lösung nur gleich oder größer dem exakten Grundzustand E0 sein kann, findet man auf diesem Weg die beste Näherung des Grundzustandes. EHF [Ψ0 ] ≥ E0exakt (1.69) Die Spinorbitale werden oft aus M atomzentrierten, bekannten Basisfunktionen φ linear kombiniert (LCAO linear combination of atomic orbitals): ϕα = M X cαj φj (1.70) j=1 Theoretisch kann jede (nahezu) vollständige Basis dafür verwendet werden. Effizienter ist es jedoch, wenige, gut passende Basisfunktionen zu verwenden. Es müssen als Lösung der Hartree-Fock-Gleichung (Gleichung (1.68)) nur noch die Koeffizienten bestimmt werden. Die in dieser Arbeit verwendeten Basissätze werden an den entsprechenden Stellen zitiert. 1.2.2.2 Møller-Plesset-Störungstheorie Da die Hartree-Fock-Methode die Elektron-Elektron-Wechselwirkung nur in einer effektiven, gemittelten Variante beinhaltet, fehlen einige sogenannte Korrelationsbeiträge und 40 1.2 Quantenchemie führen unter Umständen zu großen Fehlern. Ein systematischer Weg, den Fehler zu reduzieren, ist die Störungstheorie nach Møller-Plesset (MPPT Møller-Plesset Pertubation Theory). Es wird ein Störoperator V̂M P definiert, welcher in diesem Fall die Abweichung der Hartree-Fock-Operatoren zum vollständigen Hamiltonoperator für die Elektronen Ĥele (Gleichung (1.64)) beschreibt. V̂M P = Ĥele − n X fˆi (1.71) i Die Schrödingergleichung erweitert sich zu: (ĤHF + λV̂M P )Ψ0 = EM P Ψ0 (1.72) Der Parameter λ schaltet dabei die Störung kontinuierlich an λ = 1 und ab λ = 0. Die gestörte Energie und Wellenfunktion kann als Potenzreihe entwickelt werden: (0) (1) (2) (3) Ψ0 = Ψ0 + λΨ0 + λ2 Ψ0 + λ3 Ψ0 + . . . EM P = E (0) + λE (1) + λ2 E (2) + λ3 E (3) + . . . (1.73) (0) Die ungestörte Energie und Wellenfunktion Ψ0 , E (0) entsprechen der Hartree-Fock Lösung. Für die Bestimmung der Terme sei auf die Literatur verwiesen [53, 54]. Die erste Störungsenergie enthält keine Elektronenkorrelation und ist null. Das weitere Lösen der Störterme ist sehr aufwendig und wird in der Praxis meist nur bis zur zweiten Ordnung gerechnet (als MP2 bezeichnet). 1.2.3 Dichtefunktionaltheorie Im Unterschied zu den auf der Wellenfunktion basierenden Methoden, geht man bei der Dichtefunktionaltheorie (DFT) davon aus, dass die Elektronendichte ρ(r) den Zustand des Systems beschreibt. Das sogenannte Hohenberg-Kohn-Theorem beschreibt dabei die Grundzustandsenergie als ein eineindeutiges Funktional der Dichte E0 = E[ρ]. Dieser Zusammenhang sagt allerdings nichts über die Art des Funktionals aus und die genaue Form ist unbekannt. Das Funktional kann aber, ähnlich wie der Hamiltonoperator der Schrödingergleichung (Gleichung (1.61)), zerlegt werden [55]. E[ρ] = T [ρ] + Eele−ele [ρ] + Eele−kern [ρ] (1.74) 41 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Die kinetische Energie und die Elektron-Elektron-Wechselwirkungsenergie sind dabei unabhängig vom System und werden als universelles Funktional bezeichnet. Leider sind auch die einzelnen Bestandteile des universellen Funktionals immer noch unbekannt. Ähnlich wie bei der Hartree-Fock-Methode wird zur Lösung versucht, die Gleichungen auf Einelektronenfunktionen zu vereinfachen. Zunächst wird die Dichte über sogenannte Kohn-Sham-Orbitale χ definiert [54, 55]: ρ(r) = n X i=1 |χi (r)|2 (1.75) Die Summe über alle n besetzten Einelektronenorbitale ergibt die Grundzustandsdichte. Zudem wird die unbekannte kinetische Energie T durch die bekannte kinetische Energie TS von nicht miteinander wechselwirkenden Elektronen angenähert. Des Weiteren teilt man die Elektron-Elektron-Energie in einen klassischen, elektrostatischen Teil J und einen nicht klassischen Teil Enk , welcher den Beitrag der Austauschenergie enthält [55]. EKS [ρ] = TS [ρ] + ∆T [ρ] + J[ρ] + Enk [ρ] + Eele−kern [ρ] (1.76) Dabei fasst man den unbekannten Fehler der kinetischen Energie ∆T und die nicht klassische Elektron-Elektron-Wechselwirkung zum sogenannten Austausch-KorrelationsFunktional zusammen Exc [ρ] = ∆T [ρ] + Enk [ρ]. Mit dem Variationsprinzip und der Dichtedefinition (Gleichung (1.75)) ergibt sich das Kohn-Sham-Einelektronengleichungssystem [54, 55] (T̂S + Vef f )χi = ǫi χi (1.77) T̂S ist der kinetische Einelektronenoperator und Vef f enthält die Coulombwechselwirkung des Orbitals mit der Elektronendichte, den Kernen und das unbekannte AustauschKorrelations-Potential Vxc . Vef f = Vxc + Z ρ(r′ ) dr′ + Vkern−ele |r − r′ | (1.78) Die Lösung der nichtlinearen Kohn-Sham-Gleichungen erfolgt wie bei der Hartree-FockMethode durch einen SCF Ansatz. Da alle Funktionalformen bis auf das AustauschKorrelations-Funktional bekannt sind, liegt die Schwierigkeit der DFT im Finden einer geeigneten Näherung für Vxc . 42 1.2 Quantenchemie Drei generelle Strategien werden für die unbekannten Funktionale verwendet [55]. Die Einfachste ist die Beschreibung als freies Elektronengases in der sogenannten local density approximation. Z LDA Exc = ρ(r)ε[ρ(r)]dr (1.79) Das Funktional ε gibt die Energie entsprechend eines homogenen, uniformen Elektronengases wieder. Die Näherung kann noch unter der Berücksichtigung der Dichtegradienten zur generalized gradient approximation erweitert und verbessert werden. In einem dritten Ansatz wird der Umstand ausgenutzt, dass die Hartree-Fock-Methode formal die exakte Austauschenergie enthält. Bei den sogenannten Hybridfunktionalen wird daher ein empirisch bestimmter Anteil der Hartree-Fock-Austauschenergie dem AustauschKorrelations-Potential beigemischt. Bis auf die local density approximation gibt es jedoch keine eindeutige, exakte Beschreibung und eine Vielzahl an Varianten sind im Laufe der Jahre entstanden. 1.2.3.1 Pseudopotentiale Der Rechenaufwand für die Lösung der Kohn-Sham-Gleichungen steigt etwa kubisch mit der Anzahl der Basisfunktionen [55]. Um die Anzahl von Elektronen und damit die notwendige Anzahl von Basisfunktionen zu reduzieren, wurde das Konzept der Pseudopotentiale (PPs) eingeführt. Die Grundannahme besteht darin, dass nur die äußeren Valenzelektronen der Atome zur chemischen Bindung beitragen und innere kernnahe Elektronen lediglich die Kernladung in Form eines effektiven Potentials abschirmen. Pseudopotentiale erzeugen dabei ein gemitteltes Kernpotential für die Valenzelektronen, welches der „echten“, vollen Elektronenkonfiguration entspricht. Prinzipiell gibt es zwei wichtige Arten von PP: normerhaltend und ultra-soft [56, 57]. Ein verbreitetes Beispiel für normerhaltende PP ist das Troullier-Martins-Potential [58]. ψlP P (r) = ψl (r) r l ep(r) ∀ r > rl (1.80) ∀ r ≤ rl 43 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Die PP-Valenzorbitale ψlP P für verschiedene Drehimpulsquantenzahlen l entsprechen dabei oberhalb eines Grenzwertes rl den vollständigen Elektronenorbitalen ψl . Unterhalb des Grenzwertes werden sie durch ein radialsymmetrisches Polynom p(r) angenähert. p(r) = c0 + 4 X ci r i (1.81) i=2 Die Koeffizienten werden aus folgenden Bedingungen erhalten: 1. Stetigkeit des Potentials und der ersten vier Ableitungen an der Stelle rl R rl 2. Normerhaltung ( 0 dr r2 [φPl P (r) − φl (r)]2 = 0) 3. Krümmung gleich null für r = 0 Die von Vanderbilt eingeführten ultra-soft PP basieren auf einem ähnlichen Prinzip [59]. Sie verzichten im wesentlichen auf die Normerhaltung, um weichere, glattere Funktionen zu erhalten. Dies hat den Vorteil, dass, je glatter eine Funktion ist, desto weniger Basisfunktionen werden benötigt, um diese Funktion darzustellen. 1.2.3.2 Car-Parinello-Molekulardynamik In der konventionellen QM-Molekulardynamik wird durch die BON zu jedem Zeitpunkt die Wellenfunktion oder Elektronendichte selbstkonsistent bestimmt. Daraus werden die Kräfte errechnet und schließlich die Bewegungsgleichungen der Kerne integriert. Offensichtlich ist dieses Vorgehen sehr aufwendig und beschränkt QM-MolekulardynamikSimulationen auf kleine Simulationszeiten (maximal Pikosekunden) für wenige Atome (maximal einige hundert). Die sogenannte Car-Parinello-Molekulardynamik (CPMD) versucht den Aufwand zu reduzieren, indem die Orbitale φ mit fiktiven Elektronenmassen µ versehen und direkt in die Bewegungsgleichungen aufgenommen werden [60]. Dazu wird die Langrangefunktion L aus der Langrangemechanik erweitert: " # Z n N X 1 X 2 ˙ 2 dr − E[{ψ}, {R}] L= µi |ψ(r)| MI ṘI + {z } | 2 I i + | n n X X i | 44 {z Kinetische Energie j Λij Z ψi (r)ψj∗ (r)dr − δij {z Orthonormalitätsbedingung } } Potentielle Energie (1.82) 1.2 Quantenchemie Die Ableitungen nach Positionen der N Kerne R und den n Orbitalen ψ ergeben dann die Bewegungsgleichungen. δij ist das Kroneckerdelta und Λij sind Langrangemultiplikatoren. Die potentielle Energie ist dabei ein beliebiges Funktional (z.B. DFT) der Wellenfunktion und der Kernpositionen. Natürlich entsprechen die so propagierten Orbitale nicht den adiabatisch selbst konsistenten. Allerdings schwankt der Mittelwert der resultierenden Kräfte um die „exakte“ SCF Lösung [61]. 45 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen 1.3 Simulationstechnik 1.3.1 Molekulardynamik 1.3.1.1 Bewegungsgleichungen Die Molekulardynamik (MD) ist, vereinfacht gesprochen, die Berechnung der Bahnkurven von Atomen, Molekülen oder Partikeln. Üblicherweise werden dabei Atome als Massenpunkte definiert und es gilt die Born-Oppenheimer-Näherung. Prinzipiell müssen nur die aus der klassischen Mechanik stammenden Bewegungsgleichungen aufgestellt und gelöst werden. Die Energie eines konservativen, klassischen Systems ist durch die Hamiltonfunktion H im Ort-Impulsraum {r, p} definiert. H= N X p2i + V({r}) i=1 2mi (1.83) Die potentielle Energie V wird durch Methoden der MM oder QM bestimmt. Die Veränderungen mit der Zeit t ergeben sich aus den Ableitungen der Hamiltonfunktion [62]: dri ∂H pi = = dt ∂pi mi ∂H ∂V dpi =− =− dt ∂ri ∂ri (1.84) (1.85) Im Allgemeinen gilt für drei oder mehr wechselwirkende Objekte das Dreikörperproblem oder allgemeiner das N -Körperproblem, welches eine direkte analytische Lösung ausschließt. Es wird daher auf numerische Näherungsverfahren zurückgegriffen. Eines der bekanntesten und auch in dieser Arbeit verwendete ist der Verlet-Algorithmus im sogenannten „half-step leap-frog“ Schema [63]: r(t + δt) = r(t) + δt ṙ(t + 1/2δt) ṙ(t + 1/2δt) = ṙ(t − 1/2δt) + δt r̈(t) (1.86) Der Ort eines Teilchens r nach einem Zeitschritt δt wird dabei aus dem Ort zum Zeitpunkt t und der Geschwindigkeit ṙ nach einem Halbschritt 1/2δt berechnet. Die Geschwindigkeit wiederum ergibt sich aus der letzten Halbschrittgeschwindigkeit und der f von den auftretenden Kräften stammt. Der aktuellen Beschleunigung, welche nach r̈ = m 46 1.3 Simulationstechnik Vorteil des Verfahren ist, dass es zeitreversibel und numerisch sehr stabil ist. Ein kritischer Parameter ist der Zeitschritt, welcher nicht zu groß gewählt werden darf, da der Fehler des Verlet-Algorithmus mit δt4 skaliert. Eine Verdoppelung des Zeitschrittes entspricht also einer Versechzehnfachung des Fehlers. Andererseits sind zu kleine Zeitschritte sehr ineffizient und führen zu einem hohen Rechenaufwand. 1.3.1.2 Thermo- und Barostat Der einfachste Fall einer MD-Simulation ist ein sogenanntes mikrokanonisches oder NVE-Ensemble mit konstanter Teilchenzahl, konstantem Volumen und Gesamtenergie. Oft möchte man jedoch ein thermodynamisches Gleichgewicht bei einer bestimmten Temperatur und einem bestimmten Druck simulieren. Hierfür führt man sogenannte Thermo- bzw. Barostate ein, welche die Dynamik der Simulation erweitern, damit das Gleichgewicht der Simulation einem NVT- bzw. NpT-Ensemble entspricht. In dieser Arbeit werden hauptsächlich der Nosé-Hoover-Thermostat [64, 65] in Kombination (wenn nötig) mit dem Parinello-Rahman-Barostat [66] verwendet. Die Idee des Thermostats besteht in der Erweiterung der Hamiltongleichung (Gleichung (1.83)) um die zusätzlichen Freiheitsgrade s und ps = ms s. Die Verteilung der Freiheitsgrade entspricht dabei der eines zusätzlichen, künstlichen Ensembles mit der gewünschten Temperatur T (also einem Wärmebad). N X p2i p2s HNosé-Hoover = + V({r}) + + gkB T ln s (1.87) 2 2ms i=1 2mi s Die fiktive Masse ms gibt die Stärke der Kopplung an. Die Skalierung der Freiheitsgrade des Systems mit denen des fiktiven Ensembles g beträgt in der Regel g = 3N . In den meisten Fällen generiert die Verwendung des Nosé-Hoover-Thermostats die Verteilung eines entsprechenden kanonischen Ensembles [62]. In manchen Fällen verwendet man allerdings mehrere, zusätzliche Freiheitsgrade, um die Verteilung zu verbessern. Es wird von sogenannten Nosé-Hoover-Ketten gesprochen [62]. Aus technischen Gründen wurde in einigen, meist weit jenseits des thermodynamischen Gleichgewichts liegenden Szenarien der Berendsen-Thermostat [67] verwendet. Dies ist durch die Implementierung von Maxima für Kräfte und Bewegungen im verwendeten Simulationsprogramm LAMMPS bedingt. Für weitere technische Details sei auf das LAMMPS-Handbuch verwiesen [68]. 47 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen 1.3.1.3 Periodische Randbedingungen In nahezu allen untersuchten Szenarien wurden periodische Randbedingungen verwendet (Abb. 1.2). Es bedeutet im Kontext von MD-Simulationen, dass Atome, welche das Volumenelement der Simulation auf einer Seite verlassen, auf der entgegengesetzten Seite wieder eintreten und so die Teilchenzahl konstant bleibt. Sehr viele Simulationen kondensierter Systeme (Flüssigkeiten und Festkörper) werden mit periodischen Randbedingungen durchgeführt, um ihre Unendlichkeit zu imitieren. Der „Trick“ dabei ist, die Periodizität so zu wählen, dass die entstehende, periodische Überstruktur überhaupt nicht (Flüssigkeiten) oder kongruent (Kristallgitter) mit der inneren Struktur überlagert. Die Periodizität bringt einige Probleme und Anpassungen für Wechselwirkungspotentiale und den Aufbau von Simulationsszenarien mit sich. Diese werden an den entsprechenden Stellen in dieser Arbeit erläutert. Abbildung 1.2: Schematische Darstellung von periodischen Randbedingungen, bei welchen die mittlere Zelle in alle Richtungen repliziert wird. Teilchen, welche die Simulationszelle auf einer Seite verlassen, betreten diese auf der anderen Seite wieder. 1.3.2 Statistische Größen Die einfachste zugängliche thermodynamische Größe in der MD ist die innere Energie U , welche das Zeitmittel h i der Hamiltonfunktion H im Ort-Impuls-Phasenraum {r, p} darstellt [63]. U = hH({r, p})i (1.88) Für eine ausreichend lange Mittelungszeit t → ∞ geht dieser Wert gegen den makroskopischen Messwert. Entsprechend lässt sich Temperatur T über die momentane Temperatur T aus der kinetischen Energie K bestimmen. T = hT i = 48 * 2K({p}) 3N kB + (1.89) 1.3 Simulationstechnik Der Druck P wird aus dem sogenannten inneren Virial W (welches wiederum eine Funktion der potentiellen Energie V ist) bestimmt [63]. P = hPi = * N kB T + W V + (1.90) mit W= −1/3 N X ri i=1 ∂V ∂ri ! (1.91) Das Volumen V und die Teilchenzahl N können ebenfalls entsprechend gemittelt werden, sind jedoch oft konstant. Bei diesen Betrachtungen fehlt bisher die Entropie S als statistische Größe. Phänomelogisch betrachtet sind die freie Energie F und freie Enthalphie G die Zustandsgrößen, welche statistische Informationen des Systems enthalten. Diese Informationen werden wiederum durch die sogenannte kanonische Zustandssumme Z beschrieben. Sie ist die Summe über die Boltzmannverteilung aller möglichen Konfigurationen bei gegebener Temperatur, Volumen und Teilchenzahl [63]: ZN V T = X e−H({r,p})/kB T (1.92) {r,p} Beziehungsweise im isobaren Fall (konstanter Druck, statt konstantem Volumen): ZN P T = ZN V T X e−P V /kB T (1.93) V Die Summen lassen sich in der Simulation als Mittelung der Exponentialfunktion bestimmen. E D 1 (1.94) = eH({r,p})/kB T NV T ZN V T Die thermodynamischen Potentiale F und G ergeben sich als: F = −kB T ln ZN V T G = −kB T ln ZN P T (1.95) (1.96) 49 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Generell sind nicht die absoluten Potentiale, sondern die Differenzen bei verschiedenen Zuständen A und B des Systems von Interesse. Da es Zustandsgrößen sind, hängt die Differenz nur von den Endpunkten, nicht vom Weg ab. ∆FAB = FB − FA = −kB T ln D eH({r,p})/kB T E ZB = kB T ln H({r,p})/k T B B i ZA he A (1.97) Praktisch ist diese Berechnung allerdings sehr schwierig und aufwendig, da nach Gleichung (1.94) unwahrscheinliche Zustände mit hoher Energie H >> kB T exponentiell gering in die Mittelung eingehen. Das Abtasten der Konfigurationen bei A und B führt nur zu einer langsamen Konvergenz von FA und FB . In Systemen mit vielen Freiheitsgraden respektive einem großen Konfigurationsraum, kann es schlicht unmöglich sein, mit heutigen Computern eine signifikante Mittelung durchzuführen. Entsprechend wurden Techniken entwickelt, um die freie Energiedifferenz schneller zu bestimmen. 1.3.2.1 Thermodynamische Integration Eine Möglichkeit Gleichung (1.97) zu vereinfachen ist die Annahme, dass zwei sehr ähnliche Zustände durch dasselbe Konfigurationsmittel M beschrieben werden können [69]. E D (1.98) ∆FAB ≈ kB T ln e(HB −HA )/kB T M Alle in A und B gleichen Energieanteile (z.B. Lösungsmittel) kürzen sich und die Schwankung der Energie reduziert sich unter Umständen drastisch. Man kann diese Näherung ausnutzen, indem man den Zustand A in sehr kleinen Schritten zu B ändert und entlang dieser Änderung mittelt. Dazu wird die Hamiltonfunktion in Abhängigkeit eines Kopplungsparamteres λ (0 ≤ λ ≥ 1) aufgestellt. H(λ) = λHB + (1 − λ)HA (1.99) Die Gesamtdifferenz aus Gleichung (1.97) kann als Summe von Gleichung (1.98) über viele λ mit kleinen Schrittweiten ∆λ genähert werden. ∆FAB ≈ 1 X λ=0 D kB T ln e(H(λ+∆λ)−H(λ))/kB T E λ (1.100) Eine letzte Näherung wird vorgenommen indem man ausnutzt, dass für ∆λ → 0 die Energiedifferenz ∆H(λ) = H(λ + ∆λ) − H(λ) ebenfalls gegen null geht. Aus diesem 50 1.3 Simulationstechnik Grund kann die Exponentialfunktion durch eine Potenzreihe bis zum zweiten Glied genähert und die Beziehung limx→0 ln(1 + x) = x ausgenutzt werden: D ∆H/kB T lim kB T ln e ∆H→0 E = lim kB T ln ∆H→0 * ∆H 1+ kB T +! = lim h∆Hi ∆H→0 (1.101) Die so genäherte Summe aus Gleichung (1.100) wird über Intervalle ∆λ numerisch integriert [69]: ∆FAB = lim ∆λ→0 1 X λ=0 * + * 1 X ∂H ∆H(λ) ∆λ ≈ ∆λ ∂λ λ=0 + ∆λ (1.102) λ Das gesamte Verfahren wird deshalb auch thermodynamische Integration (TI) genannt. Die Hauptschwierigkeit besteht im Finden eines kontinuierlichen Kopplungsparameters und dem Aufstellen der Hamiltonfunktion in Gleichung (1.99). Zudem müssen immer noch sehr viele Kopplungsparameter abgetastet werden, wobei aber durch die Fehlerkompensation das statistische Mittel deutlich schneller konvergiert. 1.3.2.2 Umbrella Sampling Die Wahrscheinlichkeit wi einer bestimmten Konfiguration i kann mit der Zustandssumme (Gleichung (1.92)) bestimmt werden. wi = e−Hi /kB T e−Hi /kB T = −F/k T B ZN V T e (1.103) Betrachtet man die Abweichung der Energie des Zustandes i von der mittleren freien Energie F nur in Abhängigkeit einer Ortskoordinate qi , spricht man vom sogenannten potential of mean force (PMF) W . W (q) = H(q) − F = −kB T ln w(q) (1.104) Das PMF ist eine nützliche Größe, um die Energieänderung bei einer Ortsänderung zu untersuchen, da die mittlere freie Energie konstant bleibt. Theoretisch muss man nur die Häufigkeit von Konfigurationen entlang der Koordinate q während einer Simulation abzählen und man erhält direkt die Änderung der Energie. In der Praxis können unwahrscheinliche Konfigurationen natürlich schlecht gefunden werden und man braucht wieder sehr lange Simulationszeiten. Beim sogenannten umbrella sampling wird die Wahrschein- 51 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen V(q) w(q) W(q) Koordinate q Abbildung 1.3: Schematische Darstellung des umbrella sampling. Die blauen Zwangspotentiale V (q) erzeugen die rote Verteilung der Wahrscheinlichkeiten w(q). Nach Bereinigung der Wahrscheinlichkeiten, erhält man das gesuchte, ungestörte PMF W (q). lichkeit durch ein Zwangspotential an den Punkten entlang der Koordinate erhöht. Man verwendet dazu ein harmonisches Potential V (einen umbrella): V (q) = K (q − q0 )2 2 (1.105) Die Federkonstante K gibt die Stärke der Zwangskraft an und q0 ist die abzutastende Konfiguration. Das freie PMF ergibt sich jetzt aus der gestörten Wahrscheinlichkeit w′ (q), bereinigt um die Energie des Potentials und dessen Änderung der Statistik. D W (q) = −kB T ln w′ (q) − V (q) − kB T ln e−V (q)/kB T E V (1.106) In der Regel reicht ein Zwangspotential nicht aus, sondern man tastet in mehreren unabhängigen Simulationen die Koordinate mit verschiedenen Zwangspotentialen ab. Dabei muss gewährleistet werden, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilungen sich ausreichend überlappen, um ein kontinuierliches PMF zu erhalten (Abb. 1.3). Das ungestörte PMF aus dem Abtasten mit S Simulationen mit verschiedenen Zwangspotentialen lässt sich durch die sogenannte weighted histogramm analysis method (WHAM) ermitteln. Jede Simulation wird in M Fenster entlang der Koordinate unterteilt und die simulierte ′ Wahrscheinlichkeit wij im Fenster j bei der i-ten gestörten Simulation als linear mit der ungestörten Wahrscheinlichkeit wj verknüpft angenommen. ′ wij = fi cij wj 52 (1.107) 1.3 Simulationstechnik Der Koeffizient cij korreliert die gestörte mit der ungestörten Wahrscheinlichkeit und der Faktor fi normiert die Wahrscheinlichkeiten in einer Simulation. fi−1 = M X cij wj (1.108) j Die ungestörte Wahrscheinlichkeit ergibt sich schließlich als [70, 71]: PS wj = PS i nij Ni cij fi i (1.109) Mit nij als Anzahl der Konfigurationen im Fenster j während der Simulation i und Ni als Gesamtzahl der Konfigurationen. Die Gleichungen (1.108) und (1.109) ergeben ein nichtlineares Gleichungssystem, welches iterativ selbstkonsistent gelöst werden kann (siehe SCF). Letztendlich erhält man alle wj und damit das ungestörte PMF. In dieser Arbeit wurde das WHAM-Programm von Grossfield verwendet [72]. 1.3.3 Simulation seltener Ereignisse 1.3.3.1 Seltene Ereignisse Unter seltenen Ereignissen versteht man Prozesse, die im Vergleich zu häufigen Vorgängen wie der Schwingung von Atomen um mehrere Größenordnungen seltener auftreten. Die zwei entscheidenden Größen einer MD-Simulation sind dabei der Zeitschritt und die reale Rechenzeit pro Zeitschritt. Während der Zeitschritt durch die physikalischen Grenzen definiert ist, also in der Regel die schnellstmögliche Bewegung von Atomen, hängt die Rechenzeit von der Größe des Systems, aber auch vom numerischen Aufwand der Auswertung der Wechselwirkungen ab. Der gängige Zeitschritt für Wasserstoff (das leichteste und damit schnellste Atom) enthaltende Simulationen liegt bei einer Femtosekunde. Ein Beispiel für ein seltenes Ereignis ist ein Phasenübergang erster Ordnung, bei welchem allgemein eine lokale Domäne spontan und zufällig ihre Konformation ändern muss, damit anschließend in einer Kettenreaktion das gesamte System seinen Zustand ändert. Die Häufigkeit eines solchen, einzigen Übergangs kann durchaus im Bereich von Sekunden oder sogar weit höher (beispielsweise bei unterkühlten Flüssigkeiten) liegen. Es würden also enorm viele Zeitschritte benötigt, um ein solches Ereignis während einer Simulation zu beobachten. Prinzipiell kann natürlich die Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Ereignisses in einem ergodischen System durch mehr Domänen erhöht werden. Der Rechenaufwand 53 Ea >> kB T − Ea W = e kB T ≈ 0 Ea A B Reaktionskoordinate (a) Hohe Energiebarriere potentielle Energie potentielle Energie Kapitel 1 Theoretische Grundlagen E n ∼ kB T W ∼ (W1k1 W2k2 W3k3 . . . ) Pa A B Reaktionskoordinate (b) Viele Energiebarrieren Abbildung 1.4: Schematische Darstellung der Energielandschaft für zwei Typen seltener Ereignisse. Bei hohen Energiebarrieren ist die Wahrscheinlichkeit W durch einen sehr ungünstigen Übergangszustand (hohe potentielle Energie Ea ) gering. Ein Maß für ein solches Verhalten, ist wenn die Energiebarriere deutlich größer als die thermische Energie kb T des System ist. Der zweite Fall sind sehr viele intermediäre, metastabile Zustände. Hier handelt es sich eher um ein kombinatorisches Problem. Da die Übergänge in alle Richtungen stattfinden können, gibt es sehr viele Möglichkeiten. Die Gesamtwahrscheinlichkeit ist dabei die Summe über alle möglichen Kombinationen der Produkte der Einzelwahrscheinlichkeiten. erhöht sich jedoch für einen Zeitschritt im besten Fall linear (meist eher quadratisch oder schlechter), d.h. der Gesamtaufwand bleibt gleich. Es ist ersichtlich, dass seltene Ereignisse auch mit modernen, parallelen Rechensystemen eine große Herausforderung darstellen. In dieser Arbeit treten zwei Arten von seltenen Ereignissen bzw. langsamen Prozessen auf: der Massentransport über eine große Distanz und Festphasenübergänge. Der Festphasenübergang ist ein Spezialfall des bereits erwähnten Phasenübergangs, bei welchem die Struktur z.B. eines Nanopartikels oder einer Oberfläche nicht mehr die energetisch niedrigste ist. Dies tritt häufig während des Kristallwachstums auf, wenn neues Adsorbat die potentielle Energielandschaft stetig ändert. Bei „harten“ Materialien wie Metalloxiden ist ein Übergang durch die hohe Aktivierungsenergie Ea beim Bruch von Bindungen gehemmt (Abb. 1.4a). Die Wahrscheinlichkeit lässt sich theoretisch durch − Ea die Boltzmann-Wahrscheinlichkeit W = e kB T bei einer Temperatur T abschätzen. „Weichere“ Materialien wie Metalle weisen eine geringere Bindungsstärke auf. Jedoch sind die Energieniveaus einzelner Konformationen sehr ähnlich, so dass es sehr viele mögliche Übergänge gibt (Abb. 1.4b). In Summe ist die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte, sehr stabile Struktur zu erreichen, wieder sehr klein. Ähnlich sieht es beim Massentransport aus, dem Transport von Reaktionsteilnehmern (also in der Regel das 54 1.3 Simulationstechnik Adsorptiv) zum wachsenden Partikel (Adsorbens). Das Problem hierbei ist, dass die Bewegung von Teilchen in Lösung über ungerichtete, thermisch getriebene Diffusion stattfindet. Die Einzelwahrscheinlichkeit für die lokale Bewegung in die richtige Richtung ist relativ hoch, jedoch ist die entgegengesetzte Bewegung ähnlich wahrscheinlich. In Summe ergibt sich wieder durch die hohe Anzahl an möglichen Trajektorien eine geringe Gesamtwahrscheinlichkeit. 1.3.3.2 Kawska-Zahn-Methode Eine Möglichkeit die Problematik der langsamen Dynamik bzw. der hohen Aktivierungsbarrieren einzelner Vorgänge zu vereinfachen, ist die Kawska-Zahn-Methode [73, 74]. Die Grundidee ist es, den gesamten Prozess in Teilschritte zu zerlegen. Die drei elementaren Schritte sind: 1. Diffusion 2. Assoziation 3. Reaktion Die Diffusion und Assoziation bräuchten sehr viel Rechenzeit in einer einfachen MDSimulation. Sie tragen aber nur zum Wachstum bei, indem sie regelmäßig und räumlich zufällig neues Material antransportieren. Unter diesen Annahmen liegt es nahe, diese Schritte radikal zu vereinfachen. Im Detail wird dies durch einen einfachen Monte-CarloSimulationsschritt umgesetzt. Zunächst wird ein neues Atom/Molekül/Ion in der Nähe des bestehenden Aggregats zufällig generiert. Der Entstehungsort hängt dabei von der Geometrie der Simulation ab; bei Partikeln bietet sich ein Sphäre und bei Oberflächen eine parallele Fläche an. Um eine Adsorptionsstelle zu finden, schließt sich eine einfache Energieminimierung ohne Lösungsmittel oder andere Additive an. Dabei bewegt sich das neue Teilchen entlang der Gradienten (Gradientenverfahren) und findet das nächste lokale Minimum der potentiellen Energie. Wird kein Minimum gefunden und das Teilchen assoziert nicht, wird der Schritt abgelehnt. Die Atome des bestehenden Aggregats werden festgehalten um etwaige Verformungen durch einen künstlichen „Einschlag“ zu vermeiden. Beide Schritte zusammen simulieren dabei den zufälligen Übergang eines Teilchens durch die Solvatschale des Aggregats, bei welchem es auch nur das nächste lokale Minimum erreichen kann (alle anderen Stellen sind durch Lösungsmittelmoleküle blockiert). Nachdem das Teilchen assoziert ist, folgt die eigentliche MD-Simulation mit Lösungsmittel und Additiven. Hier hängt es stark von dem untersuchten System und speziellen 55 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Fragestellungen ab, wie das genaue Simulationsprotokoll aussieht. Details werden im jeweiligen Abschnitt besprochen. Es bleibt anzumerken, dass einer der Hauptvorteile der Kawska-Zahn-Methode die Modularität ist; neue Teilschritte können beliebig hinzugefügt werden. Der Nachteil ist der Verlust des Bezugs zwischen Simulations- und Echtzeit. Eine Zusammenfassung dieser Methodik ist in Abb. 1.5 dargestellt. Cluster Oberfläche Nächste Iteration 1. Diffusion (Monte-CarloModellierung) 2. Assoziation (Energieminimierung mit Gradientenverfahren) 3. Reaktion (Relaxation durch MD-Simulation) Abbildung 1.5: Schematische Darstellung der Kawska-Zahn-Methode. Gezeigt sind die drei wesentlichen Stufen, welche eine Kristallisation aus der Lösung simulieren sollen. Entscheidend ist die Vereinfachung der Diffusion und Assoziation durch eine implizite Simulation mittels eines Monte-Carlo-Schrittes. 56 1.3 Simulationstechnik 1.3.4 Analysemethoden 1.3.4.1 Nachbarschaftsanalyse Ziel der Nachbarschaftsanalyse ist es, Packungen von Objekten, in der Regel Atomen, zu untersuchen. Atompackungen werden als Kristallgitter beschrieben; als Anordnung von Atomen, welche sich unendlich periodisch wiederholt. In endlichen Systemen wie Partikeln und an Oberflächen ist keine unendliche Wiederholung gegeben und man kann streng genommen nicht von Kristallgittern sprechen. Dennoch können die lokalen Atompackungen denen in perfekten Kristallen entsprechen. Die Nachbarschaftsanalyse setzt den Fokus auf die Koordinationspolyeder von einzelnen Atomen (die Polyeder welche die direkten Nachbaratome bilden) und versucht, diese zu charakterisieren. Dies ist von besonderem Nutzen, wenn keine perfekten Kristalle vorliegen, sondern kristalline und amorphe Bereiche sowie Stapelfehler koexistieren. Common-Neighbour-Analysis Bei der Common-Neighbor-Analysis (CNA) [75, 76, 77] werden zunächst alle unmittelbaren Nachbarn eines Atoms anhand eines Abstandkriteriums bestimmt. Diese Koordinationszahl (CN) ist bereits eine nützliche Information, da sie die lokale Dichte der Packung beschreibt. Als nächstes werden jedem Nachbaratom 3 Kennzahlen (ijk) anhand seiner Bindung zu den anderen Nachbarn zugeordnet: (i) Anzahl der gemeinsamen Nachbarn mit dem Zentralatom (j) Anzahl der Bindungen zwischen dieser gemeinsamen Nachbarn (k) Maximale Anzahl der Bindungen eines gemeinsamen Nachbarn (a) (421) (b) (422) (c) (442) (d) (662) (e) (552) Abbildung 1.6: Graphische Darstellung der gemeinsamen Nachbarn und die resultierenden Kennzahlen. Das violette Atom ist das Zentralatom, dessen lokale Koordinationsumgebung analysiert wird. Gelb ist das untersuchte Nachbaratom und blau sind die mit dem Zentralatom gemeinsamen Nachbarn und deren Bindungen untereinander. Der Polyeder bei (a) stammt aus der fcc, (b) aus der hexagonal close packing (hcp), (c) und (d) aus der body-centered cubic (bcc) Packung und (e) aus einem icosahedral packing (ico)-Cluster. 