Seltene Erkrankungen − Millionen Patienten

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Seltene Erkrankungen − Millionen
Patienten
Wer ein Jahr im Voraus denkt, sät Korn; wer zehn Jahre voraus
schaut, pflanzt Bäume; wer lebenslang plant, fördert Menschen.
Chinesische Lebensweisheit
Von den etwa 30 000 bekannten Krankheitsbildern des Menschen
werden mehr als 7 000 zu den sog. „seltenen Erkrankungen“ gezählt. Eine Erkrankung gilt in Europa als selten, wenn weniger
als eine von 2 000 Personen darunter leidet. Dies entspricht einer
Prävalenz von 0,05 Prozent. Die wohl bekanntesten seltenen Erkrankungen dürften die Mukoviszidose (Zystische Fibrose) und
die Bluterkrankheiten (Hämophilien) sein; darunter fallen aber
auch viele genetisch bedingte Stoffwechselstörungen wie Morbus Gaucher, Morbus Duchenne oder Morbus Pompe. Daneben
gibt es zahlreiche schwere oder gar lebensbedrohende Zustände, an denen nur sehr wenige Menschen erkranken. Per saldo
sind diese Krankheiten aber gar kein so seltenes Phänomen. In
Deutschland gibt es etwa vier Mio. Betroffene und in der Europäischen Union etwa 30 Mio. Häufigste Ursachen sind Fehler im
Erbgut. Oft handelt es sich um Krankheitsbilder, die eine aufwendige Behandlung und Betreuung erfordern. Sie sind für die
Patienten und ihre Familien mit hohen Belastungen verbunden
und führen manchmal schon im Kindes- oder Jugendalter zum
Tod. Aus der Seltenheit der einzelnen Krankheiten ergeben sich
auch zahlreiche Probleme in der Forschung und Entwicklung
neuer Behandlungsansätze.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
fördert deshalb seit 2003 zehn krankheitsspezifische Netzwerke
für seltene Erkrankungen mit insgesamt 30 Mio. Euro für maximal fünf Jahre. Dadurch wird bei diesen Krankheiten die Kooperation zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung auf nationaler Ebene gebündelt. Selbsthilfegruppen der
Patienten sind eng in diese Zusammenarbeit eingebunden.
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Zehn Netzwerke in Deutschland
Bei den zehn krankheitsspezifischen deutschen Netzwerken geht
es im Einzelnen um:
1) Angeborene Störungen der Blutbildung (bone marrow failure syndromes) der weißen Blutzellen (Neutropenien), der roten
Blutkörperchen (Blackfan-Diamond-Anämie und dys-erythropoetische Anämie), der Blutplättchen (Thrombozytopenien) sowie um die Fanconi-Anämie.
2) Leukodystrophien. Diese sind bis dato nicht therapierbar.
Die weiße Substanz des Nervensystems (Myelin) stellt sicher,
dass Nervenimpulse mit hoher Geschwindigkeit weitergeleitet
werden. Eine Reihe seltener genetisch bedingter Erkrankungen
führt zum Zerfall des Myelins und zu fortschreitendem Verlust
körperlicher und geistiger Fähigkeiten.
3) Ichthyosen und verwandte klinische Bilder. Diese umfassen
eine Gruppe von seltenen, generalisierten, erblichen Verhornungsstörungen, die mit Schuppenbildung und oft erheblicher
Entzündung der Haut einhergehen. Dies führt zu schwerwiegenden physischen und psychischen Einschränkungen der Lebensqualität.
4) Besonderheiten der somatosexuellen Differenzierung und Intersexualität. Das Netzwerk untersucht die Ursachen fehlender
Übereinstimmung zwischen chromosomalem Geschlecht und
inneren sowie äußeren Geschlechtsorganen. Projekte bearbeiten u. a. die molekularen und klinischen Grundlagen der Fehlentwicklung der Gonaden und der Androgenbiosynthese.
5) Erbliche Bewegungsstörungen. Diese sind gekennzeichnet
durch fortschreitende Ataxie, Spastik, Koordinierungsstörungen, Lähmungen oder fehlende Bewegungskontrolle. Bislang
bestehen allenfalls symptomatische Therapiemöglichkeiten.
Ursache und Verlauf sind nur teilweise bekannt. Das Netzwerk
Ge-NeMove erforscht u. a. über die Einrichtung einer bundesweiten Genbank die molekulargenetischen Ursachen dieser
neurologischen Erkrankungen.
