Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell 2.1 Lernziele 1. Sie kennen das Gedankenmodell vom Elektron im eindimensionalen Kasten. 2. Sie können das Modell des eindimensionalen Kastens auf ein lineares Farbstoffmolekül mit vollständig delokalisierten π-Elektronen übertragen. 3. Sie sind in der Lage, die Anregungsenergie für den Übergang eines Elektrons vom höchsten besetzten in den niedrigsten unbesetzten Energiezustand zu berechnen. 4. Sie wissen, wie man die Wellenlänge des für die Anregung erforderlichen Lichts ermittelt. 2.2 Das Elektron im eindimensionalen Kasten Im Modell des eindimensionalen Kastens betrachtet man ein Elektron, das in einem Kasten eingesperrt ist, wobei dieser atomare Dimensionen besitzt und die Länge L aufweist. Dies entspricht in guter Näherung der Situation eines Elektrons in einem Molekül: Das Elektron wird von der positiven Ladung der Atomkerne /-rümpfe angezogen und bleibt daher im Molekül. Wenn wir annehmen, dass es sich um ein unverzweigtes Molekül handelt, ist auch die Wahl einer Geraden einsichtig. Abb. 2.1 Eindimensionaler Kasten (symbolische Darstellung) Nach dem Wellenmodell lässt sich das Elektron als stehende Welle beschreiben (Modul „Wellen, Licht und Elektronen“, Kap. 3), die an den Kastenwänden jeweils einen Knoten aufweist. Da die Elektronenwelle in den Kasten hineinpassen muss, gilt für die möglichen Energiezustände (Schwingungszustände) folgende Bedingung: λ= 2L λ: Wellenlänge; n: Nummer des Energiezustands (Schwingungszustands); L: Kastenlänge n 19 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Als Wellenfunktion für das Elektron im eindimensionalen Kasten findet man (Abschnitte 5.4.1 und 5.4.2): ψ n (x) = 2 nπx ψn: Amplitude der Materiewelle im n-ten Energiezustand am Ort x; n: Nummer des ⋅ sin L L Energiezustands; L: Kastenlänge Abb. 2.2 Mögliche Energiezustände (Schwingungszustände) eines Elektrons im eindimensionalen Kasten Mithilfe dieser Wellenfunktion lassen sich die möglichen Energiezustände des Elektrons berechnen (Abschnitt 5.4.3), wobei die potentielle Energie V des Elektrons als konstant angenommen wird: En = n 2 ⋅ h2 + V [J] En: Energie des Elektrons im n-ten Zustand; me: Masse des Elektrons; h: 8 ⋅ me ⋅ L2 2 Plancksches Wirkungsquantum; L: Kastenlänge; n ⋅ h 2 2 8 ⋅ me ⋅ L 20 kinetische Energie T Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Die Energiezustände En sind proportional zu n2. Das Elektron kann also nur ganz bestimmte, diskrete Energiezustände einnehmen. - Das Elektron nimmt im eindimensionalen Kasten nur bestimmte Energiezustände an. - Die Energie des Elektrons im eindimensionalen Kasten „ist gequantelt“: En = n 2 ⋅ h2 + V [J] 8 ⋅ me ⋅ L2 Die Frage, wo sich das Elektron im Kasten eigentlich befindet, lässt sich mit der Wellenfunktion ψ nicht beantworten. Sie beschreibt nur die Amplitude der Materiewelle, liefert aber keine messbare Grösse. Amplituden von Materiewellen sind nicht beobachtbar. Wird jedoch die Wellenfunktion ψ quadriert, so ergibt sich daraus die Elektronendichte. Sie ist ein Mass für die Wahrscheinlichkeit, das Elektron im jeweiligen Energiezustand an einer bestimmten Stelle des Kastens anzutreffen (Modul „Wellen, Licht und Elektronen“). dW 2 nπ x = ψ n2 ( x ) = ⋅ sin 2 L L dx dW dx : Elektronendichte