Tiefe Hirnstimulation als Ultima Ratio?

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Timo Beeker
Tiefe Hirnstimulation
als Ultima Ratio?
Eine medizinethische Untersuchung am
Beispiel der therapieresistenten Depression
mentis
MÜNSTER
Einbandabbildung: Wenzel Nitsche
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Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de)
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
ISBN 978-3-89785-654-7 (Print)
ISBN 978-3-89785-655-7 (E-Book)
Einleitung
Im Jahr 1929 erkrankte Naomi Ginsberg, eine US-amerikanische Grundschullehrerin russischer Herkunft, an einem schweren Nervenleiden, das
sich rückblickend als paranoide Schizophrenie erkennen lässt. Für ihren
1926 geborenen Sohn Allen, der später zu Weltruhm als einer der angesehensten Lyriker der »Beat-Generation« gelangen sollte, wurde das Aufwachsen mit seiner psychisch kranken Mutter selbst zu einem psychischen
Trauma, dessen Spuren weite Teile seines Werkes durchziehen. Allen Ginsberg erlebte die verschiedenen Phasen der Erkrankung seiner Mutter aus
unmittelbarer Nähe mit, angefangen bei ihren ersten ungewöhnlichen Verhaltensweisen bis hin zur Ausprägung der von ihr zeitlebens beibehaltenen Wahnvorstellung, im Rahmen einer großangelegten Verschwörung habe
man stromführende Metallstäbe in ihren Rücken implantiert, um sie damit
zu kontrollieren. Als Teenager begleitete Ginsberg seine Mutter zu Arztterminen und Klinikeinweisungen. Er besuchte sie regelmäßig in verschiedenen Einrichtungen und wurde dabei zum Zeugen der Hilflosigkeit der
noch in den Kinderschuhen steckenden psychiatrischen Disziplin im Umgang mit schwerer psychischer Krankheit. Elektroschocks, Insulintherapie,
Krampfinduktion durch Metrazol: Keine dieser damals üblichen und teils
äußerst schmerzhaften Behandlungen konnte ihren Zustand dauerhaft bessern. Die kommenden Jahre verbrachte Naomi Ginsberg zum größten Teil
in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Im November 1948 erreichte
den damals mit 21 Jahren gerade volljährigen Ginsberg ein Brief des Direktors des in New York gelegenen Pilgrim State Hospitals, in dem seine
Mutter zu diesem Zeitpunkt untergebracht war. Man teilte ihm mit, dass
Naomis paranoides Verhalten zunehmend selbstgefährdende Züge annahm,
weshalb man sich die Zustimmung für eine frontale Lobotomie erbat. Durch
die Scheidung seiner Eltern zum gesetzlichen Vormund für seine Mutter
geworden, entschied sich Allen Ginsberg, einiger Vorbehalte zum Trotz,
dem Rat der Ärzte zu vertrauen und gab seine Einwilligung zu der vielversprechenden neuartigen Behandlung. [Vgl. Schumacher 1999, S. 23ff., 34ff.,
98ff.]
Die Operation brachte nicht den erhofften Erfolg. Naomis Paranoia besserte sich nicht, so dass sie dauerhaft stationär untergebracht werden musste.