6) Sklerodermie. Merkmale dieser Erkrankung sind Verhärtung
und Verdickung der Haut in Folge vermehrter Bindegewebsablagerung. Als systemische Sklerodermie greift sie auf innere
Organe über, wie Lunge und Magen-Darm-Trakt, und führt
dort zu irreversiblen Schädigungen. Gestützt auf epidemiologische Daten aus derzeit 31 Kliniken koordiniert das Netzwerk
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die Ursachenforschung sowie die Weiterentwicklung von Diagnostik und Therapie.
7) Muskeldystrophien. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe
von über 30 erblich bedingten Erkrankungen, die durch eine
zunehmende Schwäche der Skelett- und gelegentlich auch der
Herzmuskulatur gekennzeichnet sind. Das Netzwerk führt u. a.
zwei Therapiestudien für Duchenne- und Gliedergürtel-Muskeldystrophien durch.
8) Epidermolysis bullosa. Darunter versteht man eine Gruppe
von erblichen Krankheiten der Haut. Bereits geringe mechanische Belastung führt bei den Patienten zu Hautblasen und
Wunden. Dies verringert die Lebensqualität und beeinträchtigt
die sozioökonomische Situation der Patienten und ihrer Angehörigen erheblich. Epidermolysis bullosa kann bisher nicht
geheilt werden.
9) Skelettdysplasien. Diese umfassen genetisch bedingte Störungen der Knochenentwicklung, bei denen Kleinwuchs, Körperdisproportionen, Gelenkprobleme und auch schwere frühzeitige Verschleißerscheinungen auftreten. Es handelt sich um
eine große Gruppe von mehreren hundert Erkrankungen, die
aber einzeln relativ selten vorkommen.
10) Genetisch bedingte Stoffwechselstörungen. Ein Teil der in
großer Zahl vorkommenden Störungen werden schon bei den
Reihenuntersuchungen der Neugeborenen erkannt. Die meisten Krankheiten führen zu akuten und chronischen Hirnfunktionsstörungen und haben ohne Behandlung eine ungünstige
Prognose. Die oftmals lebenslang erforderliche diätetische
oder medikamentöse Therapie ist aufwändig, teuer und für
Patienten und ihre Familien sehr belastend. Unter anderem ist
das Netzwerk an einer internationalen Querschnittstudie zur
Glutarazidurie beteiligt.
E-RARE humanum est
Wie schon gesagt: rund vier Mio. Menschen in Deutschland leiden an sog. seltenen Erkrankungen, europaweit sind es etwa 30
Mio. Menschen. Anfang Mai 2007 stellten Bundesforschungsministerin Annette Schavan und die Gattin des Bundespräsidenten,
Eva Luise Köhler, in Berlin das europäische Netzwerk E-RARE
und seine neue Förderinitiative vor. Frau Köhler ist Schirmherrin von ACHSE, der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen.
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ACHSE ist ein Netzwerk von Patientenorganisationen, die Betroffenen und ihren Familien hilft. Durch die gezielte Bündelung
von Forschung in Europa soll die Situation der Patienten deutlich verbessert werden. E-RARE wird künftig die Forschungsaktivitäten von fünf europäischen Ländern zu seltenen Krankheiten
koordinieren; dabei geht es um gemeinsame multinationale Projekte in Deutschland, Frankreich, Israel, Italien, Spanien sowie
in der Türkei. Mit E-RARE, für das die beteiligten Regierungen
zunächst 12,8 Mio. Euro für drei Jahre ausgeben, ergänzt das
BMBF seine laufende nationale Förderung von Netzwerken für
seltene Erkrankungen.
Bisher wird die Forschung dadurch erschwert, dass Ressourcen auf verschiedenen Gebieten fehlen. Zu jeder einzelnen
Krankheit forschen nur wenige Wissenschaftler. Die Patienten
sind räumlich weit verteilt, was die gemeinsame Beobachtung
in aussagekräftigen Studien erschwert. Datenbanken über die
Krankheitsverläufe sind kaum standardisiert und teilweise für
Wissenschaftler schwer zugänglich. Zudem sind die betreffenden Krankheitsbilder oft sehr komplex. Die neue Fördermaßnahme wird Expertenwissen und Ressourcen zahlreicher qualifizierter Arbeitsgruppen zusammenführen. Angestrebt werden
Fortschritte, die allein aufnationaler Ebene unerreichbar wären.
