Timo Beeker Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio? Eine medizinethische Untersuchung am Beispiel der therapieresistenten Depression mentis MÜNSTER Einbandabbildung: Wenzel Nitsche Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier © 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-654-7 (Print) ISBN 978-3-89785-655-7 (E-Book) Einleitung Im Jahr 1929 erkrankte Naomi Ginsberg, eine US-amerikanische Grundschullehrerin russischer Herkunft, an einem schweren Nervenleiden, das sich rückblickend als paranoide Schizophrenie erkennen lässt. Für ihren 1926 geborenen Sohn Allen, der später zu Weltruhm als einer der angesehensten Lyriker der »Beat-Generation« gelangen sollte, wurde das Aufwachsen mit seiner psychisch kranken Mutter selbst zu einem psychischen Trauma, dessen Spuren weite Teile seines Werkes durchziehen. Allen Ginsberg erlebte die verschiedenen Phasen der Erkrankung seiner Mutter aus unmittelbarer Nähe mit, angefangen bei ihren ersten ungewöhnlichen Verhaltensweisen bis hin zur Ausprägung der von ihr zeitlebens beibehaltenen Wahnvorstellung, im Rahmen einer großangelegten Verschwörung habe man stromführende Metallstäbe in ihren Rücken implantiert, um sie damit zu kontrollieren. Als Teenager begleitete Ginsberg seine Mutter zu Arztterminen und Klinikeinweisungen. Er besuchte sie regelmäßig in verschiedenen Einrichtungen und wurde dabei zum Zeugen der Hilflosigkeit der noch in den Kinderschuhen steckenden psychiatrischen Disziplin im Umgang mit schwerer psychischer Krankheit. Elektroschocks, Insulintherapie, Krampfinduktion durch Metrazol: Keine dieser damals üblichen und teils äußerst schmerzhaften Behandlungen konnte ihren Zustand dauerhaft bessern. Die kommenden Jahre verbrachte Naomi Ginsberg zum größten Teil in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Im November 1948 erreichte den damals mit 21 Jahren gerade volljährigen Ginsberg ein Brief des Direktors des in New York gelegenen Pilgrim State Hospitals, in dem seine Mutter zu diesem Zeitpunkt untergebracht war. Man teilte ihm mit, dass Naomis paranoides Verhalten zunehmend selbstgefährdende Züge annahm, weshalb man sich die Zustimmung für eine frontale Lobotomie erbat. Durch die Scheidung seiner Eltern zum gesetzlichen Vormund für seine Mutter geworden, entschied sich Allen Ginsberg, einiger Vorbehalte zum Trotz, dem Rat der Ärzte zu vertrauen und gab seine Einwilligung zu der vielversprechenden neuartigen Behandlung. [Vgl. Schumacher 1999, S. 23ff., 34ff., 98ff.] Die Operation brachte nicht den erhofften Erfolg. Naomis Paranoia besserte sich nicht, so dass sie dauerhaft stationär untergebracht werden musste. Bei einem Besuch im Jahr 1953 erkannte sie ihren Sohn nicht mehr. Allen Ginsberg machte sich Zeit seines Lebens Vorwürfe, seine Zustimmung zu dem psychisch und körperlich entstellenden Eingriff erteilt zu haben. In seinem Gedicht »Black Shroud« verglich er seine Autorisierung des Eingrif- 14 Einleitung fes mit der »messerartigen Axt« 1 sogar mit der eigenhändigen Enthauptung seiner Mutter: Some electric current flowing up her spine tortured her, foot to scalp unbearable, some professional advice required quick action, I took her wrists, and held her bound to the sink, beheading her silently with swift dispatch, one gesture, a stroke of the knife-like ax that cut thru her neck like soft thick gum, dead quick 2 Naomi Ginsberg starb 1956 an den Folgen eines Schlaganfalls. Während sie heute höchstens einer kleinen Zahl von Kennern der Beat-Generation bekannt sein dürfte, ist der an ihr vorgenommene Eingriff fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Die »Lobotomie-Ära«, innerhalb derer bis zum Ende der 1950er Jahre allein in den USA mehr als 50 000 