57 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen (ijk) fcc hcp bcc ico dec (421) (422) (442) (662) (552) 12 - 6 6 - 6 8 - 12 10 2 Tabelle 1.1: Häufigkeit der Kennzahlen der direkten Nachbarn für verschiedene Packungsmotive. Clustertyp Ikosaeder Dekaeder Einfacher Zwilling Einkristall ico dec hcp fcc ja ja nein ja nein nein nein nein ja ja ja nein ja ja ja ja Tabelle 1.2: Vorkommen verschiedener lokaler Packungen in prominenten Typen von Silberclustern. In Abb. 1.6 sind die wichtigen, in dieser Arbeit verwendeten Kennzahlen in typischen Koordinationsumgebungen dargestellt. Die Häufigkeit verschiedener Nachbarschaftstypen (Tabelle 1.1) gibt direkte Auskunft über die lokalen Packungsmotive. Es ist anzumerken, dass lokale Packungen nur mit Vorsicht und unter Berücksichtigung von Abhängigkeiten zur Bestimmungen von globalen Strukturklassifizierungen genutzt werden können. Ein einfaches Beispiel aus dieser Arbeit sind die Silbercluster Ag146 und Ag147 , welche als (3,2,2)-Marksdekaeder bzw. als (4)-Mackayikosaeder vorliegen können. Analysiert man die lokale Packung, findet man beim Dekaeder nur 4 Atome mit decahedral packing (dec), 20 Atome mit fcc und 25 Atome mit hcp Motiven. Interpretiert handelt es sich also um einen fcc Kristall mit einer 5fach-Verzwillingung im Zentrum (Abb. 1.7). Im Gegensatz dazu hat der Ikosaeder lediglich ein lokales ico, jedoch 24 dec und 30 hcp Motive. Es existiert durch die zentrale Ikosaederpackung eine 12fach-Verzwillingung die jeweils dec Packungen hervorruft, welche wiederum hcp Packungen erzeugen. Zur globalen Analyse von Clustern muss folglich immer das Verhältnis und Vorkommen aller lokalen Packungen berücksichtigt werden (Tabelle 1.2). 58 1.3 Simulationstechnik (a) Mackay Ikosaeder Ag147 (b) Marks Dekaeder Ag146 (c) Oktaeder Ag146 Abbildung 1.7: Darstellung der lokalen Packungen in drei Silberclustertypen, einem Mackayikosaeder, Marksdekaeder bzw. einem Oktaeder. Grüne Atome weisen eine dec, rote eine ico, blaue eine fcc und orange eine hcp Symmetrie auf. Deutlich zu sehen ist, dass der Ikosaeder mehr lokale Dekaederpackungen aufweist als der Dekaeder selbst. Common-Neighborhood-Parameter Eine weitere Methode zur Analyse der lokalen Umgebung von Atomen ist der Common-Neighborhood-Parameter (CNP)[77]. Im Gegensatz zur CNA wird ein einziger, quantitativer Parameter Q definiert: nj nij 2 1 X X Qi = (rij + rjk ) ni j k (1.110) Der Index j geht über die nj nächsten Nachbarn des Zentralatoms i und k über die nij gemeinsamen nächsten Nachbarn. Dieser Parameter hat den Vorteil, dass auch unvollständige, stark verzerrte Koordinationsumgebungen beschrieben werden können (z.B. Atome in Oberflächen). Die Werte sind nicht dimensionslos und hängen auch von den Abständen und der Packungsdichte ab. Allgemein gilt, je kleiner Q ist, desto symmetrischer ist die Packung. Perfekt symmetrische Packungen wie fcc oder bcc haben den Wert Q = 0. Stärker asymmeterische Packungen (wie unvollständige Polyeder) haben sehr hohe Werte für Q. Zahlenwerte für Silberkristalle sind in Tabelle 1.3 zusammengefasst. 1.3.4.2 Accessible-Surface-Area Die Accessible-Surface-Area (ASA) ist eine Möglichkeit, die Oberfläche von einem beliebigen aus Atomen bestehenden Objekt zu quantifizieren [78, 79]. Es wird die Fläche 59 Kapitel 1 Theoretische Grundlagen Packung CNP / Å2 fcc bcc hcp dec ico 111-fcc 100-fcc 0 0 5,55 10,0 2,06 16,7 33,5 Tabelle 1.3: Werte für den CNP bei Atomen in verschiedenen Umgebungen in Silberkristallen. Da für ico und dec keine periodischen Packungen möglich sind, stammen diese Werte aus dem Ag147 Mackayikosaeder bzw. Ag146 Marksdekaeder. bestimmt, welche den kürzesten, möglichen Abstand zwischen einem (fiktiven) Lösungsmittelmolekül und den Atomen des Objekts bildet (Abb. 1.8). Der minimal zugelassene Abstand kann prinzipiell willkürlich bestimmt werden; oft wird sich allerdings an den van-der-Waals-Radien des Lösungsmittels bzw. der Atome orientiert. Technisch wird die ASA berechnet, indem man gleichmäßig Punkte im minimalen Abstand um die Atome erzeugt und testet, ob sich die Punkte in Reichweite eines weiteren Atomes befinden. Alle Punkte ohne weitere Atome in ihrer Nähe bilden die Oberfläche und der Flächeninhalt kann aus der vorgegebenen Punktdichte zurückgerechnet werden. Der für diese Arbeit verwendete Algorithmus zur Generierung der Punkte basiert auf der Methode von Vogel [80] und nutzt eine „Goldene Spirale“, um die Punkte gleichmäßig auf einer Kugeloberfläche zu erzeugen. van-der-Waals-Radius des Lösungsmittelmoleküls Accessible-Surface-Area van-der-Waals-Radius der Atome Abbildung 1.8: Schematische, zweidimensionale Darstellung der Accessible-Surface-Area. Die gestrichelte Linie gibt die kürzesten Abstände zwischen einem Lösungsmittelpartikel (grün) und den Atomen des Moleküls/Clusters an. 60 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 61 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 2.1 Einführung - Stand der Forschung 2.1.1 Anwendungsmöglichkeiten Silbernanopartikel zeigen wie alle nanostrukturierten Partikel eine Reihe von außergewöhnlichen Eigenschaften. Diese unterscheiden sich dabei zum Teil dramatisch von denen der Silberionen in Lösung und des Silberfestkörpers. In einer Vielzahl von Studien haben sich bisher zwei Anwendungsgebiete als besonders vielversprechend gezeigt: der Einsatz bei der so genannten surface enhanced raman spectroscopy (SERS) und in der Biomedizin. Die SERS ist eine Technik, bei welcher die Ramanstreuung von Molekülen durch Wechselwirkung mit den Oberflächenplasmonen von Metallen um ein Vielfaches verstärkt wird [81]. Hierbei gelingt es sogar, einzelne Moleküle spektroskopisch zu untersuchen [82]. Die Verstärkung ist winkel- und abstandsabhängig und findet vor allem an Ecken von Partikeln statt [83]. Damit sind neben einer möglichst großen Oberfläche auch besondere Formen für eine gezielte Anwendung besser geeignet. Der Einsatz von Silbernanopartikeln in der Biomedizin erfolgt hauptsächlich durch die antibakteriellen und antiviralen Eigenschaften. Es ist schon lange bekannt, dass Silberlösung bereits in niedrigen Konzentrationen auf Bakterien toxisch wirkt, den menschlichen Organismus aber kaum beeinträchtigt. Ein Problem bei der praktischen Anwendung ist dabei die kaum umsetzbare kontinuierliche Freisetzung von Silberionen. Zusätzlich führt ihre sehr hohe Reaktivität zu einer schnellen Inaktivierung [84]. Nanopartikel als stabile Kolloide haben das Potential, diese Limitierungen zu überwinden. Studien konnten zeigen, dass auch Silbernanopartikel auf eine Vielzahl von grampositiven und gramnegativen Bakterien bakterizid wirken [85]. Sogar bei HIV-1 konnte eine reproduktionshemmende Wirkung gezeigt werden [86]. Zur genauen Rolle der Nanoteilchen im Metabolismus der Zellen existieren bisher eine Reihe von Vermutungen [87, 88]. Eine Möglichkeit ist die direkte Interaktion der Partikel mit den Zellmembranen, was zu einer Störung des Stoffwechsels oder der vollständigen Zerstörung der Zelle führen könnte. Zudem ist es denkbar, dass kleine Nanoteilchen in die Zellen eindringen und sich mit schwefel- oder phosphorhaltigen Bestandteilen (z.B. in der DNA) verbinden und sie so blockieren. Eventuell ist auch die partielle Oxidierung der Silberoberfläche und die damit verbundene Freisetzung von Silberionen für die Wirkung verantwortlich. In jedem Fall gibt es eine nachweisliche Abhängigkeit der Wirkung sowohl von der Größe [85] als auch der Form [89] der Nanopartikel. Zusätzlich zu den antibakteriellen und antiviralen 62 2.1 Einführung - Stand der Forschung Eigenschaften fördert nanopartikuläres Silber auch die Wundheilung [90]. Dies hängt aber wahrscheinlich mit der antibakteriellen Wirkung zusammen. Ein nicht ganz so prominentes Anwendungsfeld ist die metal enhanced fluorescence. Ähnlich wie bei der SERS wird ein Effekt ausgenutzt, welcher in diesem Fall die Fluoreszenz von Molekülen an Silberoberflächen verstärkt [84, 91]. 2.1.2 Synthesen Alle vorgestellten Anwendungsgebiete profitieren von möglichst einheitlichen Silberpartikeln mit einem kontrollierbaren Habitus. Bei der Synthese von Silbernanopartikeln gibt es zwei prinzipielle Kategorien: zum einen die konventionellen, nasschemischen und zum anderen die unkonventionellen Verfahren [92]. Die konventionellen Methoden beginnen mit Silberionen in einer Lösung, welche zu Silber reduziert werden und dadurch kontrolliert auskristallisieren. „Unkonventionelle Methoden“ ist hingegen ein Sammelbegriff für alle alternativen Methoden. Darunter fallen Verdampfung und Rekristallisation von Metallen durch Laser, radioaktive Quellen und elektrische Felder, sowie Biosynthesen durch Bakterien. Am praktikabelsten und kostengünstigsten sind bisher noch die Reduktionen in Lösung. Als Standard für die Silberquelle hat sich AgNO3 etabliert, es löst sich in gut in polaren Lösungsmitteln und ist wenig oberflächenaktiv [93]. Um eine Agglomeration oder Ausfällung der entstehenden Partikel zu vermeiden, wird das Wachstum über einen stabilisierenden Liganden kontrolliert. Grundsätzlich sind für die konventionelle Synthese ein Lösungsmittel, ein Reduktionsmittel und ein Stabilisator notwendig (wobei häufig eine Substanz mehrere Funktionen erfüllen kann). Zum Einsatz als reduzierende Agenz kommen „klassische“ Vertreter, wie Zitronensäure, Borhydride (meistens NaBH4 ) bis hin zu organischen Reduktionsmitteln wie Fructose [92]. Ebenso kann die Reduktion durch radioaktive und UV-Strahlung erfolgen [84]. Der zur Zeit am meisten etablierte Syntheseweg ist das so genannten Polyolverfahren, bei welchem Polyalkohole zugleich als Lösungsmittel und Reduktionsmittel eingesetzt werden [94, 95, 96]. Der verbreitetste Alkohol ist Ethylenglykol (EG), welcher eine Reihe von Vorteilen auf sich vereint. Einerseits löst dieses Lösungsmittel die meisten Metallsalze und gleichzeitig organische Stabilisatoren. Zum anderen ist es ein stark temperaturabhängiges Reduktionsmittel. Dies und der hohe Siedepunkt (ca. 196 ◦C) führen zu einer ausgezeichneten Steuerbarkeit der Synthese [93]. 63 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Über die Art der Reduktion mit EG gibt es wenige Untersuchungen. Wahrscheinlich wird das EG bei niedrigen Temperaturen direkt oxidiert, wobei es sich um ein relativ schwaches Reduktionsmittel handelt. Bei höheren Temperaturen setzt sich ein Teil des EG mit Luftsauerstoff zu Glykolaldehyd (GA) um (Abb. 2.1) [97]. GA ist ein wesentlich stärkeres Reduktionsmittel und ist wahrscheinlich hauptsächlich für die Reduktion der Silberionen verantwortlich. HO OH 1 2 O2 -H2 O HO O Abbildung 2.1: Oxidation von Ethylenglykol zu Glykolaldehyd durch Luftsauerstoff Zur Stabilisierung kommen im Polyolverfahren meistens Polymere wie Polyvinylalkohol und Polyvinylpyrrolidon (PVP) zum Einsatz. Diese Polymere lassen sich auch in wässriger Lösung einsetzen, wo sie zusätzlich als Reduktionsmittel dienen [98]. Die breite Einsetzbarkeit und die Tatsache, dass der apparative Aufwand überschaubar ist, haben eine hohe Anzahl an experimentellen Untersuchungen zu Synthesen mit diesen Polymeren, besonders PVP, hervorgebracht. Untersucht wurden sowohl die Kontrolle von Größe und Form der Nanopartikel [93, 99, 100], als auch das Verständnis der Stabilisierung von Silber in der Lösung [101, 102]. Prinzipiell beschränken sich bisher die Möglichkeiten der Form- und Größenkontrolle im Wesentlichen auf kinetische Steuerung (über die Reaktionsbedingungen) oder den Einsatz von Templaten auf Oberflächen bzw. Nanoreaktoren (z.B. in Form von Mizellen) [92]. Im Falle des Polyolprozesses kann die Steuerung schon durch Veränderung des Verhältnisses Silberion/Polymer bewirkt werden [93]. So variiert das Spektrum der möglichen Formen von Sphären über Stäbe bis hin zu Würfeln je nach eingesetztem Verhältnis. Als Grund hierfür wird das unterschiedliche Bindungsverhalten des Polymers mit unterschiedlichen Oberflächenfacetten des Kristalls angesehen. Bei kristallinem Silber sind die {1 0 0}und {1 1 0}-Flächen instabiler und damit wahrscheinlich stärker an z.B. PVP gebunden. Wachstum erfolgt also hauptsächlich an den {1 1 1}-Flächen. Obwohl dieser Sachverhalt bekannt ist und die Art der Bindung experimentell untersucht wurde [101, 102], konnte das genaue Verhalten der Bindung und deren Einfluss vor allem bei der Nukleation bisher kaum nachvollzogen werden [99]. Es ist durchaus denkbar, dass weniger die Abschirmung der Silberoberfläche gegenüber neuen Ionen/Atomen ausschlaggebend ist, als vielmehr die Passivierung der Oberflächen in Bezug auf die katalytischen Wirkungen. Zum Beispiel wird die Oxidation von EG zu GA durch Silber katalysiert. Daher könnte 64 2.1 Einführung - Stand der Forschung die Verhinderung oder Verlangsamung dieser Oxidation das Wachstum ebenfalls stark beeinflussen [97]. Der letzte Aspekt von Synthesen ist das Immobilisieren von Silbernanopartikeln, um sie für medizinische oder analytische Zwecke nutzbar zu machen. Hierfür werden die Partikel funktionalisiert und an bestehende Oberflächen gebunden. Zum Beispiel kann die hohe Schwefelaffinität des Silbers ausgenutzt und negativ geladene Mercaptoactetate (HSCH2 COO– ) angelagert werden. Durch die Ladung sind diese Kolloide dann an positiv geladenen Polymeren (z.B. Polydiallydimetyhlammoniumchlorid) immobilisierbar [103, 104]. Auch die Einbettung in eine organische Matrix direkt durch die Synthese ist durchführbar. Als Beispiel hierfür kann eine Synthese mit Polysaccharose als Reduktionsmittel und Polymermatix genannt werden [105]. 2.1.3 Partikelstrukturen Die Struktur von kleinen Partikeln ist seit mehr als drei Jahrzehnten Gegenstand sowohl von Experimenten als auch theoretischen Berechnungen (das gesamte Forschungsgebiet wurde von Alonso in einer umfangreichen Monographie behandelt [106]). Für Silber wurden vor allem Cluster in der Gasphase studiert, um die Größenabhängigkeit von Energien und Strukturen zu verstehen. Der in der Literatur häufig verwendete Begriff Cluster für sehr kleine Ansammlungen von Atomen ist nicht eindeutig definiert. Oft grenzt man Cluster von Molekülen über die Assoziationsenergie eines neuen Atoms ∆En = E(Agn ) − E(Agn−1 ) − E(Ag) ab. Unterscheidet sich diese Energiedifferenz zwischen zwei Assoziationen kaum (∆En ≈ ∆En+1 ), spricht man von einem Cluster, ansonsten von Molekülen. Allerdings ist diese Definition bei sehr kleinen Clustern oft ungenügend, was aber mehrheitlich ignoriert wird. In dieser Arbeit werden die Begriffe Cluster und Partikel synonym verwendet. Es gibt zwei größenabhängige Einflüße auf die Struktur und die Stabilität von Clustern. Als erster Faktor spielt die Elektronenkonfiguration eine wesentliche Rolle, insbesondere bei der Stabilität. Ähnlich wie Atome bilden Cluster ein sphärisches Potential in welchem die Valenzelektronen bestimmte Konfigurationen annehmen können. In Analogie zum Schalenmodell der Atome spricht man ebenfalls von Elektronschalen. Dieser Effekt wurde erstmals in Alkalimetallclustern entdeckt [107]. Gefüllte Schalen mit n = 2, 8, 18, 20, 34, 40 . . . Elektronen ergeben wie bei Atomen besonders stabile Konfigurationen. Diese „magischen“ Zahlen variieren etwas, je nach zugrunde gelegtem Modellpotential für den Cluster [108]. Die Elektronenkonfiguration kann auch die An- 65 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln ordnung in Clustern beeinflussen und zu niedrigsymmetrischen Strukturen führen, bei welchen eine bessere Orbitalüberlappung erreicht wird. Experimentell lassen sich diese Effekte auch bei sehr kleinen Silberclustern (Atomzahl kleiner 40) durch Photoelektronenspektroskopie nachweisen [109, 110, 111]. Korrespondierende theoretische Berechnungen [112, 113] bestätigen diese Beobachtungen. Größere Cluster werden allerdings kaum noch von Schaleneffekten beeinflusst und Cluster mit mehr als 60 Atomen sind in ihren optischen Spektren schon sehr nah am Festkörper [113]. Der zweite größenabhängige Faktor ist das Oberflächen-Volumen-Verhältnis. In der Regel ist die Grenzfläche von Clustern zur Umgebung ein energetisch ungünstigerer Ort für Atome als innerhalb eines Festkörpers. Dies hat zur Folge, dass Partikel allgemein zur Minimierung der Oberfläche neigen. Allerdings spielt die Packung der Atome in einem Cluster und die Art der exponierten Oberflächen ebenfalls eine große Rolle. Silber liegt als Festkörper in der fcc-Kristallpackung vor (Abb. 2.2). Die wichtigsten Oberflächen dieses Kristalltypes sind die {1 0 0} und die {1 1 1}-Oberflächen (Abb. 2.3), wobei die (1 1 1)-Oberfläche die dichteste und stabilste ist. Die Struktur wird also davon bestimmt, eine kleine Gesamtoberfläche mit hohem {1 1 1}-Anteil zu erhalten. Dieses Verhalten führt zu einer Reihe von möglichen und auch real beobachteten Clustertypen, welche im Folgenden genauer beschrieben werden sollen. Abbildung 2.2: Einheitszelle eines Silberkristalls mit fcc Packung. Die Kantenlänge beträgt 4,086 Å [114]. (a) (1 1 1) (b) (1 0 0) Abbildung 2.3: Oberflächenpackungen des Silberkristalls. 66 2.1 Einführung - Stand der Forschung 2.1.3.1 Clustertypen Allgemein kann die Bindungsenergie Eb eines homoatomaren Clusters mit N Atomen aus dem chemischen Potential µ pro Atom, der Oberflächenspannung γ, der Kantenpannung ς und der Eckenspannung ζ zusammengesetzt werden. Eb = µV + γA + ςk + ζh (2.1) mit V ∼N A ∼ N 2/3 k ∼ N 1/3 h = const. (2.2) Die korrespondierenden extensiven Größen sind das Volumen V , die Oberfläche A, die Kantenlänge k und die Eckenzahl h. Es ist direkt ersichtlich, dass mit zunehmender Anzahl der Volumenterm immer bedeutender und schießlich im Grenzfall des makroskopischen Festkörpers der einzige Energiebeitrag wird. Die Anzahl der Ecken und Kanten spielt nur für sehr kleine Cluster eine erhebliche Rolle, während die Oberfläche auch für Cluster mit mehreren tausend Atomen noch Signifikanz hat. Im realen Cluster teilen sich die Terme noch für verschiedene Arten von Oberflächen, Kanten, Ecken und in manchen Fällen Volumina (Kristalldomänen) auf. Für Silber kann der Oberflächenanteil zum Beispiel in {1 0 0} und {1 1 1} aufgeteilt werden γA = γ100 A100 + γ111 A111 . Praktisch resultiert eine komplexe Gleichung, deren einzelne Koeffizienten oft unbekannt sind. Jedoch sind eine Reihe von Typen von Clustern bekannt, welche sich mit dem Wettbewerb der einzelnen Energiebeiträge erklären lassen. Oktaederstumpf Schneidet man einen fcc Kristall so, dass nur stabile {1 1 1}-Oberflächen entstehen, erhält man einen Oktaeder (OKT) (Abb. 2.4a). Die Volumenenergie µV entspricht nahezu der des Festkörpers. Allerdings besitzt der OKT eine sehr große Oberfläche (die größte der hier vorgestellten, relevanten Clustertypen) und hat trotz niedriger Oberflächenspannung eine insgesamt ungünstige Oberflächenenergie. Eine Verbesserung des Oberflächen-Volumen-Verhältnisses bietet das Abschneiden der Ecken, um einen Oktaederstumpf zu erhalten. Die {1 0 0}-Schnittflächen erhöhen zwar die Oberflächenspannung, senken jedoch die Gesamtoberfläche beträchtlich. Üblicherweise werden oktaedrische Cluster mit zwei Kennzahlen (noct , moct ) charakterisiert. Die Kantenlänge des Grundoktaeders noct wird dabei um moct Lagen abgeschnitten (Abb. 2.4). Von einem 67 moct Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln ct no (7,0) N = 231 (a) Oktaeder (7,2) N = 201 (b) Wulff-Oktaeder (7,3) N = 147 (c) Kuboktaeder Abbildung 2.4: Schematische Darstellung und Beispiele für verschiedene oktaedrische Cluster. Zusätzlich zu den Kennzahlen (noct , moct ) ist die jeweilige Anzahl der Atome N angegeben. Oktaederstumpf kann man dabei nur sprechen, solange noct ≥ 2moct gilt. Für einen reinen OKT gilt moct = 0. Die Gesamtzahl der Atome errechnet sich als: 1 Noct (noct , moct ) = (2n3oct + noct ) − 2m3oct − 3m2oct − moct 3 (2.3) Eine Sonderstellung nehmen Cluster mit noct = 2moct + 1 ein; man nennt sie Kuboktaeder (KOKT). Bei diesen bilden alle {1 1 1}-Flächen Dreiecke und alle {1 0 0}-Flächen Vierecke (Abb. 2.4c). Um das energetisch optimale Schnittverhältnis zu bestimmen, kann man die sogenannte Wulffkonstruktion einsetzen [115, 116]. d111 γ111 = γ100 d100 (2.4) Der Abstand d gibt die kleinste Distanz von der Fläche zum Kristallmittelpunkt an. Valkealahti [117] gibt für solche Wulffoktaeder (WOKT) bei Kupferclustern Atomzahlen von 38,201,586,1289. . . an, was der Beziehung noct = 3moct + 1 entspricht (Abb. 2.4b). 68 2.1 Einführung - Stand der Forschung (4) N = 147 Abbildung 2.5: Schematische Darstellung und Beispiel für einen ikosaedrische Cluster. Die Anzahl der Schalen (nico ) und die Anzahl der Atome N ist angegeben. Mackayikosaeder Cluster mit nahezu sphärischem Habitus findet man bei den sogenannten Mackayikosaedern (ICO). Sie wurden bereits vor 50 Jahren von Mackay erstmals beschrieben [118]. Der Ikosaeder enthält fünfzählige Drehachsen, welche in gewöhnlichen Kristallen nicht vorkommen. Daher handelt es sich um nichtkristalline Strukturen. Kristallographisch entspricht die fünffache Symmetrie zudem einer mehrfachen Verzwillingung und in experimentellen Arbeiten wird oft von multi-twinned Partikeln gesprochen. Die Oberfläche besteht ausschließlich aus {1 1 1}-Flächen und die Oberflächenenergie ist die kleinste aller relevanten Clustertypen. Die Kehrseite ist eine Erhöhung der Volumenenergie durch die aus den Verzwillingungen resultierende innere Spannung. Zur Charakterisierung muss lediglich die Anzahl der Schalen (nico ) angegeben werden (welche zugleich der Kantenlänge entspricht). Die Gesamtzahl der Atome ergibt sich als: Nico (nico ) = 10 3 11 nico − 5n2ico + nico − 1 3 3 (2.5) Marksdekaeder Reduziert man die Verzwillingung des IKO zu einer einzigen fünfzähligen Drehachse, erhält man einen Dekaeder (Abb. 2.7a). Dekaeder weisen wie IKO nur {1 1 1}-Oberflächen auf, wobei jedoch die Oberfläche erheblich größer ist. Ähnlich den Oktaedern kann das Oberflächen-Volumen-Verhältnis verbessert werden, in dem man die äußere Kante abschneidet. Cluster dieses Types wurden von Ino 1966 beschrieben [119, 120] und man nennt sie entsprechend Inodekaeder (IDEK) (Abb. 2.7b). In den 1980iger Jahren fand Marks eine noch bessere Möglichkeit Dekaeder zu stabilisieren, indem die seitlichen {1 0 0}-Flächen der Inodekaeder noch zusätzlich eingekerbt werden [121] (Abb. 2.7c). So verringert sich die ungünstige {1 0 0}-Fläche und zusätzliche {1 1 1}Flächen entstehen. Dieser Clustertyp wird als Marksdekaeder (MDEK) bezeichnet und ist der prominenteste dekaedrische Cluster. 69 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln pdec = 3 mdec = 2 ndec = 3 Abbildung 2.6: Darstellung der Kennzahlen (ndec , mdec , pdec ) für einen (3, 2, 3) Marksdekaeder. (6,1,1) N = 181 (a) Dekaeder (5,2,1) N = 156 (b) Ino-Dekaeder (3,2,2) N = 146 (c) Marks-Dekaeder Abbildung 2.7: Schematische Darstellung und Beispiele für verschiedene dekaedrische Cluster. Zusätzlich zu den Kennzahlen (ndec , mdec , pdec ) ist die jeweilige Anzahl der Atome N angegeben. Die Definition von Dekaederclustern erfolgt etwas anders als bei Oktaedern. Drei Kennzahlen (ndec , mdec , pdec ) werden benötigt: ndec gibt die Kantenlänge der {1 0 0}Seitenflächen an, mdec die Höhe der {1 0 0}-Seitenflächen entlang der fünfzähligen Drehachse und pdec die Tiefe der Einkerbung der Seitenflächen (Abschnitt 2.1.3.1). Demzufolge gilt die Bedingung ndec , mdec , pdec ≥ 1 und für reine Dekaeder mdec = pdec = 1 bzw. für Inodekaeder pdec = 1. Die Anzahl der Atome erhält man als: Ndec (ndec , mdec , pdec ) = 70 ndec 2 5ndec + (30pdec − 45)ndec + 60(p2dec − 3pdec ) + 136 + 6 mdec 15n2dec + (60pdec − 75)ndec + 30p2dec − 90pdec + 66 + 6 1 3 30pdec − 135p2dec + 207pdec − 102 − 1 (2.6) 6 2.1 Einführung - Stand der Forschung 2.1.3.2 Alternative Strukturen Neben den Typen für kleine, bevorzugt sphärische Cluster gibt es eine ganze Reihe von Strukturen und Habita welche erst für größere Nanopartikel unter dem Einfluss von Lösungsmitteln und oberflächenaktiver Additive auftreten. Dazu gehören sowohl andere regelmäßige Polyeder wie Tetraeder und Würfel als auch stark asphärische Strukturen wie Stäbchen und Plättchen (Abb. 2.8). Regelmäßige Polyeder Stäbchen Plättchen Abbildung 2.8: Beispiele für alternative Partikelstrukturen. 71 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 2.1.4 Wachstumskontrolle Es gibt prinzipiell zwei Ansätze, das Auftreten von verschiedenen Partikeltypen im Experiment zu erklären: die thermodynamische oder die kinetische Kontrolle des Wachstums. Von einer thermodynamischen Kontrolle spricht man, wenn Barrieren zwischen den Energieminima sehr klein sind und Partikel sich immer im thermodynamischen Gleichgewichtszustand befinden. Zur Vorhersage und Erklärung wird dabei die klassische Nukleationstheorie bemüht, welche im wesentlichen auf der Gleichung (2.1) beruht [122] (zudem meist nur auf dem Volumen- und Oberflächenterm). Berechnungen für Silberpartikel in der Gasphase zeigen, dass kleine Cluster bis etwa 300 Atome (Durchmesser d ≈ 2 nm) als Mackayikosaeder am stabilsten sind [123]. Größere Cluster bis etwa 20 000 Atome (d ≈ 10 nm) sind als Marksdekaeder am stabilsten und bei noch größeren Partikeln dominieren Wulffoktaeder. Diese Ergebnisse konnten nur teilweise in Gasphasenexperimenten reproduziert werden [124]. Größere Cluster zeigten eine weitaus höhere Häufigkeit von Ikosaedern als vorhergesagt. In Lösung lassen sich die Stabilitäten von Clustern und Nanopartikeln experimentell generell nur schwer analysieren. In den meisten Synthesen erhält man eine Verteilung von verschiedenen Typen. Diese können durch die Synthesebedingungen zwar variiert werden, was oft aber ungenügend verstanden wird. Ein häufige Argumentation basiert auf der Annahme der Stabilisierung einzelner Oberflächen und entsprechender Häufung korrespondierender Clustertypen [125]. Der zweite Aspekt, die kinetische Kontrolle, ist quantitativ noch schwerer zu erfassen. Wenn der Übergang zwischen verschiedenen Partikelstrukturen langsamer als die Aggregation von neuem Material ist, wird die Struktur mehr von den Wachstumsgeschwindigkeiten und der Existenz metastabiler Zustände bestimmt. Dieses Vorkommen von eigentlich ungünstigen Strukturen kann mit der Stufenregel nach Ostwald verstanden werden [126]. Die Regel besagt, dass ein Partikel seine Struktur während der Kristallisation nicht direkt in den stabilsten Zustand ändert, sondern zunächst metastabile Stufen mit hoher struktureller Ähnlichkeit und niedrigen kinetischen Barrieren annimmt. Die Notwendigkeit dieses Verhaltens wird deutlich, wenn man die „magischen“ Größen der perfekten Clustertypen berücksichtigt (Tabelle 2.1). Diese „magischen“ Größen repräsentieren nichts anderes als abgeschlossene Atomschalen bei Clustern. Während des Wachstums müssen allerdings auch Atomzahlen zwischen den Clustern eingenommen werden und Strukturen zugänglich werden, welche die reine Extrapolation der Stabilitäten der „magischen“ Zahlen nicht vorhersagt. Dieses Phänomen wurde in einer vorangegangenen Arbeit am Beispiel von Kupferclustern intensiv studiert [74, 127]. So können 72 2.1 Einführung - Stand der Forschung Typ Oktaeder Kuboktaeder Wulffoktaeder Mackayikosaeder Inodekaeder Marksdekaeder Größen 6,19,44,85,146,231,344,489,670,891. . . 13,55,147,309,561,923. . . 38,201,586,1289. . . 13,55,147,309,561,923. . . 13,39,55,116,147,258,309,485,561,817,923. . . 75,146,192,434,645,766. . . Tabelle 2.1: “Magische” Atomzahlen für verschiedene Clustertypen. nicht perfekt dekaedrische und selbst nahezu einkristalline Cluster bereits bei weniger als 200 Atomen entstehen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Baletto und Ferrando für Silbercluster [128]. Solche intermediären Cluster, kombiniert mit der Vorstellung von selektiver Stabilisierung von Oberflächen, liefern einen Erklärungsansatz für die Formenvielfalt bei größeren Nanopartikeln (Abb. 2.9) [93, 99, 125]. Es soll nicht verschwiegen werden, dass experimentelle Arbeiten von Polte et al.[129, 130] den Ursprung der Formenkontrolle bei der Steuerung der Koaleszenz (das Verschmelzen von kleineren Partikeln) durch Polymere und ähnlichen Stabilisatoren sehen. Die Bildung von kleinen, intermediären Clustern wird dabei als nachrangig wichtig für die Größe und Form makroskopischer Partikel angesehen. Die Hauptbedingungen, unter denen dieses durch Koaleszenz gesteuerte Wachstum auftrat, ist ein sehr starkes Reduktionsmittel BH–4 , welches bereits nach Millisekunden alle Silberionen reduzierte [130]. Eine weitere Methode, die Struktur und Form von großen Partikeln zu beeinflussen, ist das oxidative Ätzen [99, 125, 131]. Es wurde beobachtet, dass unter Zugabe von Sauerstoff und Halogenidionen verstärkt unverzwillingte Partikel entstehen. Als Erklärung für dieses Phänomen wird eine Reoxidierung von neutralem Silber zu gelösten Silberionen postuliert O /Cl– Ag(0) −−2−−→ Ag+ . Die hohe innere Spannung von verzwillingten Partikeln wie MDEK und IKO soll dabei deren Auflösung und daher das selektive Wachsen von unverzwillingten Clustern begünstigen. 73 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Ag+ in Lösung Intermediäre Cluster 1. Große Nanopartikel 3. 2. Wachstumsschritte: 3. 1. Nukleation und Reduktion 2. Clusterwachstum 3. Selektive Stabilisierung 2. 3. Abbildung 2.9: Schematische Vorstellung der Stufen des selektiven Wachstums von Nanopartikeln und entsprechender Kontrolle der Habita. Zunächst werden die Silberionen reduziert und kleine Cluster bzw. Präkursor gebildet. Diese wachsen und können dabei größen- und kinetikabhängig verschiedene Strukturen annehmen. Durch Beigabe von selektiven Stabilisatoren wachsen bestimmte Oberflächen schneller und entsprechende Strukturen entstehen. Für experimentelle Belege siehe Xia et al. [93, 99, 125]. 