Bei einem Besuch im Jahr 1953 erkannte sie ihren Sohn nicht mehr. Allen
Ginsberg machte sich Zeit seines Lebens Vorwürfe, seine Zustimmung zu
dem psychisch und körperlich entstellenden Eingriff erteilt zu haben. In
seinem Gedicht »Black Shroud« verglich er seine Autorisierung des Eingrif-
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Einleitung
fes mit der »messerartigen Axt« 1 sogar mit der eigenhändigen Enthauptung
seiner Mutter:
Some electric current flowing up her spine tortured her,
foot to scalp unbearable, some professional advice
required quick action, I took her wrists, and held her
bound to the sink, beheading her silently with swift
dispatch, one gesture, a stroke of the knife-like ax
that cut thru her neck like soft thick gum, dead quick 2
Naomi Ginsberg starb 1956 an den Folgen eines Schlaganfalls. Während sie
heute höchstens einer kleinen Zahl von Kennern der Beat-Generation bekannt sein dürfte, ist der an ihr vorgenommene Eingriff fest im kollektiven
Gedächtnis verankert. Die »Lobotomie-Ära«, innerhalb derer bis zum Ende
der 1950er Jahre allein in den USA mehr als 50 000 psychisch kranke Menschen mittels einer gleichermaßen simplen wie brachialen Gehirnoperation
dauerhaft »ruhig gestellt« wurden, stellt zweifelsohne eines der dunkelsten
Kapitel in der Geschichte der modernen Medizin dar. [Vgl. Bjarkam und
Sørensen 2009, S. 2868 ff.] Das Entsetzen über diese Prozedur, die sich im
Wesentlichen auf das Einführen eines eispickelähnlichen Werkzeuges durch
das Dach der Augenhöhle und die anschließende mechanische Zerstörung
von Teilen des Frontalhirns beschränkte, ist in dem stark negativ konnotierten
Begriff Psychochirurgie bis heute erhalten geblieben. Alle neueren Versuche,
psychische Krankheit operativ zu behandeln, müssen sich seitdem auch an
diesem warnenden Beispiel messen lassen und aufzeigen, inwiefern sie sich
von den katastrophalen Anfängen der psychiatrischen Chirurgie unterscheiden.
Über 60 Jahre nach dem Ende der Lobotomie-Ära hat die Medizin in
Theorie und Praxis in Folge der digitalen Revolution eine tiefgreifende Umstrukturierung erfahren. Insbesondere für Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie haben dabei neue technische Errungenschaften bahnbrechende
Fortschritte mit sich gebracht. Durch funktionelle bildgebende Verfahren
wie der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen
Magnetresonanztomographie (fMRT) ist es nicht nur möglich geworden, die
Anatomie des Gehirns in vivo zu untersuchen, sondern sogar Hirnaktivitäten
1
2
Der Ausdruck »knife-like ax« bezieht sich auf das transorbitale Leukotom und ist eine durchaus
akkurate Beschreibung dieses bei der frontalen Lobotomie verwendeten Operationswerkzeuges
(siehe Abschnitt 3.1.1).
[Ginsberg 2007, S. 911]; »Irgendein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat hinaufkroch, quälte
sie, auf unerträgliche Weise von Kopf bis Fuß, ein ärztlicher Rat erforderte rasches Handeln,
ich nahm ihre Handgelenke und hielt sie über den Ausguß, enthauptete sie schweigend mit
rascher Hand, eine Geste, ein Streich mit der messerscharfen Axt, die ihr durch den Hals fuhr
wie durch dicken Gummi, totschnell.« [Übersetzung nach: Schumacher 1999, S. 101]
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in Echtzeit abzubilden und normale von pathologischen Aktivitätsmustern
zu unterscheiden. Im Zuge dessen ist es im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte zur Herausbildung neuer Erklärungsmodelle dafür gekommen, wie
psychische Krankheiten entstehen und welches Geschehen ihnen zugrundeliegt. Das wachsende Verständnis für die Funktionsweise des Gehirns und
die voranschreitende Aufklärung der neuronalen Grundlagen verschiedener
Krankheitsbilder wurden dabei stets von dem Wunsch begleitet, die gewonnenen Erkenntnisse auch für neue und möglicherweise bessere Therapieansätze
nutzen zu können.
Parallel zum rasanten Wachstum des Wissens über das Gehirn hat die
computergestützt arbeitende stereotaktische Neurochirurgie neue praktische Möglichkeiten eröffnet, mit einer historisch einmaligen Präzision und
Sicherheit Eingriffe am Gehirn durchzuführen. Im Kontext dieser Entwicklungen ist auch die Behandlung therapieresistenter Depressionen mittels tiefer
Hirnstimulation 3 zu sehen. Seitdem gezeigt werden konnte, dass die »Volkskrankheit« Depression mit einer Fehlregulation von an der Affektverarbeitung beteiligten neuronalen Regelkreisen einhergeht, wurden seit etwa 2003
im Rahmen mehrerer kleiner Studien erste Versuche unternommen, direkt
auf der neuronalen Ebene in die dysfunktionalen Regelkreise einzugreifen.