psychisch kranke Menschen mittels einer gleichermaßen simplen wie brachialen Gehirnoperation dauerhaft »ruhig gestellt« wurden, stellt zweifelsohne eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der modernen Medizin dar. [Vgl. Bjarkam und Sørensen 2009, S. 2868 ff.] Das Entsetzen über diese Prozedur, die sich im Wesentlichen auf das Einführen eines eispickelähnlichen Werkzeuges durch das Dach der Augenhöhle und die anschließende mechanische Zerstörung von Teilen des Frontalhirns beschränkte, ist in dem stark negativ konnotierten Begriff Psychochirurgie bis heute erhalten geblieben. Alle neueren Versuche, psychische Krankheit operativ zu behandeln, müssen sich seitdem auch an diesem warnenden Beispiel messen lassen und aufzeigen, inwiefern sie sich von den katastrophalen Anfängen der psychiatrischen Chirurgie unterscheiden. Über 60 Jahre nach dem Ende der Lobotomie-Ära hat die Medizin in Theorie und Praxis in Folge der digitalen Revolution eine tiefgreifende Umstrukturierung erfahren. Insbesondere für Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie haben dabei neue technische Errungenschaften bahnbrechende Fortschritte mit sich gebracht. Durch funktionelle bildgebende Verfahren wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) ist es nicht nur möglich geworden, die Anatomie des Gehirns in vivo zu untersuchen, sondern sogar Hirnaktivitäten 1 2 Der Ausdruck »knife-like ax« bezieht sich auf das transorbitale Leukotom und ist eine durchaus akkurate Beschreibung dieses bei der frontalen Lobotomie verwendeten Operationswerkzeuges (siehe Abschnitt 3.1.1). [Ginsberg 2007, S. 911]; »Irgendein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat hinaufkroch, quälte sie, auf unerträgliche Weise von Kopf bis Fuß, ein ärztlicher Rat erforderte rasches Handeln, ich nahm ihre Handgelenke und hielt sie über den Ausguß, enthauptete sie schweigend mit rascher Hand, eine Geste, ein Streich mit der messerscharfen Axt, die ihr durch den Hals fuhr wie durch dicken Gummi, totschnell.« [Übersetzung nach: Schumacher 1999, S. 101] Einleitung 15 in Echtzeit abzubilden und normale von pathologischen Aktivitätsmustern zu unterscheiden. Im Zuge dessen ist es im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte zur Herausbildung neuer Erklärungsmodelle dafür gekommen, wie psychische Krankheiten entstehen und welches Geschehen ihnen zugrundeliegt. Das wachsende Verständnis für die Funktionsweise des Gehirns und die voranschreitende Aufklärung der neuronalen Grundlagen verschiedener Krankheitsbilder wurden dabei stets von dem Wunsch begleitet, die gewonnenen Erkenntnisse auch für neue und möglicherweise bessere Therapieansätze nutzen zu können. Parallel zum rasanten Wachstum des Wissens über das Gehirn hat die computergestützt arbeitende stereotaktische Neurochirurgie neue praktische Möglichkeiten eröffnet, mit einer historisch einmaligen Präzision und Sicherheit Eingriffe am Gehirn durchzuführen. Im Kontext dieser Entwicklungen ist auch die Behandlung therapieresistenter Depressionen mittels tiefer Hirnstimulation 3 zu sehen. Seitdem gezeigt werden konnte, dass die »Volkskrankheit« Depression mit einer Fehlregulation von an der Affektverarbeitung beteiligten neuronalen Regelkreisen einhergeht, wurden seit etwa 2003 im Rahmen mehrerer kleiner Studien erste Versuche unternommen, direkt auf der neuronalen Ebene in die dysfunktionalen Regelkreise einzugreifen. Bei den Versuchspersonen handelte es sich in allen Fällen um Patienten mit schwersten chronischen Depressionen und damit um ein Patientenkollektiv, dem die moderne Psychiatrie bislang nahezu ebenso hilflos gegenüber gestanden hat wie die Psychiatrie der 1940er und 1950er Jahre den chronisch Schizophrenen, die