74 2.2 Modellentwicklung 2.2 Modellentwicklung 2.2.1 Modellsynthese Das gesetzte Ziel der Arbeit ist die Untersuchung des Wachstums von Nanopartikeln. Zudem sollten die möglichen Einflüsse auf das Wachstum studiert werden. Im vorangegangenen Kapitel wurde die riesige Auswahl an Experimenten und möglichen Szenarien hervorgehoben. Es wäre wünschenswert, Simulationen nah am Experiment zu gestalten, d.h. unter Berücksichtigung aller Edukte, Additive und selbst Verunreinigungen. Abgesehen vom beträchtlichen Rechenaufwand steht aber am Ende dieselbe Problematik, welche die Auswertung von Experimenten so schwierig macht: die Systematik hinter den vielen Faktoren aufzutrennen. Daher wurde nach reiflichem Studium der Literatur beschlossen, ein Modell zu entwickeln, welches zunächst möglichst unabhängig von Additiven, grundlegende Fragen des Wachstums in Lösung beantworten soll. Viele der Kernfragen haben sich erst während der Entwicklung ergeben und die Entscheidungen und konkreten Fragestellungen werden im Folgenden erläutert. Im Wesentlichen soll, ausgehend von den bekannten Simulationen in der Gasphase, eine Wachstumssimulation mit Lösungsmittel und Stabilisator durchgeführt werden. Als geeignetes Lösungsmittel wurde Ethylenglykol identifiziert (Abb. 2.10), welches in Synthesen sehr weit verbreitet ist und gleichzeitig Lösemittel, oberflächenaktives Molekül und Reduktionsmittel ist. Damit lässt sich die Anzahl der verschiedenen Komponenten klein halten. Abbildung 2.10: Lösungsmittel Ethylenglykol (CH2 OH)2 M = 62,07 g/mol, ρ = 1113 kg/m3 . Bei der Frage nach zusätzlichen Stabilisatoren zeigte sich schnell, dass gängige Kandidaten wie Polyvinylpyrrolidon mit einem Massenmittel von c.a. 40 000 Da (360 Monomereinheiten) [99] viel zu groß sind, sowohl für eine direkte Simulation als auch für einen sinnvollen abschirmenden Einfluss auf sehr kleine Nanopartikel (d < 2 nm). Zu Beginn der Doktorarbeit wurden Testsimulationen durchgeführt, welche gezeigt haben, dass selbst die Ausmaße von Oligomeren (z.B. 5 Monomere) schon in der Größenordnung 75 1,1 nm Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Abbildung 2.11: Vergleich zwischen der Größe eines PVP Oligomers mit 5 Monomeren und einem Ag55 Mackayikosaeder. Zusätzlich wurde eine (1 1 1)-Facette des Clusters hervorgehoben, um die Verhältnisse zwischen Stabilsator und Oberfläche für solche kleinen Partikel hervorzuheben. von kleinen Clustern liegen. Die exponierten Facetten der Cluster sind dabei viel kleiner als die Oligomere, so dass eine selektive, vom Oberflächentyp abhängige Stabilisierung jenseits der kompletten sterischen Abschirmung nicht zu erwarten ist (Abb. 2.11). Es müsste daher auf Monomere oder Dimere zurückgegriffen werden, wobei sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Näherung stellt. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass Polymere eher größere Partikel stabilisieren und so deren Koaleszenz verhindern. Letztendlich fiel die Entscheidung gegen die Verwendung von Polymeren, da sie auf die in dieser Arbeit untersuchten frühen Stadien der Keimbildung kaum Einfluss haben sollten. Die letzte wichtige Komponente ist das Ausgangsmaterial. Natürlich verbunden mit der Frage, in welcher Form es beim Wachstum vorliegt. In der Polyolsynthese wird hauptsächlich Silbernitrat als Silberquelle verwendet, welches prinzipiell direkt in einer Simulation verwendet werden kann. Allerdings stellt sich die Frage, wie die Silberionen zu elementaren Silber reduziert werden. In der Literatur gibt es erstaunlich wenige Untersuchungen zu den genauen Reaktionsmechanismen der Reduktion. Einzig die Oxidation von Ethylenglykol zu Glykolaldehyd wurde näher untersucht [97] (siehe Abschnitt 2.1.2). Ein vorgeschlagenes Szenario ist die vollständige Reduktion von Silberionen und mit einer anschließenden Agglomeration zu Silberpartikeln. Polte et al. postulieren sogar, dass alle Ionen unmittelbar reduziert werden [130]. Gegen diese Theorie spricht die mittels SERS nachgewiesene Existenz von Ag+ Oberflächenstellen [132]. Die geladene Oberfläche kann natürlich durch Reoxidierung enstehen, aber in Gegenwart eines Reduktionsmittels, fähig die gesamte Lösung sofort zu reduzieren, ist dies eher unwahrscheinlich. Redoxreaktion Der für diese Arbeit entwickelte Lösungsansatz zu Modellierung der Reduktion wird im Folgenden beschrieben. Ohne die Kenntnis der exakten Redoxreaktion 76 2.2 Modellentwicklung kann eine abstrakte Hilfsreaktion mit einem unbekannten Reduktionsmittel Red und seinem korrespondierendem oxidierten Zustand Ox aufgestellt werden. Red + Ox Agm+ n ↓ n Ag (2.7) Die Zahl m gibt dabei an, wie viele der n aggregierten Silberionen unreduziert bleiben (m Ag+ + (n − m) Ag(0) ). Um die Anzahl der tatsächlich reduzierten Silberionen abzuschätzen, wird die Gleichung (2.7) in Teilschritte zerlegt: Assoziation Reduktion (m+1)+ −−→ Agn+1 Ag+ + Agm+ n (m+1)+ Agn+1 (2.8) + Red −−→ Agm+ n+1 + Ox (2.9) Ob und wie oft ein Reduktionsschritt stattfindet, wird mit der freien Enthalpiedifferenz bestimmt. (m+1)+ (2.10) ∆G = G(Agn+1 ) − G(Agm+ n+1 ) + G(Red) − G(Ox) | {z ∆GRe } | {z ∆GOx } Die freie Enthalphiedifferenz der Reduktion ∆GRe kann aus MD-Simulationen bestimmt werden (siehe Abschnitt 1.3.2). Für die unbekannte Oxidation ∆GOx wird ein mittleres, thermodynamisches Potential φ = ∆GOx der Umgebung angenommen. Ein Reduktion findet daher statt, solange gilt: Reduktionsbedingung: ∆GRe < − φ (2.11) Dieses φ gibt dabei die reduktive Stärke der Lösung an, unter der Annahme eines thermodynamischen Gleichgewichts. Kinetische Nichtgleichgewichtsaspekte wie Mechanismen, Barrieren und lokale, metastabile Zustände werden dabei vernachlässigt und eine atomare Auflösung der Reduktion ist nicht mehr nötig. Solange nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Potential stark von der lokalen Struktur eines Partikels abhängt (z.B. nur bestimmte Oberflächenstellen für eine Reduktion geeignet sind), sollte der Ansatz eine gute Näherung für eine beliebige Reduktionsreaktion sein. Zusammenfassend ist die Modellsynthese für die folgenden Simulationen das schrittweise Assoziieren von einzelnen Silberatomen oder -ionen zu einem Cluster bzw. Nanopartikel in Ethylenglykol. Die Reduktion wird abstrakt über ein mittleres Reduktionspotential φ der chemischen Umgebung abgebildet. 77 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 2.2.2 Kraftfelder Für die Simulationen müssen drei Arten von Wechselwirkungen beschrieben werden: das organische Lösungsmittel, die Metallbindung und die Grenzfläche zwischen diesen. Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet die Berechnung der langreichweitigen Coulombwechselwirkungen. Ethylenglykol Der technisch einfachste Fall ist das Lösungsmittel. Glücklicherweise sind organische Lösungsmittel bereits seit mehreren Jahrzehnten im Fokus der Entwickung von Kraftfeldern. Im Fall dieser Arbeit wurde auf das OPLS-AA Kraftfeld [4, 5] zurückgegriffen (siehe Abschnitt 1.1.1). Es reproduziert sowohl die Dichte, Paarverteilung und molekulare Dipole in Lösung akkurat. Etwaige Abweichungen in Zuständen niedriger Dichte und fehlende Reaktivität sollten für diese Arbeit keine Rolle spielen. Silber Die Metallbindung des Silbers kann über die embedded atom method beschrieben werden (siehe Abschnitt 1.1.2.1). Parameter dazu stammen von Williams et al.[11]. Die EAM berücksichtigt weder die Polarisation durch die Lösung noch kann sie die partiellen ionischen Anteile bei geladenen Clustern beschreiben. Für diesen Zweck wurde die EAM um ein fluktuierendes Ladungsmodell QEq erweitert (siehe Abschnitt 1.1.2.2). Die Parameter stammen aus der Arbeit von Zhang und Fournier [33]. Ähnliche Ansätze wurden bereits für Metall/Metalloxid Systeme verwendet [133, 134]. Zusätzlich hat Zerbetto et al. gezeigt, dass die EAM zusammen mit der klassischen QEq gute Ergebnisse bei der Adsorption von organischen Molekülen auf Metalloberflächen erzielt [135, 136]. Die organischen Moleküle in dieser Arbeit werden nicht durch die QEq beschrieben, sondern erhalten feste Punktladungen. In diesem Sinne bilden Punktladungen der Moleküle ein (statisches) elektrisches Feld, welches auf den Silbercluster wirkt. Diese Näherung ist aus einigen Gründen sinnvoll. Zunächst steigt der Rechenaufwand mit mehr QEqAtomen beträchtlich. Des Weiteren reagieren QEq-Systeme sehr empfindlich auf ungenaue Parameter. Da kein vollständiger Parametersatz existiert, müssten verschiedene Sätze aus der Literatur mit beträchtlichem Aufwand kombiniert werden. Im Falle der Silberpartikel steht hier aber der erwartete Nutzen nicht im Verhältnis zum Aufwand, da das OPLS-AA Kraftfeld bereits gute Ergebnisse liefert. Die QEq wurde in LAMMPS implementiert und Tests dazu werden im Ergebnisteil besprochen (Abschnitt 2.4.3.2). 78 2.2 Modellentwicklung Ethylenglykol-Silber Der dritte Teil des Kraftfeldes ist die Wechselwirkung zwischen Ethylenglykol und Silber. Heinz et al. haben eine umfangreiche Arbeit zur Bestimmung von einfachen LJ-Parametern für Silber angefertigt, welche auch mit gängigen Kraftfelder wie OPLS-AA kombinierbar sind [137]. Die mittlere Adsorptionsenergie von organischen Lösungen und die verschiedenen Oberflächenspannungen werden sehr gut reproduziert. Da diese Stabilisierungen wichtig für das Wachstum sein könnten, fiel die Wahl auf dieses Kraftfeld. Andere Vertreter wie die Kraftfelder von Zerbetto et al. [135] wurden nicht getestet, da sie nach Aussage der Autoren nicht transferierbar sind. Es muss darauf hingewiesen werden, dass der verwendete Kraftfeldansatz im statistischen Mittel gute Ergebnisse liefert, für einzelne Konfigurationen aber durchaus große Abweichungen aufweisen kann. Dies hängt mit dem teilweise hohem kovalenten Charakter der OrganoMetall-Bindungen zusammen, welcher nur teilweise nichtbindend abgebildet werden kann. Andere Arbeiten verwenden bindende Kraftfelder mit expliziten Bindungstermen [138]. In diesem Falle ginge jedoch jede Flexibilität für die Zusammensetzung und Beweglichkeit des Systems verloren. Coulombwechselwirkung Das letzte Problem der Kraftfelder sind die langreichweitigen Wechselwirkungen. Wie bereits im Abschnitt 1.1.3 dargestellt, bestehen einige Schwierigkeiten bei der Beschreibung von geladenen, periodischen Systemen. Für die Lösung um geladene Silbercluster könnten theoretisch Gegenionen (Nitrat) eingesetzt werden. Jedoch ist, durch die Natur des Wachstumsalgorithmus in Kombination mit der abstrahierten Reduktion, die exakte Gesamtladung der Cluster nie im Voraus bekannt. Es müssten zur Ladungsneutralisation ständig Moleküle hinzugefügt und entfernt werden. Dies ließe sich höchstens mit einer großkanonischen Simulation durchführen, welche allerdings technisch extrem schwierig realisierbar ist. Zudem müsste die Simulationzelle sehr groß sein, da ansonsten extreme Konzentrationen erreicht werden könnten. Um all diese Probleme zu vermeiden, wurde auf das damped shifted force Coulombpotential zurückgegriffen. Im Falle von geladenen Zellen neutralisiert der shift des Coulombpotentials die Wechselwirkung genau am Abschneideradius. In der Lösung entspricht dies impliziten, gemittelten Gegenionen, welche exakt die Gegenladung zu dem simulierten System besitzen. Dieser Ansatz wurde ebenfalls für die QEq angewandt, wobei es hier keine Referenzliteratur gibt. Im Gegensatz zur normalen MD-Simulation ist die Bewegung der Ladungen nicht nur abhängig von der Änderung der Energie mit dem Abstand. Daher muss die Kombination der QEq mit dem DSF-Coul zuerst getestet werden. 79 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 8 −4,7 7 Relativer Fehler / % ∆EDipol eV −4,8 −4,9 −5 −5,1 −5,2 Ewald ǫ = 1 × 10 eV DSF-Coul α = 1,65 rc −6 10 12 14 16 rc / Å 18 20 6 5 4 3 2 1 0 10 12 14 16 rc / Å 18 20 Abbildung 2.12: Energie zum Erzeugen eines Dipols ±1 e in einem Ag13 Silbercluster mit 689 EG Molekülen als Lösung. Der zweite Graph zeigt den relativen Fehler zwischen der Ewaldsumme und dem DSF-Coul. Die Gleichung für α wurde aus dem Quelltext von LAMMPS entnommen und empirisch angepasst. Um zunächst die Güte der DSF-Coul-Energie im Vergleich zur Ewaldsumme als Referenz darzustellen, wurde eine Simulationszelle (Abb. 2.14, Details Abschnitt 2.2.3) genommen und künstlich ein Dipol erzeugt. Die Konfiguration des Lösungsmittels und des Silbers ist nahezu belanglos, da nur die Differenz zwischen dem System mit und ohne künstlichen Dipol betrachtet wird. Einzig die Größe und Ladungsverteilung sollte repräsentativ für spätere Simulationen sein. Für den Dipol wurden zwei Silberatome mit jeweils +1 und −1 e geladen. Sowohl das Ewaldpotential als auch das DSF-Coul benötigen verschiedene Parameter: den Abschneideradius rc , den Dämpfungsfaktor α und im Fall der Ewaldsumme den reziproken Grenzvektor tc (siehe Abschnitt 1.1.3). Gewöhnlich werden die Parameter über einen Wert ǫ (entspricht in etwa einer Genauigkeit) mittels empirischer Gleichungen abgeschätzt (Details zu dieser Berechnung finden sich im LAMMPS-Quelltext). In Abb. 2.12 ist die Dipolenergie und der relative Fehler von DSF-Coul im Vergleich zur Ewaldsumme in Abhängigkeit vom Abschneideradius rc gezeigt. Man erkennt eine langsame Konvergenz des DSF-Coul gegen die Ewaldsumme. Der relative Fehler beträgt allerdings bei 15 Å bereits nur noch knapp 2%. Das DSF-Coul scheint somit geeignet zu sein, die Ladungsänderung in einem System zu berechnen. Der zweite Test für DSF-Coul ist die Ladungsverteilung innerhalb eines geladenen Silberclusters in Abhängigkeit von rc . Der Radius rc nimmt eine besondere Rolle ein, da er die Ladungsdichte der Gegenladung bestimmt. Für dasselbe System wie beim Dipol 80 2.2 Modellentwicklung 0,34 Ag131+ q 2 /N / e 0,032 Ag1310+ 0,32 0,3 √P 0,03 √P q 2 /N / e 0,034 0,028 0,28 0,026 0,26 10 12 14 16 rc / Å 18 20 10 12 14 16 rc / Å 18 20 Abbildung 2.13: Darstellung der Wurzel des mittleren Ladungsquadrats innerhalb eines geladenen Ag13 Clusters für +1 e und +10 e. Die Atomepositionen sind fest und die Stabilität des Clusters bei der künstlich hohen Ladung spielt in diesem Fall keine Rolle. Es wurde das DSF-Coul verwendet um die langreichweitige Coulombwechselwirkung zu berechnen. Die Polarisation steigt mit zunehmenden Abschneideradius. besaßen die Cluster diesmal eine Nettoladung und die entsprechende Ladungsverteilung wurde mittels QEq bestimmt. Die mittlere Abweichung der Ladung von null wurde gegen rc getestet (Abb. 2.13). Wie zu erwarten nimmt die Polarisation, d.h. die Ungleichverteilung der Ladung, mit zunehmendem rc zu. Dieses Phänomen kann man mit der abnehmenden kompensierenden Ladungsdichte erklären, welche immer weiter entfernt ist und somit die abstoßenden Wechselwirkungen innerhalb des Clusters nicht mehr dämpft. Allerdings liegt die Änderung im Bereich von wenigen Promille der Gesamtladung und spielt daher nur für sehr stark geladene Cluster eine Rolle. Unter Berücksichtigung der beiden Tests wurden zwei Parametersätze für das DSF-Coul Potential bestimmt: der erste Satz rc = 15 Å, α = 0,136 wurde für Rechnungen mit möglichst hoher Genauigkeit bei vertretbarem Aufwand verwendet. Ein zweiter Satz rc = 12 Å, α = 0,17 wurde aus Effizienzgründen für die meisten Produktivrechnungen gewählt. 2.2.3 Simulationsprotokoll Nachdem eine Modellsynthese konstruiert und Kraftfelder ausgewählt wurden, musste noch das Simulationsprotokoll erstellt werden. Für die MD-Simulationen wurde das Programm LAMMPS verwendet [68]. Die Kombination der Teilsimulationen und die Kontrolle des Wachstums erfolgte mit einem selbstgeschriebenen Skript. Es basierte auf 81 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln der Kawska-Zahn-Methode (Abschnitt 1.3.3.2) und beinhaltete mehrere Schritte. Der Startpunkt der Simulation war eine kubische Zelle mit 689 EG Molekülen und einer Kantenlänge von etwa 4,2 nm. Zusätzlich enthielt die Zelle bereits einen Ag13 (2)-IKO, welcher als Initialcluster diente. Der Grund, warum nicht von einem einzelnen Silberion gestartet wurde, hängt mit der Wahl des Silberpotentials EAM zusammen. Die Struktur sehr kleiner Cluster wird in der Literatur immer noch heftig diskutiert [112, 139]. Da die EAM bei kleinen Clustern zu sehr symmetrischen Strukturen neigt, wird die Struktur zunächst immer ikosaedrisch sein und erst für größere Cluster sind realistischere Trends zu erwarten. Um nicht einen zu großen Cluster als Startpunkt zu wählen und damit künstlich eine Struktur vorzugeben, fiel die Wahl auf den Ag13 Cluster. Jeder Wachstumsschritt begann mit der Assoziation eines neuen Ag+ Ions (in wenigen Ausnahmen auch Ag(0) ). Zunächst wurde dazu das neue Teilchen auf einer Kugelschale um den Mittelpunkt des bestehende Silberaggregats erzeugt. Der Polar- und Azimutwinkel wurden zufällig gewählt und der Radius wurde über r = (1,2 + N 1/3 )nm vorgegeben. Durch die Abhängigkeit von der Atomzahl des Clusters N wird gewährleistet, dass der Radius mit dem Aggregat zunimmt. Das attraktive EAM-Potential ist relativ kurzreichweitig (Abschneideradius ≈ 0,6 nm) wodurch ein Teilchen anfänglich keine anziehende Kraft erfährt. Den Erzeugungsradius kleiner zu machen, ist relativ problematisch, da existierende Cluster nicht notwendigerweise sphärisch sind und die Wahrscheinlichkeit einzelner Assoziationsstellen stark verändert werden kann. Dieses Phänomen ist in Abb. 2.15 für ein kugel- und ein stabförmiges Aggregat gezeigt. Diese Problematik konnte allerdings mit einem großem Erzeugungsradius und einem Zusatzpotential minimiert Abbildung 2.14: Darstellung der initialen Simulationszelle mit 689 Ethylenglykol-Molekülen und einem Ag13 Mackayikosaeder. Die Kantenlänge beträgt etwa 4,2 nm. 82 2.2 Modellentwicklung Kugelcluster Stabcluster Abbildung 2.15: Problematik der sphärischen Geometrie bei der Assoziation von neuen Teilchen bei unsphärischen Partikeln. Während der direkte (kürzeste) Weg zur Oberfläche (gestrichelte Linie) bei Kugeln überall gleich ist, sind die Stabenden überproportional häufig erreichbar. werden. Um die Teilchen in den Einzugsbereich der Cluster zu bringen, wurde ein schwaches zusätzliches harmonisches Potential mit einer Kraftkonstante von 5 × 10−3 eV/Å angewandt. Während dieser Phase wurde das bereits existierende Aggregat festgehalten und das Lösungsmittel „ausgeschaltet“ (die Einträge in der Nachbarschaftliste deaktiviert). So wurden ungewollte Verformungen durch den künstlichen „Aufschlag“ des neuen Ions/Atoms verhindert. Anschließend wurde das Lösungsmittel wieder „angeschaltet“ und kurz relaxiert, damit es sich an die neue Konfiguration anpassen konnte. Es folgte eine Simulation zur Volumenmittelung bei konstantem Druck (1 bar) und konstanter Temperatur (300 K, 400 K und 500 K). Prinzipiell könnte die gesamte Simulation bei konstantem Druck durchgeführt werden, allerdings ist die Varianz der meisten statistische Größen sehr hoch und eine Mittelung wird zusätzlich erschwert. Als vorteilhafter hat sich das Fixieren des Volumens auf einen Mittelwert herausgestellt. Der letzte Schritt war eine Langzeitsimulation, um statistische Größen zu errechnen. Bei diesem hat der Cluster auch Gelegenheit, sich neu zu arrangieren. Ein optionaler, zusätzlicher Schritt beinhaltete die abstrahierte Reduktion. Dazu wurde die Ladung des Clusters um eine Elementarladung reduziert und die Langzeitsimulation wiederholt. Aus dem Vergleich der Energien kann abgeschätzt werden, ob eine Reduktion erfolgt wäre. Prinzipiell müsste die freie Energie berechnet werden (siehe Abschnitt 1.3.2). Es ist jedoch kaum zu erwarten, dass der entropische Anteil in diesem Fall signifikante Relevanz hätte (die Anzahl der Bindungen und freien Teilchen ändert sich nicht oder kaum). Damit steht der Aufwand der Berechnung der freien Energie nicht im Verhältnis zum erwarteten Nutzen und es 83 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Schritt 1. Assoziation 2. 3. 4. 5. 5a. Relaxation Volumenmittelung Relaxation Langzeit Reduktion Dauer Ensemble 20 ps - 10 ps 200 ps 100 ps 1 ns 1 ns NVT NpT NVT NVT NVT Besonderheit Energieminimierung, kein Lösungsmittel, zusätzliches Potential Nur Lösungsmittel frei Volumen auf Mittelwert gesetzt Ladung um 1 e reduziert, optional Tabelle 2.2: Schritte des Silberwachstumsschemas mit Dauer und dem thermodynamischen Ensemble. Parameter Wert Zeitschritt 1 fs Thermostat Kopplungskonstante 0,5 ps Barostat Kopplungskonstante 5,0 ps Aktualisierungsintervall QEq 250 fs Energiegrenzwert QEq 1,0 × 10−4 eV Abschneideradius DSF-Coul 12 Å Dämpfungsfaktor DSF-Coul 0,17 Abscheideradius LJ 10 Å Tabelle 2.3: Wichtige technische Parameter für die Silberwachstumssimulationen. wurde darauf verzichtet. Der Reduktionsschritt wurde solange wiederholt wie die Energiedifferenz ein gewünschtes Potential nicht überschritt. In einigen Wachstumssimulationen wurde auf den Reduktionsschritt verzichtet und stattdessen die Ladung direkt auf einen gewünschten Wert festgesetzt. Dadurch konnten systematisch Ladungsabhängigkeiten studiert werden. Die einzelnen Schritte sind in Tabelle 2.2 dargestellt. Weitere wichtige technische Parameter für alle Teilsimulationen sind in Tabelle 2.3 zusammengefasst. Alle Schritte wurden wiederum für jeden Wachstumsschritt (jedes neue Teilchen) wiederholt. Eine zusätzliche Prüfung nach jedem Wachstumsschritt zeigte, ob eine Assoziation überhaupt erfolgreich gewesen war (Teilchen befindet sich im Kontakt mit dem Cluster). War die Assoziation nicht erfolgreich oder ist die Simulation aus anderen technischen Gründen abgestürzt, so wurde der Wachstumsschritt wiederholt. Nach drei erfolglosen Wiederholungen wurde fünf Schritte zurück gegangen und von dieser Stelle aus das Wachstum fortgesetzt. Auf 84 2.2 Modellentwicklung diese Weise gewährleistete das Wachstumsskript eine vollautomatische Simulation auch über viele Wachstumsschritte hinweg. 2.2.3.1 Simulationstemperatur An dieser Stelle soll noch die allgemeine Schwierigkeit bei der Wahl der Simulationstemperatur angesprochen werden. Experimente variieren von Raumtemperatur bis zum Siedepunkt von EG (196 ◦C). Vom statistischen Standpunkt aus sind höhere Temperaturen sinnvoll, da ein besseres Abtasten möglicher Konfigurationen erfolgen kann und Barrieren besser überwunden werden können. Allerdings neigen kleine Cluster bei zu hohen Temperaturen zum partiellen Schmelzen. Bei Kupferclustern wurden verschiedene Temperaturen umfangreich studiert, wobei für kleinere Partikel 400 K und für größere 500 K besser geeignet waren [74]. Da eine höhere Ladung die Schmelztemperatur senkt (verringerte Kohäsionsenergie) wurde zu Beginn der Arbeit vornehmlich bei 300 K simuliert. Es zeigte sich aber, dass die Cluster auch bei höheren Temperaturen stabil bleiben. Stark geladene Cluster können bei 500 K instabil werden, weshalb ein Großteil der Simulationen bei 400 K durchgeführt wurde. 85 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 2.3 Wachstumssimulationen In diesem Kapitel sollen die Wachstumssimulationen und deren Ergebnisse vorgestellt werden (auch in Teilen in [140] nachzulesen). Eine wiederkehrende Problematik der Auswertung ist die oft kleine statistische Probengröße, sprich nur wenige (drei bis fünf) Wachstumsserien für jedes Szenario. Weitere Serien wären aus statistischer Sicht wünschenswert, sind aber leider sehr zeitaufwendig und rechenintensiv: eine komplette Serie dauert auf einem aktuellen Hochleistungsrechensystem1 etwa 2 Monate. Um die Verhältnismäßigkeit vom Aufwand zum Nutzen zu wahren, fokussiert sich die Untersuchung daher eher auf Trends und Mechanismen. 2.3.1 Neutrale Ladung Der am einfachsten zu implementierende Fall sind neutrale Silberpartikel. Zusätzlich sind sie sehr interessant, da sie direkt mit Simulationen aus der Gasphase [74, 128] vergleichbar sind. Für das Wachstum in EG-Lösung wurde nach jeder Ionenassoziation die Gesamtladung auf 0 e gesetzt. Es wurden insgesamt 5 Wachstumsserien mit einer neutralen Ladung ausgewertet. Zunächst wurde die Häufigkeit von verschiedenen Strukturtypen analysiert. Dazu wurde für jeden Cluster zu jedem Zeitpunkt die Packung mittels der CNA bestimmt. Anhand der über die Serien gemittelten Häufigkeit wurden verschiedene Typen anhand Tabelle 1.2 zugeordnet. Als kristallin wurden dabei Strukturen ohne mehrfache Verzwillingung und mindestens einem fcc-Motiv bezeichnet. Die Ergebnisse sind in Abb. 2.16 dargestellt. Deutlich kann eine Dominanz von Dekaeder- und, in geringerem Maß, von kristallinen Strukturen beobachtet werden. Einzig im Bereich des theoretischen Ag55 (3)-Mackayikosaeder ist tatsächlich eine Häufung von Ikosaederstrukturen zu beobachten. Dies ist eine relativ überraschende Entwicklung, bedenkt man, dass für die Ag146/147 Cluster im Vakuum der perfekte (3,2,2)-Marksdekaeder stabiler als der (4)-IKO ist (siehe Abschnitt 2.4.2). Ebenfalls sollten die kristallinen Oktaeder und Kuboktaeder theoretisch deutlich instabiler sein und nicht vorkommen. Die Erklärung für dieses Verhalten liefert das Wachstum zwischen den „magischen“ Clustern. Die Mechanismen der Morphogenese sind dabei ähnlich denen des Wachstums in der Gasphase. 1 Genutzte Systeme befinden sich im Leibnitz-Rechenzentrum in München (LRZ) und im Regionalen Rechenzentrum Erlangen (RRZE) 86 Kristallin Dekaeder Strukturhäufigkeit [%] Ikosaeder 2.3 Wachstumssimulationen 40 50 60 70 80 Atomzahl 90 100 110 Abbildung 2.16: Häufigkeit der Strukturtypen ungeladener Silberpartikel Ag(0) n in Lösung während des Wachstums von n= 40 → 115 (kleine Cluster sind schwer zu charakterisieren und wurden ausgelassen). Einzig bei bei Clustern in der Region des Ag55 Mackayikosaeder können verstärkt Ikosaederstrukturen (rot) beobachtet werden. Ansonsten dominieren Dekaeder- und kristalline Strukturen. Generell gibt es vier Übergänge: • Ikosaeder zu Dekaeder (Abb. 2.17) • Dekaeder zu Ikosaeder (Abb. 2.18) • Dekaeder zu kristallin (Abb. 2.19) • kristallin zu Dekaeder (Abb. 2.19) Zusätzlich gibt es in der Gasphase auch den Übergang kristallin zu Ikosaeder, welcher aber in den Simulationen in Lösung nicht beobachtet wurde. Direkte Übergänge vom Ikosaeder hin zu kristallinen Strukturen beinhalten eine komplette Restrukturierung des Kristalls und sind nahezu ausgeschlossen. Durch diese Limitierung können sich die Strukturen nicht beliebig umwandeln. Meist erfolgen Umwandlungen in der Nähe einer „magischen“ Größe (13, 55, 75, . . . ). Konkret bedeutet dies, dass Cluster mit einer Atomzahl von 55 wie erwartet vorwiegend ikosaedrisch sind. Jedoch ist 75 die „magische“ Größe eines (2,2,2)-MDEK und in den meisten Wachstumsserien wandeln sich die Cluster in diesem Größenbereich von ikosaedrisch zu dekaedrisch. Durch die gesenkte Oberflächenspannung in Lösung ist die Triebkraft der Oberflächenminimierung schwächer (im Vergleich zum 87 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Vakuum). Ein Rückbildung wird dadurch unwahrscheinlich und die Dekaeder sind das dominierende Strukturmotiv. Die Mechanismen der Umwandlung sind stark unterschiedlich. Umwandlungen zwischen Ikosaeder und Dekaeder beinhalten eine umfassende Reorganisation, die sich in einem Nukleationsmechanismus von einer Stelle durch den Cluster propagiert (Abb. 2.17 und 2.18). Die Zeitspanne für diesen Prozess liegt bei 100 ps. Im Gegensatz dazu erfolgt die Umwandlung vom Dekaeder zum kristallinen Cluster durch Verschiebung von Kristallebenen. Die Zeitspanne dafür ist mit 1 ps deutlich kürzer. Je weiter die Dekaederachse am Rand des Cluster liegt, desto weniger Ebenen müssen sich verschieben. Daher wandeln sich besonders unvollständige Dekaederstrukturen häufig um. Dies erklärt die Koexistenz von kristallinen und Dekaederstrukturen. Als Beispiel für die Struktur innerhalb der Wachstumsserien sind zwei Serien in Abb. 2.20 dargestellt. Die erste Serie zeigt die Übergänge Ikosaeder-Dekaeder-Ikosaeder, während die zweite Serie Dekaeder-kristallin zeigt. Gut zu beobachten ist, dass bei der ersten Serie die Partikel nahezu sphärisch bleiben, was die Umwandlungen zwischen den mehrfachverzwillingten Strukturen ermöglicht. Hingegen wird bei der zweite Serie der zunächst sphärische Cluster – nach der Umwandlung in eine kristalline Struktur – zu einem Schichtpartikel, dessen Dicke konstant bleibt. Dadurch wird die Rückumwandlung behindert, da mehr Ebenen verschobenen werden müssten, um einen Dekaeder zu formen. Der größte Unterschied der Simulationen in Lösung zur Gasphase ist die Verschiebung der Häufigkeiten in Richtung dekaedrischer und kristalliner Strukturen. In der Gasphase dominierten die Ikosaeder und Dekaeder. Kristalline Strukturen traten bei solch kleinen Größen nur in geringem Maße auf. Dieses Ergebnis stimmt mit den Rechnung zu den Stabilitäten der „magischen“ Cluster in Lösung überein (Abschnitt 2.4.2). Mechanistische Unterschiede konnten keine gefunden werden. 88 2.3 Wachstumssimulationen Ikosaeder Dekaeder Abbildung 2.17: Beispiel für den Mechanismus beim Übergang von einem Ikosaeder zu einem Dekaeder für einen Ag67 Cluster. Die Packungsmotive dec (grün) und ico (orange) sind farblich hervorgehoben. Deutlich ist die stufenweise Umstrukturierung innerhalb des Clusters zu beobachten. Der gesamte Prozess dauert ca. 100 ps. Dekaeder Ikosaeder Abbildung 2.18: Beispiel für den Mechanismus beim Übergang von einem Dekaeder zu einem Ikosaeder für einen Ag104 Cluster. Die Packungsmotive dec (grün) und ico (orange) sind farblich hervorgehoben. Ähnlich wie beim Übergang Ikosaeder-Dekaeder ist eine stufenweise Umstrukturierung zu erkennen. Der gesamte Prozess dauert wieder ca. 100 ps. Dekaeder Kristallin Abbildung 2.19: Beispiel für den Mechanismus beim Übergang von einem Dekaeder zu einem kristallinen Cluster für einen Ag91 Cluster. Involvierte Atome sind grün hervorgehoben. Die Umstrukturierung erfolgt durch die konzertierte Verschiebung nur einer Atomlage (durch den Pfeil angedeutet). Dadurch geht die Umwandlung sehr schnell vonstatten (1 ps) . 