special | Gestationsdiabetes Gestationsdiabetes Der Gestations- oder Schwangerschaftsdiabetes zählt zu den häufigsten Schwangerschaftskomplikationen und ist eine weltweit zunehmende Erkrankung. Er wird durch verschiedene Schwangerschaftshormone, Übergewicht und einer der Schwangerschaft nicht angepassten Ernährung verursacht. Diese Arbeit bietet einen Überblick zu den möglichen Folgen, Screeningmethoden, Diagnosekriterien sowie Therapiemaßnahmen. Glossar: Dystokie = gestörter Geburtsverlauf infolge mechan., org., oder funktionaler Ursachen Eklampsie = lebensgefährliche Schwangerschaftstoxikose Hypokalzämie = Verminderung des Kalziumgehaltes im Blut Hypertrophie: Übermäßige Zunahme von Geweben oder Organen Inzidenz = Anzahl der Neuerkrankungsfälle einer best. Erkrankung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes Makrosomie = Makrosomie beschreibt eine unverhältnismäßige Größe von Körperteilen oder Organen. Die fetale Makrosomie ist definiert als ein Geburtsgewicht oberhalb der 95. Perzentile (4 350 g). Morbidität = Krankheitshäufigkeit innerhalb einer Population Polyglobulie = Vermehrung der Erythrozyten im Blut 128 Definition Häufigkeit Als Gestationsdiabetes (GDM) (ICD-10: 024.4) bezeichnet man eine Kohlenhydratstoffwechselstörung (Glukosetoleranzstörung [1, 2]), die erstmalig während der Schwangerschaft auftritt bzw. erkannt wird. Dabei kann es sich auch um die Erstmanifestation eines Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2 sowie um bereits vor der Empfängnis manifeste, aber bisher nicht diagnostizierte Patientinnen mit Diabetes mellitus Typ 2 handeln [1]. Typ-1oder Typ-2-Diabetikerinnen, die schwanger werden, zählen hierbei nicht zu den Gestationsdiabetikerinnen [3]. 6–12 Wochen nach der Entbindung sollte anhand eines postpartalen oralen Glukosetoleranztests (75-g-oGTT) untersucht werden, ob nach den allgemeingültigen Kriterien ein manifester Diabetes mellitus, eine pathologische Glukosetoleranz oder ein latenter Diabetes mellitus vorliegt (wenn die Glukosetoleranz post partum zur Norm zurückkehrt) [3]. Der GDM zählt zu den häufigsten Schwangerschaftskomplikationen und ist eine weltweit zunehmende Erkrankung [1]. Aufgrund unterschiedlicher Screeningmethoden und Diagnosekriterien schwanken die Angaben zur Häufigkeit des GDM zwischen <1 % und 20 %. Ernährungs-Umschau | 3/07 Auf dem ADA (Amercian Diabetes Association)-Kongress 2006 wurden ergänzende Daten zur Screening- und Diagnosestellung vorgestellt: Bei ungarischen Schwangeren fand sich z. B. eine GDMInzidenz von 6,4 % (Diagnose nach WHO-Kriterien, 쏆 Tabelle 1), eine andere Arbeitsgruppe um VEERASAMY fand bei 588 von 3 407 Schwangeren (17,3 %) einen Gestationsdiabetes (Zweistundengrenzwert von 140 mg/dl), bei 42,2 % der 588 Schwangeren trat dieser vor der 23. Schwangerschaftswoche auf. Diese Ergebnisse machen deutlich, dass ein frühes GDM-Screening in der Schwangerschaft indiziert ist [22]. Dr. Sonja Weber, Ambulanz für Endokrinologie, Diabetes und Stoffwechsel, Johann Wolfgang Goethe-Universitätsklinikum, Frankfurt am Main Pathogenese Pathogenetisch wird ein hormonaler Insulinantagonismus durch das plazentare Lactogen sowie die Sexualhormone