MEDIZIN Arzneimitteltherapie bei Patienten mit chronischem Nierenversagen Bertram Hartmann, David Czock, Frieder Keller ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund: Etwa 20 Prozent aller Patienten in einer Klinik haben eine eingeschränkte Nierenfunktion, die oft wegen des Kreatinin-blinden Bereichs, in dem frühe Stadien verborgen bleiben, nicht erkannt wird. Die chronische Nierenerkrankung wird in fünf Stadien eingeteilt (chronic kidney disease, [CKD 1 bis 5]). Methodik: Selektive Literaturrecherche Ergebnisse: Methotrexat, Enoxaparin und Metformin sind Beispiele für Arzneimittel, die bei einer glomulären Filtrationsrate (GFR) unter 60 mL/min nicht mehr eingesetzt werden sollten. Bei Antidiabetika wie Glibenclamid, Antihypertensiva wie Atenolol oder Antikonvulsiva wie Gabapentin ist es sinnvoll, Alternativpräparate zu verwenden, deren Pharmakokinetik von der Nierenfunktion unabhängig ist (Gliquidon, Metoprolol, Carbamazepin). Die Notwendigkeit für eine Dosisanpassung bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion ergibt sich bei vielen Antibiotika wie Ampicillin oder Cefazolin, fast allen antiviralen Substanzen wie Aciclovir oder Oseltamivir sowie auch für die Hälfte der Zytostatika (zum Beispiel: Cisplatin ja, Paclitaxel nein). Schlussfolgerung: Die Pharmakokinetik ist zwar eine notwendige, aber erst mit der Pharmakodynamik zusammen hinreichende Grundlage der Dosisanpassung. Außer der Proportionalitätsregel von Luzius Dettli gibt es alternativ die Halbierungsregel von Calvin Kunin zur Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz. Letztere führt zwar zu höheren Talspiegeln, könnte aber vor allem bei der antiinfektiösen Therapie wirkungssicherer sein. Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(37): 647–56 DOI: 10.3238/arztebl.2010.0647 hronische Nierenerkrankungen („chronic kidney disease“ [CKD]) werden in fünf Stadien eingeteilt, so dass der globale Ausdruck „kompensierte Niereninsuffizienz“ nicht mehr verwendet werden sollte (Tabelle 1). Die Klärung, ob eine Niereninsuffizienz vorliegt (CKD-Stadien 2 bis 5) und um welches Stadium der Niereninsuffizienz es sich handelt, ist wichtig, weil etwa 50 Prozent aller Arzneimittel oder deren Metabolite über die Niere ausgeschieden werden und 30 Prozent aller unerwünschten Arzneimittelwirkungen entweder eine renale Ursache oder eine renale Auswirkung haben (1). Die Prävalenz der Niereninsuffizienz mit einer glomulären Filtrationsrate (GFR) unter 60 mL/min wurde in der NHANES-Studie mit 11 bis 13 Prozent angegeben (e1). Eine eingeschränkte Nierenfunktion haben etwa 20 Prozent aller Krankenhaus-Patienten. Der „Kreatinin-blinde“ Bereich umfasst eine GFR zwischen 120 und 60 mL/min. Bei über 65-Jährigen kann die GFR mit Einschränkungen über 60 mL/min der CKD-Stadien 1 und 2 noch durchaus einem altersphysiologischen Nierenfunktionsverlust entsprechen. Mit der „Modification of Diet in Renal Disease“[MDRD]-Formel wird – in Umkehrung der Logik – von der abhängigen Variablen, dem Kreatinin (SCrea mg/dL), auf die unabhängige Variable, die glomeruläre Filtrationsrate (GFR), rückgeschlossen. Die klassische MDRD2-Formel musste für das neu kalibrierte Kreatinin modifiziert werden (e1). Unter Berücksichtigung der Körperoberfläche (m2), der Hautfarbe („schwarz“) und des Geschlechts („weiblich“) hängt die GFR (mL/min pro 1,73 m2) vor allem vom Alter ab („Alter“). Die Koeffizienten 0,742 beziehungsweise 1,212 sind gleich 1,0 für die Eigenschaft „männlich“ beziehungsweise „weiss“. C 3 Punkte cme Teilnahme nur im Internet möglich: aerzteblatt.de/cme Universität Ulm, Medizinische Fakultät, Nephrologie: Dr. med. Hartmann, Prof. Dr. med. Keller Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie: PD Dr. med. Czock Prävalenz Die Prävalenz der Niereninsuffizienz mit einer glomulären Filtrationsrate (GFR) unter 60 mL/min wurde in der NHANES-Studie mit 11 bis 13 % angegeben. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 647 MEDIZIN Bei einer GFR kleiner 60 mL/min, also ab CKD-Stadium 3, sollten bestimmte Arzneimittel nicht mehr gegeben werden, da sie entweder vermehrt zu Nierenschäden oder – da nierenabhängig eliminiert – akkumulieren und zu anderen toxischen Nebenwirkungen führen können (4). Jodhaltige Röntgenkontrastmittel erfordern bei Niereninsuffizienz eine prophylaktische Wässerung. Zur Vorbeugung der Kontrastmitteltoxizität verwenden die Autoren zusätzlich 1 600 mg MESNA (Methoxy-Ethyl-Sulfonat-Natrium) in 500 mL NaCl 0,9-prozentig als Infusion unmittelbar vor und während der Kontrastmitteluntersuchung (5). Ab CKD-Stadium 4 bietet auch die Kernspinuntersuchung mit Gadolinium keine gefahrlose Alternative zu den jodhaltigen Kontrastmitteln. Gadolinium-Präparate, lineare häufiger als zyklische, können ab diesem Stadium zu dem schweren Krankheitsbild der nephrogenen systemischen Fibrose führen. Bei GFR < 30 mL/min sollte das Gadolinium deshalb durch eine Hämodialyse sofort nach Kernspinuntersuchungen wieder eliminiert werden (6). ACE-Hemmer, AT1-Blocker und auch der Renin-Inhibitor Aliskiren haben eine nierenabhängige Pharmakokinetik, so dass es genügt, die halbnormale Dosis bei Niereninsuffizienz zu geben. Beachten muss man hier insbesondere die Gefahr der Hyperkaliämie. Wegen der Hyperkaliämie sollte man auch ab einer GFR unter 30 mL/min Spironolacton vermeiden oder nur niedrig dosiert geben (allenfalls 25 mg/Tag) und in Kombination mit einem Thiazid, Furosemid oder beiden Diuretika. Da es von der Nierenfunktion unabhängige Arzneimittel gibt, ist die Suche nach solchen Alternativen ein klinisch bewährtes Vorgehen (Tabelle 2). Cefepime sollte ab CKD 4, also GFR unter 30 mL/min, nicht mehr angewendet werden, da hierunter bei dialysepflichtigen Patienten nach fünf bis sieben Tagen parenteraler Therapie in acht Fällen tödliche zentralnervöse Intoxikationen auftraten (7). Arzneimittel, vor deren Gebrauch schon ab CKD 3 beziehungsweise einer GFR unter 60 mL/min zu warnen ist, sind Methotrexat, Enoxaparin, Metformin und Lithium (Tabelle 3). Methotrexat und Enoxaparin akkumulieren in einem tiefen Kompartiment. Dies kann bei Methotrexat nach vier bis acht Wochen eine lang anhaltende Myelotoxizität verursachen (8). Bei Enoxaparin können im Gegensatz zu Tinzaparin nach acht Tagen Therapie mit einer (trotz Dosisanpassung) täglich zunehmenden Wahrscheinlichkeit Blutungskomplikationen auftreten (9). Lithium wird nierenabhängig ausgeschieden und hat ein toxisches Potenzial mit Athetosen, Diabetes insipidus renalis und Nierenversagen (10), so dass seine Anwendung ab CKD 3 nur bei hoher Expertise erfolgen sollte (e2). Am Beispiel von Lithium wird jedoch auch deutlich, dass das Absetzen eines Medikamentes immer mit Risiken verbunden ist, so dass es nicht ohne Rücksprache mit den verschreibenden Ärzten – im Falle von Lithium also den Psychiatern – erfolgen sollte. Nach Abwägung