89 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Ag64 Ag83 Ag104 Serie 2 Serie 1 Ag60 Abbildung 2.20: Auszüge aus zwei Wachstumsserien ungeladener Silberpartikel. Serie 1 zeigt das Wachtums von einem ikosaedrischen (Ag60 ) über einem dekaedrischen (Ag83 ) zu wieder einem ikosaedrischen (Ag104 ) Cluster. Bei Serie 2 hingegen ist bereits der Ag60 Cluster dekaedrisch, was eine frühe Umwandlung in einen kristallinen, nicht mehrfach-verzwillingten Cluster ermöglicht (Ag64 ). Interessanterweise wächst der Cluster eher als Schicht mit (1 1 1)Deckflächen in die Breite und die Schichtdicke bleibt zumindest in dieser Serie konstant. 90 2.3 Wachstumssimulationen 2.3.2 Konstantes Ladungsverhältnis Um geladene Partikel systematisch in einer chemischen Umgebung mit unbekanntem chemischen Reduktionspotential zu studieren, kann die Nettoladung der Cluster abgeschätzt werden. Die naivste Annahme ist eine während des Wachstums konstante Ladung. In einigen Testrechnungen wurde festgestellt, dass Ladungen größer als +5 e zu instabilen kleinen Clustern führen. Wiederum ist bei großen Clustern der Ladungseffekt zunehmend vernachlässigbar, da das Ladungs-Atom-Verhältnis stark sinkt. Aus diesen Gründen sind solche Simulationen zum Studium des Ladungseinflusses ungeeignet. Eine bessere Annahme ist ein konstantes Verhältnis zwischen Ladung und Atomzahl N . Betrachtet man die maximalen Ladungen von einzelnen untersuchten Clustern +5 e für Ag13 , +15 e für Ag63 und +20 e für Ag113 , so stellt man fest, dass eine direkte Proportionalität zwischen maximaler Ladung und der Atomzahl nicht vorliegen kann. Zudem zeigten die Untersuchungen an einzelnen Clustern (Abschnitte 2.4.2 und 2.4.3) eine Akkumulation der Ladung an der Oberfläche und deutlich weniger im Inneren. Daraus lässt sich eine Proportionalität der Ladung zu der Anzahl der Oberflächenatome NOF ableiten. Die genaue Zahl NOF ist abhängig von der jeweiligen Struktur, kann allerdings allgemein über den Zusammenhang zwischen Volumen und Oberfläche jedes Objektes A3 ∼ V 2 abgeschätzt werden. Letztendlich werden zwei Relationen ausgenutzt: Q ∼ NOF NOF ∼ N 2/3 (2.12) Zusammengeführt ergibt sich eine Gleichung für die Gesamtladung der Partikel in Abhängigkeit von der Atomzahl: Q(N ) = kq N 2/3 (2.13) Es ist anzumerken, dass Kanten und Ecken deutlich mehr Ladung akkumulieren als reine Flächen und die Gleichung daher zumindest um einen N 1/3 Term erweitert werden müsste. Praktisch ist der Unterschied nur für kleine Cluster relevant (N < 50). Zudem erschwert die Erweiterung des Konfigurationsraumes um einen weiteren Parameter eine systematische Analyse erheblich. Werte für kq lassen sich aus der maximalen Ladung abschätzen. So kann das Verhältnis höchstens zwischen 0,85 und 1 liegen. Tatsächlich haben Testserien 0,85 als maximales Ladungsverhältnis bestimmt und den Ansatz als konsistent bestätigt. 91 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 25 kq =0,25 kq =0,50 kq =0,75 Ladung / e 20 15 10 5 0 0 20 40 60 80 100 120 140 Atomzahl Abbildung 2.21: Anstieg der Clusterladung unter der Annahme eines konstanten Verhältnisses zwischen Ladung und abgeschätzter Anzahl der Oberflächenatome (Gleichung (2.13)). Ag7+ 130 kq =0,25 Ag14+ 130 kq =0,50 Ag21+ 130 kq =0,75 +0,55 e −0,55 e Abbildung 2.22: Beispielcluster Ag130 für verschiedene Ladungsverhältnisse kq . Es sind jeweils die Cluster mit Ladungsverteilung und zusätzlich die Packungsmotive dec (grün) und ico (orange) gezeigt. 92 2.3 Wachstumssimulationen kq =0,00 kq =0,25 kq =0,50 kq =0,75 CNP / Å 2 50 45 40 35 30 25 50 75 100 125 150 175 Atomzahl 18 16 14 12 10 8 6 4 2 Kernatome Nahordnung Oberflächenatome 55 50 75 100 125 150 175 Atomzahl Abbildung 2.23: Gemittelter CNP in Abhängigkeit der Atomzahl für verschiedene Ladungsverhältnisse (Vertrauensbereich 75 %). Die Mittlung erfolgtw über jeweils 4 Wachstumsserien. Für die Untersuchung wurden 3 Verhältnisse kq = 0,25; 0,50 und 0,75 gewählt. Zusätzlich dienen die Wachstumsserien ungeladener Cluster als kq = 0 Referenz. Die resultierenden Ladungen in Abhängigkeit von der Atomzahl sind in Abb. 2.21, Beispiele für resultierende Cluster in Abb. 2.22 dargestellt. Die interessanteste Fragestellung beim Wachstum mit erhöhter Ladung ist die Entwicklung der Formen und Packungen. Eine kontinuierliche Größe zur Charakterisierung der Ordnung von einzelnen Atomen ist der Common-Neighborhood-Parameter (Abschnitt 1.3.4.1). Da er sehr empfindlich auf unvollständige Koordinationsumgebungen ist, wurde zur Untersuchung zwischen Oberflächenatomen (CN <= 10) und Kernatomen (CN >=12) unterschieden. Die mittleren CNP in Abhängigkeit der Größe für verschieden kq ist in Abb. 2.23 gezeigt. Eine sehr geringe Nahordnung liegt beim höchsten Ladungsverhältnis kq = 0,75 sowohl für den Kern als auch für die Oberflächen vor. Die Werte für den CNP liegen dabei deutlich höher als bei gewöhnlichen Packungen (Tabelle 1.3). Dies zeigt zum einen eine sehr raue, ungeordnete Oberfläche, als auch eine hohe „Amorphizität“. Der Unterschied der anderen Ladungsverhältnisse ist deutlich weniger signifikant. Generell scheinen Cluster mit mehr als etwa 90 Atomen eine Konvergenz des CNP zu zeigen. Offensichtlich erreichen die Cluster eine Größe, bei welcher die indirekte Wechselwirkung zwischen weit entfernten Atomen konvergiert. Jedes Atom, ob im Inneren oder an der Oberfläche, „spürt“ eine gewisse Nachbarschaft an Atomen. Je größer der Cluster wird, desto konstanter wird diese Umgebung. Da dieses Verhalten sowohl bei ungeladenen als 93 Mittlerer Motivanteil / % Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 50 fcc dec ico 0.50 0.75 40 30 20 10 0 0.00 0.25 kq Abbildung 2.24: Gemittelter Anteil der verschiedenen Packungsmotive an allen Kernatomen in Abhängigkeit vom Ladungsverhältnis kq . Die Mittelung erfolgte über die Atomgrößen ab 90 Atomen und jeweils 4 Wachstumserien (Vertrauensbereich 75%). auch geladenen Clustern auftritt, liegt keine starke Abhängigkeit von der Reichweite der Wechselwirkungen vor. Der mittlere CNP enthält leider keine explizite Aussage über die Anteile der Packungsmotive. Um ein Bild von der konkreten Packung innerhalb der Cluster zu bekommen, wurde für jeweils alle Serien der Anteil der jeweiligen Motive an der Gesamtzahl der Kernatome mittels Common-Neighbor-Analysis bestimmt. Da für jenseits von 90 Atomen eine gewisse Konstanz zu beobachten war, wurden die Anteile noch zusätzlich über verschiedene Clustergrößen einer Serie gemittelt. Der so erhaltene Mittelwert gibt die dominierenden Packungsmotive in den Clustern an (Abb. 2.24). Wie erwartet steigt der Anteil an dicht gepackten fcc-Motiven mit steigendem Ladungsverhältnis zunächst an. Dieser Effekt, der sinkenden Triebkraft für Verzwillingung durch das Bestreben der Oberflächenvergrößerung bei geladenen Clustern, wird im Abschnitt 2.4.3 ausführlich diskutiert. Bei allen Ladungsverhältnissen sind dennoch deutliche Anteile an Dekaedermotiven zu beobachten. Schon relativ wenige dec-Motive reichen, um einen Dekaeder zu formen, weshalb der Dekaeder für kq = 0,00 und 0,25 die dominierende Struktur ist. Für 0,50 und 0,75 sind die Verhältnisse von dec zu fcc soweit verschoben, dass man nicht mehr von geordneten Dekaedern ausgehen kann. Tatsächlich erinnert die Verteilung eher an Ikosaeder. Bei 0,75 steigt sogar der Anteil von ico-Motiven deutlich an. Dies ist insofern überraschend, da selbst perfekte Ikosaeder nur ein ico-Motiv aufweisen und daher normalerweise nur mittelbar über die stark erhöhte Anzahl von dec-Motiven bemerkbar werden. 94 E(Agnm+ )-E(Agn(m–1)+ ) / eV 2.3 Wachstumssimulationen −5 kq =0,25 kq =0,50 kq =0,75 −5,5 −6 −6,5 −7 −7,5 −8 0 20 40 60 80 100 Atomzahl n 120 140 160 Abbildung 2.25: Mittlere Oxidationenergie bei konstantem Ladungsverhältnis in Abhängigkeit der Atomzahl (Vertrauensbereich 75%). Beispiele für Clusterstrukturen mit verschiedenen Ladungsverhältnissen sind in Abb. 2.22 zu finden. Anhand dieser Strukturen kann sehr gut die Entwicklung der Packungsmotive mit der Ladung verfolgt werden. Für kq = 0,25 kann ein geordneter, aber unvollständiger Dekaeder beobachtet werden. Generell sind die Strukturen für 0,25 ähnlich zu den ungeladenen Wachstumsserien, aber mit einer stärkeren Neigung zu dicht gepackten, kristallinen Strukturen. Im Gegensatz dazu, sind die Strukturen kq = 0,50 nicht mehr den klassischen Typen zuzuordnen. Man sieht einen hohen Grad der Verzwillingung, allerdings meist nicht in Form eines Ikosaeders. Die Oberflächen sind überwiegend noch geordnet gepackt, allerdings mit klarer Tendenz zu Atompackungen niedriger Dichte. Bei stark geladenen Clustern mit kq = 0,75 sind die Oberflächen sehr stark aufgeraut und kaum noch geordnet. Genau diese Rauheit wird durch eine erhöhte Anzahl von ico-Motiven verstärkt. Zentrale Atome besitzen dabei meist amorphe oder stark verzerrte Umgebungen. Eine interessante Frage ist, ob mit zunehmender Größe der Kernbereich wieder kristallin werden würde, da hauptsächlich die Oberfläche geladen sind. Im untersuchten Größenbereich wurde dies jedoch nicht beobachtet. Die letzte Untersuchung zielte auf die Abhängigkeit des Oxidationsenergie der geladenen Cluster vom Ladungsverhältnis. Nach der Grundannahme Q ∼ N 2/3 sollte dieses Verhältnis relativ konstant bleiben und ein guten Anhaltspunkt für die Werte in den Simulationen mit konstantem Redoxpotential liefern. Dazu wurde aus Effizienzgründen für jeden zehnte Wachstumsschritt das zeitliche Mittel der Energiedifferenz E(Agm+ n )- 95 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln E(Ag(m–1)+ ) berechnet. Das Ergebnis ist in Abb. 2.25 dargestellt. Wie erwartet, bleibt die n Oxidationsenergie nahezu konstant, wobei bei größeren Clustern eine leichte Verschiebung zu negativeren Energien beobachtet werden kann. Die initiale Annahme des Verhältnisses von Ladung zur Atomzahl beinhaltete keine zusätzlichen Terme für Kanten und Ecken. Durch die fehlenden N 1/3 Terme ist der Anstieg der Ladung etwas zu steil und die Energie bleibt nicht konstant. Generell zeigt sich allerdings, dass die Näherung bereits sehr gut eine konstante Redoxumgebung beschreibt. 2.3.3 Konstantes Redoxpotential Nach den Untersuchungen des Wachstums bei neutraler Ladung und konstantem Ladungsverhältnis wird nun auch die vollständige Modellsynthese mit einem konstanten Redoxpotential φ betrachtet (siehe Abschnitt 2.2.1). Sinnvolle Werte für φ können aus den Serien mit konstantem Ladungsverhältnis abgeleitet werden. Da elektrochemische Potentiale in der Regel relativ angegeben werden, ist zudem die Verwendung eines Referenzpunktes zweckmäßig. Es bietet sich das minimale Potential für die Reduktion Ag1+ −−→ Ag(0) in EG-Lösung an. Die Energiedifferenz für diese Reaktion, gemittelt über 1 ns, beträgt −5,87 eV. Entsprechend müsste φ ungefähr zwischen 5,8 eV und 6,0 eV liegen, damit die Reaktion stattfindet. Der Einfachheit halber wird ein relatives Potential φ′ als Differenz zum aufgerundeten Referenzpotential angegeben. φ′ = φ − 6,0 eV (2.14) Für das Verständnis ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass stark positive Werte für φ′ eine schwache Reduktionsumgebung bedeuteten und entsprechend sehr negative Werte eine starke. Generell sinkt das notwendige φ′ für die Reaktion Agm+ −−→ Ag(m–1)+ mit n n steigender Atomzahl und steigt mit zunehmender Ladung m. Dies bedeutet, je größer die Partikel sind, desto wahrscheinlicher ist eine steigende Gesamtladung bei konstantem φ′ . Nur sehr starke Reduktionsmittel könnten generell ungeladene Cluster erzeugen (wobei die Möglichkeit von negativer Ladung ebenfalls denkbar wäre). Drei Wachstumsserien wurden für jeweils verschiedene φ′ = −0,50 eV, −0,25 eV, 0,00 eV, +0,25 eV und +0,50 eV simuliert. Die mittlere Entwicklung der Gesamtladung der Cluster ist in Abb. 2.26 dargestellt. Tatsächlich kann eine direkte Korrelation zwischen der Ladung und dem 96 2.3 Wachstumssimulationen 16 −0,50 eV −0,25 eV 0,00 eV +0,25 eV +0,50 eV 14 Ladung / e 12 10 8 6 4 2 0 20 40 60 80 100 Atomzahl 120 140 160 Abbildung 2.26: Mittlere Ladung von Silberpartikeln in Abhängigkeit von einem relativen Redoxpotential φ′ . Mit schwächer werdendem Potential nimmt die Ladung zu. Redoxpotential beobachtet werden. Selbst deutlich stärkere Reduktionsumgebungen mit φ′ = −0,50 eV erzeugen keine neutralen Cluster. Dieses Ergebnis unterstreicht die generelle Bedeutung der Ladung während des Wachstums von Silberpartikeln bei der Verwendung von moderaten Reduktionsmitteln. Nahezu neutrale Cluster würden ein Redoxpotential stärker als φ′ = −1,00 eV erfordern. Beispielhafte Momentaufnahmen für das Wachstum unter verschiedenen Reduktionsbedingungen sind in Abb. 2.27 dargestellt. Die Abhängigkeit der Packung von dem verwendeten Potential zeigt die erwarteten Zusammenhänge (Abb. 2.28). Sehr stark geladene Partikel (φ′ = +0,50 eV) neigen zu einer häufigeren Verzwillingung durch die Oberflächenaufrauhung. Moderat geladene Partikel (φ′ = 0,00 eV) zeigen vermehrt dichteste Packungen durch die fehlende Triebkraft der Oberflächenminimierung. Bei φ′ = −0,25 eV ist nicht sicher ob es sich um eine Erhöhung der Verzwillingung durch die Abschwächung der inneren Spannung handelt (der Sachverhalt wird im Detail noch Abschnitt 2.4.3 behandelt). Es könnte sich auch um eine zufällige Häufung handeln, wobei dies bei der Mittelung über drei Serien über jeweils 70 Wachstumsschritte eher unwahrscheinlich ist. Es kann zusammen mit den vorangegangen Ergebnissen festgestellt werden, dass schwächere Reduktionsmittel zunächst kristalline, dicht gepackte Strukturen begünstigen. Ab einem gewissen Punkt (φ′ >= +0,50 eV bzw. Q >= 0,50N 2/3 ) werden jedoch stark verzwillingte und sehr raue Strukturen begünstigt. 97 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Wachstumsschritt 25 φ′ 50 75 100 125 150 Ag+1 36 Ag+2 63 Ag+2 88 Ag+2 113 Ag+5 138 Ag+3 163 Ag+3 36 Ag+6 63 Ag+7 88 Ag+8 113 Ag+7 138 Ag+8 163 Ag+6 36 Ag+9 63 Ag+9 88 Ag+14 113 Ag+15 138 Ag+15 163 −0,5 eV 0,0 eV +0,5 eV −0,4 e +0,4 e Abbildung 2.27: Momentaufnahmen der Morphogenese jeweils einer Beispielwachstumsserie für drei verschiedene Redoxbedingungen. Hohe Reduktionsstärke (φ′ =−0,5 eV) führt in diesem Beispiel zum Wachstum eines dekaederartigen Clusters. Beim mittelstarkem φ′ =0,0 eV wächst ein fcc-Kristall mit Tendenz zu einer (kub)-oktaedrischen Clusterform. Im Szenario mit dem schwachen Reduktionsmittel (φ′ =+0,5 eV) sind keinerlei reguläre Clusterformen erkennbar. Die Oberfläche ist stark aufgeraut und die Form sehr asphärisch. Neben den bekannten mittleren Zusammenhängen zwischen Ladung und Packung kann aus den Serien mit konstantem Redoxpotential auch die direkte Korrelation zwischen einer konkreten Struktur und der Ladung verfolgt werden. In einzelnen Serien sind mitunter Sprünge der Ladung zu beobachten, wenn ein Partikel innerhalb weniger Wachstumsschritte mehrfach reduziert wird. Besonders große Ladungssprünge stehen dabei immer im Zusammenhang mit größeren strukturellen Veränderungen. Als Beispiel sind zwei Sprünge für Wachstumsserien mit φ′ =0,00 eV und +0,25 eV gezeigt. Im ersten Beispiel (Abb. 2.29) wandelt sich eine leicht verzwillingte, vorwiegend dichtest gepackte Struktur hin zu einem Einkristall. Die orange hervorgehobenen Atome im unteren Partikel sind dabei hcp gepackt, was einer einfachen Versetzung oder Verzwillingung entspricht. Solche Motive sind sehr oft bei eigentlich kristallin gepackten Partikeln zu beobachten. 98 2.3 Wachstumssimulationen Mittlerer Motivanteil / % 70 fcc 60 dec 50 40 30 20 10 0 −0,50 −0,25 0,00 φ′ +0,25 +0,50 Abbildung 2.28: Mittlerer Kernatomanteil von Packungsmotiven dec und fcc für verschiedene Redoxpotentiale. Gemittelt wurde über 3 Wachstumsserien für Atomgrößen von 90 bis 163 Atome und der Vertrauensbereich (75%) ist nur für die Mittlung zwischen den Serien angegeben. Eine Entspannung dieser Versetzung führt zu einem Einkristall, wobei die Ladung von +7 e kurzzeitig auf +3 e fällt. Lokale Versetzungen können besser Ladung akkumulieren, da die Abstände meist nicht so dicht sind und die Oberfläche an den Korngrenzen tendenziell rauer ist. Das zweite Beispiel ist eine bereits bekannte Umwandlung (siehe Abschnitt 2.3.1) von einem Ikosaeder zu einem Dekaeder (Abb. 2.30). Auch hier kommt es zu einem deutlichen Einbruch der Ladung von +9 e auf +4 e. Die Erklärung ist deutlich schwieriger, da Ikosaeder eigentlich unter Aufladung instabiler werden als Dekaeder (siehe Abschnitt 2.4.2). Der Übergang ist also an sich nicht überraschend, aber eigentlich sollte der Dekaeder besser die Ladung akkumulieren können. Die Ursache für den Ladungsabfall könnte an dem schon sehr imperfekten, asymmetrischen Ikosaeder liegen. Dieser kann durch die zusätzlichen „Inseln“ auf der Oberfläche stärker geladen werden. Der entstehende Dekaeder hingegen hat fast die perfekte (2,2,2)-Marksdekaeder-Struktur, welche viele dichte {1 1 1}-Oberflächen aufweist. Dadurch kann schlechter Ladung aufgenommen werden als beim Ikosaeder. 99 fcc CNA Motiv Nettoladung / e Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 35 30 25 20 15 10 5 0 Ag7+ 112 Reduktion und Entspannung Ag4+ 116 60 80 100 120 Atomzahl 140 160 dec CNA Motiv Nettoladung / e Abbildung 2.29: Verlauf der Ladung und der fcc Motive für eine Beispielserie mit φ′ = 0,00 eV. Zusätzlich sind die Strukturen des hervorgehobenen Bereichs abgebildet. Blaue Atome sind in einer fcc Packung und orange in einer hcp Packung (Einfach-Zwilling). Der Ladungssprung wird von einer Entspannung der Struktur begleitet. 16 14 12 10 8 6 4 2 20 Ag9+ 73 Reduktion und Übergang IKO→MDEK 15 10 Ag4+ 74 5 0 60 80 100 120 Atomzahl 140 160 Abbildung 2.30: Verlauf der Ladung und der dec Motive für eine Beispielserie mit φ′ = +0,25 eV. Zusätzlich sind die Strukturen des hervorgehobenen Bereichs abgebildet. Blaue Atome sind in einer fcc Packung, orange in einer hcp Packung (Einfach-Zwilling) und grüne in eine dec Packung. Der Ladungssprung wird von einem Übergang von Ikosaeder zu Dekaeder begleitet. 100 2.4 Ergänzende Analysen 2.4 Ergänzende Analysen Zusätzlich zu den Wachstumssimulationen wurden eine Reihe von Analysen zu speziellen Clustern durchgeführt. Ziel war es, die Gesetzmäßigkeiten der Stabilität unter dem Einfluss des Lösungsmittels und der Ladungen zu ergründen. 2.4.1 Ionisationspotential kleiner Cluster Experimentell verfügbare Größen für kleine Silbercluster sind das Ionisationspotential und die Elektronenaffinität. Sie sind definiert als die benötigte Energie für das Entfernen bzw. Hinzufügen eines Elektrons in/aus unendlicher Entfernung im Vakuum. Trends in der Stabilität mit sich ändernder Ladung können so erfasst werden. Sie bieten ebenfalls eine Abschätzung für die Änderung des Redoxpotentials in Lösung. Leider sind nur kleine Cluster (bis 36 Atome) experimentell untersucht, da die hohe Flüchtigkeit von Silberclustern in der Gasphase die gezielte Darstellung sehr erschwert [111]. Für die EA sind sogar nur Ergebnisse bis 22 Atome veröffentlicht [109, 110]. Für einen Vergleich zum Kraftfeld, bestehend aus EAM und QEq, wurden die Energien für Silbercluster Agm n (n≤ 36;m= 1, 0, −1) berechnet. Dafür wurden zunächst die Strukturen mit simulated annealing (SA) optimiert (Dauer 1 ns bei 500 K). Bei der SA wurde der Cluster bei erhöhter Temperatur für eine bestimmte Zeit simuliert und anschließend der Zustand zum Zeitpunkt der niedrigsten potentiellen Energie extrahiert. Die so erhaltene Struktur wurde zusätzlich noch mit einem gradientenbasierten Verfahren (bei formal 0 K) optimiert. Für die optimierten Strukturen wurden dann das IP und die EA berechnet. Die Ergebnisse sind in Abb. 2.31 dargestellt. Deutlich ist für die IP eine systematische Abweichung von etwa 1 eV zu beobachten. Zudem können die starken Schwankungen für sehr kleine Cluster nicht reproduziert werden. Diese Schwankungen werden Schaleneffekten der Elektronenkonfiguration (siehe Abschnitt 2.1.3) zugeschrieben, sind allerdings schon bei mehr als 20 Atomen kaum noch signifikant. Die systematische Abweichung wurde bereits von Zhang und Fournier diskutiert [33]. Ihre Erklärung besteht in der Schwierigkeit, verschiedene Koordinationssituationen (Oberfläche und Kern) mit einem Parametersatz abzubilden. Zudem haben kleine Cluster noch einen hohen kovalenten Anteil, welcher überhaupt nicht in der QEq enthalten ist. Generell lässt sich festhalten, dass, trotz der Abweichung, der Trend des IP für größere Cluster gut reproduziert wird. Für die EA gibt es leider nur Werte bis 22 Atome, welche noch stark von der Elektronenkonfiguration 101 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln (0) IP = E(Ag+ n )-E(Agn ) 9 EA = E(Ag–n )-E(Ag(0) n ) 0 EAM + QEq Experiment [111] −1 EA / eV IP / eV 8 7 6 5 EAM + QEq Experiment [110] −2 −3 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Atomzahl n −4 0 5 10 15 Atomzahl n 20 25 Abbildung 2.31: Kraftfeldrechnung (EAM+QEq) des Ionisationspotentials und der Elektronenaffinität für kleine Silber Cluster bis Ag36 . Die Strukturen wurden mit SA bei 500 K optimiert. Sowohl das IP als auch das EA werden systematisch über- bzw. unterschätzt. Die Abweichung des IP beträgt etwa 1 eV. Für die EA fehlen experimentelle Werte für größere Cluster, um die qualitative Richtigkeit abzuschätzen. dominiert wird. Daher ist es hier kaum möglich die Güte abzuschätzen, allerdings kann ein ähnlicher Trend wie beim IP erwartet werden. Zusätzlich zu den IP im Vakuum sind noch die korrespondierenden Energiedifferenzen in Lösung interessant. Vor allem Energien für höhere Ladungen können während des Wachstums wichtig werden. Zum Vergleich wurden die Energien des größten experimentell zugänglichen Cluster Ag36 berechnet. Zunächst wurde die Energiedifferenz (m−1)+ E(Agm+ ) für verschiedene Ladungen m im Vakuum bestimmt. Dazu 36 ) − E(Ag36 wurden wieder die Cluster Agm+ 36 mittels SA optimiert. Zum Vergleich wurden diese Cluster ebenfalls in Lösung mit EG simuliert. In Lösung kann kein SA sinnvoll angewandt werden, da die potentielle Energie des Clusters von der des Lösungsmittels überlagert wird. Dafür wurde der Cluster für 1 ns bei 500 K simuliert und das Mittel der Energie bestimmt. Die Differenzen wurden aus diesen Energiemitteln berechnet. Die Ergebnisse sind in Abb. 2.32 dargestellt. In Lösung wird das DSF-Coul verwendet, welches Ladungsneutralität impliziert. Daher sieht man eine deutliche Dämpfung des Anstiegs der Energiedifferenzen mit der Ladung. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, aber sehr wichtig für die Stabilität höher geladener Cluster in Lösung. 102 E(Agm+ 36 )-E(Ag36 (m–1)+ ) / eV 2.4 Ergänzende Analysen 12 10 Agm+ 36 Gasphase In Lösung 8 6 4 2 0 −4 −3 −2 −1 0 1 Ladung m / e 2 3 4 Abbildung 2.32: Kraftfeldrechnungen (EAM+QEq) verschiedener Ionisationspotentiale für einen Ag36 Cluster in der Gasphase und in EG-Lösung. Deutlich kann die Dämpfung durch die Ladungsneutralisation in Lösung (impliziert durch das DSF-Coul) beobachtet werden. 2.4.2 „Magische“ Cluster Eine sehr interessante Fragestellung, weil wohldefiniert, ist es, wie die einzelnen, perfekten Clustertypen auf sich ändernde Ladungen reagieren. Ein Vergleich der Clustertypen untereinander ist jedoch schwer, da es, wie in Tabelle 2.1 gezeigt, nur wenige „magische“ Zahlen für jeden Typ gibt und diese sehr selten übereinstimmen. Eine Anomalie ist die Clustergröße 146/147, für welche es einen (4)-Mackayikosaeder, (3,2,2)-Marksdekaeder, (6,0)-Oktaeder und (7,3)-Kuboktaeder gibt. Daher bietet sich diese Größe zum Vergleich an. Damit die relative Energie der Cluster verglichen werden kann, müssen sie exakt dieselbe Größe haben. Da der Mackayikosaeder und der Kuboktaeder ein Atom mehr als die anderen Cluster haben, wurde dazu jeweils ein Eckenatom abgeschnitten. Es handelt sich also streng genommen nicht mehr um perfekte Cluster, aber der Unterschied ist gering und sollte den qualitativen Trend nicht beeinflussen. Im Vakuum ist der Mackayikosaeder die stabilste, ungeladene Struktur für diese Größe. Die relativen Energieunterschiede der anderen Typen zum (4)-IKO in Abhängigkeit von der Ladung sind in Abb. 2.33 dargestellt. Es ist deutlich zu sehen, dass die mehrfachverzwillingten Strukturen (4)-IKO und (3,2,2)-MDEK wesentlich stabiler bei neutraler Ladung sind. Mit zunehmender Ladung ändert sich dieses Verhältnis drastisch. Alle Typen werden, relativ gesehen, stabiler im Vergleich zum IKO, wobei die Änderung beim (6,0)-OKT am größten ist. Schließlich ist ab einer Ladung von 9 e bis 10 e der 103 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Relative Energie E − EIKO / eV 4 (3,2,2)-Marksdekaeder (6,0)-Oktaeder (7,3)-Kuboktaeder 3 2 1 0 (4)-Mackayikosaeder −1 −2 −3 0 2 4 6 8 10 Ladung m / e 12 14 Abbildung 2.33: Relative Stabilität der möglichen Typen des Agm+ 146 Clusters im Vakuum. Für neutrale Cluster sind alle Typen instabiler als der Mackayikosaeder, wobei der Marksdekaeder noch am stabilsten ist. Mit zunehmender Ladung verschiebt sich das Verhältnis, bis erst der Marksdekaeder und schließlich sogar der Oktaeder stabiler wird. (3,2,2)-MDEK und ab 12 e bis 13 e der (6,0)-OKT die stabilste Struktur. Die Ursache dafür ist hauptsächlich die starke Coulombabstoßung. Die Ladung ist ungleich auf dem Cluster verteilt und wird primär an den Ecken, Kanten und im geringeren Maß an der Oberfläche akkumuliert (Abb. 2.34). Diese Akkumulation ist sogar so stark, dass die unterliegende Schicht der Atome leicht negativ polarisiert wird. Strukturen mit vielen Ecken und Kanten, welche räumlich weit voneinander entfernt sind, bieten also eine bessere Möglichkeit der Minimierung der Coulombabstoßung. Deshalb ist die kompakte Struktur des Mackayikosaeder am wenigsten geeignet und verliert an relativer Stabilität. Der Oktaeder mit seiner sehr unsphärischen Form kann hingegen die Ladung am besten separieren. Der Vakuumvergleich ist zwar sehr systematisch, aber auch relativ unrealistisch. Zum einen werden isolierte Cluster kaum soviel Ladung aufnehmen (die atomare Kohäsionsenergie liegt bei Ag15+ 146 bei nur noch 0,5 eV bis 0,6 eV), zum anderen fehlt das Lösungsmittel und die neutralisierenden Gegenionen. Daher wurden dieselben Energieberechnungen auch in Lösung durchgeführt. Dazu wurden die Clusterstrukturen festgehalten und nur das Lösungsmittel war frei beweglich. Bei 500 K wurde für 200 ps das Energiemittel bestimmt. Die Differenz dieser Energiemittel gibt die relativen Stabilitäten an und in Abb. 2.35 104 2.4 Ergänzende Analysen (4)-Mackayikosaeder (3,2,2)-Marksdekaeder (6,0)-Oktaeder Kompletter Cluster Zweite Schale (7,3)-Kuboktaeder +0,75 e −0,75 e Abbildung 2.34: Farbliche Darstellung der atomaren Partialladungen für die verschiedenen Typen des Ag15+ 146 Clusters im Vakuum. Dargestellt sind jeweils der vollständige Cluster und nur die zweite, innere Schale. Es ist zu sehen, dass Ecken und Kanten bevorzugt Ladungen aufnehmen und die zweite Atomschale negativ polarisiert wird. 105 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Relative Energie E − EIKO / eV 4 (3,2,2)-Marksdekaeder (6,0)-Oktaeder (7,3)-Kuboktaeder 3 2 1 (4)-Mackayikosaeder 0 −1 0 5 Ladung m / e 10 15 Abbildung 2.35: Relative Stabilität der möglichen Typen des Agm+ 146 Clusters in Lösung bei 500 K. Die Cluster werden festgehalten und nur das Lösungsmittel ist beweglich. Das Energiemittel wurde über eine Zeit von 200 ps bestimmt (Standardabweichung ∼ 0,5eV). Zunächst sind Mackayikosaeder und Marksdekaeder ähnlich stabil, mit zunehmender Ladung wird der Kuboktaeder die stabilste Form. sind die Ergebnisse wieder im Bezug zum (4)-IKO angegeben. Es ist zu beobachten, dass alle Typen bei neutralen Clustern eine kleinere Energiedifferenz zum IKO haben. Der MDEK ist sogar etwas stabiler, wobei bei einer Standardabweichung der Energie von 0,5 eV der mittleren Energie genaue Reihenfolgen mit Vorsicht zu betrachten sind. Diese Verschiebung ist auf die kleinere Oberflächenspannung in Lösung zurückzuführen, womit der IKO, als Struktur mit der kleinsten Oberfläche, einen Teil seiner Triebkraft einbüßt. Mit zunehmender Ladung sind ähnliche Trends wie im Vakuum zu sehen, wobei die Änderung etwas schwächer ausfällt, bedingt durch die Ladungsneutralisation. Auffällig ist, dass der Kuboktaeder wesentlich schneller an relativer Stabilität zunimmt als der OKT. In Lösung sind neben den Ecken und Kanten die Flächen ein weiterer wichtiger Ladungssammelpunkt. Das Ausrichten des molekularen Dipols der Lösungsmittelmoleküle stabilisiert die Ladung auf den Oberflächen zusätzlich. Je weniger dicht gepackt die Oberfläche ist, desto weniger stoßen sich die Ladungen ab und desto besser können Oberflächenatome Ladung aufnehmen. Dadurch sind {1 0 0}-Oberflächen geeigneter und der KOKT gewinnt schneller an Stabilität. Im Fall des (7,3)-KOKT und des (6,0)-OKT mit Ladung 15 e nehmen Atome in einer (1 0 0)-Oberfläche 0,15 e bis 0,25 e Partialladung 106 2.4 Ergänzende Analysen (6,0)-Oktaeder (7,3)-Kuboktaeder +0,35 e −0,35 e Abbildung 2.36: Farbliche Darstellung der mittleren Partialladungen in Lösung. Die Ladungsverteilung ist gleichmäßiger über die Oberflächen verteilt und nicht wie im Vakuum hauptsächlich auf die Ecken und Kanten beschränkt. Dabei sind die (100)-Oberflächen (Frontseite des (7,3)-KOKT) stärker geladen. auf. Atome in einer (1 1 1)-Oberfläche hingegen nur 0,05 e bis 0,1 e (Abb. 2.36). Dieses Verhalten begünstigt Typen mit lose gepackten Oberflächen. 2.4.3 Intermediäre Cluster Neben den „magischen“ Clustern sind intermediäre Cluster, also Clustergrößen zwischen diesen perfekten Strukturen, sehr interessant. Solche Zwischenstufen bilden den Großteil der Wachstumshistorie. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle eine detaillierte Analyse von Wachstumsstufen aus tatsächlich durchgeführten Wachstumssimulationen erfolgen. Der Zweck dieser Analyse ist, neben dem besseren Verständnis der StabilitätsLadungs-Beziehung, auch ein Test der Langzeitstabilität der ausgewählten Strukturen. Die Simulationzeit zwischen den Wachstumsschritten ist begrenzt und es ist wichtig zu wissen, ob die Zeit reicht, um ein stabiles lokales Energieminimum zu finden. (0) (0) Dazu wurden zwei Cluster nach 50 und 100 Wachstumsschritten (Ag63 und Ag113 ) bei neutralem Wachstum (Abschnitt 2.3.1) gewählt. Die Wahl war zufällig und hat keine tiefere Bedeutung, es sollten nur „magische“ Größen vermieden werden. Die gewählten, neutralen Cluster wurden bei 500 K und 1 bar in EG-Lösung simuliert. Anschließend wurden diese Simulationen wiederholt, allerdings mit erhöhter Nettoladung von 5 e, 10 e, 15 e und 20 e. 2.4.3.1 Packung (0) Die Langzeitstabilität wurde exemplarisch für den Ag113 Cluster getestet. Dazu wurde eine Simulation für 35 ns durchgeführt. Zur Analyse wurde alle 250 fs eine Struktur gewählt und mithilfe der CNA analysiert. Dadurch wird eine zeitliche Veränderung der Packung 107 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 25 (0) Ag113 dec Atome 3 2 1 0 fcc Atome 20 CNA Motive CNA Motive 4 15 10 5 0 5 10 15 20 25 30 35 Simulationszeit / ns 0 0 5 10 15 20 25 30 35 Simulationszeit / ns (0) Abbildung 2.37: Auftreten verschiedener CNA-Packungsmotive in eine Ag113 Cluster während einer 35 ns Simulation. Das mehrfach-verzwillingte dec Motiv wird in etwa einem Drittel der Zeit gefunden. Es findet kein „Einrasten“ in eine bestimmte Struktur statt, sondern es herrscht eine Fluktuation der Packungsmotive. Die Reversibilität lässt auf kleine strukturelle Unterschiede schließen. innerhalb des Clusters sichtbar (Abb. 2.37). Als Beispiele wurden mehrfach-verzwillingte Packungen bei dec-Atomen und kristalline Packungen bei fcc-Atomen gewählt. Es ist klar zu beobachten, dass es keine absolut bevorzugte Struktur gibt und Anzahl der Atome mit bestimmter Packung schwankt. Im Hinblick auf die Langzeitstabilität verrät dies, dass, um alle Möglichkeiten abzutasten, offensichtlich wesentlich längere Simulationen nötig wären. Da aber wahrscheinlich jede dieser Strukturen zum Zeitpunkt eines neuen Wachstumsschrittes auftreten kann, ist es für die Wachstumssimulationen eher sinnvoll, mehrere parallele Simulationen und nicht nur eine lange durchzuführen. Um einen Trend von Packungen mit zunehmender Ladung der Cluster zu analysieren, wurden die Mittelwerte der Anzahl von CNA-Motiven gebildet. Eine zweite untersuchte Größe ist der durch die Accessible-Surface-Area abgeschätzte, gemittelte Flächeninhalt der Oberflächen. Die Ergebnisse sind in Abb. 2.38 dargestellt. Wie erwartet vergrößert sich die Oberfläche mit zunehmender Ladung, wobei dieser Anstieg nicht linear ist und für schwache Ladung nahezu kein Anstieg bemerkbar ist. Tatsächlich sinkt die mittlere Oberfläche bei Ag5+ 113 Clustern im Vergleich zum ungeladenen Cluster. Die Ursache hierfür ist in den mittleren Packungen ablesbar. Bei schwachen und sehr starken Ladungen kann die Anzahl der mehrfachverzwillingten Packungsmotive dec und ico ansteigen. Der Anstieg der Verzwillingung scheint zunächst unlogisch, da ja festgestellt wurde, dass Ladungen 108 2.4 Ergänzende Analysen 480 ASA / Å 2 440 Agm+ 63 420 400 380 360 340 320 0 Oberfläche 640 ASA / Å 2 620 5 10 15 20 Nettoladung / e Agm+ 113 600 580 560 540 520 0 5 10 15 20 Nettoladung / e Mittelwert der CNA Motive 460 Mittelwert der CNA Motive Oberfläche Packung 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 fcc 0 dec ico 5 10 15 Nettoladung / e Packung 14 fcc 12 dec ico 10 8 6 4 2 0 0 5 10 15 20 Nettoladung / e m+ Abbildung 2.38: Die statistische Auswertung der Agm+ 63 und Ag113 Cluster für verschiedene Ladungen. Es werden die gemittelte Accessible-Surface-Area und Common-Neighbor-AnalysisPackungsmotive gezeigt. Für hohe Ladungen nimmt die Oberfläche stark zu, für schwache Ladungen ist die Zunahme kaum signifikant. Im Fall des Ag5+ 113 Clusters nimmt die Oberfläche sogar ab. Bei den Packungen sieht man eine Zunahme der Verzwillingung und eine Abnahme der dichtesten Packung. 109 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Abbildung 2.39: Hervorgehobenes ico Motiv (orange) in einem Ag10+ 63 Cluster. Es befindet sich entgegen der klassischen Mackayikosaeder nicht im Zentrum des Clusters, sondern nah an Oberfläche. Dies ist eine Folge der erhöhten Rauigkeit bei stark geladenen Clustern. generell größere Oberflächen und damit unsphärische Partikel wie Oktaeder bevorzugen. Damit fällt scheinbar die Triebkraft für die Verzwillingung weg. Doye et al. [141] zeigt am Beispiel des Morsepotentials, dass weiche Potentiale eher zu verzwillingten und harte Potentiale eher zu dichtest gepackten Strukturen neigen. Das 1/r Coulombpotential ist sehr langreichweitig und weich, was in Verbindung mit dem EAM zu einer Aufweichung der Wechselwirkungen führen kann. Phänomenologisch gesprochen verliegt die durch die Verzwillingung erzeugte Spannung an Signifikanz, da die Bindungen schwächer werden. Dieser Fakt erhöht die Wahrscheinlichkeit von dec- und, im geringeren Maße, icoMotiven. Für zunehmende Ladung wird dieses Verhalten von der Ladungsakkumulation auf den Oberflächen überlagert und die dichtest gepackten Strukturen können wieder 15+ dominieren (siehe Ag10+ 113 und Ag113 ). Bei hohen Ladungen tritt ein anderes Phänomen auf: die Cluster neigen zu unsphärischen, gestreckten Habita, um die Ladung besser zu separieren und zusätzlich wird die Oberfläche sehr rau. Diese Rauheit ist der fortgesetzte Trend der Bevorzugung von {1 0 0} über {1 1 1}-Oberflächen bei geladenen Clustern. Vor allem oberflächennahe ico-Motive können solche Rauheit hervorrufen (als Beispiel siehe Abb. 2.39). Damit steigt die Anzahl solcher Motive bei hohen Ladungen, auch wenn dies indirekt ebenso eine Konsequenz der Oberflächenvergrößerung ist. 110 2.4 Ergänzende Analysen 2.4.3.2 Bindungsenergie und Ladungsverteilung Eine weitere Analyse bezieht sich hauptsächlich auf die Ladungsverteilung in den intermediären Clustern. Es wurde für jede der bereits diskutierten Langzeitsimulationen eine Konfiguration gewählt, welche möglichst repräsentativ war (häufig auftretende Packungen). Die gewählten Strukturen sind in Abb. 2.40 und 2.41 mit entsprechenden Partialladungen dargestellt. Wie bereits im Abschnitt Abschnitt 2.4.3.1 diskutiert, sieht man eine deutliche Streckung der Partikel mit zunehmender Ladung. Um die Ladungsverteilung zu testen, wurden in einer Kooperation mit der Arbeitsgruppe von Prof. Görling die Energien und Ladungen unter Verwendung von DFT-Rechnungen geprüft. Die Details zu den DFT-Rechnungen sind in der Veröffentlichung [142] zu finden. Es wurde das Austausch-Korrelations-Funktional von Perdew, Burke und Ernzerhof (PBE) [143] zusammen mit dem def2-TZVP Basissatz [144] eingesetzt. Atomare Punktladungen wurden mit der natural orbital analysis (NPA) [145] bestimmt. Bindungsenergie Zunächst wurden Bindungsenergien und das IP untersucht (Abb. 2.42). (0) Bei der Bindungsenergie wurde jeweils dieselbe Struktur des Ag113 Clusters verwendet und diese aufgeladen. Auf diese Weise bleibt der Anteil der EAM konstant und die Entwicklung der QEq kann verfolgt und verglichen werden. Es zeigt sich eine gute Übereinstimmung zwischen dem EAM+QEq Ansatz und der DFT Rechnung. Die EAM überschätzt die Bindungenergien leicht (∼ 8%) im Vergleich zur DFT (siehe Bindungsenergie für Ladung 0), wobei die Differenz von der zunehmenden Dominanz der Coulombabstoßung kompensiert wird. Diese Abweichung lässt sich schwierig diskutieren, da der Fehler auch auf der Seite der DFT liegen könnte. Generell stimmen die Coulombanteile der QEq gut mit der DFT überein. Die Übereinstimmung zeigt sich auch beim IP, jedoch wird es systematisch um ungefähr 1 eV überschätzt. Die Gründe für die Überschätzung sind wahrscheinlich ähnlich gelagert wie bei den Vergleichen mit dem Experiment (siehe Abschnitt 2.4.1). Zuletzt wurde die (0) Energie für die Änderung der Form des Ag113 zum Ag20+ 113 Cluster verglichen (Abb. 2.43). Dabei wurde einmal die Ladung für jeweils beide Strukturen auf 0 e und 20 e gesetzt. Die Energiedifferenz wird von der EAM+QEq stärker angegeben als bei der DFT (∼2 eV). Relativ und qualitativ ist die Übereinstimmung für ein nicht weiter angepasstes Kraftfeld erstaunlich gut. Die Energien zeigen zudem gut die starke Triebkraft für die Vergrößerung der Oberfläche durch Streckung des Clusters bei hohen Ladungen. 111 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Ag0+ 63 Ag5+ 63 Ag10+ 63 +0,8 e −0,8 e Ag15+ 63 Abbildung 2.40: Strukturen und Vakuum-Partialladungen vom Agm+ 63 Cluster in Lösung. Ag0+ 113 Ag5+ 113 Ag10+ 113 +0,9 e −0,9 e Ag15+ 113 Ag20+ 113 Abbildung 2.41: Strukturen und Vakuum-Partialladungen vom Agm+ 113 Cluster in Lösung. 112 2.4 Ergänzende Analysen 50 Bindungsenergie / eV (0+m)+ Ag113 0 QEq+EAM DFT −50 IP / eV −100 −150 −200 −250 −300 0 5 10 15 20 Hinzugefügte Ladung m / e (a) Bindungsenergie 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Ag113 QEq Ag113 DFT Ag63 QEq Ag63 DFT 1. 6. 11. 16. Ionisation 21. (b) Ionisationspotential + Abbildung 2.42: Darstellung der Bindungsenergien (∆E = E(Agm+ 113 )−m·E(Ag )−(113−m)· E(Ag)) und des Ionisationspotentials für die verschieden geladenen Cluster. Die Bindungsenergie (0) ist dabei, ausgehend von der Struktur des neutralen Ag113 Cluster unter Hinzufügen von mehr Ladung dargestellt. Die Ionisationspotentiale hingegen wurden für die verschieden geladenen Strukturen bestimmt. Q=0 e ∆E = Q=20 e +9 eV EAM+QEq +7 eV DFT ∆E = −20 eV EAM+QEq −18 eV DFT Abbildung 2.43: Darstellung der Energieunterschiede beim Ändern der Form des Ag0+ 113 in 20+ die Form des Ag113 für die Gesamtladung Q = 0 e und 20 e. 113 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Ladungsverteilung Zusätzlich zu den Energien wurden die Partialladungsverteilungen aus der NPA und QEq verglichen. Die Korrelation ist in Abb. 2.44 dargestellt. Neutrale Cluster sind nicht dargestellt, da ohne externes elektrisches Feld (wie beispielsweise von einem Lösungsmittel) im Vakuum die QEq alle Partialladungen auf 0 e setzt. Die Ladungsverteilung wird in diesem Zustand durch die EAM implizit beschrieben. Erst für höhere Ladungen wird der QEq-Anteil signifikant. Dies kann gut durch die zunehmende Korrelation bei höheren Ladungen beobachtet werden. Dadurch sind schwach geladene Cluster bei der EAM+QEq tendenziell weniger stark polarisiert als bei der DFT. Die Korrelation ist insgesamt aber gut und zeigt, dass die QEq sinnvolle Partialladungen 10+ errechnet. Die einzig große qualitative Abweichung wurde bei den Ag5+ 63 und Ag63 Clustern gefunden. Das zentrale Atom wird durch die QEq leicht positiv (∼+0,2 e), hingegen bei der NPA negativ (∼−0,3 e) geladen. Die Ungenauigkeit stammt wahrscheinlich vom höheren kovalenten Bindungscharakter, welcher nur ungenügend durch die QEq beschrieben werden kann. Die Übereinstimmung insgesamt bei den Energien und Partialladungen ist eine gute Bestätigung der Qualität des methodischen Ansatzes von EAM+QEq. Mit den gewonnen Daten können auch die bei den „magischen“ Clustern bereits beobachteten Phänomene genauer studiert werden. So konnten wieder negativ polarisierte Atome in eigentlich stark positiven Clustern gefunden werden. Dabei ist eine klare Hierarchie der Partialladungen zu erkennen (Abb. 2.45). Je weiter ein Atom an der Oberfläche liegt und damit eine niedrige Koordinationszahl aufweist, desto positiver ist die Partialladung. Als Konsequenz dieser stark positiven Oberflächenpolarisation werden Atome in der zweiten, unterliegenden Schicht leicht negativ geladen, um die hohe Ladungsakkumulation zu stabilisieren. Zum inneren kristallinen Bereich der Partikel hin werden die Ladungen immer schwächer. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass die Summe der Ladungen weiterhin positiv ist (Abb. 2.46). 114 0,4 Ag5+ 63 0,2 0 −0,2 −0,4 1,131 × −0,010 R = 0,772 Partialladungen NPA / e Partialladungen NPA / e 2.4 Ergänzende Analysen 0,6 0,4 Ag10+ 63 0,2 0 −0,2 −0,4 −0,6 0,985 × +0,005 R = 0,892 Partialladungen NPA / e Partialladungen NPA / e −0,4 −0,2 0 0,2 0,4 Partialladungen QEq / e 0,2 0 −0,2 −0,6 −0,8 0,839 × +0,038 R = 0,947 −0,8−0,6−0,4−0,2 0 0,2 0,4 0,6 0,8 Partialladungen QEq / e Ag5+ 113 0,1 0 −0,1 −0,2 −0,3 0,4 1,672 × −0,025 R = 0,842 −0,3−0,2−0,1 0 0,1 0,2 0,3 Partialladungen QEq / e Ag10+ 113 0,2 0 −0,2 −0,4 1,056 × −0,004 R = 0,876 −0,4 −0,2 0 0,2 0,4 Partialladungen QEq / e Partialladungen NPA / e Partialladungen NPA / e Ag15+ 63 0,4 −0,4 0,2 −0,6−0,4−0,2 0 0,2 0,4 0,6 Partialladungen QEq / e 0,8 0,6 0,3 0,6 0,4 Ag15+ 113 0,2 0 −0,2 −0,4 −0,6 0,996 × +0,002 R = 0,918 −0,6−0,4−0,2 0 0,2 0,4 0,6 Partialladungen QEq / e Abbildung 2.44: Darstellung der Korrelation der Partialladungen, bestimmt mit der QEq und der NPA Methode. Die roten Linien geben die Ausgleichgeraden an und R ist der Korrelationskoeffizient. 115 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln 0,4 Zweite Schicht Partialladung / e 0,3 0,2 0,1 0 −0,1 Erste Schicht (Oberfläche) −0,2 −0,3 15 20 Kern 25 30 35 40 45 50 55 Anzahl der Atome innerhalb von 2 deq 60 Abbildung 2.45: Abhängigkeit der atomaren Partialladungen von der Position des Atomes im Cluster Ag10+ 113 . Die Position wird über die Anzahl der Atome innerhalb des doppelten Gleichgewichtsabstands Ag−Ag deq bestimmt. Atome der ersten Schicht sind stark positiv geladen, wohingegen Atome der zweiten Schicht überwiegend leicht negativ polarisiert werden. Zweite Schicht Ladung: −0,7 e Erste Schicht Ladung: +3,6 e Abbildung 2.46: Hervorhebung der negativen Polarisation der zweiten, atomaren Schicht beim Ag20+ 113 Cluster. 116 2.5 Diskussion und Zusammenfassung 2.5 Diskussion und Zusammenfassung Die vorliegenden Untersuchungen zum Wachstum von Silberpartikeln in Ethylenglykollösung lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Ein Teil umfasste die Analyse der Verteilung der Ladung innerhalb ausgewählter, geladener Cluster. Dabei zeigte sich, dass das entwickelte Kraftfeldmodell in der Lage ist, experimentelle Potentiale wie das Ionisationspotential zu reproduzieren (wenn auch mit leichten, systematischen Abweichungen). Zudem stimmt die Verteilung der Partialladungen und die potentiellen Energien mit DFT-Ergebnissen gut überein. Interessante Effekte wie die negative Polarisation von einzelnen Atomen, welche unter stark positiven Oberflächenatomen liegen, zeigen ein deutlich komplexeres Verhalten als die reine Intuition vermuten lässt. Der Einfluss der neutralisierenden Lösung wurde studiert und zeigte eine deutliche Dämpfung der Wechselwirkungen. Die starke Präferenz für die Ladungsakkumulation auf besonders exponierten Eckatomen wird etwas abgeschwächt und die Partialladungen verteilen sich gleichmäßiger auf der Oberfläche von Partikeln. Die zweite Kategorie der Untersuchungen sind die eigentlichen Wachstumssimulationen, in welchen vielfältige Einflüsse der elektrochemischen Umgebung auf das Wachstumsverhalten entdeckt wurden. Wachstum in Lösung zeigt bereits ohne Ladungseinfluss starke Unterschiede zu Untersuchungen in der Gasphase. So ist die Präsenz von Ikosaederclustern verringert, was sich anhand von Stabilitätsuntersuchungen auch quantifizieren ließ. Mit einem entwickelten, abstrahierten Simulationsmodell war es auch erstmals möglich, direkt das Wachstum unter Einfluss von verschieden starken (abstrakten) Reduktionsmitteln zu testen. Die Einflüsse lassen sich auf zwei wesentliche Effekte reduzieren: • Verringerung der Bindungsstärke • Verringerung der Tendenz zur Oberflächenminimierung Der erste Effekt begünstigt vornehmlich verzwillingte Motive und Strukturen, da die von diesen erzeugte innere Spannung deutlich weniger signifikant wird. Komplizierter ist die Wirkung des zweiten Effektes. Zunächst wird die relative Stabilität hin zu klassischen Strukturen mit größeren Oberflächen verschoben und die Triebkraft für die mehrfache Verzwillingung sinkt. Dieser Effekt trat bereits beim Übergang von der Gasphase in die Lösung auf. Ab einer gewissen Oberflächenvergrößerung führt die Tendenz zu einer deutlich gesteigerten Rauheit der Oberfläche. Hier treten wieder vermehrt mehrfachverzwillingte Motive auf. Allerdings nicht in der bekannten zentralen, strukturbestimmenden Form, sondern als oberflächennahe „Aufrauer“. 117 Kapitel 2 Wachstum von Silberpartikeln Interessanterweise scheint sich die Kombination beider Effekte nicht linear zu verhalten. So können vier unterschiedliche Bereiche für geladene Partikel ausgemacht werden: 1. Neutrale Cluster 2. Schwache geladene Cluster 3. Moderat geladene Cluster 4. Stark geladene Cluster Neutrale Cluster sind, wie bereits erwähnt, von Dekaedern und teilweise kristallinen Partikeln dominiert. Bei schwach geladenen Clustern hingegen nimmt die Tendenz zur Verzwillingung zu und stärker verzwillingte Strukturen häufen sich. Moderate Ladungen führen zu vermehrter Bildung von kristallinen, nahezu unverzwillingten Partikeln. Starke Ladungen führen zu stark verzwillingten und sehr rauhen Clustern. Zudem nehmen die Partikel vermehrt eine gestreckte Form an. Einzelne Untersuchungen in dieser Arbeit hatten zum Teil durch limitierte Rechenressourcen eine geringe statistische Probengröße. Aber da das Bild sich in verschiedenen Szenarien wiederholte, ist dennoch von einer Systematik auszugehen. Besonders moderate und stark geladene Cluster zeigten eine hohe Konsistenz der Ergebnisse. Diese Resultate lassen eine direkte Steuerung des Partikelwachstums, nur durch die Wahl des Reduktionsmittels, vermuten. Konkrete experimentelle Beweise sind leider nicht erhältlich, da alle vorhandenen Untersuchungen sich auf mögliche oberflächenstabilisierende Additive und ähnliche Aspekte konzentrieren. Die Reduktionsumgebung ist kaum erforscht und ihr Einfluss oft auf bloße kinetische Kontrolle reduziert. Es existieren aber Arbeiten, die einen direkten Zusammenhang zwischen Ladung und Partikelform zeigen [146]. In diesen werden Partikel weniger sphärisch, je höher die Ladung ist. Dies ist ein Ergebnis, welches sich mit Erkenntnissen aus dieser Arbeit deckt. Auch wenn sich in der experimentellen Arbeit keine Aussagen bezüglich der Packung finden, liegt die Vermutung nahe, dass auch hier ein direkter Zusammenhang besteht. 118 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 119 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.1 Einführung - Stand der Forschung 3.1.1 Anwendungsmöglichkeiten Die Erforschung und Anwendung von Zinkoxid teilt sich in mehrere Perioden, wobei die ersten modernen Untersuchungen bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückdatieren. Für diese Arbeit wird sich auf eine kurze Zusammenfassung dieses mehrere zehntausende Veröffentlichungen umfassenden Forschungsgebiets beschränkt. Eine ausführlichere Übersicht über die Entwicklung bieten z.B. die Abhandlungen von Klingshirn et al. [147, 148], sowie Dutzende andere Übersichtsartikel und Bücher. Die ersten Forschungen für Zinkoxid zielten auf generelle Materialeigenschaften und die Einsetzbarkeit in industriellen Prozessen. Heute werden mehrere tausend Tonnen jährlich produziert. Hauptsächlich wird es als Additiv für Gummi und Zement verwendet [147]. Im Gummi unterstützt Zinkoxid den Vulkanisierungsprozess und erhöht signifikant die Wärmeleitfähigkeit – essentiell für die Lebensdauer von Reifen. Beim Zement wird die Herstellungszeit verkürzt und der Widerstand gegen Wasser verbessert. Neben diesen Anwendungen findet es in geringerem Maß Verwendung in der Medizin und Kosmetik (z.B. als UV-Schutz in Sonnencreme). Seit zwei Jahrzehnten fokussiert sich die Forschung auf die Verarbeitung von Zinkoxid zu Nanostrukturen (in mindestens einer Raumdimension eine Ausdehnung von wenigen Nanometern). Die Bandbreite der möglichen Strukturen ist erheblich und reicht von Nanopartikeln, -drähten, -bändern sowie -scheiben bis zu Dünnschichten und vielem mehr [149, 150]. Diese Vielfalt, kombiniert mit den elektrischen und optischen Eigenschaften von Zinkoxid als II-IV Halbleiter, macht es zu einem sehr interessanten Kandidaten für eine Reihe von Anwendungen. Zinkoxid ist mit einer relativ großen Bandlücke (3,4 eV) für sichtbares Licht transparent. Dadurch ist es ein geeignetes Material für sogenannte transparent conductive oxides [151]. Mit Aluminium, Gallium und anderen Elementen dotiertes Zinkoxid kann so als billige und ungiftige Alternative zum de facto Standard Indiumzinnoxid (ITO), z.B. in Solarzellen, dienen. Desweiteren wird Zinkoxid für kleine elektronische Bauteile wie field effect transistors oder thin film transistors [152, 153] verwendet. Eine weitere nutzbare Eigenschaften ist die starke Bindungsenergie eines Exzitons (60 meV) und die starke Lumineszenz im grünen Bereich des Spektrums. Dies macht es interessant als Material für Leucht- und Laserdioden [149, 153]. Die sehr empfindliche Oberflächenleitfähigkeit bei adsorbierten Molekülen ermöglicht es, Gassensoren zu konstruieren [154]. Zusätzlich 120 3.1 Einführung - Stand der Forschung gibt es noch viele weitere Eigenschaften und eine stetig wachsende Zahl von potentielle Anwendungen. Besonders die chemische Beständigkeit und die Möglichkeit große Einkristalle zu erzeugen, machen es außerdem reizvoll. Auch die umfangreiche Defektchemie im Zinkoxid gibt viel Raum für Modifikationen [149, 153]. Nicht zuletzt weist Zinkoxid in der Wurtzitstruktur einen piezoelektrischen Effekt auf und kann entsprechende Anwendung finden. 3.1.2 Synthesen Wesentliche Aspekte der Zinkoxidforschung sind die große Vielfalt an (Nano)-Strukturen und die Möglichkeit, die Kristallbildung zu steuern. Dadurch erst lassen sich all die angesprochenen Anwendungen gezielt gestalten. Entsprechend wichtig sind steuerbare Synthesen. Häufige Reaktionswege sind die Abscheidung aus der Gasphase über physical vapor deposition oder chemical vapor deposition [147, 150, 149]. Verschiedene Varianten (z.B. pulsed laser deposition [155],metal-organic chemical vapor deposition [156],vaporliquid-solid method [157]) wurden entwickelt und oft werden diese in Kombination mit einem Substrat für epitaktisches Wachstum verwendet. Desweiteren werden viele Synthesen direkt in Lösung durchgeführt, so zum Beispiel die Hydrothermalsynthese und das Sol-Gel-Verfahren. Bei der Hydrothermalsynthese findet das Wachstum in einem Autoklaven bei hohem Druck und hohen Temperaturen statt [158]. Sie ist sehr verbreitet, da sie sich besonders für große Einkristalle eignet. Für Nanostrukturen ist das Sol-Gel-Verfahren [159] von großem Interesse. Es erfolgt ein Wachstum von Zinkoxid durch die Reaktion eines Präkursor mit einer Base. Als Lösungsmittel kommen meist Alkohole zum Einsatz. Häufig werden Zinacetat ZnAc2 und LiOH in Ethanol (EtOH) eingesetzt [160, 161]. Die allgemeine Reaktionsgleichung lautet: EtOH ZnAc2 + 2LiOH −−−→ ZnO ↓ + H2 O + 2Li+ + 2Ac− (3.1) Der Ablauf der Synthese ist meist zweistufig: 1. Vorbehandlung des Präkursors durch Erhitzen 2. Ausfällen von Zinkoxid durch Zugabe einer Base Der genaue Wachstumsmechanismus ist unbekannt und Gegenstand dieser Arbeit. 121 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.1.3 Kristall- und Oberflächenstrukturen Die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Zinkoxid wurden von Özgür et al. [155] in einer sehr erschöpfenden Abhandlung zusammengefasst. Es gibt verschiedene Kristallmodifikationen von Zinkoxid, wobei die Wurtzitmodifikation (Abb. 3.1) die natürlich vorkommende und stabilste ist. Das entsprechende Mineral ist Zinkit (ρ ≈ 5,7 g/cm3 ). Der Wurtzitstruktur fehlt ein Inversionszentrum, weshalb entlang der [0 0 0 1]-Richtung ein permanenter Dipol entsteht. Daneben kann Zinkoxid noch in anderen Modifikationen, wie Zinkblende und Kochsalz, dargestellt werden. Die Kochsalzmodifikation wird nur durch hohe Drücke und Zinkblende durch epitaktisches Aufwachsen erhalten. Kürzlich wurden zudem zur Existenz weiterer ungewöhnlicher Modifikationen eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt [162, 163]. Weiterhin wurde auch die Beschaffenheit der verschiedenen Oberflächen intensiv untersucht. Der Fortschritt auf diesem Gebiet wurde von Wöll [164] zusammengetragen. Zinkoxid kristallisiert in der Regel zu hexagonalen Stäbchen mit einem Dipol entlang des Kristalls (Abb. 3.1). Die sechs Seitenflächen sind alle unpolare {1 0 1 0}-Kristallflächen. Sie weisen dieselbe Zahl von Sauerstoff- und Zinkatomen in jeder Kristallschicht auf. Zudem sind sie die energetisch stabilsten Flächen des Zinkoxids. Oft findet man längliche Kristalle mit besonders hohem {1 0 1 0}-Anteil. Die Deckflächen sind beide polar und nicht identisch. Während die (0 0 0 1)-Oberfläche mit Zinkatomen terminiert ist, weist die (0 0 0 1)-Oberfläche entsprechend nur Sauerstoffatome auf. Die Stabilität der polaren Flächen wurde in der Literatur intensiv diskutiert. Normalerweise sind polare Metalloxidoberflächen im Vakuum nicht stabil und erfahren eine Rekonstruktion. Für Zinkoxid wird dies in vielen Experimenten scheinbar nicht beobachtet. Im Fall der (0 0 0 1)-Oberfläche wird ein hohe Rauheit mit dreieckigen Inseln beobachtet und der Oberflächengehalt von Zink ist dadurch um 25% reduziert [165]. Dies ist in Übereinstimmung mit der Vorstellung, dass in der idealen (0 0 0 1)-Oberfläche durch die fehlende Sauerstoffsättigung der Koordinationstetraeder (in der Wurtzitkristallstruktur) die Ladungsdichte um 1/4 zu hoch ist. Für (0 0 0 1)-Oberflächen ist die Situation schwieriger, da keine Rauheit oder Rekonstruktion zu beobachten ist [165]. Tatsächlich scheint die scheinbare Stabilität an der extrem hohen Wasserstoffaffinität der Oberfläche zu liegen. Die Bildung von Hydroxidionen wirkt stabilisierend und schon kleine Verschmutzungen reichen, um die Oberfläche abzusättigen. Dies wird auch durch DFT-Rechnungen bestätigt [166]. In sehr wasserstoffarmen Umgebungen kann schließlich auch eine Rekonstruktion beobachtet werden [167]. Der wahrscheinliche Mechanismus ist eine Vakanz bei 1/4 aller Sauerstoff- 122 3.1 Einführung - Stand der Forschung stellen. So wird, ähnlich der (0 0 0 1)-Seite, die Ladungsdichte angepasst. Eine atomare Darstellung der Oberflächen findet sich in Abb. 3.2. Neben diesen Typen treten bei Kristallen auch seltener {1 1 2 0} und {1 1 2 1}-Flächen auf [164]. Einige Flächen wie die (2 1 1 0) kommen hingegen nur bei gewissen Nanostrukturen gehäuft vor [150]. Zuletzt spielt Wasserstoff respektive Wasser generell eine große Rolle bei der Stabilisierung von Zinkoxid-Oberflächen durch Hydroxidionen (wie bei den polaren Oberflächen bereits erwähnt). Zahlreiche theoretische und experimentelle Untersuchungen beschäftigen sich mit diesem Umstand [166, 168, 169, 170, 171]. Es kann davon ausgegangen werden, dass unter normalen experimentellen Bedingungen keine idealen, glatten Flächen existieren. Dipol (0 0 0 1) (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.1: Kristallstruktur und -habitus von ZnO im Wurtzittyp (Raumgruppe P 63 mc; Gitterparameter a = 3,25 Å c = 5,20 Å [172]). Die tetraedrische Koordination in der Kristallstruktur ist hervorgehoben (Zinkatome sind cyan und Sauerstoffatome rot). Der typische hexagonale Habitus ist mit den wichtigsten Oberflächentypen dargestellt. In Einkristallen existiert ein makroskopischer Dipol entlang der [0 0 0 1]-Richtung. (a) (1 0 1 0) (b) (0 0 0 1) (c) (0 0 0 1) Abbildung 3.2: Darstellung der wichtigsten idealen Oberflächentypen des Zinkoxids ohne Rekonstruktionen. Die (1 0 1 0)-Oberfläche ist unpolar, die (0 0 0 1) und (0 0 0 1)-Oberflächen polar. Zinkatome sind cyan und Sauerstoffatome rot gefärbt. 123 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.1.4 Wachstumsmechanismus Die Art des Wachstums von Zinkoxid hängt stark von der verwendeten Synthesevariante ab. Zum Mechanismus bei der Abscheidung aus der Gasphase gibt es einige Simulationen [173, 174]. Es zeigt sich eine Bildung von wachsenden Kanten auf den Oberflächen. Interessanter ist jedoch das Wachstum in Lösung. Viele experimentelle Untersuchungen beziehen sich auf die Sol-Gel-Synthese. Erste Arbeiten postulierten eine diffusionskontrollierten Mechanismus über Ostwaldreifung [161]. Bei der Ostwaldreifung (nicht zu verwechseln mit der Stufenregel nach Ostwald Abschnitt 2.1.4) lösen sich kleine Partikel auf und größere Partikel wachsen verstärkt [175]. Dieses Phänomen beruht auf der höheren Instabilität mit abnehmender Partikelgröße. Spätere Arbeiten zeigten, dass die Wachstumsgeschwindigkeit nicht nur durch Diffusion sondern auch durch Oberflächenreaktionen reguliert wird [176, 177]. Das Einbauen von neuem Material in bestehende Oberflächen und Partikel ist demzufolge eine komplexere, noch unbekannte Reaktion. Zudem konnte eine Passivierung durch erhöhte Konzentration der Base erreicht werden. Es wird eine Abschirmung der tendenziell negativ geladenen hydroxilierten Zinkoxidoberflächen durch eine sekundäre Schicht von Gegenionen (z.B. Li+ ,Na+ ) vermutet. Neuere Arbeiten von Segets et al. mit umfangreichen statistischen Daten untermauern das Modell der Diffusionskontrolle beim Wachstum [178, 179]. Allgemein wird von einem mehrstufigen Wachstumsmechanismus ausgegangen. Die Nukleation und das Wachstum kleiner Partikel unterscheidet sich dabei substantiell von der Reifung größerer. Zunächst reagiert Zn(Ac)2 zu basischem Zinkacetat [180]: 4Zn(Ac)2 + H2 O −−→ Zn4 O(Ac)6 + 2H+ + 2Ac− (3.2) Diese Reaktion findet bereits bei der Vorbehandlung ohne Zugabe von Base statt. Die Sauerstoffquelle ist höchstwahrscheinlich Wasser, da unter wasserarmen Bedingungen die Reaktion sehr schlecht abläuft. Die Struktur des basischen Zinkacetats (Abb. 3.3) ist tetraedrisch und kann somit als Baustein des Zinkoxidkristalls verstanden werden. Neben basischem Zinkacetat kann auch Hydroxidacetat Zn5 (OH)8 (Ac)2 · 2 H2 O vorkommen [181]. Der Mechanismus der Nukleation über eine Reaktion dieser kleinen Cluster ist noch unbekannt. Spanhel beschreibt eine kaskadierte Vereinigung dieser Zn4 O Einheiten zu größeren Clustern [159, 182]. Vier Zn4 O Einheiten bilden dabei eine tetraedrische Überstruktur Zn10 O4 (Ac)12 , welche hierarchisch weitere, größere Überstrukturen bildet (Schematisch Zn4 O −−→ Zn10 O4 −−→ Zn34 O16 −−→ Zn130 O64 . . . ). Diese Annahme passt 124 3.1 Einführung - Stand der Forschung Abbildung 3.3: Atomare Darstellung von basischem Zinkacetat Zn4 O(Ac)6 . Die Zinkatome (cyan) bilden ein Tetraeder in dessen Mitte ein Sauerstoffatom (rot) sitzt. Alle Kanten des Tetraeder sind von Acetat (Kohlenstoff grau, Wasserstoff weiß) überbrückt. zumindest teilweise gut zur untersuchten Wachstumskinetik mittels population balance model [179], es traten jedoch größere systematische Abweichungen auf. Ein große Frage bleibt, wie die Hohlräume gefüllt werden und wie die genaue Reaktion zwischen den Monomeren aussieht. Zudem entsprächen die Überstrukturen der Sphaleritkristallstruktur und nicht der für Zinkoxid typischen Wurtzitstruktur. Unabhängig vom genauen Wachstumsmechanismus gab es viele Untersuchungen zum Einfluss verschiedener Syntheseparameter wie Temperatur, Liganden und Lösungsmittel (z.B. [180, 183, 184]). So führt steigende Temperatur zur Bildung von weniger Zinkoxid und mehr Zinkhydroxidacetat. Stärker bindende Liganden verlangsamen allgemein die Reifung von Zinkoxid. Sie können zudem einen großen Einfluss auf die Form der Partikel haben. Tian et al. konnten zum Beispiel mit Citrat als Stabilisator vielfältige Plättchenstrukturen synthetisieren [185]. 