Abb. 2.3 Grafische Darstellung der quadrierten Wellenfunktionen und symbolische Darstellung der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons (als Teilchen) im eindimensionalen Kasten 21 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Im Energiezustand n = 1 ist das Elektron am häufigsten in der Mitte des Kastens anzutreffen. Im zweiten Energiezustand findet man das Elektron hauptsächlich in der Mitte der rechten und linken Kastenhälfte. In der Mitte des Kastens ist die Aufenthaltswahrscheinlichkeit null. Entsprechend sind die höheren Zustände zu interpretieren. ”Wie gelangt das Elektron im zweiten Schwingungszustand von einer Kastenhälfte in die andere?” Diese Frage darf man eigentlich nicht stellen. Das Elektron verhält sich eben nicht wie ein klassisches Teilchen! Aus quantenchemischer Sicht lässt sich folgende Antwort geben: Das Elektron wird modellmässig als eine stehende Materiewelle in einem linearen Kasten behandelt. Diese hat z. B. für n = 2 einen Knoten in der Kastenmitte. 2.3 Eindimensionaler Kasten und farbige Stoffe; das Elektronengas-Modell Das Modell des eindimensionalen Kastens mit einem Elektron lässt sich auch auf die Vielelektronensysteme von Molekülen farbiger Stoffe übertragen, wobei es sich um lineare Moleküle handeln muss. Das Molekül wird dabei als Kasten mit konstantem Potential definiert, in dem delokalisierte Elektronen eines Systems konjugierter Doppelbindungen stehende (Materie-) Wellen ausbilden, die durch eindimensionale Wellenfunktionen entlang der Längsachse des Moleküls beschrieben werden. Die Wellenlänge λ entspricht dabei, wie z.B. bei der Saite eines Streichinstruments, einem ganzzahligen Bruchteil der doppelten Kastenlänge L: λ = 2L n (vgl. Abb. 2.2 ). Derartige Moleküle trifft man u.a. bei den Cyaninen an: R R N CH CH CH CH CH + N R R Abb. 2.4 Allgemeine Lewis-Formel eines Cyanin-Farbstoffmoleküls mit 3 konjugierten Doppelbindungen und 8 π-Elektronen (die freie, doppelt besetzte Elektronenwolke am StickstoffAtom wird in das System delokalisierter Elektronen miteinbezogen) 22 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Abb. 2.5 Das Molekül eines CyaninFarbstoffs als eindimensionaler Kasten: a) Ansicht der π-Elektronenwolken von oben; b) Ansicht von der Seite; c) Definition des eindimensionalen Kastens: Kastenlänge = L Jede stehende Welle wird durch eine Wellenfunktion beschrieben und besitzt eine bestimmte Energie, die mit der Anzahl der Knoten ansteigt. Jeder Wellenfunktion lassen sich maximal zwei Elektronen zuordnen (Pauli-Prinzip), d.h. die Elektronen werden paarweise, vom energieärmsten Zustand ausgehend, auf die verschiedenen Energieniveaus verteilt. Abb. 2.6 Grafische Darstellung der Wellenfunktionen für n = 1 bis n = 5 im eindimensionalen Kasten Elektronen besitzen einen Spin. Der Spin beträgt entweder +½ oder -½. Man kann sich das Elektron als rotierendes Kügelchen vorstellen, das entweder im Uhrzeigersinn (würde Spin +½ entsprechen) oder im Gegenuhrzeigersinn (würde Spin -½ entsprechen) dreht. Man stellt den Spin mit einem Pfeil dar: 23 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell ↑ bedeutet +½, ↓ bedeutet -½. Eine Elektronenwellenfunktion kann maximal zwei Elektronen beschreiben, die sich in ihrem Spin unterscheiden