Östrogen und Progesteron während der Schwangerschaft angenommen [3]. Dadurch kommt es zu einem ansteigenden Insulinbedarf im Verlauf der Schwangerschaft. Im ersten Trimenon kann sich – vermutlich aufgrund des sinkenden Progesterons – die Stoffwechsellage zunächst verbessern. Schwankungen des Insulinbedarfes können jedoch auch zu einer erschwerten Einstellung mit einem Auftreten von Hypoglykämien führen. Im zweiten Trimenon kann es aufgrund des ansteigenden plazentaren Lactogens zu einer Zunahme des Insulinbedarfes kommen. Während der Geburt sinkt der Insulinbedarf durch das Ausstoßen der Plazenta und die durch die Wehen bedingte verstärkte Muskelaktivität ab [3]. Folgen für Mutter und Kind Es gibt einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit mütterlicher und kindlicher Komplikationen und den mütterlichen Blutglukosewerten [1]. Selbst bei einer gestörten Glukosetoleranz [6] (IGT = impaired glucose tolerance [7]) zeigt sich eine dem Gestationsdiabetes vergleichbare fetale Morbidität [8–10]. Bei den möglichen Folgen muss zwischen akuten und Langzeitfolgen für Mutter und Kind unterschieden werden [1]. Das Risiko für eine schwangerschaftsindu- Autoren/ Kriterien Glukosebelastung (g) Blutfraktion O’Sullivan/Muhan 100 VB NDDG/Screening (GCT) 50 VP NDDG/Diagnose 100 VP Langer et al. Gleich wie NDDG NÜ 90 Grenzwerte 1h 2h 3h Diagnosekriterien 165 145 125 2 165 145 2 140 105 190 WHO 75 VB/KB 200 WHO IGT 75 VB/KB 140–200 Carpenter Couston 75 VP Grazer Kriterien 75 VP DDG 75 KV 90 180 155 75 VP 95 180 155 95 180 155 160 VB: venöses Blut, VP: venöses Plasma, KB: Kapillarblut, KP: kapillares Plasma, GCT: Glucose Challenge Test, NÜ: Nüchtern-Wert, KV: kapillares Vollblut, NDDG: National Diabetes Data Group, DDG: Deutsche Diabetes-Gesellschaft Tabelle 1: Etablierte Kriterien zur Diagnose eines GDM [22] zierte Hypertonie, Präeklampsie, Eklampsie, Harnwegsinfekte [1, 4] sowie Sectio-Entbindungen und vaginal-operativen Entbindungen [1, 11] ist bei Schwangeren mit Gestationsdiabetes erhöht. An Langzeitfolgen für die Mutter besteht ein um 50 % erhöhtes Risiko für das erneute Auftreten einer Glukosetoleranz-Störung in der folgenden Schwangerschaft [1, 12]) sowie ein Risiko von 40–50 %, 10 Jahre nach der Geburt einen manifesten Diabetes mellitus (meist Typ 2) zu entwickeln [1, 13]. Dabei werden als prädisponierende Faktoren ein erhöhter Blutglukosenüchternwert während der Schwangerschaft >95 mg/dl kapillär, Insulinpflichtigkeit, die Diagnosestellung des GDM vor der 24. SSW, ein GDM in einer früheren Schwangerschaft [14], eine eingeschränkte Glukosetoleranz im postpartalen oGTT und Übergewicht [1, 15] angesehen. Bei dem Kind kann es durch den fetalen Hyperinsulinismus zu einer erhöhten Makrosomierate mit der Gefahr der Schulterdystokie, Hypoglykämie, Hypokalzämie, Polyglobulie, Hyperbilirubinämie, Atemnotsyndrom und bei unbehandeltem GDM auch zum intrauterinen Tod kommen [1]. Das gesteigerte transplazentare Glukoseangebot der Mutter an den Feten führt zu einer gesteigerten Insulinproduktion mit der Folge einer β-Zell-Hypertrophie (Hyperinsulinismus). Der fetale Hyperinsulinismus kann jedoch auch zu einer intrauterinen Schädigung