Medikamente für seltene Krankheiten
Arzneimittel zur Therapie seltener Krankheiten werden auch in
Deutschland als orphan drugs bezeichnet. Wörtlich übersetzt
bedeutet dies Arzneimittel-Waisenkinder. Die Bezeichnung erklärt sich aus dem Umstand, dass sich bis dato niemand berufen
fühlte, die Erforschung und Entwicklung dieser Medikamente
in die Hand zu nehmen. Wirtschaftlich orientierte Unternehmen
haben unter gängigen Marktbedingungen für solche Präparate
auch langfristig keine Aussicht auf Amortisierung ihrer einstmals getätigten Investitionen.
Auf diese Besonderheit haben Regierungen mit verschiedenen
Mitteln reagiert. In den USA wurden 1983 durch den „Orphan
Drug Act“ staatliche Anreize geschaffen. Seitdem hat die amerikanische Zulassungsbehörde etwa 1 600 Zuerkennungen dieses
besonderen Status erteilt und rund 300 Arzneimittel zugelassen.
In Japan gibt es seit 1993 eine entsprechende rechtliche Basis.
Mit der Verordnung 141/2000 über Arzneimittel gegen seltene
Leiden, die Anfang 2000 in Kraft getreten ist, wurden auch in
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Seltene Erkrankungen − Millionen Patienten
der EU Anreize zur Entwicklung von orphan drugs eingeführt.
Ziel dieser Verordnung war es, ein förderndes Umfeld für die
spezifische Forschung und Entwicklung zu schaffen. Anträge
auf Anerkennung des Status „Arzneimittel gegen eine seltene
Krankheit“ können seit April 2000 an das Committee for Orphan
Medicinal Products bei der Europäischen Arzneimittelagentur in
London gestellt werden. Es wird das „zentralisierte Verfahren“
nach Verordnung 2309/93 für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln angewandt.
Mit dem Status sind diverse Anreize verbunden. Dazu zählen
eine umfassende Beratung bei der Entwicklung, die vollständige
oder teilweise Befreiung von Zulassungsgebühren und das Recht
auf maximal zehnjährigen Alleinvertrieb. Bis Februar 2007 hat
die EU Kommission rund 450 Produkten den Status zu erkannt
und 34 EU-weit geltende Zulassungen erteilt. Diese dürften mehr
als 1,5 Mio. Patienten zugutekommen.
Bei vielen der nunmehr therapierbaren Erkrankungen handelt
es sich um angeborene Stoffwechselstörungen (inborn errors
of metabolism). Einzelgendefekte führen zu Anomalien bei der
Synthese oder dem Abbau von Proteinen, Kohlehydraten oder
Fetten. Meist fehlt den Patienten ein essentielles Enzym oder
ein Transportprotein, so dass der Metabolismus der betroffenen
Stoffe im Körper beeinträchtigt ist. Dies führt zur Ablagerung
von Zwischen- oder Abbauprodukten in diversen Organsystemen und letztlich zum teilweisen oder vollständigen Ausfall der
physiologischen Funktion der betroffenen Organe.
Fast jede Stoffwechselkrankheit tritt in verschiedenen Formen auf, die sich im Manifestationsalter, in ihrem klinischen
Schweregrad und häufig auch darin unterscheiden, wie sie an
nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Die Art der
Vererbung bestimmt den Anteil von Männern zu Frauen unter
den Betroffenen.
Eine Reihe der neu zugelassenen Medikamente enthalten molekularbiologisch hergestellte Moleküle der fehlenden Enzyme,
die den Patienten im Sinne einer Enzymersatztherapie regelmäßig gegeben werden. Aber auch Antidote gegen Vergiftungen
und Arzneimittel zur Behandlung von Leukämien und soliden
Tumoren sind mittlerweile als Arzneimittel gegen seltene Leiden
zugelassen.
Somit ist die europäische Verordnung zu orphan drugs ein eindrucksvolles Beispiel, dass eine zielgerichtete Politik der Verbesserung der Marktbedingungen deutlich mehr erreicht als interventionistischer Dirigismus. Auch hier gilt die Erfahrung, dass
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Seltene Erkrankungen − Millionen Patienten
sich menschliches Handeln weitaus besser durch Anreize als
durch Strafen steuern lässt.