müssen (Pauli-Prinzip). Für die 8 π-Elektronen des gegebenen CyaninMoleküls (Abb. 2.4) lässt sich deshalb folgendes Energieniveau-Schema aufstellen (Abb. 2.7): Abb. 2.7 Energieniveauschema (kinetische Energie T) eines Farbstoffmoleküls mit 8 π-Elektronen nach dem Modell des eindimensionalen Kastens „Anregung“ bedeutet nun, dass ein Elektron aus dem höchsten besetzten in das tiefste unbesetzte Energieniveau übergeht. Liegt die Energiedifferenz im sichtbaren Bereich der elektromagnetischen Strahlung, so ist der Stoff farbig. Abb. 2.8 Grundzustand und angeregter Zustand eines Farbstoffmoleküls mit 8 π-Elektronen im eindimensionalen Kasten 24 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Man kann ein solches ausgedehntes System konjugierter Doppelbindungen als „eindimensionales Elektronengas“ auffassen: Die delokalisierten Elektronen (π-Elektronen) bewegen sich in einem eindimensionalen Kasten, stehen aber in Wechselwirkung mit den Atomrümpfen. Bei dieser Vorstellung geht man von einer vollständigen Delokalisierung der π-Elektronen aus, wobei es keine Unterscheidung mehr zwischen Einfach- und Doppelbindungen gibt. Ausserdem wird die potentielle Energie der π-Elektronen vereinfachend als konstant angesehen (gleicher mittlerer Abstand der π-Elektronen von den Atomrümpfen der KohlenstoffAtome), und für die Kettenenden ein unmittelbarer Anstieg ins Unendliche angenommen (Elektronengas-Modell). Abb. 2.9 Potentielle Energie V der π-Elektronen eines Cyanin-Moleküls im eindimensionalen Kasten: oben: realer Verlauf (schematisch);unten: vereinfachter Verlauf (V = konstant; die delokalisierten Elektronen sind durch die gestrichelte Linie symbolisiert) Elektronengas-Modell: Die π-Elektronen eines Systems konjugierter Doppelbindungen sind im Molekül eines farbigen Stoffs vollständig delokalisiert. Die möglichen Energiezustände erhält man mithilfe der Berechnungen zum eindimensionalen Kasten. 2.4 Anregungsenergie und absorbierte Wellenlänge Wie bereits erwähnt, erhält man als mögliche Energiezustände der π-Elektronen im eindimensionalen Kasten: En = n 2 ⋅ 2 h2 h 2 n + V [J] L: Länge des Kastens; m : Elektronenmasse; : kinetische Ener⋅ e 2 8 ⋅ me ⋅ L2 8 ⋅ me ⋅ L gie T des Elektrons im Energiezustand n 25 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Die Gesamtlänge L des Kastens ergibt sich aus der Summe der mittleren Atombindungsabstände, wobei man die dreidimensionale räumliche Struktur des Moleküls durch eine eindimensionale ersetzt. Diese Länge wird vergrössert um je eine Bindungslänge am Anfang und am Ende des Moleküls. L = (z + 1) ⋅ d z: Anzahl Atomrümpfe des Grundgerüsts; d : mittlerer Bindungsabstand Berechnung der Anregungsenergie Die Anregungsenergie ΔEber ist die Differenz zwischen dem höchsten von einem π-Elektron besetzten (höchstes besetztes Molekülorbital HOMO: highest occupied molecular orbital) und dem niedrigsten unbesetzten (niedrigstes unbesetztes Molekülorbital LUMO: lowest unoccupied molecular orbital) Energieniveau. Setzt man die Anzahl der π-Elektronen gleich N, so ergibt sich für das höchste besetzte Energieniveau: n= N 2 n= N + 1. 2 und das niedrigste unbesetzte Energieniveau: Für die Anregungsenergie (ΔEber) gilt: ΔEber = E( N / 2+1) − E( N / 2) ⎡ h2 ΔEber = ⎢ 2 ⎢⎣ 8 ⋅ me ⋅ L 2 ⎤ ⎡ h2 ⎛N ⎞ ⋅ ⎜ + 1⎟ + konst.