damals die Kliniken und Asyle bevölkerten. Bei ungefähr der Hälfte der als gänzlich »therapieresistent« geltenden Patienten, denen zuvor weder mit psychotherapeutischen Verfahren noch mit Pharmakotherapie oder Elektrokrampftherapie dauerhaft geholfen werden konnte, kam es unter Behandlung mit tiefer Hirnstimulation schließlich zu einer stabilen Remission der depressiven Symptomatik. Auch bei den übrigen Patienten waren vielfach erwünschte Effekte zu verzeichnen. Schwere Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Elektrostimulation oder dem Implantationsverfahren ließen sich hingegen kaum beobachten. Angesichts der insgesamt positiven Resultate dieser ersten Gehversuche drängt sich nun die Frage auf, ob sich 3 Der häufig in der deutschsprachigen Literatur zu findende Begriff »Tiefenhirnstimulation« wird in dieser Arbeit bewusst nicht verwendet. Zum einen geht er auf einen Übersetzungsfehler zurück und ist daher allein aus philologischen Gründen unvorteilhaft. Schwerer wiegt jedoch, dass er fälschlicherweise die Existenz einer anatomischen Struktur namens »Tiefenhirn« suggeriert, obwohl sich »tief« lediglich auf den Unterschied zur oberflächlichen Cortexstimulation bezieht. [Vgl. Alesch und Mullett 2004, S. 9] 16 Einleitung die tiefe Hirnstimulation als reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme 4 für als therapieresistent eingestufte, schwer depressive Patienten eignet und als solche in die psychiatrischen Behandlungsalgorithmen aufgenommen werden kann. Die vorliegende Arbeit ist der Beantwortung genau dieser Frage gewidmet. Würde es sich bei der tiefen Hirnstimulation lediglich um ein neues Medikament einer bereits bekannten Klasse handeln, etwa um ein neues Antihypertensivum, könnte sich die Beantwortung der obenstehenden Frage ungefähr folgendermaßen gestalten: Da die physiologische Regulation des Blutdrucks verhältnismäßig gut verstanden ist, hätte man eine valide theoretische Grundlage, auf die alle weiteren Forschungen aufbauen könnten. Sollte sich für das neue Medikament ein vor diesem Hintergrund plausibler Wirkmechanismus nachweisen lassen, könnte man mit ersten Versuchen an Tieren und schließlich an Menschen beginnen, wobei es vor allem um die Überprüfung von Effektivität und Sicherheit des Pharmakons ginge. Wären Wirksamkeit und Unbedenklichkeit schließlich nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin gesichert, stünde einer Zulassung des neuen Medikaments nichts mehr im Wege. Mit der informierten Zustimmung ihrer Patienten könnten es Ärzte ohne weitere Bedenken verschreiben. Sollte das Medikament bei regelmäßiger Einnahme im Einzelfall nicht vertragen werden, hätte man jederzeit die Möglichkeit, auf ein anderes Präparat mit vergleichbarer Wirkung umzusteigen oder sogar, falls gewünscht, die Therapie gänzlich einzustellen. Sorgfältig durchgeführte Studien vor seiner Zulassung vorausgesetzt, wäre mit bleibenden physischen oder psychischen Schäden durch das Medikament nicht zu rechnen. Um den Einsatz vieler neuer therapeutischer Verfahren zu rechtfertigen, mag eine nach ähnlichem Muster durchgeführte medizinische Risiko-Nutzen-Analyse durchaus genügen. Der vorliegende Fall der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung therapieresistenter Depressionen unterscheidet sich jedoch in mehrfacher Hinsicht von diesem Beispiel. Anders als bei der Zulassung eines Antihypertensivums werden einige Problemfelder berührt, welche innerhalb einer sich auf medizinische Aspekte beschränkenden Betrachtung keine ausreichende Berücksichtigung finden würden und eine über diese hinausgehende Reflektion erfordern. Aller Fortschritte der letzten Jahrzehnte zum Trotz, bleibt es eine unumstößliche Tatsache, dass das Gehirn als