125 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.2 Modellentwicklung 3.2.1 Modellsynthese Ähnlich wie bei den Silbernanopartikeln stellt sich die Frage nach der geeigneten Wahl des Modellsystems. Zielstellung ist wieder ein möglichst allgemeines Verständnis für das Wachstum von Zinkoxidnanopartikeln in Lösung. Wie in der Einführung herausgearbeitet, ist die Sol-Gel Synthese ein phänomenologisch gut untersuchtes System. Das Studieren des genauen atomaren Mechanismus kann nicht nur das Verständnis verbessern, sondern auch die Entwicklung verbesserter Syntheserouten ermöglichen. Frühere Arbeiten von Kawska et al. untersuchten bereits das Wachstum und die Reifung nach der Reaktion Zn2+ + 2OH– −−→ ZnO ↓ + 2H2 O in Ethanol [186]. Dabei wurde auf jegliche Additive verzichtet und das reine Ion-für-Ion-Wachstum aufgeklärt. Auf diese Untersuchungen soll die vorliegende Arbeit aufbauen. Zusätzlich soll der Einfluss von Additiven und Stabilisatoren genauer studiert werden. Behufs dessen wurden daher zwei interessante Stufen des Wachstums aus dieser Synthese ausgewählt: 1. Frühe Reaktion des Präkursors Zn4 O(Ac)6 2. Wachstum von (1 0 1 0) und (0 0 0 1)-Oberflächen Die Agglomeration von Zn4 O(Ac)6 -Clustern ist wahrscheinlich der Zeit und Partikelform bestimmende Schritt der ersten Synthesestufen und daher von besonderem Interesse. Das Oberflächenwachstum dagegen ist Teil von vielen möglichen Wachstumsmechanismen größerer Partikel. Es spielt sowohl bei Oberflächenreaktionen als auch bei diffusionskontrollierten Mechanismen eine große Rolle. Als Lösungsmittel ist Ethanol (Abb. 3.4) relativ weit verbreitet und bietet sich für die Simulationen an. Als Edukte werden Zinksalze ZnX2 oder entsprechende Vorläuferverbindungen zusammen mit einer Base eingesetzt. Die Basen sind in der Regel Alkalihydroxide und für diese Arbeit wurde das häufig in Experimenten verwendete LiOH gewählt. In einigen Simulationen wurde auch auf das Basenkation verzichtet, um die Ladungsträgerdichte nicht zu groß werden zu lassen. Vier Stabilisatoren bzw. Anionen wurden Abbildung 3.4: Lösungsmittel Ethanol CH3 CH2 OH M = 46,07 g/mol, ρ = 790 kg/m3 . 126 3.2 Modellentwicklung (in verschiedenem Maße) getestet und verwendet: Acetation (Ac), 2-Ethylhexanoation (2EH), Citration (Cit) und n-Hexylamin (HA). Ac ist der Prototyp des durch eine Carboxylatgruppe stabilisierenden Liganden und wird sehr häufig in Synthesen verwendet. 2EH und HA werden von Kooperationspartnern aus der Gruppe von Markus Halik für thin film transistors getestet [187]. Zudem ist 2EH ein Beispiel für einen sterisch abschirmenden und HA für einen ungeladenen, schwachen Liganden. Zuletzt ist Cit ein weit verbreitetes Beispiel für einen mehrzähnigen Liganden. Somit wird eine große Bandbreite von verschiedenen Stabilisatoren abgedeckt. (a) Acetation (b) 2-Ethylhexanoation C2 H3 O2– C8 H15 O2– (c) n-Hexylamin (d) Citration C6 H15 N C6 H4 O73– Abbildung 3.5: Darstellung der verwendeten Stabilisatoren. 3.2.1.1 Protonentransfer Der Protonentransfer ist ein wichtiger Aspekt der möglichen Reaktionen. An einer Stelle der Synthese muss es zu einer Reaktion der Hydroxidionen und einer Bildung von Oxoionen kommen: 2OH− −−→ O2− + H2 O (3.3) In dieser Arbeit werden nichtreaktive Kraftfelder verwendet, welche eine solche Reaktion nicht direkt abbilden können. Reaktive Kraftfelder wie das ReaxFF wurden für solche Reaktionen erfolgreich verwendet, würden allerdings die Simulationszeit und -größe sowie die Transferierbarkeit stark einschränken. Kawska et al. haben zur Lösung dieses Problems die Reaktion genauer studiert und für die Wachstumssimulationen eine zusätzliche Protonentransferstufe eingeführt. Dazu wird anhand von Abstandskriterien untersucht, ob nach einem Wachstumsschritt ein potentielles Paar Hydroxidionen für einen Protonentransfer nah genug ist. Der eigentliche Transfer findet durch ein „Umschalten“ des Kraftfeldes statt. Das bindende Potential zwischen Sauerstoff und Wasserstoff in einem Hydroxidion wird durch ein nichtbindendes ersetzt und umgekehrt (siehe Abb. 3.6). 127 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid H H O O H H O O Abbildung 3.6: Schematische Darstellung des „Umschaltens“ der Potentiale zwischen Hydroxidionen bei einem Protonentransfer. Gestrichelte Linien stellen nicht-bindende und volle Linien bindende Wechselwirkungen dar. Beim „Umschalten“ wird die Art der Berechnung der Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Atomen geändert. Zusätzlich werden die Ladungen angepasst. Zusätzlich müssen die Ladungen angepasst werden. Ob ein Protonentransfer tatsächlich stattfinden könnte, muss anhand der Energie evaluiert werden. Dazu wird die Energie vor (E(2 OH− )) und nach (E(H2 O/O2− )) dem Transfer berechnet und die Differenz ∆EP T gebildet: ∆EP T = E(H2 O/O2− ) − E(2 OH− ) (3.4) Leider können klassische Kraftfelder auf diese Weise nicht die Energie des Bindungsbruchs berechnen. Konzeptionell sind in Kraftfeldern die bindenden Potentiale stets als Störung vom Gleichgewichtszustand beschrieben. Das heißt, die Energie einer Bindung im Gleichgewicht ist immer null. Im Falle des Protonentransfers wird allerdings eine Bindung gebrochen und eine neue erzeugt. Um diesen Energiebeitrag zu erhalten, wird die Energie aus den Kraftfeldern um einen quantenmechanischen Anteil korrigiert. Praktisch haben Kawska et al. dazu die Energie eines Modellprotonentransfers ∆EPMT sowohl mit dem Kraftfeld ∆EPMT,M M , als auch quantenmechanisch mittels Hartree-Fock + MP2 Rechnung ∆EPMT,QM bestimmt. Der Unterschied zwischen diesen Rechnungen gibt einen Korrekturterm KP T , welcher eine gute Näherung für alle ähnlichen Transfers sein sollte: KP T = ∆EPMT,QM − ∆EPMT,M M (3.5) Ein Protonentransfer wird schließlich angenommen, wenn die Reaktion exotherm wäre: Transferbedingung: ∆EP T,M M + KP T < 0 (3.6) Bei diesem Ansatz wird die Entropie vernachlässigt, was in Anbetracht der Größenordnung der Energiebeiträge (mehrere Elektronenvolt), nur einen kleinen Fehler verursachen sollte. 128 3.2 Modellentwicklung 3.2.2 Kraftfelder In diesem Kapitel werden die verschiedenen verwendeten Kraftfelder vorgestellt und diskutiert. Für alle Simulationen wurde wie schon bei den Silbernanopartikeln das damped shifted force Coulombpotential für die langreichweitigen Coulombwechselwirkungen verwendet. Dieser Ansatz eignet sich gut für Grenzflächen und wurde für Zinkoxid von Gdoutos et al. [49] evaluiert. 3.2.2.1 Zinkoxid Die sicherlich wichtigste Komponente für die Simulationen ist Zinkoxid. Es muss nicht nur als Kristall, sondern auch an Grenzflächen (oder sogar in Lösung) akkurat beschrieben werden. Für kristallines Zinkoxid im Festkörper und an Grenzflächen haben sich zwei Klassen von Kraftfeldern über die letzten 30 Jahre entwickelt: ionische und semi-ionische. Rein ionische Kraftfelder gehen bei den atomaren Punktladungen für Zink und Sauerstoff von den Formalladungen (qZn = +2 e, qO = −2 e) aus. Es wird versucht, den Fehler von eventuell zu hohen Ladungen durch die entsprechende Parametrisierung der vander-Waals-Potentiale zu kompensieren. Diese Fehlerkompensation führt zu teilweise unphysikalischen Teilpotentialen, welche aber in der Summe dem „echten“ Potential durchaus nahe kommen können. Die meisten ionischen Kraftfelder gehen auf die Arbeiten von Lewis und Catlow [25, 188] zurück, welche das Buckinghampotential (Gleichung (1.6)) und optional Drude-Oszillatoren nutzten (Abschnitt 1.1.2.2). Dieser Ansatz wurde sowohl für Oberflächen [189, 190] als auch komplexere Festkörper [191, 192] verwendet und weiterentwickelt. Semi-ionische Kraftfelder betrachten Zinkoxid hingegen als teilweise kovalent gebundenes Material. Allgemein gibt es keine ideale ionische Verbindung und Bindungen sind sowohl partiell kovalent als auch ionisch. Je nach Höhe des Anteils ist die Näherung als rein ionisches Material besser oder schlechter. Als Halbleiter besitzt Zinkoxid schon einen ausgeprägten kovalenten Anteil, weshalb Versuche unternommen wurden, Mischkraftfelder zu entwickeln. Für alle gilt, dass eine geringere Partialladung der Atome angenommen wird (q = ±(1,2 e bis 1,5 e)). In Kombination mit dem bekannten COMPASS (condensed-phase optimized molecular potentials for atomistic simulation studies) Kraftfeld [193] haben Sun et al. eine umfangreiche Studie zu einem semi-ionischen Metalloxid-Kraftfeld mit Morse-Potentialen für Bindungen angefertigt [194]. Sie zeigten, dass der Einsatz von Drude-Oszillatoren für die Berechnung vieler Eigenschaften nicht notwendig ist. Kubo et al. haben ein nicht- 129 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid bindendes Winkelpotential entwickelt [173], welches der gerichteten Natur von kovalenten Bindungen Rechnung trägt (im Gegensatz zu den sphärisch-symmetrischen ionischen Potentialen). Die neuesten Entwicklungen kommen von Raymand et al. [171, 174] und nutzten das ReaxFF (siehe Abschnitt 1.1.2.3). Für die Wahl des geeigneten Kraftfeldes müssen zwei wesentliche Dinge beachtet werden. Das Kraftfeld muss effizient genug sein, um Wachstumssimulationen über mehrere hundert Pikosekunden bis hin zu Nanosekunden durchzuführen. Zudem muss aber eine Flexibilität der stöchiometrischen Zusammensetzung gewahrt werden. Das bedeutet, dass sich das Mengenverhältnis der Ionen zueinander während des Wachstums ändern darf. Diese beiden Bedingungen schränken die Wahl stark ein. Kraftfeldtypen, welche die Bedingungen erfüllen, wurden zusätzlich mittels Testrechnungen auf ihre Eignung in den geplanten Simulationen geprüft. Im Ergebnis erwiesen sich nichtbindende Winkelpotentiale als vergleichsweise rechenintensiv (alle 3-Zentren Kombinationen müssen berechnet werden) und schlecht mit anderen Kraftfeldtypen (z.B. für das Lösungsmittel) kombinierbar. Das ReaxFF ist sehr rechenintensiv und für zusätzliche Komponenten müssen mit hohem Aufwand zusätzliche Parameter bestimmt werden. Zudem zeigten sich in den Testrechnungen ein hohe Instabilität der Simulationen. Das semi-ionische Kraftfeld von Sun et al. wäre eigentlich ideal, fällt aber leider durch die zweite Bedingung weg. Durch die Partialladungen könnten nicht ganzzahlige (unrealistische) Nettoladungen entstehen. Bei den ionischen Kraftfeldern zeigte sich eine hohe numerische Instabilität der Drude-Oszillatoren bei erhöhten Temperaturen. Selbst bei kleinen Zeitschritten konnte die Bewegung der Schalen nicht hinreichend von den Kernen entkoppelt werden. Wie bereits von Kawska und Zahn verwendet [186, 195], fiel daher die Wahl auf das rein ionische Kraftfeld von Catlow und Lewis ohne Drude-Oszillatoren. Die Auswirkungen der fehlenden Polarisierbarkeit sollte beim Halbleiter Zinkoxid jedoch deutlich weniger kritisch sein, als beispielsweise bei den geladenen, metallischen Silberpartikeln. In Zukunft ist es mit leistungsfähigeren Computersystemen sicherlich vernünftig, verstärkt in Richtung fluktuierender Ladungsmodelle zu gehen, um die Überschätzung der Coulombwechselwirkungen zu minimieren. Beim Buckinghampotential können die Koeffizienten verschiedener Atomtypen nicht wie beim Lennard-Jones-Potential gemischt werden, um Parameter für unbekannte heteroatomare Wechselwirkungen zu berechnen. Für die Wechselwirkung mit anderen Komponenten wurden daher die Parameter aus der Arbeit von Hoops et al. [196] verwendet. 130 3.2 Modellentwicklung Relative Energie E − Eeq / eV 2,5 2 B3LYP/6-31G* OPLS-AA K= 0,911 eV Neu K= 10,80 eV 1,5 1 Diederwinkel φ 0,5 0 −20−15−10 −5 0 φ/ Potential V (φ) = K(1 − cos(2φ)) ◦ 5 10 15 20 Abbildung 3.7: Anpassung des Diederwinkelpotentials V (φ) im Ac. Der Diederwinkel φ gibt an, wie weit ein Atom innerhalb der C−C(−O)2 Gruppe aus der gemeinsam gebildeten Ebene herausragt (siehe Skizze). Die Kraftkonstante K des Diederpotentials wurde mit QMRechnungen (B3LYP/6-31G*) neu angepasst. 3.2.2.2 Ethanolische Lösung Wie bereits im Falle der Silbernanopartikel diskutiert, bietet sich für organische Lösungsmittel das OPLS-AA Kraftfeld an [4, 5]. Es reproduziert Dichte und Molekülverteilung sehr gut. Es ist sinnvoll, die anderen organischen Liganden (Ac,Cit,2EH und HA) durch dasselbe Kraftfeld zu beschreiben. Zwar wurden auch andere Kraftfelder wie das general Amber force-field [197] getestet, diese brachten aber keinen Vorteil. Es ergab sich die Notwendigkeit einer Anpassung des OPLS-AA Kraftfelds. Das tabellierte Diederpotential für Carboxylatgruppen ([−C(−O)2 ]−) im OPLS-AA stimmt nicht mit QM-Testrechnungen (Programm: Gaussian [198], Funktional: B3LYP, Basissatz: 6-31G*) überein. Daher musste die entsprechende Kraftkonstante neu bestimmt werden (Abb. 3.7). Diese Anpassung wurde für das Ac gemacht und für alle Carboxylatgruppen übernommen. Ansonsten wurden alle Kraftfeldparameter entsprechend der Literatur verwendet. 3.2.2.3 LiOH Im Gegensatz zu organischen Molekülen gibt es keine Literatur zu Alkalihydroxiden in organischen Lösungsmitteln. Die einzigen Arbeiten auf diesem Gebiet beschäftigen sich 131 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid mit wässrigen Lösungen. Daher wurde eine umfangreiche Studie und Kraftfeldentwicklung durchgeführt. Die Ergebnisse sind bereits veröffentlicht [199]. Da die technischen Details relativ umfangreich sind, soll an dieser Stelle nur eine kurze Zusammenfassung gegeben werden. Die besondere Problematik ist der Ladungstransfer zwischen den Ionen und den koordinierenden Lösungsmittelmolekülen. Wie bereits beim Zinkoxidkraftfeld beschrieben ist eine rein ionische Beschreibung von Ionenkristallen oft problematisch; dies trifft umso mehr auf gelöste Ionen zu. Von den Formalladungen abweichende Ladungen können allerdings nicht verwendet werden, da die ausgleichenden Gegenionen in Lösung sehr weit entfernt sind. Es würde somit lokal eine nicht ganzzahlige Anzahl von Elektronen auftreten. Die zu starke ionische Bindung führt dazu, dass für Hydroxidionen eine sehr starke Überkoordination beobachtet werden kann. Bei den Lithiumionen trat dieses Phänomen nicht auf. Es wurden verschiedene polarisierbare (Punktdipole [22, 200, 201], fluktuierende Ladungen) und klassische nichtpolarisierbare Kraftfelder getestet und mit CPMD-Simulationen verglichen. Die Parameter für die getestete Charge-Equilibrium-Methode und die nichtpolarisierbaren Kraftfelder (LJ und BUCK) wurden mittels Hartree-Fock/MP2-Rechnungen (Abschnitt 1.2.2.2) von ausgewählten, repräsentativen Konfigurationen bestimmt. Tatsächlich zeigt das Modell mit fluktuierende Ladungen die beste Übereinstimmung mit der Referenzsimulation. Die Methode ermöglicht einen teilweisen Ladungsübertrag und schwächt damit die zu starke ionische Bindung. Leider war der Ansatz, das gesamte Lösungsmittel und die gelösten Ionen mit der QEq zu beschreiben, sehr empfindlich auf Phänomene wie den „flying icecube“ (die Problematik wird in Abschnitt 1.1.2.2 beschrieben). Die Punktdipole hingegen konnten weder Bindungsabstände noch Koordinationszahlen reproduzieren. Zudem waren sie ebenfalls numerisch sehr instabil und Simulationen endeten häufig in der Polarisationskatastrophe (Abschnitt 1.1.2.2). Klassische Kraftfelder konnten hinsichtlich der Bindungsstärken und -abstände gut angepasst werden. Allerdings blieb bei ihnen die Tendenz zur Überkoordination der Hydroxidionen. Aus Gründen der numerischen Stabilität und auch Effizienz wurde in dieser Arbeit das angepasste nichtpolarisierbare Kraftfeld gewählt. 3.2.3 Simulationsprotokoll Da die technischen Anforderungen an die verschiedenen Fragestellungen für die Clusterreaktion und das Oberflächenwachstum sehr verschieden sind, wurde kein einheitli- 132 3.2 Modellentwicklung Parameter Wert Zeitschritt 1 fs Thermostat Kopplungskonstante 10 ps Abschneideradius DSF-Coul 15 Å Dämpfungsfaktor DSF-Coul 0,135 Abscheideradius LJ 10 Å Tabelle 3.1: Wichtige technische Parameter für die Zinkoxidwachstumssimulationen. ches Simulationsprotokoll verwendet. Wachstumssimulationen basieren immer auf dem Kawska-Zahn-Schema (Abschnitt 1.3.3.2) und LAMMPS kam zur Anwendung. Weitere allgemeine Simulationsparameter sind in Tabelle 3.1 zusammengefasst. 3.2.3.1 Protonentransfer Allgemein wurde immer zusätzlich zu den normalen Schritten (Diffusion, Assoziation und Reaktion) noch eine zusätzliche Evaluierung möglicher Protonentransfers eingefügt. Analog zur Modellierung der Reduktion bei den Silberpartikeln wird die mittlere potentielle Energie des Systems über eine gewissen Zeitspanne bestimmt. Dann wurden alle Paare von Hydroxidionen gesucht, welche einen kleineren Sauerstoff-Sauerstoff-Abstand als 3 Å haben. Der eigentliche Protonentransfer wurde durch „Umwandeln“ eines HydroxidionSauerstoffs in ein Oxoion umgesetzt (Ladung und van-der-Waals-Parameter werden geändert, die Bindung zum Wasserstoff entfernt). Das verbleibende Hydroxidion und der nun freie Wasserstoff werden entfernt. Die eigentliche Bildung von Wasser wird übersprungen, da sich in den Simulationen von Kawska [195] zeigte, dass das freie Wassermolekül letztendlich immer desorbiert und in die Lösung diffundiert. Dieser Prozess ist immer identisch und würde die Simulationszeit unnötig verlängern. Um dies zu vermeiden, wird das Wasser direkt entfernt. Nach dem so modellierten Protonentransfer wird wieder die mittlere potentielle Energie bestimmt und anhand des Transferkriteriums (Gleichung (3.6)) der Transfer angenommen oder verworfen. Generell müssen alle möglichen Transfers berechnet und getestet werden. Gibt es mehrere potentielle Kandidaten wird der Transfer mit dem höchsten Energiegewinn gewählt und ein zweiter Austauschversuch mit der neuen Konfiguration gestartet. Dies wird solange durchgeführt, bis es keine energetisch günstige Transferreaktionen mehr gibt. In den Wachstumssimulationen auf der Oberfläche können mitunter sehr viele Hydroxide und entsprechend viele Möglichkeiten für Protonentransfers vorkommen. Jede Transfer- 133 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid System KP T /eV Referenz QM Vakuum (1 0 1 0)-ZnO (0 0 0 1)-ZnO 9,32 3,13 2,26 [195] [202] [166] Tabelle 3.2: Korrekturwerte für die Protonentransferenergie. Es wurde jeweils ein Modellaustausch im gegeben System (im Vakuum oder auf der Oberfläche) durchgeführt. Die zu erwartenden QM-Energien wurden um die tatsächlichen „klassischen“ Kraftfeldenergien bereinigt. möglichkeit für jeden Wachstumsschritt neu zu evaluieren, bedeutet eine große Anzahl an Nebenrechnungen und vergrößert den Aufwand beträchtlich. Da nach dem Transfer große Restrukturierungen erfolgen können, kann nicht aus der Kenntnis der Anordnung im Vorfeld die realistische Möglichkeit eines Transfers abgeschätzt werden. Anders gesagt, es können nicht anhand von strukturellen Kriterien „geeignete“ Transferpaare vorsortiert und somit auf eine explizite Berechnung der Energie vieler Austausche verzichtet werden. Um dennoch den Aufwand zu reduzieren, wurde ein „Fingerabdruck“ ξ von allen ausgewerteten Hydroxidionen erzeugt. Dieser Fingerabdruck ist das zeitliche Mittel der lokalen, potentielle Energie ǫpot des jeweiligen Hydroxidions i. ξi = hǫpot,i it (3.7) Wenn ein möglicher Protonentransfer ausgewertet und abgelehnt wurde, so wurde ξ für die beiden jeweiligen Hydroxidionen gespeichert. Sollte in einem kommenden Wachstumsschritt wieder dasselbe Paar als Kandidat eines Protonentransfers auftauchen und sich jedoch ξ keines der beiden Hydroxidionen mehr als 20% geändert haben, so wird der Transfer direkt abgelehnt. Die lokale potentielle Energie ist sehr empfindlich auf die chemische Umgebung. Eine Wert für ∆ξ von weniger als 20% bedeutet keine wesentliche Änderung in der unmittelbaren Nachbarschaft und somit ist ein von der ersten Evaluation abweichendes Ergebnis sehr unwahrscheinlich. Der Grenzwert (20%) wurde in einer Testserie empirisch ermittelt. Der Korrekturwert KP T für die Transferenergie (Gleichung (3.5)) muss für jedes System einzeln bestimmt werden (Tabelle 3.2). Kawska et al. verwenden als Referenzsystem den puren Protonentransfer 2OH– −−→ O2– + H2 O im Vakuum. Diese Reaktionsenergie ist sehr hoch, da ein frei werdendes Oxoion im Vakuum ein extrem ungünstiger Zustand ist und die benötigte Energie zum Bindungsbruch entsprechend groß ist. Daher wurde diese 134 3.2 Modellentwicklung (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.8: Atomare Darstellung des Modellprotonentransfers auf den (1 0 1 0) und (0 0 0 1)-Oberflächen. Ausgangspunkt ist jeweils die stabilste Bedeckung mit Hydroxidionen (100% für (1 0 1 0) und 50% für (0 0 0 1)). Die involvierten Atome sind gelb hervorgehoben. Korrektur nur bei der Simulation sehr kleiner Aggregate verwendet. Für das Wachstum auf Oberflächen wurde der Korrekturwert für die entsprechenden Oberflächentypen neu berechnet. Ausgehend von den unter wasserreichen Bedingungen stabilsten [166] mit Hydroxidionen gesättigten Oberflächen, wurde ein Modellprotonentransfer durchgeführt (Abb. 3.8). Die notwendigen quantenchemischen Referenzwerte stammen aus den Arbeiten der Arbeitsgruppe Meyer für die stabilsten hydroxylierten Oberflächen. Für die stabile, hydroxylierte (0 0 0 1)-Oberfläche (Bedeckungsgrad 50%) sind die Energien veröffentlicht [166]. Im Falle der (1 0 1 0)-Oberfläche (Bedeckungsgrad 100%) stammen die verwendeten Werte von Jacub Goclon und sind bisher noch unveröffentlicht. Die Methodik ist jedoch dieselbe wie bei den veröffentlichten Werten. Die Energien sind beide deutlich niedriger als im Vakuum, was an der besseren Stabilisierung eines entstehenden Oxoions liegt. 3.2.3.2 Clusterreaktion Die Wachstumssimulationen mit kleinen Clustern wurden analog zum Silberwachstum in einer kubischen Simulationszelle mit 3092 Ethanolmolekülen bzw. einer Kantenlänge von etwa 70 Å durchgeführt. Die Ausmaße sind notwendig, da die Aggregation nicht nur von einzelnen Ionen, sondern von vollständigen Zn4 O(Ac)6 Clustern erfolgt. Für jeden Wachstumsschritt wird zufällig Li+ ,OH– oder Zn4 O(Ac)6 erzeugt. Die Wahrscheinlichkeiten sind dabei so gewählt, dass sie einem äquimolaren Gemisch von LiOH und hypothetischem Zn(Ac)2 entsprechen. Wie schon bei den Silbernanopartikeln wurde für die Assoziation neuen Materials ein zusätzliches harmonisches Potential verwendet (siehe Abschnitt 2.2.3). Da es sich nicht mehr um sphärisch-symmetrische Objekte (wie Atome) handelt, wird zusätzlich zur Position die Orientierung zufällig bestimmt. In Tabelle 3.3 sind die Schritte zusammengefasst. 135 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid Schritt 1. Assoziation 2. 3. 4. 4a. Relaxation Relaxation Langzeit Protonentransfer Dauer Ensemble 20 ps - 10 ps 200 ps 1 ns 1 ns NVT NpT NVT NVT Besonderheit Energieminimierung, kein Lösungsmittel, zusätzliches Potential Nur Lösungsmittel frei Für alle potentiellen OH– Paare Tabelle 3.3: Schritte des Schemas zur Studie der Zinkoxidnukleation mit Dauer und dem thermodynamischen Ensemble. 3.2.3.3 Oberflächenwachstum Die Simulationen zum Oberflächenwachstum unterscheiden sich signifikant zum Partikelwachstum von Silber und kleinen Zinkoxidclustern. Eine wesentliche Veränderung betrifft die Assoziierung neuer Ionen zum Wachsen der Kristalloberflächen. Statt wie bisher zufällig auf einer Kugelfläche mit einem bestimmten Abstand zum Aggregatmittelpunkt, werden neue Ionen in einer Ebene über der bestehenden Oberfläche erzeugt. Der Abstand zur bestehenden Oberfläche ist dabei ein kritischer Parameter. In Testsimulationen wurde folgendes Verhalten beobachtet: wenn neues Material in einem großen Abstand erzeugt wird, adsorbiert es stets am höchsten Punkt der Wachstumsfront. Dies führt zu einer starken Ausbildung von Bergen bis zu Säulen. Die Ablenkung wird hauptsächlich durch die Coulombwechselwirkung und die Vernachlässigung des Lösungsmittels während der Assoziation verursacht. Tests der Assoziation mit Lösungsmittel zeigten keine verstärkte Ablenkung. Wird wie bisher zur Lösung ein Zusatzpotential verwendet, muss die Kraftkonstante sehr stark gewählt werden, um diesen Effekt zu minimieren. Durch die variierenden lokalen Ladungen während des Wachstums müsste die Kraftkonstante zudem immer wieder angepasst werden. Als sinnvollerer Weg hat sich die Nutzung eines dynamischen Oberflächenprofils zur Festlegung des Abstandes gezeigt. Dazu wird zunächst zufällig eine Koordinate in der xy-Ebene über der Oberfläche erzeugt. In einem Umkreis von 10 Å zu diesen Koordinaten wird die Topologie der Oberfläche analysiert. Der „höchste“ Punkt (höchste z-Koordinate eines Oberflächenatoms) addiert mit einem Zusatzabstand (5 Å) ergibt die z-Koordinate des neuen Ions. Dadurch wird neues Material relativ nah an der Oberfläche erzeugt, ohne unrealistische Adsorptionshäufigkeiten zu verursachen. Die Simulationszelle selbst muss ebenfalls an die besonderen Bedingungen des Oberflächenwachstums angepasst werden (Abb. 3.9). Zunächst wird eine Zinkoxidschicht mit der gewünschten exponierten Oberfläche konstruiert. Das System ist dabei nur noch 136 3.2 Modellentwicklung Stempel zur Druckeinstellung Ethanol Zinkoxid Oberfläche (frei) Zinkoxid Festkörper (fest) Abbildung 3.9: Schematische Darstellung der Simulationszelle zum Oberflächenwachstum. Die wesentlichen Komponenten sind eine Zinkoxid- und eine Ethanolschicht. Die Zinkoxidschicht besteht aus einem oberen freien und unteren starren Teil, welcher einen Festkörper imitiert. Der Druck in der Lösung wird über einen Stempel eingestellt. in zwei Dimensionen unendlich periodisch, die Dimension senkrecht zur Oberfläche ist finit. Um keine Artefakte durch diese Begrenzung zu erhalten, wird der untere Teil der Zinkoxidschicht festgehalten. So wird die Anordnung eines idealen Zinkoxidkristalls bei der gewünschten Temperatur „eingefroren“ und damit ein normaler Festkörper für die obere, freie Schicht imitiert. Das Ethanol als Lösungsmittel befindet sich über der Zinkoxidoberfläche. Der Thermostat zum Einstellen der Temperatur wirkt dabei nur auf die freien Moleküle (freie Zinkoxidoberfläche und Ethanollösung). Um den Druck einzustellen, kann kein klassischer Barostat verwendet werden. Daher wurde zur Druckregulierung ein Stempel über der Ethanolschicht eingefügt. Dieser Stempel mit der Fläche A erfährt konstant eine Kraft F , welche einem Druck p von 1 bar entspricht. F = pA (3.8) Die Dimensionen der verwendeten Simulationszelle sind in Tabelle 3.4 zusammengefasst und die Startoberflächen in Abb. 3.10 dargestellt. Generell ist die Dicke der Schichten so gewählt, dass die feste Schicht dicker als der Abschneideradius der Wechselwirkungen (10 Å) ist. Für die polare (0 0 0 1)-Oberfläche wurde die Dicke noch etwas erhöht um die Stabilität des Kristalldipols zu verbessern. Zu dünne Schichten neigen dazu, den Dipol aufzuheben. Die Simulationsparameter sind in Tabelle 3.5 zusammengefasst. Im Vergleich zu den bisherigen Simulationen fällt die deutlich kürzere Simulationsdauer auf. Ähnliche Werte verwendete und testete Kawska bereits [195]. Durch die starken ionischen Bindungen 137 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid Parameter (1 0 1 0) Flächengröße Frei Zinkoxidschicht (Atome) Feste Zinkoxidschicht (Atome) Ethanol (Moleküle) (0 0 0 1) 26,17 Å × 31,52 Å 31,81 Å × 27,55 Å 336 600 336 400 162 186 Tabelle 3.4: Dimensionen der Simulationszellen zum Zinkoxidoberflächenwachstum. (b) (0 0 0 1) (a) (1 0 1 0) Abbildung 3.10: Darstellung der Startoberflächen zum Zinkoxidoberflächenwachstum. werden günstige, sehr stabile Anordnungen innerhalb von Pikosekunden erreicht. Selbst hohe Temperaturen und eine lange Simulationszeit (mehrere Nanosekunden) verbessern dabei die Statistik der Simulation nur noch marginal. Deshalb können relativ kleine Zeitspannen zur Gewährleistung der Modellrelaxation verwendet werden. Schritt Dauer Ensemble Besonderheit 1. Assoziation 20 ps - 2. 3. 4. 4a. Relaxation Relaxation Langzeit Protonentransfer 10 ps 75 ps 100 ps 100 ps NVT NpT NpT NpT Energieminimierung, kein Lösungsmittel, zusätzliches Potential Nur Lösungsmittel frei Für alle potentiellen OH– Paare Tabelle 3.5: Schritte des Schemas zur Studie der Zinkoxidnukleation mit Dauer und dem thermodynamischen Ensemble. 