⎥ − ⎢ 2 ⎝2 ⎠ ⎥⎦ ⎣⎢ 8 ⋅ me ⋅ L 2 ⎤ ⎛N⎞ ⋅ ⎜ ⎟ + konst.⎥ ⎝2⎠ ⎥⎦ ⎡⎛ N ⎞ 2 ⎛ N ⎞ 2 ⎤ h2 h2 = ⋅ ⎢⎜ + 1⎟ − ⎜ ⎟ ⎥ = ⋅ (N + 1) 2 8 ⋅ me ⋅ L2 ⎣⎢⎝ 2 ⎠ ⎝ 2 ⎠ ⎦⎥ 8 ⋅ me ⋅ L Formel zur Berechnung der Anregungsenergie: ΔEber = h2 ⋅ (N + 1) [J] 8 ⋅ me ⋅ L2 Setzt man die Beziehung für L in die Formel zur Berechnung der Anregungsenergie ein, so resultiert der folgende Ausdruck: ΔEber h2 1 ( N + 1) = ⋅ 2⋅ [J] 8 ⋅ me d (z + 1) 2 Anregungsenergie 26 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Nun werden die Werte für die Konstanten eingesetzt: me = 9.110.10-31 kg; h = 6.626.10-34 Js; d 2 = (139 pm)2 = 1.932.10-20 m2 ΔEber = 2 2 (6,626 ⋅10 −34 Js) 2 1 ( N + 1) ( N + 1) −18 Jkgm s ⋅ ⋅ = 3 , 118 ⋅ 10 ⋅ −31 − 20 2 2 2 2 2 8 ⋅ 9,110 ⋅10 kgm 1,932 ⋅10 m (z + 1) kgs m (z + 1) 2 Der Ausdruck zur Berechnung der Anregungsenergie eines Moleküls lautet somit: ΔEber = 3,118 ⋅ 10 −18 ⋅ ( N + 1) [J/Molekül] Anregungsenergie (z + 1) 2 Meistens wird die Anregungsenergie nicht für ein Molekül, sondern für ein Mol Moleküle angegeben. Man multipliziert die obige Gleichung deshalb mit der Avogadro-Konstanten (molare Teilchenzahl: NA = 6,02.1023 mol-1) und dividiert für die Umrechnung von J in kJ durch 1000: ΔE ber = 3,118 ⋅ 10 −18 ⋅ 6,02 ⋅ 10 + 23 ⋅ 1 ( N + 1) ( N + 1) [kJ⋅mol-1] ⋅ = 1,88 ⋅ 10 3 ⋅ 2 2 1000 ( z + 1) ( z + 1) - Berechnung der Anregungsenergie eines π-Elektronensystems: ΔEber = 1,88 ⋅ 10 3 ⋅ ( N + 1) [kJ⋅mol-1] 2 (z + 1) - Je grösser die Kastenlänge und damit die Anzahl der π-Elektronen, desto kleiner ist die Anregungsenergie. - Je mehr Elektronen das System delokalisierter π-Elektronen enthält und je länger der Kasten, desto kleiner ist die Energiedifferenz zwischen dem höchsten besetzten und dem niedrigsten unbesetzten Energiezustand (Abb. 2.10). 27 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Abb. 2.10 Elektronen im eindimensionalen Kasten: Energien im höchsten besetzten und im niedrigsten unbesetzten Zustand in Abhängigkeit von der Anzahl π-Elektronen ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Exkurs Aus der Anregungsenergie ΔEber und der Energie eines Photons kann die Wellenlänge λber der absorbierten Strahlung berechnet werden: EPhoton = h ⋅ f = h⋅c λber ΔEber = E Licht = h ⋅ f = h⋅c [J] λber Energie der absorbierten Strahlung Da die Anregungsenergie eines Moleküls der Energie eines Photons entspricht (ΔEber = EPhoton), können die beiden Ausdrücke gleichgesetzt werden: h2 1 N +1 h ⋅c ⋅ 2⋅ = 2 8 ⋅ me d (z + 1) λber Umformen liefert: λber = 8 ⋅ me ⋅ c 2 (z + 1) 2 ⋅d ⋅ [m] h N +1 Wellenlänge der absorbierten Strahlung Nun werden die Werte für die Konstanten eingesetzt: 28 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell d 2 = 1,932⋅10-20 m2; c = 2,998⋅108 m⋅s-1; h = 6,626⋅10-34 Js; me = 9,110⋅10-31 kg λber = 2 8 ⋅ 9,110 ⋅ 10-31 kg ⋅ 2,998 ⋅ 108 m ⋅ s -1 − 20 2 ( z + 1) [m] ⋅ 1 , 932 ⋅ 10 m ⋅ N +1 6,626 .10-34 Js Mit 1m = 109 nm folgt: λber = 3,297 ⋅ 1012 ⋅ 10 9 ⋅ 1,932 ⋅ 10 − 20 ⋅ (z + 1) 2 (z + 1) 2 = 63,70 ⋅ [nm] N +1 N +1 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------- λber = 63,71 ⋅ (z + 1) 2 [nm] N +1 Berechnung der Wellenlänge des absorbierten Lichts 2.5 Überprüfung des Modells anhand der Cyanin-Farbstoffe Cyanine sind eine sehr alte und umfangreiche