der β-Zellen führen mit den Ernährungs-Umschau | 3/07 129 special | Gestationsdiabetes Langzeitfolgen einer nicht-genetisch bedingten Disposition zum Diabetes mellitus [1, 17, 18]. Zudem erhöht sich das Risiko für Kinder von Müttern mit unzureichend behandeltem GDM, in der Pubertät oder als Erwachsene Übergewicht oder einen Diabetes mellitus zu entwickeln [1, 19–21]. Screening Um die bereits genannten Folgen zu vermeiden, ist ein rechtzeitiges und generelles Screening aller Schwangeren auf das Vorliegen eines Gestationsdiabetes mit dem Ziel der Aufnahme in der Mutterschaftsvorsorge notwenig. Doch so uneinheitlich die Daten zur Inzidenz sind (22), so international uneinheitlich sind auch die verschiedenen diagnostischen Grenzwerte zum Screening (쏆 Tabelle 1, [22]). Problematisch ist, dass die bisherigen Grenzwerte (쏆 Tabelle 1) zwar das Risiko der Mutter erfassen, nach der Schwangerschaft einen Diabetes zu entwickeln, jedoch nicht das Risiko für kindliche Morbidität [1]. Klarheit diesbezüglich soll die zurzeit laufende HAPO-Studie (Hyperglycemia and Adverse Perinatal Outcome) geben. Die Ergebnisse werden anlässlich des ADA-Kongresses 2007 erwar- tet. Bei der HAPO-Studie handelt es sich um eine weltweite multizentrische Studie mit dem Ziel der Evaluierung von Blutzuckergrenzwerten, die mit einer erhöhten kindlichen Morbidität assoziiert sind [1]. Die erwarteten Ergebnisse sollen künftig einheitliche Kriterien im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge schaffen. Für diese Studie wurden 25 000 Schwangere verblindet per oGTT zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche getestet; eine Entblindung erfolgt, wenn die Werte des oGTT nüchtern 105 mg/dl und zwei Stunden postprandial 200 mg/dl überschreiten. Als Endpunkte werden die Sectio- und Hypoglykämierate, die Makrosomiehäufigkeit und der fetale Hyperinsulinismus [22] untersucht. Hier stellt sich auch die Frage, in welchem Bereich die Blutglukosewerte bei nicht diabetischen Schwangeren liegen. YOGEV et al. [22] haben hierzu die mittleren Blutglukosespiegel in einem Kollektiv nicht diabetischer Schwangerer gemessen und folgende Mittelwerte gefunden: ■ nüchtern 75 mg/dl (4,2 mmol/l), ■ präprandial 78 mg/dl (4,3 mmol/l), ■ 1h-postprandial 105 mg/dl (5,8 mmol/l), ■ 2h-postprandial 97 mg/dl (5,4 mmol/l). Adipöse Schwangere wiesen gegenüber schlanken höhere postprandiale Spitzen, jedoch niedrigere nächtliche Blutglukosespiegel auf (im Mittel keine Unterschiede) [22]. YOGEV stellte Grenzwerte der mittleren Blutglukose für diabetesassoziierte fetale und maternale Komplikationen zusammen, bis zu denen kein erhöhtes Risiko gegenüber Nichtdiabetikerinnen besteht. Diese betrugen für das Risiko zur ■ Makrosomie 97 mg/dl (5,4 mmol/l) ■ Totgeburt 100 mg/dl (5,6 mmol/l) ■ Postnatale metabolische Komplikationen 107 mg/dl (5,9 mmol/l) ■ Konnatale Fehlbildungen 140 mg/dl (7,8 mmol/l) ■ Spontanabort 150 mg/dl (8,3 mmol/l) [22] Diese Daten unterstreichen die Tendenz hin zu niedrigeren Screeningund Grenzwerten und einer straffen Einstellung während der Schwangerschaft, denen auch von der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Strukturierte Diabetestherapie mit einem Einstundengrenzwert von 160 mg/ dl im 75 g oralen Glucosetoleranztest regional Rechnung getragen wird. Gestationsdiabetes? Alle Schwangeren rechtzeitig testen! Diagnose: Schwangerschaft 24.