Besonders eingesetzt für die weitere Verbesserung der Lebensbedingungen von Patienten mit seltenen Krankheiten hatte sich
die Luxemburgische Regierung während ihrer EU-Ratspräsidentschaft, vor allem, um die Fragmentierung der Forschung in
Europa zu überwinden. Eine eigens hierfür Ende Juni 2005 einberufene Konferenz brachte mehr als 200 Teilnehmer im Großherzogtum zusammen.
Orphanet
Orphanet ist die Bezeichnung für die Europäische Datenbank
seltener Krankheiten. Sie ist relational aufgebaut, berücksichtigt
die Datenerhebung aus 35 Ländern, umfasst derzeit etwa 5 000
seltene Krankheiten und wird kontinuierlich erweitert. Alle Informationen der Datenbank sind frei zugänglich und in sechs
verschiedenen Sprachen verfügbar: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch.
Orphanet integriert Adressenlisten von spezialisierten Diagnoselaboratorien einschließlich ihrer jeweiligen Leistungsspektren,
genetische Beratungsstellen, Spezialkliniken und ihren Sprechstunden sowie Patienten-Selbsthilfegruppen. Die Datei führt
darüber hinaus eine stets aktualisierte Liste von Forschungsprojekten über seltene Krankheiten.
Orphanet wurde in Frankreich durch das INSERM (Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale) und die DGS (Direction Générale de la Santé) Anfang des Jahres 1997 ins Leben
gerufen und der Öffentlichkeit am 1. Januar 1998 zur Verfügung
gestellt. Im Laufe der Zeit traten weitere Länder dem Projekt bei:
Im Jahr 2001 Belgien, Deutschland, Italien und die Schweiz; 2002
Österreich und Spanien; 2003 Portugal; 2004 Zypern, Dänemark,
Estland, Finnland, Griechenland, Ungarn, Irland, die Niederlande, Rumänien, Großbritannien sowie Litauen; 2006 Bulgarien, Kroatien, die Tschechische Republik, Lettland, der Libanon,
Marokko, Polen, Serbien, die Slowakei, Slowenien, Tunesien,
Luxemburg, Malta, Schweden, Norwegen und die Türkei. Heute
ist Orphanet eine Arbeitsgemeinschaft der europäischen Partnerländer unter der Leitung von Frankreich als Projektmanager.
Orphanet kooperiert mit EURORDIS, der europäische Vereinigung von Patientenorganisationen. Weiterhin besteht eine formale Zusammenarbeit mit EUROCAT, dem europäischen Netz68
Seltene Erkrankungen − Millionen Patienten
werk der Fehlbildungsregister. Auch auf nationaler Ebene sind
Partnerschaften entstanden, die auf den jeweiligen Websites der
Länder aufgeführt sind. Zur Zeit wird die Internet-Seite täglich
von 10 000 Personen aufgerufen. Über die Hälfte der Nutzer sind
Ärzte und Wissenschaftler aus dem Gesundheitsbereich, etwa
fünf Prozent davon sind Medizinstudenten. Ein Drittel der Besucher sind Patienten, Familienangehörige oder Bekannte von
Patienten. Weitere 15 Prozent der Leser sind sonstige Angehörige der Heilberufe, der Industrie und der Medien, bzw. Personen,
die an seltenen Krankheiten interessiert sind, aber keine Betroffenen persönlich kennen.
Häufiger Medikamente gegen seltene Krankheiten
Alpha1-Antitrypsin-Mangel, Morbus Wilson oder Morbus Pompe, Mucopolysaccharidose VI, nur wenige kennen diese Namen,
geschweige die zugrundeliegenden Krankheitsbilder, und noch
weniger sind betroffen. Und dennoch gibt es seit einigen Jahren
erstmals Medikamente, um diese schweren angeborenen Stoffwechselstörungen zu behandeln. Acht solcher orphan drugs
wurden 2006 zugelassen. Damit diente fast jedes dritte Medikament mit einem neuen Wirkstoff, das in diesem Jahr die Zulassung erhielt, der Behandlung einer seltenen Krankheit.
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Ungenutzte Medikamente
Seien Sie vorsichtig im Umgang mit Gesundheitsbüchern.
Sie könnten an einem Druckfehler sterben.