Zielorgan der diskutierten Intervention in seiner faszinierenden Komplexität nach wie vor nur teilweise verstanden ist. Dies gilt insbesondere für die Entstehung mentaler Phänomene wie Kognition, Emotion oder Volition, die bisher bestenfalls korrelativ, jedoch keineswegs kausal mit bestimmten messbaren 4 Die Bezeichnung »regulär« wird hier bewusst in Abgrenzung zur bisher praktizierten experimentellen Anwendung der tiefen Hirnstimulation für die besagte Indikation verwendet, weshalb der Ausdruck »reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme« nicht selbstwidersprüchlich ist. Einleitung 17 Hirnaktivitäten in Verbindung gebracht werden konnten. Demnach stellt sich die Frage, ob sich die Beeinflussung von Prozessen, die genau diese mentalen Phänomene involvieren, mit unserem derzeitigen Wissen überhaupt angemessen begründen lässt. Weiterhin ist unklar, ob auch ein derartiger Eingriff, wie in der medizinischen Praxis üblich auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes legitimiert werden kann, da die Fähigkeit zur Selbstbestimmung der in Frage kommenden Patienten durch ihre schwere Erkrankung möglicherweise signifikanten Einschränkungen unterliegt. Darüber hinaus wird der Eingriff an einem Organ durchgeführt, welches wie kein zweites Organ im menschlichen Körper als conditio sine qua non für unsere Existenz als denkende, fühlende und handelnde Individuen, kurz als Personen gilt. Da bei der Operation genau in jene Hirnareale Elektroden implantiert werden sollen, die nach dem derzeitigen Stand der Forschung entscheidenden Anteil an einigen uns als Individuen kennzeichnenden Merkmalen haben, steht zur Diskussion, ob bei dem Eingriff nicht genau das riskiert wird, was Ginsberg in dem eingangs zitierten Gedicht metaphorisch mit der Enthauptung seiner Mutter vergleicht: Ein irreversibler Verlust der personalen Identität des behandelten Patienten. Darüber hinaus haftet der Vorstellung, ein kleiner Computer unter der Haut reguliere gezielt bestimmte Hirnaktivitäten, etwas beklemmend Unheimliches an und lässt nicht nur bei Lesern von Science-Fiction-Romanen die bange Frage aufkommen, ob ein derart technisiertes Gehirn wohl noch das Treffen selbst gewählter und gewollter Entscheidungen zulassen würde. Wie aus den hier nur grob skizzierten Überlegungen hervorgeht, übersteigt die Ausgangsfrage dieser Arbeit, ob es zulässig ist, die tiefe Hirnstimulation als eine reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme für therapieresistent depressive Patienten anzuwenden, die Möglichkeiten einer rein medizinisch orientierten Evaluation. Stattdessen ist es erforderlich, sie auf zwei interdependenten, aber dennoch unterscheidbaren Ebenen zu beantworten. Die erste dieser Ebenen kann als die »medizinische Ebene« bezeichnet werden. Sie umfasst vor allem Fragestellungen, die sich auf die Wirksamkeit und die Sicherheit des Eingriffs unter klinischen Gesichtspunkten beziehen. Das angestrebte Resultat einer auf dieser Ebene angesiedelten Analyse ist eine Abwägung des von der tiefen Hirnstimulation im vorliegenden Fall zu erwartenden therapeutischen Nutzens gegen das mit dem Eingriff verbundene Risiko und die zu erwartenden Nebenwirkungen. Nur wenn diese Abwägung positiv ausfällt, also mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit ein signifikanter therapeutischer Nutzen erzielt werden kann bei einem zugleich ärztlicherseits verantwortbaren Risikoprofil, ist es sinnvoll, die Analyse auf einer zweiten Ebene fortzusetzen. Diese zweite Ebene, die hier die »philosophisch-ethische Ebene« genannt werden soll, muss im diskutierten Fall neben einigen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie berührenden Überlegungen vor allem eine Untersuchung