Bei den Versuchspersonen handelte es sich in allen Fällen um Patienten mit
schwersten chronischen Depressionen und damit um ein Patientenkollektiv,
dem die moderne Psychiatrie bislang nahezu ebenso hilflos gegenüber gestanden hat wie die Psychiatrie der 1940er und 1950er Jahre den chronisch
Schizophrenen, die damals die Kliniken und Asyle bevölkerten. Bei ungefähr
der Hälfte der als gänzlich »therapieresistent« geltenden Patienten, denen zuvor weder mit psychotherapeutischen Verfahren noch mit Pharmakotherapie
oder Elektrokrampftherapie dauerhaft geholfen werden konnte, kam es unter
Behandlung mit tiefer Hirnstimulation schließlich zu einer stabilen Remission der depressiven Symptomatik. Auch bei den übrigen Patienten waren
vielfach erwünschte Effekte zu verzeichnen. Schwere Nebenwirkungen im
Zusammenhang mit der Elektrostimulation oder dem Implantationsverfahren
ließen sich hingegen kaum beobachten. Angesichts der insgesamt positiven
Resultate dieser ersten Gehversuche drängt sich nun die Frage auf, ob sich
3
Der häufig in der deutschsprachigen Literatur zu findende Begriff »Tiefenhirnstimulation«
wird in dieser Arbeit bewusst nicht verwendet. Zum einen geht er auf einen Übersetzungsfehler
zurück und ist daher allein aus philologischen Gründen unvorteilhaft. Schwerer wiegt jedoch,
dass er fälschlicherweise die Existenz einer anatomischen Struktur namens »Tiefenhirn« suggeriert, obwohl sich »tief« lediglich auf den Unterschied zur oberflächlichen Cortexstimulation
bezieht. [Vgl. Alesch und Mullett 2004, S. 9]
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die tiefe Hirnstimulation als reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme 4 für als therapieresistent eingestufte, schwer depressive Patienten eignet und als solche
in die psychiatrischen Behandlungsalgorithmen aufgenommen werden kann.
Die vorliegende Arbeit ist der Beantwortung genau dieser Frage gewidmet.
Würde es sich bei der tiefen Hirnstimulation lediglich um ein neues Medikament einer bereits bekannten Klasse handeln, etwa um ein neues Antihypertensivum, könnte sich die Beantwortung der obenstehenden Frage
ungefähr folgendermaßen gestalten: Da die physiologische Regulation des
Blutdrucks verhältnismäßig gut verstanden ist, hätte man eine valide theoretische Grundlage, auf die alle weiteren Forschungen aufbauen könnten.
Sollte sich für das neue Medikament ein vor diesem Hintergrund plausibler
Wirkmechanismus nachweisen lassen, könnte man mit ersten Versuchen an
Tieren und schließlich an Menschen beginnen, wobei es vor allem um die
Überprüfung von Effektivität und Sicherheit des Pharmakons ginge. Wären Wirksamkeit und Unbedenklichkeit schließlich nach den Kriterien der
evidenzbasierten Medizin gesichert, stünde einer Zulassung des neuen Medikaments nichts mehr im Wege. Mit der informierten Zustimmung ihrer
Patienten könnten es Ärzte ohne weitere Bedenken verschreiben. Sollte das
Medikament bei regelmäßiger Einnahme im Einzelfall nicht vertragen werden, hätte man jederzeit die Möglichkeit, auf ein anderes Präparat mit vergleichbarer Wirkung umzusteigen oder sogar, falls gewünscht, die Therapie
gänzlich einzustellen. Sorgfältig durchgeführte Studien vor seiner Zulassung
vorausgesetzt, wäre mit bleibenden physischen oder psychischen Schäden
durch das Medikament nicht zu rechnen.