–28. SSW einzeitig zweizeitig IGT/GDM 24.–28. SSW zu jeder Tageszeit nüchtern IGT/GDM o.B. V.a. GDM 50 g Screening-Test 32.–34. SSW 75 g oGTT Diagnose-Test 140 mg/dl IGT/GDM o.B. 140 mg/dl 200 mg/dl BMI 27 kg/m2 Diabetes bei Eltern/Geschwistern GDM vorangehend Kind 4500 g n Nü 90 k/95 v erhöht: kein Wert o.B. 1h 180 2h 155 ein Wert IGT mg/dl zwei Werte GDM Z.n. Totgeburt 126 nüchtern 126 mg/dl Einstellungsziel: nüchtern/präprandial 60–90 mg/dl postprandial 120 mg/dl Therapie Fehlbildungen vorangehend Habitueller Abort Blutzucker-Selbstkontrolle/Ernährungsumstellung/Bewegung Insulin o.B. Grafik: mpm/Ernährungs Umschau Quelle: AG Diabetes u. Schwangerschaft der DDG, Dez. 2000 sofort o.B. Empfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft kein Risiko Risiko Abb. 1: Behandlungskonzept Gestationsdiabetes. SSW = Schwangerschaftwoche, GDM= Gestationsdiabetes, veränd. n. [1] 130 Ernährungs Umschau | 3/07 Die Deutsche Diabetes Gesellschaft empfiehlt eine Untersuchung auf GDM bei jeder Schwangeren mit Hilfe zweier möglicher Vorgehensweisen (쏆 Abbildung 1; [1]): Es erfolgt entweder bei allen Schwangeren eine einzeitige Untersuchung mit einem 75 g oralen Glucosetoleranztest (oGTT) zwischen der 24. und 28. SSW oder zunächst ein Screening-Test mit 50 g Glukose, der bei pathologischem Ausfall durch einen 75 g oGTT ergänzt werden muss (zweizeitige Untersuchung). Die Bestimmung der Uringlukose als Screening-Parameter ist nicht aussagekräftig, da es während der Schwangerschaft aufgrund einer veränderten renalen Hämodynamik zur vermehrten Glukoseausscheidung kommen kann (Erniedrigung der Nierenschwelle) [3]. Bei Vorliegen von mindestens einem der folgenden Risikofaktoren für GDM wird ein oGTT bereits im 1. Trimenon der Schwangerschaft empfohlen: ■ Übergewicht (Body-Mass-Index vor der Schwangerschaft 27,0 kg/m2) ■ Diabetes bei Eltern/Geschwistern ■ Gestationsdiabetes in einer vorangehenden Schwangerschaft ■ Z. n. Geburt eines Kindes 4 500 g, Z. n. Totgeburt ■ schwere kongenitale Fehlbildungen in einer vorangehenden Schwangerschaft ■ habituelle Abortneigung (3 Fehlgeburten in Folge) [1]. Bei unauffälligem Ergebnis in dieser Risikogruppe wird die Wiederholung des oGTT zwischen der 24.–28. SSW und bei erneut unauffälligem Resultat zwischen der 32.–34. SSW empfohlen [1]. Auch bei Makrosomie des Feten sollte ein 75-g-oGTT durchgeführt werden. Therapie Entscheidend für die Therapie des Gestationsdiabetes sind die Komponenten Schulung, Blutzuckerselbstkontrolle, Ernährungsberatung, Bewegung/sportliche Aktivität und ggf. die Insulintherapie. Dabei ist die Grundlage der gesamten Behandlungsstrategie die zeitnahe und individuelle Schulung in einer Diabetesschwerpunkteinrichtung mit Erfahrung in der Behandlung von Gestationsdiabetikerinnen und insulinbehandelten Schwangeren. An der Universitätsklinik in Frankfurt am Main wurde ein ambulantes Schulungsprogramm für Gestationsdiabetikerinnen entwickelt, das sich zum Ziel gesetzt hat, eine möglichst