Farbstoffklasse. Heute sind weit über 100 000 Cyanin-Farbstoffe bekannt. Sie haben für das Färben von Textilien wegen ihrer geringen Lichtechtheit in der Regel keine grosse Bedeutung. Hingegen sind sie als Sensibilisatoren in der Fotografie sehr wichtig. Mit ihrer Hilfe kann man Silberbromidschichten für jeden beliebigen Wellenlängenbereich bis ins Infrarot sensibilisieren. Die Cyanine gehören zu den Polymethin-Farbstoffen (Methingruppe: =CH–) und zeichnen sich durch die beiden Endgruppen –NR2 aus, wobei ein N-Atom (in der entsprechenden Grenzformel) eine positive Ladung trägt. Die Stickstoff-Atome sind jeweils Teil eines heterocyclischen Ringsystems. Ein Cyanin-Ion kann als linear betrachtet werden, indem man die πElektronen der beiden heterozyklischen Ringe (also ohne die delokalisierten Elektronen der Benzolringe) in das Grundgerüst mit einbezieht, da sie in Konjugation zu seinem π-System stehen. Gemessene (Experimentiervorschrift: Abschnitt 5.2.9) und berechnete Werte stimmen dann praktisch überein, wenn man das nicht bindende Elektronenpaar des links stehenden Stickstoff-Atoms in das System delokalisierter Elektronen integriert. Damit ist die Anzahl N der π-Elektronen gleich z + 1. 29 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Beispiel: 4,4’-Cyanine - I R N ( CH CH ) j CH N + R Abb. 2.11 4,4´-Cyanine Für die Berechnung der Anregungsenergie gilt: j: Anzahl konjugierte Doppelbindungen des Klammerausdrucks z: Anzahl Atomrümpfe des gesamten (linearen) Ions (Grundgerüst + Heterozyklen der Endgruppen) d : mittlerer Bindungsabstand 1,39⋅10-10 m, entsprechend dem C – C-Abstand im Benzol-Molekül; dieser Bindungsabstand wird auch für die Bindung C – N verwendet N: Anzahl π-Elektronen z = 11; N = 12; z + 1 = N Berechnung der Anregungsenergie für 4,4'-Cyanine: ΔEber = 1,88 ⋅ 103 ⋅ N +1 [kJ⋅mol-1] 2 N Berechnung der absorbierten Wellenlänge für 4,4'-Cyanine: N2 λber = 63,71 ⋅ [nm] N +1 N2 Für N >> 1 gilt: = N und damit λ ∼ N (lineare Abhängigkeit) N ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Exkurs Um die Anregungsenergie Eexp für ein Mol Farbstoffmoleküle aus λexp zu berechnen, muss man die Gleichung ΔEexp = ELicht = h ⋅ ν = h⋅c λexp [J/Molekül] mit der Avogadro-Konstanten (molare Teilchenzahl: NA = 6,02⋅1023 mol-1) multiplizieren und h = 6,626⋅10-34 Js sowie c = 2,998⋅108 m⋅s-1 einsetzen. Für die Umrechnung von J in kJ wird durch 1000 dividiert. Da λexp in nm vorliegt, wird für die Umrechnung von m in nm mit 109 multipliziert. ΔE exp = 6,02 ⋅ 10 23 mol −1 ⋅ 6,626 ⋅ 10 −34 Js ⋅ 2,998 ⋅ 10 8 m ⋅ s −1 ⋅ 30 1 1 ⋅ λexp nm Quantenchemie und organische farbige Stoffe = 1,196 ⋅ 10 −1 ⋅ 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell 1 1 [kJ⋅mol-1] ⋅ 10 9 ⋅ λexp 1000 ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------Aus der experimentell ermittelten Wellenlänge berechnet sich die Anregungsenergie pro Mol Farbstoffmoleküle wie folgt: ΔE exp = 1,196 ⋅ 10 5 ⋅ 1 [kJ⋅mol-1] λexp Anregungsenergie Eexp für 1 Mol Farbstoffmoleküle (Für λexp ist nur der Zahlenwert einzusetzen, die Einheit nm wurde bereits berücksichtigt) Tabelle 2.1 Berechnete und experimentell ermittelte Werte für Energie bzw. Wellenlänge der absorbierten elektromagnetischen Strahlung der 4,4'-Cyanine N(j) λexp in nm nmλber