aller Risiken kann es daher sinnvoll sein, ein nierenschädigendes Medikament trotz verminderter GFR beizubehalten. Röntgenkontrastmittel Jodhaltige Röntgenkontrastmittel erfordern bei Niereninsuffizienz eine prophylaktische Wässerung. Gadolinium Lineare Gadolinium-Präparate können ab einem CKD-Stadium 4 zum Krankheitsbild der nephrogenen systemischen Fibrose führen. TABELLE 1 Grade der Niereninsuffizienz und Stadien der chronischen Nierenerkrankung (CKD) mit Zusatzbefunden wie Mikroalbuminurie*1 CKD-Stadium GFR (mL/min) Niereninsuffizienz 1 120–90 keine 2 90–60 geringgradig 3 60–30 mittelgradig 4 30–15 hochgradig 5 15–0 präterminal und Dialyse *1 modifiziert nach (e15) Auch für die Dosisanpassung kann die MDRD-GFR zugrunde gelegt werden (2). Allerdings sollte eine Umrechnung auf die individuelle Körperoberfläche (BSA in m2) beispielsweise über die Mosteller-Formel erfolgen (3). (www.halls.md/body-surface-area/bsa.htm) Lernziele Der Beitrag soll aufzeigen, dass bei Niereninsuffizienz: ● bestimmte Arzneimittel besonders nützlich sind ● im Prinzip jedes Arzneimittel jedem Patienten unter Berücksichtigung von Pharmakokinetik und Pharmakodynamik angepasst gegeben werden kann. Spezielle Aspekte der Arzneimitteltherapie bei Niereninsuffizienz 648 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 MEDIZIN Metformin gilt als „Insulin-Sensitizer“ und wird in letzter Zeit wieder zunehmend eingesetzt. Eine Laktatazidose tritt zwar selten auf, zumal in reduzierter Dosis (2 × 500 mg/Tag), hat aber nach wie vor eine hohe Letalität (11). Da die Nierenfunktion instabil sein kann, sind bei Niereninsuffizienz mit einer GFR unter 60 mL/ Minute weniger gefährliche Alternativen zu bevorzugen, wie beispielsweise der DPP-IV-Hemmer Sitagliptin (Tabelle 2), bei dem die Dosis ab einer GFR unter 30 mL/min aber halbiert werden sollte. Insulin wird zu 50 Prozent im Nierenparenchym metabolisiert (e3), so dass bei Niereninsuffizienz die Insulinwirkung länger anhält und der Insulinbedarf sinkt. Oft kommen Diabetiker mit einer Hypoglykämie, deren Ursache aber eine Nierenfunktionsverschlechterung ist, in die Klinik. Nach wie vor wichtig ist der kritische Gebrauch von Schmerzmitteln bei einer GFR unter 60 mL/min. Kontraindiziert sind aus Sicht der Autoren Mischanalgetika, weil sie eine Abhängigkeit erzeugen können. „Hauptfeinde“ der Nieren sind inzwischen die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAIDs) wie Diclofenac, Ibuprofen und Indomethacin oder selektive COX-2-Inhibitoren, die nur unter Kreatinin-Kontrollen gegeben werden sollten. Bei vorgeschädigten Nieren können NSAID auch einen bleibenden Nierenschaden hervorrufen (12). Pethidin sollte als Opioid bei niereninsuffizienten Patienten überhaupt nicht eingesetzt werden weil sein nierenabhängiger Metabolit, Normeperidin, zerebrale Krampfanfälle auslösen kann (Tabelle 3). Morphin kann man unter enger klinischer Kontrolle geben, aber der Dosisbedarf von Morphin ist geringer und es ist zu beachten, dass eine Atemdepression durch Akkumulation des aktiven Metaboliten, M6-Glucuronid, mit einer zeitlichen Verzögerung von einigen Tagen auftreten kann. Fentanyl und Levomethadon können von Vorteil sein, da diese keine aktiven Metabolite haben und von der GFR unabhängig sind. TABELLE 2 Nierenfunktionsabhängige und -unabhängige Arzneimittel (e2) Gruppe Nierenfunktionsabhängig Nierenfunktionsunabhängig Analgetika Morphin (M6-Glucuronid), Pethidin (Norpethidin) Fentanyl, Levomethadon Antiarrhythmika Sotalol Amiodaron Antibiotika Ciprofloxacin, Levofloxacin Moxifloxacin Antidiabetika Glibenclamid, Glimeprid (Hydroxymetabolit) Gliquidon, Gliclacid Nateglinid Pioglitazon Sitagliptin Antikonvulsiva Gabapentin, Pregabalin, Lamotrigin, Levetiracetam Carbamazepin, Phenytoin, Valproat Antihypertensiva Atenolol Bisoprolol, Carvedilol, Metoprolol, Propranolol Cholesterinsenker Bezafibrat, Fenofibrat Simvastatin, Niazin Gicht- und Rheumamittel Methotrexat Colchicin, Hydroxychloroquin, Leflunomid Herz-Kreislauf-Mittel Digoxin Digitoxin Psychopharmaka Lithium, Mirtazapin Amitriptylin, Citalopram (Metabolite?), Haloperidol, Risperidon Virustatika Aciclovir Brivudin Zytostatika (20) Actinomycin D, Bleomycin, Capecitabin, Carboplatin, Cisplatin, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Epirubicin, Etoposide, Gemcitabine (dFdU), Ifosfamid, Irinotecan, Melphalan, Methotrexat, Oxaliplatin, Topotecan Anastrozole, Docetaxel, Doxorubicin-peg-liposomal, Erlotinib, Fluorouracil, Gefitinib, Leuprorelin, Megestrol, Paclitaxel, Tamoxifene, Terozol, Vincristin, Trastuzumab Therapie der Ko-Morbidität bei CKD Spätestens im CKD-Stadium 4 mit einer GFR unter 30 mL/min wird die Therapie der Ko-Morbidität bedeutsam. Aus Cochrane Reviews und publizierten Metaanalysen lassen sich Evidenzgrad und Empfehlungsstärke der einzelnen Therapieoptionen herleiten (Tabelle 4). Da die Niereninsuffizienz mit Natriumretention einhergeht (13), wird in der Regel eine Diuretikatherapie, am besten als sequenzielle Nephronblockade mit Furosemid und Hydrochlorothiazid, erforderlich. Studien wie TREAT, CREATE und CHOIR haben bei Prädialyse-Patienten gezeigt, dass hohe Dosierungen „Hauptfeinde“ der Niere sind: • nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) wie Diclofenac, Ibuprofen und Indomethacin • selektive COX-2-Inhibitoren Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 von Erythropoese-stimulierenden Präparaten zu Schlaganfall und Tumorprogress führen können, ohne die Nieren zu schützen (e4–e6). Als neuer Ziel-Hämoglobinwert wird deshalb 10 mg/dL empfohlen (14). Bevor man Blutbildungshormone gibt, sollte man Eisen geben. Eisen wird aber bei Nierenpatienten wegen der erhöhten Hepcidinspiegel enteral schlecht aufgenommen (15), weshalb intravenös gegebenenes Eisen Vorteile haben kann. Große Beobachtungsstudien haben gezeigt, dass die zusätzliche Gabe von aktivem Vitamin D (zum Beispiel Opioide Pethidin sollte als Opioid bei Niereninsuffizienz überhaupt nicht eingesetzt werden, weil sein nierenabhängiger Metabolit, Normeperidin, zerebrale Krampfanfälle auslösen kann. 649 MEDIZIN TABELLE 3 Die wichtigsten bei Niereninsuffizienz absolut oder relativ kontraindizierten beziehungsweise aus klinisch-nephrologischer Sicht problematischen Arzneimittel*1 Gruppe Arzneimittel kontraindiziert oder vermeiden Grund Analgetika Pethidin GFR < 60 Konvulsionen Antibiotika Cefepime GFR < 30 ZNS-Toxizität PhasenProphylaktika Lithium GFR < 60 Nephro- und Neurotoxizität Antidiabetika Glibenclamid, Gimepirid GFR < 60 Hypoglykämie Metformin GFR < 60 Laktatazidose Diuretika Spironolacton, Eplerenon GFR < 30 Hyperkaliämie Immunsuppressiva Methotrexat GFR < 60 Myelotoxizität Kontrastmittel Gadolinium GFR < 30 nephrogene systemische Fibrose LMW Heparin Enoxaparin GFR < 60 Blutungsrisiko *1 nach (4) TABELLE 4 Evidenzgrade (1, hoch, bis 5, gering) und Empfehlungsstärke (A, sehr gut, bis C, schwach) für die Therapie der Komorbidität bei chronischer Niereinsuffizienz*1 Grund Therapie Evidenzgrad und Empfehlungsstärke Literatur Na-Retention Diuretika 3A (13, e17) Ziel-Hb 10 statt 12–13 g/dL Epo 1A (14, e4–e6, e18) Fe-Resorptionsstörung Eisen i.v. 1A (15, e19) 1a-Hydroxylase-Mangel Calcitriol 2C (16, e20) Hyperparathyreoidismus Paricalcitol 3C (e7, e20) Hyperparathyreoidismus Cinacalcet 1B (e7, e21) Azidoseausgleich Bicarbonat 3B (17, e22) Ca × PO4-Produkt Sevelamer 2B (e7, e23) Ca × PO4-Produkt Lanthan 3C (e7, e23) Calcitriol) in der Prädialysephase mit einer geringeren Sterblichkeit einhergeht (16). Wichtig ist die Überwachung der Kalzium-Spiegel und des Kalzium-PhosphatProduktes (Ca × PO4). Paricalcitol und Cinacalcet sollten Reservearzneimittel bei schwerem Hyperparathyreoidismus mit klinischen Symptomen bleiben. Der orale Azidoseausgleich in der Prädialysephase mit Bikarbonat schützt nicht nur die Knochen, sondern vermindert die Malnutrition und verlangsamt den progressiven Verlust der Nierenfunktion (17). Bei den Phosphatbindern gibt es ein Stufenschema (e7). Man beginnt mit Calciumacetat. Bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit muss Sevelamer – gegebenenfalls das neue Sevelamer-Carbonat als Pulver geben werden. Aluminiumhaltige Phosphatbinder oder Lanthan geben die Autoren zeitlich befristet und in therapierefraktären Fällen. Pharmakokinetik Calvin Kunin hat in den 1950er-Jahren als erster systematisch untersucht, wie sich bei zunehmender Niereninsuffizienz die Halbwertszeit von Arzneimitteln verlängert (e8). Da solche Arzneimittel bei Niereninsuffizienz langsamer ausgeschieden werden, kommt es bei wiederholter Gabe zur exzessiven Akkumulation und der Gefahr toxischer Nebenwirkungen. Diese Arzneimittel müssen der Nierenfunktion angepasst werden. Nicht nur jeder Patient ist anders, sondern auch jedes Arzneimittel. Trotzdem gelten einfache Gesetze nicht nur für jeden Patienten, sondern auch für jedes Arzneimittel. Pharmakokinetik und Pharmakodynamik formulieren solche Gesetze. Mit diesen kann die Dosis eines jeden Arzneimittels für jeden Patienten angepasst werden. Schon Friedrich Hartmut Dost hat auf die praktischen Vorteile der Halbwertszeit (T½) gegenüber der Arzneimittel-Clearance hingewiesen (e9). Die dominante Halbwertszeit repräsentiert den wirkwichtigsten Teil der Konzentrations-Zeitkurve (Luzius Dettli). Ein Schlüssel zur Vorhersage der Pharmakokinetik bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist die renal eliminierte Fraktion eines Arzneimittels (fren). Diese wird bei gesunden Probanden entweder anhand der mit dem Urin eliminierten Menge (Murin) und der Dosis nach intravenöser Gabe (D) oder aus der der Halbwertszeit bei Patienten mit normaler (T½norm) und fehlender Nierenfunktion (T½fail) berechnet. *1 Einige der Cochrane-Reviews und -Metaanalysen (e18, e20, e22) berücksichtigen allerdings noch nicht die neuen Studien (e4–e6, 16, 17). Nephrologisch absolut oder relativ kontraindizierte, problematische Arzneimittel sind: Pethidin, Cefepime, Lithium, Gilbenclamid, Gimepirid, Metformin, Spironolacton, Eplerenon, Methotrexat, Gadolinium, Enoxaparin. 650 Pharmakokinetik Ein Schlüssel zur Vorhersage der Pharmakokinetik bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist die renal eliminierte Fraktion eines Arzneimittels. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 MEDIZIN Es war die Königsidee von Luzius Dettli (e10), die zum Kehrwert der Halbwertszeit proportionale Eliminationskonstante (ke = 0,693 / T½) linear mit der Nierenfunktion zu korrelieren (Grafik 1). Um bei einem Patienten die für seine individuelle GFR zu erwartende Halbwertszeit zu schätzen, benötigt man die Extreme der Halbwertszeit (T½norm und T½fail), also die renal eliminierte Fraktion des Arzneimittels (fren): Die renal eliminierte Fraktion kann auch aus seiner Ergänzung, der nichtrenal-eliminierten Fraktion Q0 abgeleitet (fren = 1 – Q0) und online erfragt werden (www. dosing.de). Ähnlich wie für das Serum-Kreatinin besteht eine hyperbole Abhängigkeit der Halbwertszeit von der Nierenfunktion (Grafik 2). Analog zum kreatininblinden Bereich kann man einen für die Halbwertszeit unkritischen Bereich der Niereninsuffizienz für eine GFR über 60 mL/min definieren (18). GRAFIK 1 Arzneimittel-Elimination und Nierenfunktion. Nach Luzius Dettli ist die Eliminationskonstante (ke = 0,693/T1/2) linear von der glomerulären Filtrationsrate (GFR) abhängig (e10). Die nichtrenale Eliminationskonstante (kenonren) ergibt sich als Differenz der normalen und der renalen Eliminationskonstante (kenonren = ke – keren). Die Anpassung der Arzneimitteldosis (D) an die Nierenfunktion erfolgt proportional zur Eliminationskonstanten – also umgekehrt proportional zur Halbwertszeit (e10). D % norm, Veränderung der Dosis in Prozent der normalen Dosis Dosisanpassung Ab einem CKD-Stadium 3 mit GFR kleiner 60 mL/min müssen viele Arzneimittel an die Nierenfunktion angepasst werden. Andernfalls gehen beispielsweise Aciclovir und Valaciclovir mit Neurotoxizität, Ganciclovir und Valganciclovir mit Myelotoxizität, Foscavir mit Nephrotoxizität oder Cidofovir mit Myelo- und Nephrotoxizität einher. Bei diesen vital indizierten Arzneimitteln hat sich die Dosisanpassung hervorragend bewährt. Auch die gegen das H1N1-Virus wirkenden Arzneimittel Oseltamivir und – bei intravenöser Applikation – Zanamivir muss man der Nierenfunktion angepasst dosieren. Beispiele für Arzneimittel, deren Dosisanpassung oft vergessen werden, sind neuere Antiepileptika wie Gabapentin (19), Pregabalin, Lamotrigin und Levetiracetam, bei denen oft die halbnormale oder sogar eine noch geringere Dosis ausreicht (Tabelle 2). Die Therapie mit Zytostatika und anderen Chemotherapeutika erfolgt zunehmend auch bei Tumorpatienten mit Niereninsuffizienz. Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen nierenfunktionsabhängigen und -unabhängigen Zytostatika (20). Die nierenfunktionsabhängigen Zytostatika müssen bei Dialysepatienten im Durchschnitt auf 40 bis 80 Prozent der Standarddosis reduziert werden (21). Auch die nierenfunktionsunabhängigen Zytostatika müssen Dosisanpassung Ab einem CKD-Stadium 3 mit einer GFR < 60mL/ min müssen viele Arzneimittel an die Nierenfunktion angepasst werden. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 GRAFIK 2 Halbwertszeit und Nierenfunktion. Die Halbwertszeit (T1/2) steht in einer hyperbolen Abhängigkeit zur glomerulären Filtrationsrate (GFR). Die Abhängigkeit ist umso deutlicher, je größer die renal eliminierte Fraktion ist (fren). Analog zum Kreatinin-blinden Bereich kann man jedoch einen für die Halbwertszeit unkritischen Bereich mit einer GFR über 60 mL/min ausmachen (18). Nierenfunktionsabhängige Zytostatika Müssen bei Dialysepatienten im Durchschnitt auf 40 bis 80 % der Standarddosis reduziert werden. 