umfangreiche und kompakte ambulante Info gemäß der AG Diabetes + Schwangerschaft [1] Der orale 50-g Glukose-Screening-Test kann zu jeder Tageszeit und unabhängig von der vorausgegangenen Nahrungszufuhr durchgeführt werden. Die Testlösung (50 g wasserfreie Glukose gelöst in 200 ml Wasser) wird innerhalb von 3–5 Minuten getrunken. Die Schwangere soll während des Tests sitzen und nicht rauchen. Das Blutglukose-Ergebnis eine Stunde nach Ende des Trinkens der Testlösung wird bewertet: Bei einem Blutglukosewert im kapillären Vollblut oder venösen Plasma 140 mg/dl (7,8 mmol/l) besteht der Verdacht auf GDM, ein 75-g oGTT muss angeschlossen werden. Ab einem Screening-Wert von 200 mg/dl (11,1 mmol/l) [1] soll vor Durchführung des diagnostischen oGTT ein Nüchtern-Blutglukosewert bestimmt werden. Bei einem NüchternBlutglukosewert 90 mg/dl (5,0 mmol/l) im kapillären Vollblut oder 95 mg/dl ( 5,3 mmol/l) im venösen Plasma kann dann auf den 75 g oGTT verzichtet und die Diagnose GDM gestellt werden. Der diagnostische 75 g orale Glukosetoleranz-Test (oGTT) soll morgens nach einer mindestens achtstündigen Nahrungskarenz beginnen, mindestens drei Tage vor dem Test darf keine Einschränkung der Kohlenhydrat-Aufnahme erfolgen [1]. Bei einem Blutglukose-Wert nüchtern von 110 mg/dl (6,0 mmol/l) im kapillären Vollblut oder 126 mg/dl (7,0 mmol/l) im venösen Plasma soll kein Test durchgeführt und die Schwangere zu einer DiabetesSchwerpunkteinrichtung zur weiteren Diagnostik und Betreuung überwiesen werden. Die Testlösung (75 g wasserfreie Glucose gelöst in 300 ml Wasser) wird innerhalb von 3–5 Minuten getrunken. Die Schwangere soll während des Tests sitzen und nicht rauchen. Bewertet werden die Blutglukose-Messergebnisse vor dem Test (nüchtern) sowie eine und zwei Stunden nach Ende des Trinkens der Testlösung. Die DDG greift auf die aus den Originaldaten von O’SULLIVAN [23] umgerechneten Grenzwerte von CARPENTER und COUSTAN [24] zurück. Danach liegt ein GDM vor, wenn mindestens zwei der folgenden drei Grenzwerte erreicht oder überschritten werden [1]: Messzeitpunkt Kapilläres Vollblut (mg/dl) (mmol/l) venöses Plasma (mg/dl) (mmol/l) 90 5,0 95 5,3 Nach einer Stunde 180 10,0 180 10,0 Nach zwei Stunden 155 8,6 155 8,6 Nüchtern Tabelle 2: Grenzwerte des GDM Ist nur ein Grenzwert pathologisch, so liegt eine eingeschränkte Glukosetoleranz (IGT) vor, die wie ein diagnostizierter GDM gewertet wird [1]. Gruppenschulung durchzuführen, um den Gestationsdiabetikerinnen theoretisch und praktisch den größtmöglichen Wissenszugewinn zu ermöglichen [25]. Schulungen und Ernährungsberatungen bei Gestationsdiabetes werden, je nach Klinik oder Praxis, unterschiedlich vorgenommen. Als Einstellungsziele einer erfolgreichen Blutzuckereinstellung bei Gestationsdiabetes gelten die folgenden aufgeführten Werte, wobei präprandiale Werte von 60 mg/dl (3,3 Ernährungs-Umschau | 3/07 131 special | Gestationsdiabetes mmol/l) unter Insulintherapie ebenfalls nicht unterschritten werden sollten (쏆 Tabelle 2; [1]). Bei der Erstvorstellung sollte die Gestationsdiabetikerin die BlutglukoseSelbstkontrolle erlernen und üben und eine Ernährungsberatung erhalten. Die Messungen sollten initial