in ΔEexp in kJ⋅mol-1 ΔEber in kJ⋅mol-1 10 (0) 590 579,1 202,7 206,8 12 (1) 709,7 705,7 168,5 169,7 14 (2) 818 832,4 146,2 143,9 16 (3) 932 959,3 128,3 124,8 Abb. 2.12 4,4'-Cyanine: Grafische Darstellung der berechneten und experimentell ermittelten Werte für Energie bzw. Wellenlänge der absorbierten elektromagnetischen Strahlung 31 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Die im Abschnitt 2.3 behandelten Grundlagen für das Elektronengas-Modell (vollständiger Bindungsausgleich durch delokalisierte π-Elektronen, konstante potentielle Energie) lassen sich also auf die 4,4'-Cyanine anwenden. Der wahre Zustand der Moleküle kann somit durch zwei energetisch gleichwertige Grenzformeln beschrieben werden. Er liegt in der Mitte und ist energieärmer (Mesomerie; Mesomerieenergie). Abb. 2.13: Grenzformeln eines 4,4'Cyanin-Moleküls + R N (CH CH)j CH R N CH (CH CH)j N R + N R Für die 4,4'-Cyanine gilt: - Das π-Elektronensystem erstreckt sich über die gesamte Kette (von N bis N+), enthält das nicht bindende Elektronenpaar des Stickstoff-Atoms; die π-Elektronen sind vollständig delokalisiert. - Die beiden Endgruppen (N bzw. N+) sind für den vollständigen Bindungsausgleich verantwortlich. - Zwischen der Anzahl π-Elektronen und der absorbierten elektromagnetischen Strahlung besteht eine lineare Abhängigkeit (siehe oben). Je grösser die Anzahl der π-Elektronen, desto geringer ist die Energie der absorbierten Strahlung. - Das Modell des Elektronengases lässt sich direkt auf die 4,4'-Cyanine anwenden und ermöglicht es, quantitative Voraussagen über die Absorptionsenergie, und damit die Farbe des Stoffs, zu machen. - Der wahre Zustand der Moleküle kann durch zwei energetisch gleichwertige Grenzformeln beschrieben werden. 32 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2.6 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell Übungen mit Lösungen zum Kapitel 2 Übungen A 2.1 Berechnen Sie die kinetische Energie eines Elektrons im ersten Schwingungszustand in einem Kasten von 10-9 m Länge. Wie gross ist seine Geschwindigkeit? Welche Wellenlänge lässt sich dem Elektron zuordnen? A 2.2 a) Berechnen Sie die Anregungsenergie für ein Mol des folgenden Cyanin-Farbstoffs (4,4'-Cyanine) für j = 1 und R = C2H5 (1,1'-Diethyl-4,4'-carbocyaniniodid). Das System delokalisierter Elektronen wird von den beiden Stickstoff-Atomen begrenzt, das nicht bindende Elektronenpaar am Stickstoff-Atom zählt zum System delokalisierter Elektronen, die beiden eingekreisten Benzolringe hingegen rechnet man nicht dazu. - I R N CH ( CH CH ) j N + R b) Berechnen Sie die entsprechende Wellenlänge der absorbierten Strahlung. A 2.3 Ein Elektron in einem 10-9 m langen Kasten hat eine Geschwindigkeit von v = 1,09.106 m⋅s-1 Wie gross ist seine kinetische Energie? Welchen Energiezustand besetzt das Elektron? me = 9,110.10-31 kg; h = 6,626.10-34 Js A 2.4 a) Zeichnen Sie für 1,3,5,7,9-Decapentaen ein Schema der im Grundzustand mit πElektronen besetzten Energieniveaus. b) Berechnen Sie die Anregungsenergie (pro Mol) für 1,3,5,7,9-Decapentaen unter der Annahme, dass die π-Elektronen vollständig delokalisiert sind. A 2.5 Das Absorptionsspektrum eines Farbstoffs zeigt ein Absorptionsmaximum bei einer Wellenlänge von λexp = 420 nm. Berechnen Sie daraus die Anregungsenergie in kJ⋅mol-1. A 2.6 a) Modell des eindimensionalen Kastens: Wie wird die Energie des Elektrons beeinflusst, wenn das Elektron in einen Kasten eingesperrt wird? b) Was versteht man unter der Anregungsenergie eines Farbstoffmoleküls? c) Wie kann die Anregungsenergie experimentell ermittelt werden? 