138 3.3 Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern 3.3 Reaktion von Zn4O(Ac)6 Clustern 3.3.1 Aggregation Der Versuch, das Wachstum von Zinkoxidkristallen direkt durch die Aggregation von Zn4 O(Ac)6 , Li+ und OH– zu simulieren, zeigte ein hohes Maß an Stabilisierung der Cluster durch die Acetationen. Es wurden insgesamt 5 Wachstumsreihen ausgehend von einem einzigen Zn4 O(Ac)6 Cluster gestartet. In keiner konnte ein Protonentransfer oder eine Bildung größerer Zinkoxidpartikel beobachtet werden. Es entstehen lose, leicht gebundene Aggregate wie in Abb. 3.11 dargestellt. Zunächst binden dabei diese nur über die schwachen van-der-Waals-Wechselwirkungen der Methylgruppen in den Acetationen. Die Methylgruppen sind relativ unpolar und verdrängen die polaren Ethanolmoleküle, wodurch die Aggregate eine leichte, zusätzliche Stabilisierung erfahren. Um dies zu quantifizieren wurde die freie Bindungsenthalphie von zwei Clustern in Ethanol mit umbrella sampling bestimmt (siehe Abschnitt 1.3.2.2). Als Koordinate q wurde der Abstand zwischen den Mittelpunkten der Zn4 O-Einheiten verwendet. Das entsprechende potential of mean force ist in Abb. 3.12 dargestellt. Die Bindungsstärke ist mit etwa 7 meV gering und liegt unter der thermischen Energie bei 300 K (kB × 300 K ≈ 26 meV). Im Vergleich dazu ist die Bindungsenergie desselben Aggregats im Vakuum mit 1 eV um zwei Größenordnungen höher. Trotz seines polaren Charakters kann Ethanol offensichtlich die einzelnen Cluster sehr gut stabilisieren. Eine weitere Besonderheit ist der breite Bindungsbereich (im Graph von 8 Å bis 10 Å) ohne eindeutigen Gleichgewichtsabstand. Diese Tatsache beruht auf der Art der Bindung über die Methylgruppen der Acetationen. Bei größerem Abstand sind die Methylgruppen in losem Kontakt und binden durch die schwach hydrophoben Wechselwirkungen. Mit kleiner werdendem Abstand „verzahnen“ sich die Gruppen und die Kontaktfläche vergrößert sich. Die steigende Bindungsenergie durch die Verzahnung wird dabei aber von der sinkenden Entropie (Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt) kompensiert. Insgesamt sind die entstehenden Aggregate nur kurzzeitig stabil und zerfallen nach einer gewissen Zeit wieder. Mit fortschreitendem Wachstum erhöht sich die Ionenkonzentration in der Lösung (für jedes Zn4 O(Ac)6 werden im Schnitt 4 Li+ + OH– zugesetzt). Dadurch kann zunächst eine Aktivierung der Zn4 O(Ac)6 Cluster beobachtet werden. Die Cluster bilden mit den Salzionen Komplexverbindungen (dargestellt in Abb. 3.13). Vor allem die Hydroxidionen zeigen eine hohe Affinität zu den Zinkionen (Abb. 3.13a). Das Hydroxidion und drei 139 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3 Zn4 O(Ac)6 5 Zn4 O(Ac)6 7 Zn4 O(Ac)6 Abbildung 3.11: Momentaufnahmen verschiedener Stadien aus einer Wachstumsserie für Zn4 O(Ac)6 Cluster mit LiOH. Das Lösungsmittel und weit entfernte Li+ ,OH– Ionen sind nicht dargestellt. Man kann erkennen, dass zwar Aggregate entstehen, welche allerdings nur lose gebunden sind. Protonentransfer oder das Entstehen kristalliner Strukturen kann nicht beobachtet werden. Acetationen erhalten dabei die tetraedrische Koordination des Zinkions. Dabei wird das zentrale Oxoion in Richtung der anderen drei Zinkionen verdrängt. Dieser Prozess kann durch sich in der Nähe befindliche Lithiumionen unterstützt werden (Abb. 3.13b). Durch partielle Neutralisation eines Acetations übernimmt das Hydroxidanion sogar die überbrückende Position an einer Kante des Zn4 O Tetraeders. Eine direkte Assoziation von Lithiumkationen mit den Clustern wurde hingegen nicht beobachtet. Zudem wurde in keinem Fall ein Acetation komplett verdrängt, so dass eine vollständige Reaktion hätte stattfinden können. Im Verlauf der Aggregation konnten mit zunehmender Dichte von LiOH ebenso die Bindungen zwischen den Aggregaten durch Li+ und OH– Brücken unterstützt werden (Abb. 3.14). Die Zn4 O Einheiten können dabei ihre tetraedrische Struktur verlieren. Generell scheinen aber die Acetationen die Zinkoxidcluster zu stark abzuschirmen und Reaktionen, zumindest im Zeitrahmen der Simulationen, zu verhindern. 140 PMF / meV 3.3 Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern 16 14 12 10 8 6 4 2 0 6 8 10 12 14 16 18 Dimerabstand (Massenschwerpunkt) / Å Abbildung 3.12: PMF zwischen zwei Zn4 O(Ac)6 Dimeren in ethanolischer Lösung. Die Reaktionskoordinate ist der Abstand zwischen den Massenschwerpunkten der beiden Dimere. Es wurden im Abstand von 0,5 Å entlang der Koordinate für jeweils 200 ps die Häufigkeiten der Positionen bei 400 K erfasst und mittels WHAM das PMF errechnet. (a) [Zn4 O(Ac)6 OH]– (b) [Zn4 O(Ac)6 OH]– + Li+ Abbildung 3.13: Aktivierte Zustände des Zn4 O(Ac)6 Clusters. OH– „Brücke“ Li+ „Brücke“ Abbildung 3.14: Darstellung der Brückenfunktion der Salzionen Li+ und OH– . 141 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.3.2 Acetat-Hydroxid-Austausch Die Simulationen zur Agglomeration von Zn4 O(Ac)6 Clustern in Lösung haben gezeigt, dass sehr wahrscheinlich eine Reaktion von Zn4 O(Ac)6 und OH– der eigentlichen Nukleation vorangeht. Innerhalb der Simulationszeiten konnte jedoch kein vollständiger Austausch eines Acetations gegen ein Hydroxidion beobachtet werden. Mögliche IonenAustauschreaktionen als Vorläufer des eigentlichen Kristallwachstums sollen darum an dieser Stelle genauer untersucht werden. 3.3.2.1 Mechanismus Zunächst stellt sich die Frage nach dem Mechanismus des möglichen Austausches. Zwei Grenzfälle sind denkbar: Zn4 O(Ac)6 + OH– −−→ [Zn4 O(Ac)6 OH]– −−→ Zn4 O(Ac)5 OH + Ac– Zn4 O(Ac)6 + OH– −−→ [Zn4 O(Ac)5 ]+ + Ac– + OH– −−→ Zn4 O(Ac)5 OH + Ac– Um abschätzen zu können ob eine Reaktion stattfindet, wird die freie Reaktionsenergie ∆f benötigt. Sie setzt sich aus den Energiebeiträgen der Änderung der inneren Energie ∆u und der freien Solvatationsenergie ∆fsolv zusammen. ∆f = ∆u + ∆fsolv (3.9) Die freie Solvatationsenergie der einzelnen Komponenten wurde mittels thermodynamischer Integration (Abschnitt 1.3.2.1) bestimmt. Der Anfangszustand war das gelöste und der Endzustand das freie Ion. Dazu wurde die Wechselwirkung V0 des Ions mit Lösungsmittel mit einem Parameter λ verändert. V (λ) = λ4 V0 (3.10) Die Wahl von λ4 statt λ hängt mit der Singularität von limλ→0 ∂H zusammen. Details ∂λ dazu wurden ausgiebig in der Literatur von z.B. Beutler et al. diskutiert [203]. Die Integration zur Bestimmung der freien Energie erfolgte mittels Gauß-TschebyschowIntegration über 64 Punkte. Jeder Datenpunkt wurde bis zur Konvergenz der mittleren Energie (∆E < 0,01 eV) simuliert. Die innere Energie kann prinzipiell ebenso mittels der klassischen Kraftfelder berechnet werden. Allerdings muss bedacht werden, dass die verwendeten Kraftfelder für Zinkoxid einen Kompromiss darstellen und die Genauigkeit bei kleinen Clustern 142 3.3 Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern f / eV [Zn4 O(Ac)5 ]+ + OH– + Ac– +3,6 −5,55 Zn4 O(Ac)6 + OH– −2,4 [Zn4 O(Ac)6 OH] – Zn4 O(Ac)5 OH + Ac– +0,45 Abbildung 3.15: Profile der freien Energie f eines möglichen Acetat-Hydroxid-Austausches. Die Energie setzt sich aus der inneren Energie (aus PP-DFT-Rechnungen) und der freien Solvatationsenergie (aus TI Kraftfeldrechnungen) zusammen. Der aktivierte Komplex [Zn4 O(Ac)6 OH]– und das Reaktionsprodukt Zn4 O(Ac)5 OH liegen energetisch sehr nah beieinander. Die absolute Differenz liegt in der Größenordnung des statistischen Fehlers der TI sowie der Ungenauigkeit der PP-DFT-Rechnungen und sollte nicht überinterpretiert werden. Es kann nicht klar gesagt werden, welcher Komplex der stabilere ist. unbekannt ist. Um die Genauigkeit zu erhöhen und zu testen, wurde die innere Konfigurationsenergie für freie Moleküle/Ionen in der Gasphase mittels Pseudopotential-DFTRechnungen bestimmt. Der verwendete Programmcode ist SIESTA [204] und die PP stammen aus der SIESTA-Datenbank. Die Methode wurden gegen all-electron Rechnungen (Hartree-Fock, aug-cc-pvdz Basis [205]) für kleine Zn(Ac)x (OH)y Aggregate und gegen die experimentelle ZnO Wurtzit-Festkörperstruktur getestet und konnte die Strukturen (root mean square displacment ∼ 0,2 Å) gut reproduzieren. Allerdings werden Bindungsenergien im Vergleich zu den Hartree-Fock-Rechnungen systematisch um 20% überschätzt, wobei die Trends gut übereinstimmten. Für die inneren Energien wurden Konfigurationen aus den Kraftfeldrechnungen mittels simulated annealing bei 300 K für 200 ps optimiert. Das resultierende Energieprofil der beiden möglichen Reaktionen (Abb. 3.15) zeigt eine eindeutige Bevorzugung des Reaktionswegs über einen [Zn4 O(Ac)6 OH]– -Zustand. Dies ist im Einklang mit den vorangegangenen Aggregationssimulationen, welche zudem eine mögliche Stabilisierung der anionischen Komplexe durch Lithiumkationen gezeigt haben. 143 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid Des Weiteren zeigt ein Vergleich der Komponenten der freien Energien, dass die freie Solvatationsenergie in der Größenordnung von etwa 10 % der inneren Energie liegt. Tendenziell begünstigt die Solvatation den Austausch eines Acetations gegen ein Hydroxidion. Zwar wird das Hydroxidion besser in Ethanol stabilisiert als ein Acetation (∆fsolv ≈ 0,1 eV), aber durch den Austausch wird die unpolare Abschirmung der Cluster aufgebrochen. Dadurch können Ethanolmoleküle direkt an die Zinkionen koordinieren und somit zusätzlich stabilisieren. Da der Beitrag zur Gesamtenergie vergleichsweise gering ist, wird die freie Solvatationsenergie in den folgenden Betrachtungen nicht weiter berücksichtigt. 3.3.2.2 Mehrfachaustausch Für eine Reifungsreaktion von Hydroxidionen zu einem Oxoion werden mindestens zwei Ionen benötigt 2OH– −−→ O2– + H2 O. Es stellt sich also die Frage, ob der Austausch mehrfach stattfinden und so eine solche Reaktion ermöglichen kann. Dazu wurden die inneren Energien (im Vakuum) verschiedener Austauschstufen Zn4 O(Ac)x OH6-x miteinander verglichen. Als Rechenmethode wurde wieder die DFT mit Pseudopotentialen verwendet. Die Cluster vor und nach dem Austausch wurden für 200 ps bei 300 K simuliert und die Struktur mit der niedrigsten Energie optimiert. Gibt es mehrere mögliche Konfigurationsisomere, wurden alle Isomere berechnet und die Konfiguration mit der niedrigsten Energie verwendet. Die optimierten Strukturen sind in Abb. 3.16 und die korrespondierenden Energiedifferenzen in Abb. 3.17 dargestellt. In allen Stufen des Austausches übernimmt das Hydroxidion die überbrückende Position des Acetations. Strukturelle Veränderungen am Zn4 O-Kern werden nicht beobachtet, so dass allein aus der Anordnung keine Schlüsse auf bevorzugte Austauschstufen gezogen werden können. Mit zunehmender Zahl an Hydroxidionen nimmt der Energiegewinn und damit die Wahrscheinlichkeit für einen Austausch deutlich ab. Die einzige Ausnahme stellen die ersten beiden Austauschstufen (x=1 und 2) dar, bei welchen der Energiegewinn nahezu konstant ist. Es liegt daher nahe, dass durch Zugabe einer Base bestehende Zn4 O(Ac)6 Cluster zumindest zu Zn4 O(Ac)5 OH und Zn4 O(Ac)4 OH2 reagieren. Bei noch vorläufigen experimentellen Analysen mit einem Massenspektrometer (in der Arbeitsgruppe von Thomas Drewello) konnten diese Verbindungen kaum bzw. gar nicht nachgewiesen werden [206]. Auch weitere Austauschstufen wurden nicht beobachtet. Dass der Austausch gar nicht stattfindet, ist sehr unwahrscheinlich, da der Energiegewinn beträchtlich ist und ein Sauerstoffeintrag stattfinden muss, damit letztendlich ZnO wachsen kann. Die fehlende 144 3.3 Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern Nachweisbarkeit ließe sich auch mit einer hohen Reaktivität der aktivierten Cluster erklären. Um diese These zu überprüfen, wurde neben dem einfachen Monomer auch der Austausch bei einem hypothetischen Dimer von zwei Zn4 O(Ac)6 -Clustern untersucht. Solche Dimere werden bei der Aggregation beobachtet und es liegt nah, dass sie eine mögliche zweite Reaktionsstufe des Wachstums darstellen. Analog zu den Monomeren wurde der Austausch beim Dimer durchgeführt, die Strukturen optimiert und die Energiedifferenzen berechnet. Strukturell unterscheiden sich die Dimere während des Austausches deutlich von den Monomeren. Ohne Austausch besteht bei den Dimeren kein unmittelbarer Kontakt der Zn4 O-Kerne untereinander und die Monomerstruktur bleibt erhalten. Doch bereits ein Hydroxidion führt zu einer Bindung zwischen den Kernen. Es ensteht eine dreieckige Verknüpfung zwischen einer Kante mit einer Ecke (Abb. 3.19 x=1). Das Hydroxidion befindet sich über diesem Zinkdreieck und der Hydroxidsauerstoff wird von Zink und Wasserstoff tetraedrisch koordiniert. Diese starke strukturelle Änderung zeigt sich auch im Energiegewinn (Abb. 3.18); der erste Austausch erhöht die Stabilität nahezu doppelt so stark wie beim Monomer (−3,76 eV gegen −1,74 eV). Verglichen mit der leichten, physikalischen Bindung des reinen Dimers in Lösung (Abb. 3.12), kann von der Ausbildung einer starken chemischen Bindung gesprochen werden. Ein weiteres Hydroxidion erzeugt eine weitere Ecke-Kante-Verknüpfung, wobei der Energiegewinn schon deutlich geringer ist (−1,97 eV). Das dritte Hydroxidion bindet analog zum Monomer als Ersatz für ein überbrückendes Acetation und trägt überhaupt nicht zur Verknüpfung x=0 x=1 x=4 x=2 x=5 x=3 x=6 Abbildung 3.16: Mittels simulated annealing optimierte Zn4 O(Ac)6-x OHx Clusterstrukturen im Vakuum für x ∈ {0, · · · , 6}. 145 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 0 Zn4 O(Ac)6-x (OH)x + OH– −−→ Zn4 O(Ac)5-x (OH)x+1 + Ac– ∆E −0,5 −1 −1,5 −2 0 1 2 x 3 4 5 Abbildung 3.17: Differenz der potentiellen Energien zwischen den einzelnen Stufen des Hydroxidionenaustauschs bei einem Zn4 O(Ac)6 -Monomers im Vakuum. Die Strukturen und Energien wurden mit DFT (Funktional PBE, Basissatz DZP) und Pseudopotentialen berechnet. Alle Strukturen wurden mit SA optimiert. ∆E der beiden Kerne bei. Die Stabilisierung fällt entsprechend niedrig aus und befindet sich im Bereich der Monomerenergien (−1,66 eV). Ab dem vierten Austausch ändert sich die Bindung der Kerne, denn es bildet sich eine viereckige Kanten-Kanten Verknüpfung (Abb. 3.19 x=4). Über diesem Viereck befinden sich zwei Hydroxidionen: eines erreicht durch eine Wasserstoffbrückenbindung wieder eine tetraedrische Koordination, während das andere eine Kante überbrückt. Beim fünften und sechsten Austausch setzt 0 −0,5 −1 −1,5 −2 −2,5 −3 −3,5 −4 (Zn4 O)2 (Ac)12-x (OH)x + OH– −−→ (Zn4 O)2 (Ac)11-x (OH)x+1 + Ac– 0 1 2 x 3 4 5 Abbildung 3.18: Differenz der potentiellen Energien zwischen den einzelnen Stufen des Hydroxidionenaustauschs bei einem Zn4 O(Ac)6 -Dimer im Vakuum. Die Strukturen und Energien wurden mit DFT (Funktional PBE, Basissatz DZP) und Pseudopotentialen berechnet. Alle Strukturen wurden mit SA optimiert. 146 3.3 Reaktion von Zn4 O(Ac)6 Clustern sich dieser Trend fort und zwischen den Kernen ensteht schließlich eine prismatische Flächen-Flächen-Verknüpfung. Dabei nimmt der Energiegewinn wieder zu. Tatsächlich zeigen erste massenspektrometrische Experimente die Existenz der Dimere x=0,1,2 [206]. Das Wachstum scheint also über die Bildung von Dimeren und deren Stabilisierung durch Hydroxidionen zu starten. Alle Konfigurationen sind noch weit von der Anordnung in einem ZnO-Kristall entfernt, geben jedoch Möglichkeiten für weiterführende Reaktionen. Zum einen sind die Hydroxidionenpaare prinzipiell geeignet (kleiner Abstand, exotherme Reaktion) eine Reifungsreaktion durchzuführen. Des Weiteren - und wahrscheinlich viel wichtiger - lösen die Austauschreaktionen die starre Acetationenhülle um die Zn4 O-Kerne auf und bieten somit eine Angriffsfläche für weitere Assoziationen. Die Abschirmung durch die Acetationen war der Hauptgrund für die mangelnde Reifung in den Wachstumssimulationen. Exponierte Zink- und Hydroxidionen würden ein Wachstum, ähnlich dem in den Arbeiten von Kawska et al. [186] beschrieben, ermöglichen. Damit würde auch das Fehlen von Dimeren mit x>3 im Massenspektrum erklärt werden. Solche Aggregate sind bereits zu wenig abgeschirmt und zu reaktiv. Dieses weitere Wachstum ist jedoch hypothetisch und könnte Gegenstand zukünftiger Arbeiten sein. 147 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid x=0 x=1 x=2 x=3 x=4 x=5 x=6 Abbildung 3.19: Mittels SA optimierte (Zn4 O)2 (Ac)12-x OHx Clusterstrukturen für im Vakuum für x ∈ {0, · · · , 6}. 148 3.4 Oberflächenwachstum 3.4 Oberflächenwachstum 3.4.1 Ungestörtes Wachstum Beim ungestörten Wachstum ohne Additive wurde auf die mit Hydroxidionen bedeckten, neutralen Oberflächen (Abb. 3.10) nur Zn2+ und OH– im stöchiometrischen Verhältnis abgeschieden. Es sind zunächst keine Stabilisatoren oder Liganden (außer dem Lösungsmittel Ethanol) enthalten. In den nachfolgenden Simulationen können zwei wesentliche Größenskalen betrachtet werden. Am Anfang steht stets eine Reaktion einzelner Ionen oder Moleküle, welche auf einer atomaren Skala stattfindet. Dieses erste Formen von ZnO zeigt immer drei Reaktionsstufen. Zunächst erfolgt durch die Assoziation von neuem Zn2+ und OH– die Bildung einer amorphen ZnO/Zn(OH)2 -Phase. Es schließt sich als zweiter Schritt eine Reifung durch Protonentransferreaktionen (siehe Abschnitt 3.2.3.1) an. Im letzten und dritten Schritt erfolgt die meist epitaktische Ausrichtung an das bereits existierende Substrat. Merkmal all dieser Reaktionsteile ist die Tatsache, dass an den Mechanismen nur wenige Atome/Ionen beteiligt sind. Damit sind die Reifungsreaktionen und die Einzelschritte zunächst auf Bereiche mit Abmessungen unter einem Nanometer beschränkt. Im Gegensatz dazu ist das Formen der eigentlichen neuen kristallinen Struktur ein kollektives Zusammenwirken vieler atomarer Teilprozesse. Die Summe dieser Prozesse wird oft als Selbstorganisation bezeichnet, da sie die gemeinsame Strukturierung scheinbar unabhängiger Teile ohne eine äußere Kraft beinhaltet. Erst diese kollektive Komponente ermöglicht die Ausbildung von Strukturen wie Inseln, Kanten und Löchern auf der Oberfläche. In den Simulationen des Clusterwachstums können ebenso diese verschiedenen Skalen der Wachstumsmechanismen beobachtet werden. Allerdings ergibt sich ein großer Unterschied zwischen dem Oberflächenwachstum und dem Clusterwachstum: während sich bei den Clustern mit zunehmender Größe das Volumen-Oberflächen-Verhältnis stetig ändert, bleibt dies bei Oberflächen nahezu konstant. Die strukturelle Vielfalt und die möglichen Konfigurationen während des Wachstums sind daher nicht größen- bzw. schrittabhängig. Es spielt also eigentlich keine Rolle, ob man eine lange oder viele kurze Simulationen durchführt. Die Zeitskala der Prozesse der Selbstorganisation ist allerdings nicht bekannt. Daher wurde auf mehrere parallele Wachstumsserien verzichtet und stattdessen eine sehr lange Wachstumssimulationen (1000 Schritte) durchgeführt. 149 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.4.1.1 (1 0 1 0)-Oberfläche Das Wachstum auf der unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche ist in Abb. 3.20 dargestellt. Wie erwartet, kommt es zur homoepitakitschen Ausbildung von ZnO auf dem bestehenden Substrat. Auch wenn dies nicht überraschend ist, stellt es eine notwendige Bedingung für die Zuverlässigkeit des Wachstumsmodells dar. Die Reaktion von OH– erfolgt bei Abscheidung von Zn2+ und OH– nahezu quantitativ. In Abb. 3.21 ist die Entwicklung der Anzahl der Hydroxidionen und der Oberflächenladung abgebildet. Schon nach gut 100 Wachstumsschritten1 stellt sich ein Gleichgewicht bei lediglich 10-15 Hydroxidionen ein. Dies entspricht in etwa 0,01 Ionen/Å2 bis 0,02 Ionen/Å2 . Dabei ist nicht von Bedeutung, ob das Wachstum mit Hydroxidionen auf der Oberfläche startet oder nicht. In beiden Ausgangsszenarien stellte sich bei Vergleichssimulationen ein ähnliches Gleichgewicht ein. Gleichzeitig schwankt die Oberflächenladung sehr stark mit leichter Tendenz zu mehr negativen Ladungen. Ob diese Tendenzen signifikant sind, lässt sich allerdings selbst bei dieser Simulationslänge nicht beantworten. Es bleibt festzuhalten, dass, sobald zusätzliche Zinkionen die Bildung von Oxoionen fördern, kaum freie Hydroxidionen auf der Oberfläche verbleiben. Die Zahl der freien Hydroxidionen wird hauptsächlich durch die Wahrscheinlichkeit bestimmt, ein weiteres Hydroxidion zu finden. Selten werden Konfigurationen beobachtet, bei denen benachbarte Hydroxidionen lange Zeit stabil sind, ohne zu reagieren. Dies tritt eigentlich nur an Ecken auf, an welchen entstehende Oxoionen stark unterkoordiniert wären. Der zweite auffällige Aspekt des Wachstums ist die ungleichmäßige Bildung der neuen Lagen. Entgegen der einfachsten Annahme bildet sich nicht eine Monolage, welche komplett gefüllt wird, sondern es entsteht eine klare Wachstumskante. In Abb. 3.22 ist das Wachstum der einzelnen Schichten hervorgehoben. Lange bevor die erste Monolage gefüllt ist, bildet sich bereits die zweite Lage auf der ersten. Es entsteht eine relativ deutliche Wachstumskante mit einer bevorzugten Ausrichtung. Mehrere Lagen bilden durch diese Kante eine neue Oberfläche, welche mit der (1 0 1 0)-Fläche identisch ist. Durch die hexagonale Symmetrie von ZnO im Wurtzittyp besitzt der Kristall eine sechsfache Drehachse entlang [0 0 0 1], womit gilt {1 0 1 0}=((±10 ∓ 10) ≡ (±1 ∓ 100) ≡ (0 ± 1 ∓ 10)). Die enstehende Wachstumskante ist also nichts anderes als eine weitere unpolare Oberfläche im 60◦ -Winkel zur bisherigen Fläche. Daher gibt es kaum Stabilitätsverlust durch die neue Wachstumskante; die verbleibenden Triebkräfte zur Füllung der Monolagen sind das Vermeiden von Ecken und die Reduktion der Gesamtoberfläche. 1 dies entspricht ca. 33 Zn2+ und 67 OH– Ionen bzw. 1/3 einer hypothetischen Monolage 150 3.4 Oberflächenwachstum Trotz der periodischen Begrenzungen der Simulationszelle konnte nicht beobachtet werden, wie mehrere Wachstumskanten miteinander verschmelzen. Eine zu kleine Simulationszelle würde ein ebenes Oberflächenprofil begünstigen. Dies ist ein weiteres Indiz für die besondere Stabilität der Wachstumskante. Der vorgeschlagene Wachstumsmechanismus ist in Abb. 3.23 zusammengefasst. s=0 s=255 s=474 s=942 10 5 0 −5 −10 −15 0 250 500 750 Wachstumsschritt 1000 Anzahl der OH– Ionen Gesamtladung / e Abbildung 3.20: Seitliche Ansicht (Blickrichtung [0 0 0 1]) des Wachstums auf einer (1 0 1 0)Oberfläche. Die Wachstumsstufe s gibt die Anzahl der Assoziationsschritte an. Es wurden möglichst repräsentative Strukturen zum Illustrieren des Wachstumsmechanismus gewählt. Das Wachstum erfolgt nicht schichtweise, sondern durch Ausbildung einer Wachstumskante, welche langsam propagiert und die Lagen auffüllt. 100 80 60 40 20 0 0 250 500 750 Wachstumsschritt 1000 Abbildung 3.21: Entwicklung der Oberflächenladung und der Anzahl der OH– -Ionen während des Wachstums auf der (1 0 1 0)-Oberfläche. Die Ladung schwankt stark und kann teilweise Werte von +5 e bis −14 e annehmen. Die Zahl der OH– Ionen sinkt sehr schnell (innerhalb von 100 Wachstumschritten) durch Reaktionen von anfänglich 100 Ionen (Startoberfläche) auf ein Gleichgewicht von 10 bis 15 Ionen. 151 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid s=169 s=264 s=402 s=571 s=736 s=890 Abbildung 3.22: Schichtbildung während des Wachstums auf einer (1 0 1 0)-Oberfläche. Zinkund Sauerstoffatome sind nach Schichten eingefärbt, angefangen bei der initialen Grundschicht (graue Atome). Die neue Schicht bildet eine Wachstumskante welche sich langsam vergrößert. Noch bevor eine Monolage vollständig ist, bildet sich bereits die nächste Schicht. 1. Monolage [0 1 1 0] ∈h1 0 1 0i [1 0 1 0] Grundschicht 2. Monolage 1. Monolage Grundschicht Abbildung 3.23: Schematische Darstellung des Wachstums auf der unpolaren (1 0 1 0)Oberfläche. Zunächst bildet sich epitaktisch durch Abscheidung und Reifung von Zn2+ und OH– eine neue Monolage von ZnO. Diese Schicht wächst zwar in die Breite, doch ab einer gewissen Größe bildet sich bereits eine zweite Monolage, noch bevor die erste Monolage vollständig geschlossen ist. Die entstehende Wachstumskante ist kristallographisch identisch mit der (1 0 1 0)-Fläche, die Stabilitäten sollten daher gleich sein. Die Triebkräfte zur Auffüllung der Lagen sind die Vermeidung der Eckenenergie und die Minimierung der Oberfläche. 152 3.4 Oberflächenwachstum 3.4.1.2 (0 0 0 1)-Oberfläche Das Wachstum auf der polaren (0 0 0 1)-Oberfläche (Abb. 3.24) ähnelt grundsätzlich dem Wachstum auf den unpolaren Oberflächen. Wieder erfolgt eine nahezu quantitative Umsetzung der Hydroxidionen innerhalb von 150 Wachstumsschritten (Abb. 3.25). Das Gleichgewicht liegt bei 10 bis 15 Ionen, dies entspricht 0,01 Ionen/Å2 bis 0,02 Ionen/Å2 . Es bestätigt sich damit der stochastische Ursprung der Ionendichte, da dieses Ergebnis dem auf der unpolaren (1 0 0 1)-Oberfläche stark ähnelt – trotz verschiedener Protonentransferenergien. Die gesamte Oberflächenladung schwankt zwischen ±14 e, wobei keinerlei spezielle Tendenzen zu erkennen sind. Die atomaren Mechanismen scheinen bei der unpolaren und polaren Oberfläche sehr ähnlich zu sein (mit Außnahme der epitaktischen Orientierung). Bei der Selbstorganisation hingegen treten größere Unterschiede zu Tage. So bilden sich zwar wie bei der (1 0 1 0)-Oberfläche mehrere Monolagen bevor die erste geschlossen wird, aber klare Wachstumskanten sind nicht zu identifizieren. Vielmehr scheint es, dass sich einzelne, kleine „Inseln“ bilden, welche zusammenwachsen (Abb. 3.26). Durch das Fehlen einer bevorzugten Kristallebene für die entstehenden Kanten ist die Triebkraft für flache, geschlossene Flächen höher und die polaren Oberflächen sind weniger rau während des Wachstums (im Vergleich zu der unpolaren Oberfläche). s=0 s=258 s=732 s=969 Abbildung 3.24: Seitliche Ansicht (Blickrichtung [1 0 1 0]) des Wachstums auf einer (0 0 0 1)Oberfläche. Die Wachstumsstufe s gibt die Anzahl der Assoziationsschritte an. Es wurden möglichst repräsentative Strukturen zum Illustrieren des Wachstumsmechanismus gewählt. Das Wachstum erfolgt durch Bildung kleiner „Inseln“, welche wachsen und sich schließlich vereinen. 153 15 10 5 0 −5 −10 −15 0 250 500 750 Wachstumsschritt 1000 Anzahl der OH– Ionen Gesamtladung / e Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 60 40 20 0 0 250 500 750 Wachstumsschritt 1000 Abbildung 3.25: Entwicklung der Oberflächenladung und der Anzahl der OH– Ionen während des Wachstums auf der (0 0 0 1)-Oberfläche. Die Ladung schwankt stark und kann teilweise Werte von +13 e bis −14 e annehmen. Die Zahl der OH– Ionen sinkt sehr schnell (innerhalb von 150 Wachstumschritten) durch Reaktionen von anfänglich 50 Ionen (Startoberfläche) auf ein Gleichgewicht von 10 bis 15 Ionen. s=90 s=252 s=676 s=511 s=922 Abbildung 3.26: Schichtbildung während des Wachstums auf einer (0 0 0 1)-Oberfläche. Zinkund Sauerstoffatome sind nach Schichten eingefärbt, angefangen bei der initialen Grundschicht (graue Atome). Neue Atome bilden Inseln, welche sich allmählich vereinen. Noch bevor eine Monolage vollständig ist, bildet sich bereits die nächste Schicht. 154 3.4 Oberflächenwachstum 3.4.2 Wachstumskontrolle Im vorangegangenem Kapitel wurde die Frage des Wachstumsmechanismus auf den Oberflächen untersucht. Ein zweite Aspekt ist der Einfluss von Additiven in der Synthese bzw. Simulation. 3.4.2.1 Ethanol Bereits beim „ungestörten“ Wachstum tritt eine Form der Stabilisierung der Grenzflächen zwischen Zinkoxid und Lösungsmittel auf. Ethanol ist ein polares Molekül und kann damit lokale Ladungen auf den Oberflächen partiell kompensieren. Tatsächlich treten bereits bei dieser Art der Stabilisierung signifikante Unterschiede zwischen den Oberflächentypen auf. Um dies zu illustrieren, ist in Abb. 3.27 das jeweilige Dichteprofil der Lösung dargestellt. In beiden Fällen bildet sich eine geordnete Schicht von adsorbierten Ethanolmolekülen, welche zur Stabilisierung der Oberflächen beiträgt. Während bei der unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche diese Schicht immer noch die Dynamik einer Flüssigkeit zeigt, ist die Schicht auf der polaren (0 0 0 1)-Oberfläche stark geordnet und immobilisiert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich als Hauptunterschied (neben der Struktur) zwischen den Oberflächen die Zahl der exponierten Oxoionen. Die Bindung der Ethanolmoleküle erfolgt über eine Wasserstoffbrücke, welche deutlich stärker zu einem Oxoion als zu einem Hydroxidion ist. Tatsächlich hat eine komplett hydroxidfreie (1 0 1 0)-Oberfläche ein ähnlich scharfes Dichteprofil wie die (0 0 0 1)-Oberfläche. Dieser Unterschied kann zudem sehr gut in der freien Bindungsenergie verfolgt werden. Dazu wurde ein umbrella sampling eines Ethanolmoleküls als Funktion des Abstandes zur (1 0 1 0)-Oberfläche mit und ohne Hydroxidionen durchgeführt (siehe Abb. 3.28). Dabei zeigt sich eine Differenz in den Energien von einer Größenordnung. Ein ähnlicher Vergleich kann bei der polaren Oberfläche nicht gemacht werden, da die hydroxidionfreie (0 0 0 1)-Oberfläche nicht stabil genug ist. Zwei wichtige Erkenntnisse lassen sich aus diesen Ergebnissen gewinnen: erstens stabilisieren bereits Ethanolmoleküle die Oberflächen erheblich und auch ohne zusätzliche Additive kann das Wachstum nicht als wirklich „frei“ betrachtet werden. Zweitens hängt die Stärke der Stabilisierung beträchtlich von der Anzahl der Hydroxidionen auf der Oberfläche ab. Dies ist besonders in Verbindung mit den Beobachtungen aus den Wachstumssimulationen wichtig, bei welchen die Hydroxidionenkonzentration stark abfiel. Viele Arbeiten in der Literatur schätzen die Stärke der Stabilisierung durch Energieberechnungen auf idealen Modelloberflächen (meist sogar ohne explizite Lösungsmittelphase) 155 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid (0 0 0 1) z/Å (1 0 1 0) z/Å ab. Es ist bekannt, dass diese einfachen Energien nur ein grobes Bild der Stabilisierung zeichnen. Im Folgenden werden daher bei der Betrachtung der Additive vor allem aus den Wachstumssimulationen gewonnene Oberflächen verwendet. 14 12 10 8 6 4 2 0 14 12 10 8 6 4 2 0 0 1 2 3 4 5 ρOHEt 0 1 2 3 10 11 ρOHEt Abbildung 3.27: Darstellung der Schichten von Ethanolmolekülen über den idealen Oberflächen. Zusätzlich ist das zeitlich gemittelte, normierte Dichteprofil der Sauerstoffatome der Ethanolmoleküle aufgetragen. Deutlich kann man bei beiden Oberflächentypen die Ausbildung eine geordneten Schicht beobachten. Bei der polaren (0 0 0 1)-Oberfläche ist die Strukturierung besonders deutlich und es tritt kaum Austausch von Ethanolmolekülen im Mittelungszeitraum (10 ps) auf. 156 PMF / eV 3.4 Oberflächenwachstum 1,2 1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 −0,2 −0,4 Hydroxiliert Nicht hydroxiliert 0 1 2 3 4 5 6 Abstand zur Oberfläche / Å 7 Abbildung 3.28: Berechnung des PMF mittels umbrella sampling für ein Ethanolmolekül als Funktion des Abstandes zur idealen (1 0 1 0)-Oberfläche. Verglichen wurden die hydroxidfreie und die vollständig hydroxylierte Oberfläche. Der Gehalt an Hydroxidionen auf der Oberfläche hat erheblichen Einfluss auf die Bindungsstärke. Bei der hydroxylierten Oberfläche liegt lediglich eine schwache Bindung (∼0,05 eV) vor. Ohne Hydroxidionen ist die Bindung hingegen wesentlich stärker (∼0,3 eV) und es existiert eine hohe Barriere (∼0,5 eV), welche die Adsorption und Desorption verlangsamt. 