Mark Twain
Die modernsten und besten Medikamente nutzen nichts, wenn
sie nicht eingenommen werden. Um einen Patienten davon zu
überzeugen, dass er seine Medikamente dauerhaft zuverlässig
einnimmt, reicht die Bereitstellung von standardisierten Informationen, etwa im Beipackzettel, nicht aus. Erfahrungsgemäß
wird etwa ein Viertel aller verordneten Medikamente nicht oder
nicht so wie vom Arzt angeordnet oder wie vom Arzneimittelhersteller in der Packungsbeilage empfohlen eingenommen.
Mangelnde Therapietreue gehört somit zu den größten Problemen bei der Behandlung mit Arzneimitteln.
Dabei ist die Nichtbeachtung ärztlicher Anordnungen kein
neuzeitliches Phänomen. In seiner Abhandlung „Über den
Anstand“ schreibt Hippokrates (460–377 v. Chr.) unter anderem: „Beachtung muss auch jener Schwachheit des Patienten
geschenkt werden, oftmals über die Einnahme der verordneten
Arznei die Unwahrheit zu sagen. Patienten, die es unterließen,
die von ihnen verabscheute Medizin einzunehmen, . . . sind häufig gestorben. Ihre Nachlässigkeit tritt aber nicht zutage, sondern die Schuld wird auf den Arzt geschoben.“
Offensichtlich ist die Verteilung von Schuld und Unschuld seit
mehr als zwei Jahrtausenden festgelegt. Wenn der Patient hingegen zur Mitarbeit bereit ist, jedoch aus anderen Gründen die
ärztlichen Anordnungen nicht oder falsch befolgt, sollte man
heute nicht von mangelnder Therapietreue, sondern von einem
Therapiefehler sprechen.
Je nach Krankheitsbild kann sich in solchen Fällen der Gesundheitszustand des Patienten verschlechtern, es kann zu Folgekrankheiten kommen, und es wird eventuell sogar die Einweisung in ein Krankenhaus notwendig. Ob vom Arzt verordnete
und oft lebenswichtige Arzneimittel zuverlässig und über lange
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Ungenutzte Medikamente
Zeit eingenommen werden, hängt von Mehrerem ab, unter anderem vom Krankheitsbild und davon, wie oft am Tag das Medikament angewendet werden sollte. Besonders bei Krankheiten,
welche längerfristig, zum Teil lebenslang, behandelt werden und
in den ersten Jahren kaum Leidensdruck erzeugen, ist die Therapietreue des Einzelnen nicht sehr ausgeprägt.
Aufklärung
An erster Stelle steht die Aufklärung der Patienten. Eigentlich
sollte diese am Ort der Verordnung, somit im Sprechzimmer des
Arztes stattfinden. Aber dem ist nicht immer so. In Deutschland
dauert das Gespräch des Hausarztes mit einem Patienten in etwa
acht Minuten, das heißt, für anstehende Fragen zur medikamentösen Therapie bleibt nicht viel Zeit. Dabei hat manchmal
das scheinbar Banale große Bedeutung. Das Mittel zum Einreiben rötet die Haut oder verursacht Juckreiz. Die Tabletten gegen
Niedergeschlagensein führen zu Mundtrockenheit.
Eine Reihe von Patienten ist überfordert, wenn die Tabletten
im Takt nach der Uhr eingenommen werden sollen. Älteren Menschen, welche mit mehreren Leiden in die Praxis kommen, werden eventuell zu viele Medikamente aufgeschrieben. Je mehr Tabletten verordnet werden, desto seltener halten sich Patienten an
die Empfehlungen ihres Arztes.
Therapietreue setzt voraus, dass sich Patient und Arzt über das
Warum und das Wie der jeweiligen Behandlung verständigen.
Dazu sollten sich die Doktoren einer Ausdrucksweise bedienen,
die ihre Klientel versteht. Lassen Ärzte ihre Patienten nicht ausreden, überfahren sie sie mit unverständlichen Fachausdrücken,
unterbrechen sie sie immer wieder oder werden gar laut, so
brauchen sie sich über mangelnde Therapietreue nicht zu wundern.
In solchen Fällen merken die Patienten schnell, dass etwas
nicht stimmt. Ende 2007 präsentierte die Deutsche Hochdruckliga das Resultat einer Umfrage, in der 20 Prozent der Befragten
mitteilten, der behandelnde Arzt sei auf ihre subjektiven Sorgen
nicht weiter eingegangen. Ein ausführliches, erklärendes Gespräch fand zu selten statt, meinten sie. 25 Prozent der Befragten
äußerten ihren Unmut darüber, dass der Arzt nicht darüber aufklärte, was man – zusätzlich oder anstelle der Einnahme von
Arzneimitteln – hätte tun können, um einen erhöhten Blutdruck
abzusenken.