Um den Einsatz vieler neuer therapeutischer Verfahren zu rechtfertigen,
mag eine nach ähnlichem Muster durchgeführte medizinische Risiko-Nutzen-Analyse durchaus genügen. Der vorliegende Fall der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung therapieresistenter Depressionen unterscheidet sich
jedoch in mehrfacher Hinsicht von diesem Beispiel. Anders als bei der Zulassung eines Antihypertensivums werden einige Problemfelder berührt, welche
innerhalb einer sich auf medizinische Aspekte beschränkenden Betrachtung
keine ausreichende Berücksichtigung finden würden und eine über diese hinausgehende Reflektion erfordern. Aller Fortschritte der letzten Jahrzehnte
zum Trotz, bleibt es eine unumstößliche Tatsache, dass das Gehirn als Zielorgan der diskutierten Intervention in seiner faszinierenden Komplexität nach
wie vor nur teilweise verstanden ist. Dies gilt insbesondere für die Entstehung mentaler Phänomene wie Kognition, Emotion oder Volition, die bisher
bestenfalls korrelativ, jedoch keineswegs kausal mit bestimmten messbaren
4
Die Bezeichnung »regulär« wird hier bewusst in Abgrenzung zur bisher praktizierten experimentellen Anwendung der tiefen Hirnstimulation für die besagte Indikation verwendet,
weshalb der Ausdruck »reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme« nicht selbstwidersprüchlich ist.
Einleitung
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Hirnaktivitäten in Verbindung gebracht werden konnten. Demnach stellt sich
die Frage, ob sich die Beeinflussung von Prozessen, die genau diese mentalen
Phänomene involvieren, mit unserem derzeitigen Wissen überhaupt angemessen begründen lässt. Weiterhin ist unklar, ob auch ein derartiger Eingriff,
wie in der medizinischen Praxis üblich auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes legitimiert werden kann, da die Fähigkeit zur Selbstbestimmung der
in Frage kommenden Patienten durch ihre schwere Erkrankung möglicherweise signifikanten Einschränkungen unterliegt. Darüber hinaus wird der
Eingriff an einem Organ durchgeführt, welches wie kein zweites Organ im
menschlichen Körper als conditio sine qua non für unsere Existenz als denkende, fühlende und handelnde Individuen, kurz als Personen gilt. Da bei der
Operation genau in jene Hirnareale Elektroden implantiert werden sollen, die
nach dem derzeitigen Stand der Forschung entscheidenden Anteil an einigen
uns als Individuen kennzeichnenden Merkmalen haben, steht zur Diskussion, ob bei dem Eingriff nicht genau das riskiert wird, was Ginsberg in dem
eingangs zitierten Gedicht metaphorisch mit der Enthauptung seiner Mutter
vergleicht: Ein irreversibler Verlust der personalen Identität des behandelten
Patienten. Darüber hinaus haftet der Vorstellung, ein kleiner Computer unter
der Haut reguliere gezielt bestimmte Hirnaktivitäten, etwas beklemmend
Unheimliches an und lässt nicht nur bei Lesern von Science-Fiction-Romanen die bange Frage aufkommen, ob ein derart technisiertes Gehirn wohl
noch das Treffen selbst gewählter und gewollter Entscheidungen zulassen
würde.
Wie aus den hier nur grob skizzierten Überlegungen hervorgeht, übersteigt
die Ausgangsfrage dieser Arbeit, ob es zulässig ist, die tiefe Hirnstimulation
als eine reguläre Ultima-Ratio-Maßnahme für therapieresistent depressive
Patienten anzuwenden, die Möglichkeiten einer rein medizinisch orientierten
Evaluation. Stattdessen ist es erforderlich, sie auf zwei interdependenten, aber
dennoch unterscheidbaren Ebenen zu beantworten. Die erste dieser Ebenen
kann als die »medizinische Ebene« bezeichnet werden. Sie umfasst vor allem
Fragestellungen, die sich auf die Wirksamkeit und die Sicherheit des Eingriffs
unter klinischen Gesichtspunkten beziehen. Das angestrebte Resultat einer
auf dieser Ebene angesiedelten Analyse ist eine Abwägung des von der tiefen
Hirnstimulation im vorliegenden Fall zu erwartenden therapeutischen Nutzens gegen das mit dem Eingriff verbundene Risiko und die zu erwartenden
Nebenwirkungen. Nur wenn diese Abwägung positiv ausfällt, also mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit ein signifikanter therapeutischer Nutzen
erzielt werden kann bei einem zugleich ärztlicherseits verantwortbaren Risikoprofil, ist es sinnvoll, die Analyse auf einer zweiten Ebene fortzusetzen.
Diese zweite Ebene, die hier die »philosophisch-ethische Ebene« genannt
werden soll, muss im diskutierten Fall neben einigen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie berührenden Überlegungen vor allem eine Untersuchung
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