157 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.4.2.2 Acetation und 2-Ethylhexanoation Oberflächenwachstum Ac und 2EH werden in Synthesen häufig als Zinksalz und damit im stöchiometrischen Verhältnis eingetragen. Um den Einfluss auf das Wachstum zu untersuchen, bieten sich daher Wachstumssimulationen mit gleichzeitigem Abscheiden von Ac bzw. 2EH an. Dazu wurde neben Zn2+ und OH– zusätzlich das entsprechende Anion als mögliches neues Material hinzugefügt. Die resultierenden Oberflächen sind in Abb. 3.29 dargestellt. Beide Anionen schirmen die jeweiligen Oberflächen nach etwa 100 Wachstumsschritten komplett ab. Durch die hohe Affinität zur ionischen Oberfläche bleiben abgeschiedene Anionen permanent haften und ändern ihre planaren Positionen kaum noch. Des Weiteren werden freie Hydroxidionen gebunden und können nicht mehr reagieren. Insgesamt kommt das epitaktische Wachstum zum Erliegen. Dies ist in Übereinstimmung mit experimentellen Beobachtungen, bei welchen sowohl Ac als auch 2EH gute Stabilisatoren für kleine Nanopartikel sind (siehe z.B. [187]). Es konnten keine grundsätzlichen Unterschiede in den Mechanismen der Stabilisierung festgestellt werden, weder nach Anionen noch nach Oberflächen. Wenn das Wachstum trotz Abschirmung fortgesetzt wird, bilden sich Zinkhydroxidcluster auf bzw. in der organischen Schicht (Abb. 3.30). Ob eine epitaktische Reorganisation stattfinden kann, wurde durch eine lange (20 ns) simulated annealing Simulation bei 500 K getestet. Es konnte weder eine erhöhte Mobilität der Anionen noch eine signifikante Änderung der Struktur beobachtet werden. Wahrscheinlich werden solche Cluster letztendlich desorbieren oder sich wieder auflösen. Bindungszustand Die Bindungsverhältnisse der Anionen sind auf den beiden idealen Oberflächen sehr ähnlich. Im Wesentlichen ensteht eine Bindung über die Carboxylatgruppe und die Zinkatome auf der Oberfläche (Abb. 3.31). Dabei ist der Abstand der Zinkatome auf der Oberfläche klein genug, so dass jeweils ein Sauerstoff der Carboxylatgruppe mit einem anderen Zinkatom binden kann. Generell ist 2EH etwas stärker gebunden als Ac. Die stärkere Bindung auf der (0 0 0 1)-Oberfläche widerspricht scheinbar der allgemeinen Beobachtung von stäbchenförmigen Nanopartikeln. Solche hexagonalen Stäbchen weisen eine besonders hohen Anteil von unpolaren {1 0 1 0}-Flächen auf. Dabei darf natürlich nicht die allgemein höhere Stabilität von {1 0 1 0}-Oberflächen vergessen werden. Der Unterschied der Spaltenergie zwischen den Flächentypen beträgt etwa 2 eV und die Energie pro Formeleinheit ZnO unterscheidet sich bereits um etwa 0,1 eV [207]. Die generell starke Adsorption von Ac und 2EH in allen Fällen lässt den Schluss zu, 158 3.4 Oberflächenwachstum dass der Habitus der Kristalle durch die thermodynamische Stabilität und nicht durch kinetische Hinderung entsteht. Es zeigt sich bei der Adsorption wieder eine starke Abhängigkeit des freien Energieprofils vom Gehalt der Hydroxidionen auf der Oberfläche. Zur Illustration ist das PMF für ein Acetation über der (1 0 1 0)-Oberfläche in Abb. 3.32 dargestellt. Die Energiedifferenz zwischen den Zuständen auf der Oberfläche und in Lösung ist mit oder ohne Hydroxidionen identisch. Dies ist leicht nachzuvollziehen, bedenkt man die Natur der Bindung über die Wechselwirkung zwischen der Carboxylatgruppe und Zinkatomen. Der Zahl der Wasserstoffatome für Wasserstoffbrücken spielt dabei keine Rolle für die Bindungsstärke. Allerdings ändert sich das Dichteprofil des Lösungsmittels und es entsteht bei fehlenden Hydroxidionen eine stark lokalisierte Ethanolschicht über der Oberfläche (vergleiche Abschnitt 3.4.2.1). Diese Schicht verursacht eine hohe Energiebarriere, welche erst überwunden werden muss, bevor das Anion adsorbieren kann. Bei der Oberfläche mit Hydroxidionen fehlt diese Barriere vollständig. All diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und die Adsorptionskinetik wird nicht nur durch die Natur des Anions bestimmt. Durch die Abschirmung mit Stabilisatoren wird die Reaktion von Hydroxidionen behindert. Diese Ionen wiederum erleichtern die Adsorption (und Desorption) von neuen Molekülen. Welcher der Effekte dominiert, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht beantwortet werden. 159 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 2-Ethylhexanoation Acetation (1 0 1 0) (0 0 0 1) (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.29: Abbildung der Oberflächen nach etwa 100 Wachstumsschritten unter Zugabe von Acetationen (gelb) und 2-Ethylhexanoationen (orange) im stöchiometrischen Verhältnis. Die initialen Oberflächen sind grau eingefärbt und neues Material entsprechend des Atomtyps (Zink cyan, Sauerstoff rot). Das Lösungsmittel ist nicht dargestellt. Beide Additive blockieren jedes weitere Wachstum vollständig und man sieht, dass kaum Material abgeschieden werden konnte. Dabei sind beide Oberflächentypen gleich gut abgeschirmt. Abbildung 3.30: Zn(OH)2 Clusterbildung auf einer mit Acetationen abgeschirmten (0 0 0 1)Oberfläche. Das Lösungsmittel ist nicht dargestellt. 160 3.4 Oberflächenwachstum 2-Ethylhexanoation Acetation ∼0,7 eV ∼0,9 eV ∼0,9 eV ∼1,1 eV (1 0 1 0) (0 0 0 1) (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.31: Bindungszustand des Acetations und 2-Ethylhexanoations auf den idealen, thermodynamisch stabilen ZnO-Oberflächen (Lösungsmittel nicht dargestellt). Die Bindung erfolgt über die Carboxylatgruppe. Zusätzlich sind die freien Bindungsenergien (mittels umbrella sampling bestimmt) angegeben. 2 Hydroxiliert PMF / eV 1,5 Nicht hydroxiliert 1 0,5 0 −0,5 −1 0 1 2 3 4 5 6 Abstand zur Oberfläche / Å 7 Abbildung 3.32: Berechnung des PMF mittels umbrella sampling eines Acetations als Funktion des Abstandes zur idealen (1 0 1 0)-Oberfläche. Verglichen wurden die Hydroxid-freie und die vollständig hydroxylierte Oberfläche. Der Gehalt an Hydroxidionen auf der Oberfläche hat keinen Einfluss auf die Bindungsstärke. Ein großer Unterschied offenbart sich bei der Barriere. Die Adsorption auf der hydroxidfreien Oberfläche ist kinetisch gehemmt, auf der hydroxylierten ist sie hingegen barrierefrei. 161 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 3.4.2.3 Citration Die Untersuchung des stabilisierenden Einflusses von Cit lässt sich nicht in derselben Art und Weise bewerkstelligen wie beim Ac oder 2EH. Cit wird meist nicht als Zinksalz, sondern zusätzlich als Alkalisalz unterstöchiometrisch zur Synthese beigegeben. Zusätzlich ist der Protonierungsgrad des Molekülanions nicht bekannt. Auch wenn als Edukt meist Na3 Cit eingesetzt wird, ist nicht sicher, ob nicht eine (Teil-)Protonierung durch andere Reaktanten erfolgt. Den Protonierungsgrad innerhalb einer Simulation (mit z.B. dem multistate empirical valence bond Modell [208]) zu kontrollieren, ist für lange Simulationen ungeeignet. Tatsächlich besteht aber eine nachweisliche Abhängigkeit der Wirkung von Citrationen und dem pH-Wert der Lösung [209]. Als einfachster Grenzfall wurde daher in dieser Arbeit nur die komplett deprotonierte Form gewählt. Die Implikationen eines höheren Protonierungsgrades werden anschließend diskutiert. Um die Problematik von Protonierungsgrad und unbekanntem (variierendem) Verhältnis von Cit zu Zn(OH)2 zu umgehen, wurde keine direkte Wachstumssimulation unter konstanter Beigabe von Molekülanionen durchgeführt. Stattdessen wurden Wachstumssimulationen der Oberflächen mit einem einzigen bereits adsorbierten Citration durchgeführt. Ziel war es, dessen Verhalten und die Beeinflussung des Wachtums auf der Oberfläche in diesem stark unterstöchiometrischen Szenario zu studieren. Oberflächenwachstum Im Falle der polaren (0 0 0 1)-Oberfläche verhält sich das Citration wie bereits das Acetat- oder 2-Ethylhexanoation (Abb. 3.34). Es bindet fest an der initialen Position und zeigt keinerlei Mobilität. Als Konsequenz dessen behindert es das Wachstum in seinem Wirkungskreis – aber nicht darüber hinaus. Die enstehenden Monolagen füllen sich auf, bis das Molekülanion tatsächlich „begraben“ wird. Es kann keinerlei Relokalisierung beobachtet werden. Diese Beobachtung ist mit Vorsicht zu genießen, da die absolute Simulationsdauer begrenzt ist. Die Diffusion ist offensichtlich sehr langsam und das „Zuwachsen“ des Cit könnte eine Folge der hohen Abscheiderate im Vergleich zur kurzen Simulation sein. Ein anderes Bild bietet sich beim Wachstum auf der unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche (Abb. 3.33). Scheinbar im Widerspruch zur größeren Assoziationsenergie ist hier eine hohe Mobilität des Cit entlang der Oberfläche zu beobachten. Es „wandert“ während des Wachstums zu den neu entstehenden Inseln. Diese Beweglichkeit hält an, bis sich wieder die bereits bekannte Wachstumskante bildet. An dieser Kante adsorbiert das Citration und blockiert so deren Propagation zumindest lokal. Die Bindung ist ab diesem 162 3.4 Oberflächenwachstum 1. 2. 3. 4. Abbildung 3.33: Wachstum der (1 0 1 0)-Oberfläche mit einem adsorbierten Citration (gelb). Die initialen Oberflächen sind grau eingefärbt und neues Material entsprechend des Atomtyps (Zink cyan, Sauerstoff rot). Das Lösungsmittel ist nicht dargestellt. Es kann eine erhöhte Mobilität des Cit beobachtet werden, welches rasch zu der neu enstehenden ZnO Schicht „wandert“ (1. und 2. Abbildung). Dabei ist es bald stark an der Wachstumskante lokalisiert und ändert seine Position ab Erreichen dieser kaum noch (3. und 4. Abbildung). 1. 2. 3. 4. Abbildung 3.34: Wachstum der (0 0 0 1)-ZnO Oberfläche mit einem adsorbierten Citration (gelb). Die initialen Oberflächen sind grau eingefärbt und neues Material entsprechend des Atomtyps (Zink cyan, Sauerstoff rot). Das Lösungsmittel ist nicht dargestellt. Während des gesamten Wachstums ändert das Cit seine Position nicht. Es blockiert weiteres Wachstum lokal und wird letztlich „begraben“. Zeitpunkt so stark, dass es wie schon im polaren Fall seine Position nicht mehr verändert. Auch hier wird es letztendlich „eingegraben“. Bindungszustand Der Bindungszustand ist auf beiden Oberflächen ähnlich (Abb. 3.35) und vergleichbar mit Ac und 2EH. Zwei der drei Carboxylatgruppen binden an Zinkatome. Neben dieser zweizähnigen Bindung existieren auch Zustände, in welchen alle drei Carboxylatgruppen auf der Oberfläche binden. In diesen Fällen sind allerdings durch die intramolekulare Spannung nicht alle Gruppen fest gebunden (z.B. über nur ein Sauerstoffatom oder verlängerte Bindungsabstände) und es handelt sich zumeist um einen temporären Zwischenzustand. Dieser Übergangszustand ermöglicht dem Cit allerdings seine Mobilität auf der (1 0 1 0)-Oberfläche. Schematisch ist dieser Bewegungsmechanismus in Abb. 3.36 dargestellt. Prinzipiell sollte diese Bewegung auf beiden 163 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid ∼1,8 eV ∼1,6 eV (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.35: Bindungszustand des Citration auf den ZnO-Oberflächen (Lösungsmittel nicht dargestellt). Die Bindung erfolgt über zwei der drei Carboxylatgruppen. Zusätzlich sind die freien Bindungsenergien (mittels umbrella sampling bestimmt) angegeben. Abbildung 3.36: Schematische Darstellung der Diffusion eines Citration auf einer ZnOOberfläche. Der stabile zweizähnige Zustand geht dabei reversibel in einen instabilen dreizähnigen über. Oberflächen funktionieren, da die mittleren Abstände der Zinkionen relativ ähnlich sind. Allerdings schließt die (0 0 0 1)-Oberfläche durch ihre polare Natur mit einer Schicht Sauerstoffatome bzw. Hydroxidionen ab. Da die Zinkionen dadurch erst die zweite Lage auf der Oberfläche bilden, sind die Barrieren für die Desorption und Adsorption einzelner Carboxylatgruppen anscheinend höher als auf der (1 0 1 0)-Oberfläche. Um die Bindungszustände während des Wachstums der Oberflächen zu verstehen, ist die flache Oberfläche kein geeignetes Referenzsystem. Stattdessen wurde zusätzlich die Adsorption auf während des Wachstums auftretenden, rauen Oberflächen untersucht. Diese rauen Oberflächen stammen direkt aus den Simulationen zum ungestörten Oberflächenwachstum (Abschnitt 3.4.1) nach 600 Schritten. Als erstes wurden mögliche Bindungskonfigurationen auf den Oberflächen gesucht. Dazu wurde 400 mal ein Cit abgeschieden und überprüft, welche Adsorptionsstelle es einnimmt. Die Abscheidesimulationen waren dabei völlig analog zum Kawska-Zahn-Schema, lediglich die Simulationsdauer war deutlich verkürzt (30 ps). In Abb. 3.37 sind die resultierenden Häufigkeitsprofile dargestellt. Zum Vergleich wurden auch entsprechend die Profile der Abscheidung eines Acetations 164 3.4 Oberflächenwachstum bestimmt. Als erstes fällt die inhomogene Verteilung der Adsorptionswahrscheinlichkeiten der Anionen auf. Besonders bei der (1 0 1 0)-Oberfläche ist die Wachstumskante deutlich in den Häufigkeitsdichten wiederzufinden. Offensichtlich bevorzugen Citrationen eine Bindung an dieser Kante. Auch bei der (0 0 0 1)-Oberfläche binden die Anionen verstärkt an Kanten von Inseln. Allerdings sind nicht alle Kanten gleichermaßen bevorzugt. Eine optimale Adsorption ist immer dann gewährleistet, wenn viele exponierte, d.h. unterkoordinierte Zinkionen von allen Carboxylatgruppen erreicht werden können. Um dies zu illustrieren wurden zwei Konfigurationen aus den vorangegangen Simulationen gewählt und die potentielle Energie für 5 ns bei 300 K gemittelt (Abb. 3.38). Die Bindungsenergien zeigen ein sehr deutliches Bild. Auch wenn die räumlichen Positionen der beiden Beispielkonfigurationen sehr nah beieinander liegen, unterscheiden sich die Bindungsenergien um mehr als 100 %. Es ist anzumerken, dass die absoluten Stärken aufgrund der Überschätzung der ionischen Anteile des Kraftfelds wahrscheinlich zu hoch sind. Trotzdem ist der relative Energieunterschied der Konfigurationen ein klares Indiz für die Bevorzugung von Zuständen mit drei gebundenen Carboxylatgruppen. Zudem spielt die Zahl der gebundenen, stark unterkoordinierten Zinkionen eine große Rolle. Zinkionen, die nur wenige Oxo- oder Hydroxidionen in ihrer direkten Nachbarschaft besitzen, binden deutlich stärker als mehr gesättigte Ionen. Citrationen versuchen, möglichst viele unterkoordinierte Zinkionen gleichzeitig zu binden. Solche Szenarien finden sich ausschließlich an Kanten, wie sie beim Wachstum beobachtet werden. Es bestätigt sich damit das Bild, dass ein Citration bevorzugt Kanten und Ecken stabilisiert und damit das Wachstum beeinflusst. Auch das vergleichende Acetation zeigt ebenso eine Selektivität, welche allerdings nicht ausgeprägt ist. Es werden generell – wie beim Citrat – unterkoordinierte Zinkionen bevorzugt, allerdings ohne, dass deren Position (Kante, Ecke, Fläche etc.) auf der Oberfläche eine Rolle spielt. Im Hinblick auf die Arbeiten von Tian et al. [185] könnte dieses Verhalten eine Erklärung für die Form der Nanopartikel unter Zugabe von Citrationen geben. Es wurde beobachtet, dass mit steigender Konzentration von Citrat der Anteil von polaren Oberflächen steigt und der Habitus sich von Stäbchen zu Plättchen wandelt. Zusätzlich werden die unpolaren Oberflächen zunehmend zerklüftet. Möglicherweise blockiert das Citration durch die geringe Mobilität das Wachstum auf den polaren Oberflächen vollständig, während auf den unpolaren Oberflächen die Anionen zu den Kanten diffundieren und damit deren Bildung gezielt fördert. Dies könnte die beobachtete Zerklüftung der unpolaren Flächen erklären. 165 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid Zuletzt soll der Einfluss des pH-Wertes diskutiert werden. Dies ist auf verschiedene Arten denkbar. Zunächst führt eine Teilprotonierung der Carboxylatgruppen zu Bindungsverhältnissen, welche mehr dem Ac oder 2EH ähneln. Das Dihydrogencitration sollte sich ähnlich zum 2EH verhalten. Auf der anderen Seite könnte ein intramolekularer Protonentransfer die Diffusionbewegung der Citrationen erleichtern. Die Protonierung und Deprotonierung könnte die Adsorption und Desorption einzelner Carboxylatgruppen begleiten. Der erste Effekt würde die Selektivität von Cit schwächen, der zweite stärken. Experimente von Zhang et al. [209] zeigten die Plättchenbildung eher bei niedrigeren pH-Werten. Dies würde auf den zweiten Effekt, die erleichterte Diffusionsbewegung, deuten. Es also gut denkbar, dass die Beweglichkeit von Cit auf der Oberfläche ein wesentlicher Faktor der Wachstumskontrolle ist. 166 Citration 3.4 Oberflächenwachstum (0 0 0 1) (1 0 1 0) (0 0 0 1) Acetation (1 0 1 0) Abbildung 3.37: Darstellung der Häufigkeitsverteilung eines Citrations bzw. Acetations auf rauen Zinkoxidoberflächen (nach 600 Wachstumsschritten). Blaue Areale zeigen Bereiche mit hoher Abscheidungswahrscheinlichkeit. Zusätzlich wurde jeweils ein Beispiel der Adsorption aus dem Bereich mit hoher Konfigurationsdichte hervorgehoben. Die Berechnung erfolgte mit 400 parallelen Abscheidungssimulationen (aus einem Abstand von 7 Å für 30 ps). Es zeigt sich deutlich, dass keine homogene Verteilung der Adsorptionsstellen vorliegt. 167 Norm. Häufigkeitsdichte Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid 0,4 0,35 0,3 0,25 0,2 0,15 0,1 0,05 0 −10 −8 −6 −4 −2 0 Epot − Epot / eV 0 2 4 Abbildung 3.38: Vergleich zweier Adsorptionskonfigurationen auf der rauen (1 0 1 0)Oberfläche (nach 600 Wachstumsschritten). Dargestellt ist die normalisierte Häufigkeitsdichte 0 bei W der potentielle Energie Epot relativ zur mittleren Energie eines freien Cit in Lösung Epot 300 K. Die erste Konfiguration (blau) stellt eine Bindung auf einer relativ planen Oberfläche dar. Entsprechend ist die mittlere Bindungsenergie (∼ 2,2 eV) nah an der Bindungsenergie auf der „perfekten“ (1 0 1 0)-Oberfläche (∼ 1,8 eV). Bei der zweiten Konfiguration (grün) befindet sich das Cit an einer Kante und kann mit allen drei Carboxylatgruppen binden. Die mittlere Bindungsenergie ist mehr als doppelt so stark (∼ 5,6 eV). Farbig sind dabei exponierte, d.h. stark unterkoordinierte Zinkionen dargestellt (violett). Solche Zinkionen haben eine erhöhte Bindungsaffinität. 168 3.4 Oberflächenwachstum 3.4.2.4 n-Hexylamin n-Hexylamin ist ein exemplarischer Vertreter nichtionischer Stabilisatoren. Die Stabilisierung von Zinkoxidoberflächen durch HA in Ethanol unterscheidet sich deutlich von bisher untersuchten Molekülanionen. Ein großer Teil der Untersuchungen zu HA wurde von Achim Brunch durchgeführt und in seiner Bachelorarbeit [210] dokumentiert. An dieser Stelle soll daher nur eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse stehen. Als neutrales Molekül bindet n-Hexylamin deutlich schwächer an die Oberflächen als die ionischen Moleküle. Zuerst wurden Bindungsstärke und -zustand analog zu den vorangegangen Adsorbaten untersucht (Abb. 3.39). Die Adsorption kann allenfalls als schwache physikalische Bindung beschrieben werden. Dabei liegen die freien Adsorptionsenergien sehr nah an denen von Ethanolmolekülen. Als zweiter Test wurde daher der maximale Bedeckungsgrad der ZnO-Oberflächen getestet. Es stellte sich heraus, dass nur ein geringer Anteil der Oberflächen gleichzeitig von n-Hexylamin bedeckt werden kann. Bei höherer Bedeckung ist die Wahrscheinlichkeit einer Desorption größer als die einer weiteren Adsorption. Insgesamt ähnelt die Dynamik der Ad- und Desorption sehr dem Ethanol. So ist das Dichteprofil wieder abhängig vom Hydroxidgehalt auf Oberfläche. Die Ergebnisse decken sich mit den experimentellen Beobachtungen [211]. Das Partikelwachstum wird vom n-Hexylamin, im Vergleich zur additivfreien Referenz, kaum ∼0,07 eV ∼0,16 eV (1 0 1 0) (0 0 0 1) Abbildung 3.39: Bindungszustand des n-Hexylamin auf den ZnO Oberflächen (Lösungsmittel nicht dargestellt). Die Bindung erfolgt über zwei der drei Carboxylatgruppen. Zusätzlich sind die freien Bindungsenergien (mittels umbrella sampling bestimmt) angegeben. 169 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid unterscheidbar beeinflusst. Hingegen wird die Agglomeration von größeren Partikeln behindert. Auch dies deckt sich mit den Simulationen. Ein Bedeckungsgrad von wenigen Prozent mag nicht ausreichend sein, um die Assoziation von Ionen oder kleinen Clustern zu verhindern, wohl aber um die Koaleszenz von großen Partikeln zu behindern. Hierbei spielt in Experimenten die Länge des Alkylrestes eine erhebliche Rolle. Allerdings liegt damit die mutmaßliche Wirkungsweise von n-Hexylamin jenseits der untersuchten Größenordnungen. Weitergehende Studien dazu müssen durchgeführt werden. 170 3.5 Diskussion und Zusammenfassung 3.5 Diskussion und Zusammenfassung Im vorangegangen Kapitel wurde versucht, ein tieferes Verständnis für die Mechanismen des Wachstums bei der Synthese von ZnO durch das Sol-Gel-Verfahren zu gewinnen. Bereits beim ersten Schwerpunkt, der Assoziation kleiner Präkursorcluster, zeigt sich eine hohe Komplexität. Die Simulationen mittels des Kawska-Zahn-Schemas offenbarten eine durch Li+ und OH– -Ionen unterstützte Agglomeration von Zn4 O(Ac)6 -Clustern. Damit zeigte sich eine wesentliche Rolle beider Salzionen bei der Stabilisierung früher Aggregate. Nicht nur OH– , sondern auch Li+ sollte somit zumindest katalytischen Einfluss auf die Reaktion haben. Eine wichtige Erkenntnis, denn oft wird bei der Planung von Synthesen die Rolle der Kationen vernachlässigt. Weitergehende Reifungsreaktionen (z.B. Protonentransfers) konnten innerhalb der Simulation nicht beobachtet werden. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Abschirmung der Zn4 O-Einheiten durch Acetationen. In Folge dessen wurde der Versuch unternommen, mögliche Wachstumsszenarien, ausgehend von den beobachteten Aggregaten, systematisch zu studieren. Denkbare Reaktionen wurden durch PP-DFT und Kraftfeldrechnungen analysiert und zu einem Gesamtbild vereint. Zwei Prozesse zeigten sich als mögliche Teilreaktionen: • Austausch von Ac– gegen OH– • Dimerisierung Der alleinige Austausch der Liganden ist zwar exergonisch, konnte aber nicht massenspektrometrisch nachgewiesen werden. Auf der anderen Seite ist das reine Zn4 O(Ac)6 -Dimer nur schwach physikalisch gebunden und wahrscheinlich kurzlebig. Schließlich ergab die Kombination beider Prozesse ein realistisches Bild. Der Austausch stabilisiert ein Dimer erheblich, so dass es als persistent angesehen werden kann (bestätigt durch Massenspektren). Zusätzlich entstehen durch das Entfernen der Acetationen neue Assoziierungsvektoren für weiteres Wachstum. Dieses könnte durch Anlagerung von Clustern oder einzelner Ionen erfolgen. Es handelt sich somit um den möglichen ersten Schritt in einer Kette von komplexen Reaktionen, welche letztendlich zu kristallinem ZnO führt. Der zweite Schwerpunkt des Kapitels behandelt das Wachstum bereits existierender ZnO-Kristalloberflächen durch Assoziation einzelner Ionen. Die beiden Modelloberflächen – (1 0 1 0) und (0 0 0 1) – zeigten viele Gemeinsamkeiten, aber auch große Unterschiede im Wachstumsmechanismus. Zunächst kam es auf beiden Oberflächen durch die Abscheidung von Zn2+ und OH– zur Bildung kleiner, epitaktischer Inseln. Während sich bei der 171 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid unpolaren (1 0 1 0)-Oberfläche aus wenigen Inseln eine Wachstumsfront bildete, entstanden auf der polaren (0 0 0 1) Oberfläche viele Inseln ohne klare Vorzugsorientierung. Beide Oberflächentypen sind während des Wachstums relativ rau und es werden die Schichten nicht Monolage für Monolage gefüllt. Vielmehr bilden sich früh zweite und dritte Lagen, während sich die erste noch füllt. Ein weiterer Aspekt des Wachstums war die Konzentration der freien Hydroxidionen auf der Oberfläche. Während ZnO-Oberflächen im thermodynamischen Gleichgewicht einen hohen Anteil an OH– aufweisen, fiel dieser im Verlauf des Wachstums stark ab. Dieser Fakt ist in sofern wichtig, als dass die Gegenwart von Wasserstoff das Bindungsverhalten wachstumssteuernder Moleküle und des Lösungsmittels beeinflussen kann. So wurden Ethanolmoleküle deutlich stärker gebunden, wenn keine Hydroxidionen vorhanden sind. Neben dem ungestörten Wachstum war es auch möglich, die Wirkungsweise von Additiven zu untersuchen. Das ungeladene Molekül n-Hexylamin bindet sehr schwach auf der Oberfläche und wirkt ähnlich wie das Lösungsmittel Ethanol. Es könnte größere Partikel vor Koaleszenz bewahren, die Assoziation einzelner Ionen oder kleiner Cluster verhindert es jedoch nicht. Eine deutlich stärkere Bindung zu den Oberflächen bildet das Acetat- und das 2-Ethylhexanoation. Letztendlich haften sie derart fest, dass die Oberflächen komplett abgeschirmt wurden und jedes weitere Wachstum im Zeitrahmen der Simulation verhindert wurde. Spezifische Unterschiede zwischen den Oberflächentypen oder den beiden Anionen konnten nicht ausgemacht werden. Damit hängt die etwas bessere Stabilisierung in experimentellen Arbeiten des 2-Ethylhexanoations mit der besseren sterischen Abschirmung durch den voluminöseren aliphatischen Rest zusammen. Das Aspektverhältnis zwischen polaren und unpolaren Flächen scheint rein durch die thermodynamische Stabilität und nicht durch kinetische Effekte bedingt zu sein. Im Gegensatz zu den Anionen mit einer Carboxylatgruppe zeigte die Stabilisierung durch ein Citration eine deutliche Selektivität. In dem untersuchten unterstöchiometrischen Szenario, war die Mobilität eines Citrations auf der unpolaren Oberfläche deutlich höher als auf der polaren. Dadurch wurde eine selektive Stabilisierung der entstehenden Wachstumskanten ausgemacht. Diese Affinität zu Kanten zeigte das Citration durch das Bestreben, möglichst alle drei Carboxylatgruppen an die Oberfläche zu binden (welches auf flachen Flächen sterisch gehindert ist). Eine Kombination der unterschiedlichen Mobilitäten und der gezielten Kantenstabilisierung könnte eine Erklärung für experimentell beobachtete, zerklüftete Partikel mit hohem Anteil polarer Oberflächen sein [185]. Abschließend muss betont werden, dass die vorliegenden Simulationen nur einen Teil der möglichen Wachstumsszenarien abdecken. Unter vielen experimentellen Bedingungen 172 3.5 Diskussion und Zusammenfassung treten Vorgänge wie Koaleszenz auf, welche zumindest teilweise auf anderen Mechanismen basieren könnten. Die in dieser Arbeit gezeigten – mitunter komplexen – Reaktionsmuster bieten zudem viel Raum für weiterführende Untersuchungen. Wie sieht das Wachstum auf anderen Oberflächentypen aus (allen voran die polare (0 0 0 1)-Fläche)? Wie ändert sich der Mechanismus, wenn man größere Aggregate abscheidet? Das Wachstum von Zinkoxid bleibt ein spannendes Forschungsgebiet und viele an diese Arbeit anknüpfende, tiefergehende Fragestellungen verbleiben. 173 Schlusswort Die übergeordnete Zielstellung dieser Arbeit stellt die Modellierung der atomaren Selbstorganisation im Rahmen der Festkörpersynthese dar. Es sollte dabei die komplette Genese, d.h. die Entstehung und das Wachstum, von Nanopartikeln besser verstanden werden. Tatsächlich konnte diese Vorgabe in den beiden gewählten Stoffsystemen – Silber und Zinkoxid – mit einigem Erfolg umgesetzt werden. Die atomaren Details, durch die Methoden der Computerchemie zugänglich gemacht, offenbarten dabei einmal mehr ihre große Rolle beim Verständnis von Keimbildungs- und Wachstumsmechanismen. Schaut man weiter als auf die unmittelbaren Ergebnisse der Arbeit, so eröffnen die gewonnenen Erkenntnisse aber auch neue Perspektiven der Kontrolle von Synthesewegen. Das Zusammenspiel zwischen Ladungsverteilung, Redoxpotential und Partikelstruktur bei Silberpartikeln zeigt die Relevanz eines bisher kaum beachteten Aspekts der Syntheseplanung. In geladenen Partikeln verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen möglichst kleiner Oberflächenspannung und günstiger innerer Struktur zugunsten größerer Oberflächen. Als Konsequenz kann die richtige Wahl des Redoxpotentials die Bildung von sowohl dichtest gepackten als auch hochverzwillingten Nanopartikeln fördern. Es erscheint wahrscheinlich, dass ähnliche Zusammenhänge bei einer Reihe von anderen Metallen und unter anderen Synthesebedingungen zu finden sind. Vielleicht ist es in Zukunft durch Steuerung allein des Redoxpotentials möglich, gezielter den Habitus, die innere Packung und die Oberflächenbeschaffenheit von Metallnanopartikeln zu kontrollieren. Der postulierte erste Reaktionsschritt bei der Reifung von Zn4 O(Ac)6 -Clustern könnte der Ausgangspunkt für das Verständnis eines umfassenden Wachstumsmechanismus sein. Bereits in dieser Arbeit zeigte sich ein mehrstufiges Reaktionsschema: zunächst erfolgt eine Aktivierung (unterstützt durch Basenionen) und Aggregation der Cluster. Schließlich folgen Ligandenaustauschreaktionen (OH– gegen Ac– ), welche weitere Reifungsreaktionen ermöglichen können. Diese Erkenntnisse sind nicht nur von akademischem Interesse, denn auch der Entwurf und die Planung von Synthesen im industriellen Maßstab könnten so verbessert werden. So ist es denkbar, unter anderem die Rolle der bislang nur wenig untersuchten Gegenionen bei der Reaktion gezielter auszunutzen. Entsprechendes gilt 175 Kapitel 3 Wachstum von Zinkoxid für die Steuerung des Oberflächenwachstums von Zinkoxid unter Einfluss von Additiven. Die Ausbildung von Inseln oder sogar gerichteten Wachstumskanten auf den Oberflächen demonstrierte ein hohes Maß an kollektiver Ordnung. Acetat- und 2-Ethylhexanoationen können durch Absättigung der Oberfläche dieses Wachstum vollständig unterbinden. Anders die mehrzähnigen Citrationen, welche durch ihre hohe Mobilität auf der (1 0 1 0)Oberfläche gezielter die entstehenden Kanten blockieren. Triebkraft für diese Selektivität ist dabei das Bestreben, möglichst optimal alle drei Carboxylatgruppen an die Oberfläche zu binden. Das gewonnene Verständnis über diese atomaren Vorgänge der Stabilisierung kann beispielsweise bei der Suche nach selektiveren Additiven genutzt werden. Diese Arbeit hat eine Reihe bisher unbekannter Einzelheiten der großen Komplexität der Kristallbildung untersucht: die Reduktion, Assoziation und Selbstorganisation von Silberionen, die Reaktionswege der Reifung von basischem Zinkacetat und die Assoziation und Reorganisation von Zinkhydroxid auf Zinkoxidoberflächen inklusive der Kontrolle durch Additive. Dennoch bleiben aber zahllose Einzelheiten unerforscht. Die eingangs formulierten Fragen „Wie entstehen Kristalle? Was bestimmt ihre Form, ihr Aussehen oder ihre Zusammensetzung?“ werden die Wissenschaft wohl noch sehr lange beschäftigen. 176 Literaturverzeichnis [1] Jansen, Martin: A Concept for Synthesis Planning in Solid-State Chemistry. Angewandte Chemie (International Ed.), 41(20):3746–3766, Oktober 2002. [2] Ying, Jackie Y.: Nanostructured Materials. Academic Press, 2001. [3] Vollath, Dieter: Nanomaterials. WILEY-VCH Verlag, 2008. 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Nachrichten aus der Chemie, 60(9), 2012. 200 Selbständigkeitserklärung Ich erkläre, dass ich die vorliegende, unter der Betreuung von Prof. Dr. rer. nat. habil. D. Zahn angefertigte Arbeit selbständig verfasst habe. Andere als die angegebenen Hilfsmittel wurden von mir nicht benutzt. Alle angeführten Zitate wurden kenntlich gemacht. Erlangen, den 4. Mai 2015 201