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Ungenutzte Medikamente
Was ist das Problem?
Etwa 80 Prozent der Probleme in der ambulanten Versorgung
werden in Deutschland mit der Verordnung eines Arzneimittels
angegangen. Diese Ziffer ist recht hoch, sieht man sie im europäischen Vergleich. In den Niederlanden oder in Großbritannien
verlassen nur etwa zwei Drittel der Patienten die Arztpraxis mit
einem Rezept. Allen Ländern ist aber gemeinsam: Während früher das Patientenproblem und sein Lösungsansatz im Vordergrund standen, geht es in der Diskussion heute um das Arzneimittel und seine Beschaffenheit oder Anwendung.
Bezüglich Non-Compliance steht der Patient schnell als Schuldiger da. In der öffentlichen Diskussion gilt er als Verursacher
von Ausgaben, welche das Gesundheitssystem belasten. Medikamente wegzuwerfen oder in Arzneimittelschränken zu horten
ist ohne Zweifel unwirtschaftlich und belastet die Umwelt.
Nach Meinung der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) belaufen sich die jährlichen Kosten, die durch
mangelnde Therapietreue entstehen, auf etwa zehn Mrd. Euro.
Destatis, das Statistische Bundesamt, hat kürzlich mitgeteilt, dass
sich im Jahre 2007 die Ausgaben des hiesigen Gesundheitssystems für Arzneimittel auf 41,7 Mrd. Euro beliefen. Legt man diese Zahlen zugrunde, so wäre der verantwortungsvolle Umgang
mit verschriebenen Medikamenten eine enorme Wirtschaftlichkeitsreserve im deutschen Gesundheitswesen.
Offensichtlich wäre weniger also mehr. Prinzipiell ist der Arzt
in der Wahl seiner Behandlungsmethode frei, bei der Versorgung
von Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung schränkt
allerdings das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzbuches die ärztliche Therapiefreiheit ein. Die Leistung muss
ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie darf das
Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die in der ärztlichen
Berufsordnung festgelegte Therapiefreiheit stößt an weitere
Grenzen, wenn der Patient nach Aufklärung seine Zustimmung
zu einer Therapie verweigert.
Suchgut, Erfahrungsgut, Vertrauensgut
Hinzu kommt eine Besonderheit des Gutes Arzneimittel. Legt
man Kriterien und Nomenklatur eines eingespielten Marktes zugrunde, so handelt es sich bei einem Medikament im Allgemeinen nicht um ein Suchgut (search good). Unter diesem markt215
Ungenutzte Medikamente
wirtschaftlichen Begriff versteht man Artikel wie z. B. Bleistifte
oder Blumentöpfe. Ihre Beschaffenheit und Qualität können vom
Verbraucher, der mit gewissen Vorstellungen den Laden betritt,
vor dem jeweiligen Kauf überprüft werden.
Für den behandelnden Arzt ist das Arzneimittel ein Erfahrungsgut (experience good), wie beispielsweise Brot. Seine Eigenschaft ist allgemein bekannt, kann individuell aber erst nach
dem Erwerb bzw. nach der Verschreibung überprüft werden.
Für den Patienten sind Medikamente – abgesehen von bestimmten Produkten, die man besser Gesundheitsmittel nennen
sollte und meist auf eigene Rechnung gekauft werden – in jedem
Falle Vertrauensgüter (credence goods): Der Verbraucher benötigt zur Anwendung das entsprechende Vertrauen in das Produkt, da er vorher zu einer Überprüfung der jeweiligen Aussage
nicht in der Lage ist. In der gleichen Situation befindet sich auch
der Arzt, wenn er Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen zum ersten Mal verschreibt.
Wirkt das verordnete Arzneimittel, erfährt der Patient es als
Vertrauensgut, so möchte er es beim nächsten Anlass wieder
aufgeschrieben haben, insbesondere wenn es um eine chronische Erkrankung geht, welche über einen längeren Zeitraum
behandelt werden muss. Die Einnahmetreue wird infrage gestellt, wenn die Tabletten plötzlich weiß sind anstelle blau wie
bisher. Persönliche Verordnungswünsche von Patienten einfach
mir nichts dir nichts zu übergehen führt in vielen Fällen zu NonCompliance. Es entspricht nun einmal der menschlichen Erfahrung, dass ein wunschverordnetes Medikament so wie vorgesehen eingenommen wird.