33 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell A 2.7 a) Ein Elektron, welches in einen linearen Kasten der Länge L eingesperrt ist, kann nur bestimmte Schwingungszustände einnehmen. Welche Wellenlängen können dem eingesperrten Elektron zugeordnet werden? b) Zeichnen Sie ein Schema der im Grundzustand mit π-Elektronen besetzten Energieniveaus von 1,3,5,7-Octatetraen. Was geschieht, wenn das Molekül angeregt wird? c) Ein Farbstoffmolekül hat eine Anregungsenergie von 4,97.10-19 J. Welche Wellenlänge hat das von diesem Farbstoff absorbierte Licht? Wie verschiebt sich die Wellenlänge des absorbierten Lichts, wenn ein Molekül eine kleinere Anregungsenergie hat? h = 6.626.10-34 Js, c = 2.998.108 m⋅s-1 A 2.8 a) Ein Elektron im eindimensionalen Kasten wird vom Grundzustand in den niedrigsten unbesetzten Zustand angehoben. Wie viel Energie muss dem Elektron in einem 10-9 m langen Kasten zugeführt werden? h = 6,626.10-34 Js; c = 2,998.108 m⋅s-1; me = 9,110⋅10-31 kg b) Erklären Sie, wie das Modell vom Elektron im eindimensionalen Kasten auf die πElektronen eines Farbstoffmoleküls übertragen werden kann. c) Farbstoffmolekül A besitzt 8 π-Elektronen, welche über 8 Atome delokalisiert sind, während bei Farbstoffmolekül B 12 π-Elektronen über 12 Atome delokalisiert sind. Welches der beiden Moleküle besitzt die kleinere Anregungsenergie? Lösungen A 2.1 Kinetische Energie des Elektrons für n = 1: 2 6,626 ⋅ 10− 34 me ⋅ v 2 h2 2 = ⋅n = T= 2 8 ⋅ me ⋅ L2 8 ⋅ 9,110 ⋅ 10− 31 ⋅ 10− 9 ( ( ) ) 2 J2 ⋅ s2 = 6,025⋅10-20 J 2 kg ⋅ m Geschwindigkeit des Elektrons für n = 1 v= 2 ⋅ Ek 2 ⋅ 6,025 ⋅ 10−20 kg ⋅ m 2 = = 3,637 ⋅ 105 m ⋅ s −1 9,110 ⋅ 10− 31 kg ⋅ s 2 me Wellenlänge des Elektrons für n = 1: 6,626 ⋅ 10−34 Js h = = 2 ⋅ 10− 9 m = 2 nm λ= − 31 5 −1 me ⋅ v 9,110 ⋅ 10 kg ⋅ 3,637 ⋅ 10 m ⋅ s A 2.2 Mit ΔEber = 1,88 ⋅ 10 3 ⋅ λber = 63,70 ⋅ N +1 [kJ⋅mol-1] und 2 (z + 1) (z + 1) 2 [nm] sowie j = 1 ergibt sich: N +1 34 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell z = 11, N = 12 a) ΔEber = 169,72 kJ⋅mol-1 b) λber = 705,6 nm m ⋅ v 2 9,110 ⋅ 10−31 kg ⋅ (1,09 ⋅ 106 m ⋅ s −1 ) 2 A 2.3 T = = = 5,411 ⋅ 10−19 J 2 2 h2 ⋅ n2 Tn = 2 8 ⋅ me ⋅ L n= Tn 8 ⋅ me ⋅ L2 = h2 5,411 ⋅ 10−19 J ⋅ 8 ⋅ 9,110 ⋅ 10−31 kg ⋅ (10−9 m) 2 =3 (6,626 ⋅ 10− 34 Js) 2 Das Elektron befindet sich im 3. Energiezustand. A 2.4 a) b) Anzahl der π-Elektronen des Farbstoffmoleküls: N = 10 Anzahl der Atome des π-Elektronensystems: z = 10 Berechnete Anregungsenergie pro Mol Moleküle: ΔEber = 1,88 ⋅ 10 3 ⋅ N +1 [kJ⋅mol-1] = 170,91 kJ⋅mol-1 2 (z + 1) A 2.5 ΔEexp berechnet sich folgendermassen (für ein Mol Moleküle und die Umwandlung von nm in m bzw. von J in kJ): ΔEexp = h⋅c 6,626 ⋅ 10 −34 ⋅ 2,998 ⋅ 10 8 ⋅ 6,02 ⋅ 10 23 = 284,7 kJ⋅mol-1 = −9 3 λexp 420 ⋅ 10 ⋅ 10 35 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell A 2.6 a) Das eingesperrte Elektron kann nur ganz bestimmte Schwingungszustände einnehmen. Die dazugehörigen Wellenlängen müssen der