vor den drei Hauptmahlzeiten und eine Stunde nach Beginn der Mahlzeiten durchgeführt und dokumentiert werden (6 Werte pro Tag). Bei Wiedervorstellung (initial engmaschig, später auch in zweiwöchentlichen Abständen möglich) sollte anhand der gemessenen Blutzuckerwerte von dem betreuenden Arzt in Zusammenarbeit mit der Diabetes- und Ernährungsberatung eine Anpassung der Messhäufigkeit und der Therapie erfolgen. Einstellungsziele kapilläres Vollblut (mg/dl) (mmol/l) Nüchtern/präprandial 60–90 3,3–5,0 1 Stunde postprandial* 140 7,8 2 Stunde postprandial* 120 6,7 * nach Beginn der Mahlzeit Tabelle 2: Einstellungsziele bei Gestationsdiabetes Neben dem Erlernen der Blutzuckerselbstkontrolle sollte bei der Schwangeren mit Gestationsdiabetes eine Ernährungsberatung durchgeführt werden, die die individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände der Schwangeren berücksichtigt. Empfohlen wird hier von der DDG [1] eine Ernährung, „die eine für die Bedürfnisse der Schwangerschaft adäquate Kalorienmenge und Zusammensetzung enthält. Der Kalorienbedarf für eine Schwangere im 2. und 3. Trimenon beträgt ca. 30 kcal/kg Körpergewicht [1]. Bei Frauen mit einem Body-Mass-Index >27 kg/m2 am Beginn der Schwangerschaft sollte die Kalorienmenge auf 25 kcal/kg Körpergewicht reduziert werden [1]. Eine gezielte Gewichtsabnahme ist zu vermeiden, eine Gewichtsstagnation bzw. leichte Gewichtsreduktion von 1–2 kg zu Beginn der Ernährungsum- 132 Ernährungs Umschau | 3/07 stellung ist unbedenklich. Die Beschränkung der Kohlenhydratmenge zur Verminderung der postprandialen Hyperglykämie soll 40 % der Tageskalorien nicht unterschreiten [26].“ Im klinischen Alltag wird ein Ernährungsstatus erhoben und mit der Gestationsdiabetikerin das Vermeiden von Saccharose, Süßigkeiten und zuckerhaltigen Getränken inkl. Fruchtsäfte (auch wenn diese keine Zuckerzusätze enthalten) besprochen. Ebenso sollte nicht mit Honig, Ahornsirup oder Agavensirup als Ersatz gesüßt werden. In Frage kommen die Süßstoffe Cyclamat, Saccharin, Aspartam, Acesulfam K, Thaumatin sowie Neohesperidin. Weißmehlprodukte sollten gegen Vollkornprodukte ausgetauscht werden. Fünf kleine Portionen sollten über den Tag verteilt inkl. 2–3 Stücke Obst als Zwischenmahlzeiten verzehrt werden; im Falle eines schnellen Blutzuckeranstieges nach Obstgenuss kann dieser mit Quark, Joghurt oder Vollkornprodukten zur Resorptionsverlangsamung kombiniert werden. Kartoffeln, Reis oder Nudeln sollten in Maßen genossen werden (ca. 1 Handvoll = etwa 3–4 BE). Jede warme Mahlzeit sollte schonend gegartes Gemüse enthalten. Rohkost (u.a. Salat) sollte komplementär verzehrt werden, so dass den von der DGE empfohlenen „5 a day“ Rechnung getragen wird. Auf Trockenfrüchte und Weintrauben sollte verzichtet werden. Bei Bananen ist auf Grund der schnellen Blutzuckerwirksamkeit ebenfalls Vorsicht geboten. Bei Insulinpflichtigkeit der Gestationsdiabetikerin sollte nach Kohlenhydrateinheiten berechnet werden. Eine Insulintherapie ist dann indiziert, wenn die Einstellungsziele diätetisch und durch eine Steigerung der körperlichen Aktivität (Ausdauersportarten, insbesondere postprandial, unter Beachtung geburtshilflicher