Kleingedrucktes
Spätestens das Studium des viel gegliederten und eng gedruckten Beipackzettels mit langen Listen von Nebenwirkungen beunruhigt viele Leser. Etwa ein Sechstel aller Patienten verzichtet nach Lektüre der jeweiligen Gebrauchsinformation darauf,
das verschriebene Präparat einzunehmen. Man stelle sich vor,
16 Prozent der Fluggäste würden nach Demonstration von Sicherheitsgurt und Schwimmweste durch das Bordpersonal vor
dem Start fordern, das Flugzeug wieder verlassen zu dürfen.
Dabei ist kollektiv gesehen der Nutzen medikamentöser Therapie unbestritten. Ein unbehandelter hoher Blutdruck ist von
seinem gesundheitlichen Risiko her fünftausendmal gefährlicher
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Ungenutzte Medikamente
als alle Formen der Medikamenteneinnahme über ein Jahr zusammengenommen. Werden also nur zehn Prozent aller Patienten mit Hypertension von dem Furcht erweckenden Nebenwirkungsabschnitt einer Gebrauchsinformation davor abgeschreckt,
etwas gegen ihren hohen Blutdruck zu unternehmen, dann ist in
diesem Falle das Lesen der Packungsbeilage fünfhundertmal gefährlicher als die Einnahme des blutdrucksenkenden Mittels.
Somit läge hier ein weites Betätigungsfeld für die Gesundheitsberufe zu verhindern, dass der Patient aus Angst vor dem Tod
durch Nebenwirkungen das angezeigte Mittel nicht einnimmt
und damit das weitaus größeres Risiko eingeht, einer Komplikation seiner Grunderkrankung zu erliegen.
Bei der Behandlung chronisch erkrankter Patienten geht es
nicht allein um Therapietreue, sondern vielmehr um Adhärenz.
Eine hohe Adhärenz zu einer Behandlung bedeutet, dass die
Patienten aus dauerhafter Überzeugung heraus einem zuvor
mit dem Arzt vereinbarten Therapieschema folgen. Nur etwa
ein Drittel aller Diabetes-Patienten hält sich strikt an die Verordnungen ihres Arztes. Die jährlichen Kosten, die den europäischen Gesundheitssystemen aufgrund mangelnder Adhärenz
und Therapietreue der anderen zwei Drittel entstehen, bezifferte
die European Health Care Foundation im Jahre 2006 auf rund
70 Mrd. Euro.
Man vermutet, dass mehr als die Hälfte der Patienten, die wegen Multipler Sklerose mit Interferon beta-1 b behandelt werden, die Therapie innerhalb von zwei Jahren abbrechen. Über
50 Prozent dieser Abbrüche finden in den ersten drei Monaten nach Ansetzen der Therapie statt. Damit werden wertvolle
Chancen auch im Hinblick auf die langfristige Prognose vertan.
Andererseits fördert umfassende Betreuung der Patienten deren
Adhärenz und sichert die langfristige Therapietreue.
Man erreicht dies dadurch, indem man die Kranken motiviert,
mit der Behandlung aktiv die Kontrolle über ihre Erkrankung
zu übernehmen. Dabei werden die Patienten durch eine speziell
ausgebildete Schwester betreut, welche die Menschen mit Multipler Sklerose in ihrer häuslichen Umgebung bei der InterferonTherapie anleitet und sie darüber hinaus ganz allgemein bei der
Krankheitsbewältigung unterstützt. Dazu gehört auf die Bedürfnisse der Patienten zugeschnittenes Informationsmaterial und
eine Telefonverbindung, an die sich die Erkrankten jederzeit mit
Fragen wenden können.
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Ungenutzte Medikamente
Führung der Person
Verbessertes Selbstmanagement der Patienten könnte entscheidend dazu beitragen, die Therapietreue insgesamt zu verbessern.
Schließlich steht außer Frage, dass der Verlauf einer Krankheit
wesentlich davon abhängt, wie gut der Einzelne über sein Leiden, mögliche therapeutische Alternativen sowie Wirkungen
und Nebenwirkungen von Arzneimitteln informiert ist.