Quantenbedingung genügen: λ= 2L n n = 1,2,3,4...... Entsprechend den diskreten Schwingungszuständen kann das Elektron auch nur ganz bestimmte Energiezustände einnehmen (E von n ist proportional zu n2). Die Energie des eingesperrten Elektrons ist gequantelt. b) Im Grundzustand besetzen die π-Elektronen des Farbstoffmoleküls paarweise die untersten Energieniveaus. Wird das Molekül angeregt, so geht ein Elektron vom höchsten besetzten (HOMO) in das niedrigste unbesetzte (LUMO) Energieniveau. Die Differenz zwischen dem höchsten besetzten und dem niedrigsten unbesetzten Niveau entspricht der Anregungsenergie. c) Von einem Farbstoff wird mithilfe eines Spektralfotometers ein Absorptionsspektrum aufgenommen. Die Wellenlänge beim Absorptionsmaximum entspricht der Wellenlänge des absorbierten Lichts. Das Farbstoffmolekül absorbiert Licht, wenn seine Energie der Anregungsenergie des Moleküls entspricht. Die Wellenlänge des Lichts ist umgekehrt proportional zur Anregungsenergie. ΔEexp = ELicht = h⋅c [J/Molekül] λmax A 2.7 a) Das eingesperrte Elektron kann durch eine Materiewelle beschrieben werden. Damit sich die Materiewelle nicht auslöscht, sondern eine stehende Welle bildet, muss sie an den Kastenwänden reflektiert werden. Die stehende Materiewelle kann durch eine Sinusfunktion mit Nullstellen an den Kastenrändern beschrieben werden. Es sind also nur Wellenlängen möglich, die folgende Quantenbedingung erfüllen: λ= 2L n n = 1,2,3,4...... b) Das Molekül hat 8 π-Elektronen. Da die Elektronen im Grundzustand paarweise auf die tiefsten Energieniveaus verteilt werden, sind die untersten 4 Energieniveaus besetzt. Regt man das Molekül an, so wird ein Elektron vom höchsten besetzten Niveau ins niedrigste unbesetzte Niveau angehoben: n = 4 (höchstes besetztes Niveau) n = 5 (tiefstes unbesetztes Niveau). 36 Quantenchemie und organische farbige Stoffe 2 Der eindimensionale Kasten; das Elektronengas-Modell c) Damit Lichtabsorption stattfindet, muss die Energie des Lichts der Anregungsenergie entsprechen. ΔEexp = ELicht = h⋅c 6,626 ⋅ 10 −34 Js ⋅ 2,998 ⋅ 108 ms −1 h⋅c ; λexp = = = 3,997 ⋅ 10− 7 m −19 ΔEexp λexp 4,97 ⋅ 10 J = 399,7 nm Da die Anregungsenergie umgekehrt proportional zur Wellenlänge des absorbierten Lichts ist, absorbiert ein Molekül mit kleinerer Anregungsenergie Licht grösserer Wellenlänge. A 2.8 a) Anregung: n = 1 → n=2 ΔE = E2 – E1 = (6,626 ⋅ 10−34 Js) 2 ⋅ 3 h2 h2 h2 2 2 ⋅ 2 − ⋅ 1 = ⋅ 3 = = 1,807 ⋅ 10−19 J − 31 −9 2 2 2 2 8 ⋅ 9,110 ⋅ 10 kg ⋅ (10 m) 8me L 8me L 8me L b) In einem Farbstoffmolekül sind alle π-Elektronen in einem "Molekülkasten" eingesperrt, dessen Länge der Länge des π-Elektronensystems entspricht. Die Elektronenwellen dürfen nur Schwingungszustände einnehmen, die an den Kastenwänden Knoten aufweisen. Es sind deshalb nur Wellenlängen möglich, für die gilt: π = 2L/n. Entsprechend den diskreten Schwingungszuständen ist auch die Energie gequantelt. Im Grundzustand besetzen die π-Elektronen paarweise die untersten Energieniveaus. c) Je grösser das π-Elektronensystem, desto länger ist der Molekülkasten. Die Anregungsenergie ΔE ist proportional zu 1/L2 [L = (z + 1) d ; Abschnitt 2.4], d.h. je länger der Molekülkasten, desto kleiner ist die Anregungsenergie. Molekül B hat also die kleinere Anregungsenergie. 37