Kontraindikationen) nach zwei Wochen nicht erreicht werden können [1]. Das ist bei mindestens zwei präprandial und/oder postprandial erhöhten Werten pro Tagesprofil an mindestens zwei Tagen innerhalb von einer Woche gegeben [1]. Bei Vorliegen einer fetalen Makrosomie und grenzwertig erhöhten Blutglukosewerten sollte eine Insulinbehandlung in Erwägung gezogen werden [1]. Eine präprandiale Insulintherapie unter eventueller Zugabe eines Basalinsulins – insbesondere bei erhöhten Nüchternglukosewerten – ist dann mit Humaninsulinen zu initiieren. Laut den Empfehlungen der DDG [1] kann an Insulinanaloga nur Lis Pro (Humalog®) nach Aufklärung der Schwangeren und Abschluss der Organogenese eingesetzt werden [27]; die Aufklärung soll darüber informieren, dass mit LisPro nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse bislang ohne Gesundheitsrisiken für Mutter und Feten therapiert wurde. Die Erfahrungen mit LisPro sind begrenzt und es liegen keine längeren Studien zu kindlichen Risiken vor. Nach wie vor sind orale Antidiabetika in der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert, auch wenn diesbezüglich bereits Studien mit verschiedenen Antidiabetika bei selektionierten Schwangeren vorliegen [1]. Überwachung während der Schwangerschaft und der Geburt Laut der Stellungnahme der AG Diabetes und Schwangerschaft [28] entspricht die Mutterschaftsvorsorge bei diätetisch eingestellten Schwangeren mit GDM ohne zusätzliche Komplikationen den üblichen Richtlinien, bei Insulintherapie des GDM ist die Überwachung identisch wie bei einer Schwangeren mit Typ-1-Diabetes. Nach Stellung der Diagnose GDM sollte eine qualifizierte Ultraschallorgandiagnostik durchgeführt werden [5]: monatliche Ultraschalluntersuchungen ab der 24. SSW mit der Frage der fetalen Makrosomie und ein Ultraschall vor der Entbindung [28]. Da Gestationsdiabetikerinnen als Risikoschwangere anzusehen sind, sollte die Entbindungsklinik diabetologisch erfahren sein. Liegt eine Insulinpflichtigkeit vor, sollte die Entbin- dung in einer Geburtsklinik mit Neonatologie erfolgen, um eine bestmöglich Versorgung des Kindes zu gewährleisten [1]. Jedes Neugeborene einer Mutter mit GDM sollte auf Grund der erhöhten Hypoglykämiegefahr besonders überwacht werden [1]. Hier gilt es die oben genannten möglichen Akutkomplikationen zu beachten (s. a. Empfehlungen für die Betreuung der Neugeborenen diabetischer Mütter [16]). Auch bei eutrophen, am Termin geborenen Kindern sollten – bei Verbleiben der Kinder auf der Entbindungsabteilung – eine Bestimmung der Blutglukose postnatal nach 1, 3 und 12 Stunden und ggf. später erfolgen [1]. ■ 왎 Literatur 1. Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Schwangerschaft der Deutschen Diabetes-Gesellschaft: Diagnostik und Therapie des Gestationsdiabetes. Diabetologie Informationen. 23, 157 (2001) 2. Kjos S, Buchanan T: Gestational Diabetes Mellitus. N Engl J Med 341, 1749–1756 (1999) 3. Mehnert H et al.: Diabetologie in Klinik und Praxis 5, 345–357 (2003) 4. Weiss P, Walcher W, Scholz H: Der vernachlässigte Gestationsdiabetes: Risiken und Folgen. Geburtsh Frauenheilk 59 (1999) 5. 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