Bestes Beispiel sind die Mitglieder von Selbsthilfegruppen der
Patienten mit seltenen Erkrankungen (orphan diseases), welche
in puncto Krankheitsbild und therapeutischem Ansatz auf dem
aktuellen Stand des Wissens sind. Eine Senkung des medizinischen Analphabetismus auch in der Gesamtbevölkerung würde sicher dazu führen, die Patienten-Arzt-Kommunikation zu erleichtern. Allerdings erlaubt es die aktuelle Rechtslage in Europa
nicht, dass Hersteller für verschreibungspflichtige Arzneimittel
in direkten Kontakt mit Patienten treten.
Zwar gibt es mittlerweile eine Initiative der EU-Kommission,
welche vorsieht, dass pharmazeutische Unternehmer künftig Informationen über verschreibungspflichtige Medikamente im Internet und den Printmedien verbreiten dürfen. Jedermann soll
sich selbst über Preise, Anwendungsgebiete, Wirkungen und
Nebenwirkungen informieren. Bei den Auskünften soll es sich
vornehmlich um eine verständliche Zusammenfassung der auf
den Verpackungen sowie auf Beipackzettel und Fachinformation
enthaltenen Daten handeln. Das Angebot soll den Kontakt zum
behandelnden Arzt ergänzen, aber nicht ersetzen, heißt es im
Entwurf.
Allerdings regt sich sowohl in den Mitgliedsstaaten als auch
im Europäischen Parlament massiver Widerstand gegen die EUInitiative, so dass ihr mittlerweile keine große Chance mehr auf
Umsetzung eingeräumt wird. Die Argumentation der Nichtbefürworter erinnert an die Kommentare der Obrigkeiten, als anfangs
des 19. Jahrhunderts die Rufe nach Pressefreiheit immer lauter
wurden. Wozu brauche man Pressefreiheit, hieß es damals, wo
doch eh nur ein Zwanzigstel der Bevölkerung lesen könne?
Eventuell fällt zukünftig auch dem Apotheker eine größere
Rolle bei der Abgabe des Präparats zu, indem er den Kunden
in verständlichen Worten über den Nutzen des Arzneimittels informiert und davon überzeugt, es nach Vorschrift einzunehmen.
Das Verhalten der Patienten ließe sich beeinflussen, indem man
die Arzneimitteleinnahme mit bestehenden Gewohnheiten verknüpft.
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Ungenutzte Medikamente
Gegen Vergesslichkeit hilft etwa, wenn die morgendlichen Tabletten immer beim Zubereiten des Frühstücks eingenommen
werden. Zudem wären die Apotheker in der Lage, Verbrauchsgewohnheiten derjenigen Kunden zu begleiten, die sich in eine
Hausapotheke eingeschrieben haben. Es ließe sich auch über
Therapieanpassungen reden. So könnten möglicherweise Medikamente, die zweimal am Tag eingenommen werden, durch solche Darreichungsformen ersetzt werden, bei denen die einmalige Einnahme ausreicht.
Auch die Krankenkassen haben damit begonnen, chronisch
kranke Patienten telefonisch zu betreuen und damit zu mehr Therapietreue zu motivieren. Die Intention ist, Diabetiker, Herzkranke und chronisch Lungenkranke besser einzustellen, möglichst
lange in der ambulanten Versorgung zu halten und schließlich
damit auch die Ausgaben zu reduzieren. Die Teilnahme der Versicherten an solchen Programmen ist freiwillig.
Fazit
Viel zu viele Menschen nehmen die Medikamente nicht ein, die
ihnen ihr Arzt verschrieben hat. Das ist nicht nur gefährlich für
sie, sondern verursacht auch hohe Kosten. Schuld an der Misere
sind aber nicht nur die Patienten. Ständiges Wechseln beim Verschreiben von ohnehin recht preisgünstigen Arzneimitteln spart
dem Gesundheitssystem wenig, verunsichert aber die Patienten.
Begünstigt wird die Non-Compliance zusätzlich durch die mangelhafte Koordination zwischen den handelnden Akteuren.
Korrekte Anwendung von Arzneimitteln ist die Voraussetzung
für deren Wirken. Neben individuellen gesundheitlichen Schäden
für die Kranken entstehen auch kollektive volkswirtschaftliche
Ausfälle in Milliardenhöhe. Von einer genauen Befolgung einer
verordneten medikamentösen Behandlung haben alle etwas: Patienten, Ärzte, Krankenkassen und Arzneimittelhersteller.
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