651 MEDIZIN GRAFIK 3 Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz (e16). Die Kunin-Regel (e12) mit Halbierung der Startdosis führt zu höheren Talspiegeln und häufigeren Spitzenspiegeln als die Dettli-2-Regel mit gleicher Dosis, aber verlängertem Dosierungsintervall (e10). Die Dettli-1-Regel mit reduzierter Dosis und konstantem Intervall produziert geringere Spitzenspiegel, aber höhere Talspiegel als normal (e10). zwar nicht wie letztere an die Nierenfunktion, wohl aber an den Allgemeinzustand des Patienten angepasst werden. Im Unterschied zu den Autoren des im Jahr 2007 erschienenen Beitrags (20) halten die Autoren dieses Beitrag Gemcitabin wegen seines aktiven Metaboliten dFdU für nierenfunktionsabhängig (Tabelle 2). Beim Gemcitabin und beim Cyclophosphamid muss die Dosis nicht reduziert werden, wenn ein bis zwölf Stunden nach Gabe dieser dialysierbaren Arzneimittel jeweils eine Hämodialyse an drei aufeinander folgenden Tagen durchgeführt wird. Bei Carboplatin und Cisplatin muss eine Dialyse ein bis zwei Stunden nach Infusion beginnen, um effektiv zu sein. Nicht dialysierbar sind aber Etoposid und Epirubicin. Aus der Kumulationskinetik ergibt sich die Notwendigkeit, zwischen Startdosis und Erhaltungsdosis zu unterscheiden, wie schon Augsberger bei Digitalisglykosiden erkannt hat (e11). Wenn es darum geht, dass ein Effekt schnell eintreten soll, muss man die Therapie mit einer normalen Startdosis beginnen, um unmittelbar wirksame Konzentrationen herzustellen. Insbesondere bei Antibiotika darf bei niereninsuffizienten Patienten nie der kapitale Fehler gemacht werden, die Startdosis zu vergessen. Man beginnt immer mit der Normaldosis, gleich Startdosis. Erst die Erhaltungsdosis wird abhängig von der Halbwertszeit an die Nierenfunktion angepasst. Startdosis/Erhaltungsdosis bei Antibiotika Bei niereninsuffizienten Patienten nicht die höhere Startdosis vergessen! Mit der Normaldosis beginnen. Die Erhaltungsdosis wird abhängig von der Halbwertszeit an die Nierenfunktion angepasst. 652 Die zweite Königsidee von Luzius Dettli war die Erkenntnis (e10), dass man proportional zur veränderten Eliminationsrate (somit reziprok zur Halbwertszeit) die notwendige Dosisanpassung berechnen kann (Grafik 1). Die Dosis (D) eines Arzneimittels muss entweder umgekehrt proportional zur Halbwertszeit (T1/2) reduziert (Dettli-1-Regel) oder das Intervall (Tau) proportional zur Halbwertszeit (T1/2) verlängert werden (Dettli-2-Regel). Beide Regeln können auch kombiniert werden. Wenn beispielsweise bei fehlender Nierenfunktion die Halbwertszeit sich verfünffacht, muss die Dosis auf 20 Prozent reduziert werden (1/5 entspricht 0,20). Wenn die Dosis reziprok reduziert und das Intervall belassen wird, bleibt zwar die Fläche unter der Kurve unverändert; es kommt aber zu höheren Talspiegeln (Grafik 3), die gewöhnlich beim Drug-Monitoring gemessen werden. Hier werden bei Unkenntnis leicht falsche Schlüsse gezogen und die Dosis von Vancomycin oder Gentamicin noch weiter reduziert. Um bei Patienten mit Nierenversagen wirksame Spiegel zu erreichen, sollten die Talspiegel von Vancomycin bei 10–15 mg/L und die Talspiegel von Gentamicin bei 2–4 mg/L liegen. Die Proportionalitätsregel von Dettli suggeriert bei Patienten mit Nierenversagen auf Intensivstation oft absurd niedrige oder viel zu seltene Dosierungen. Beispielsweise müsste man dann Ampicillin von 1 000 mg alle acht Stunden auf 100 mg alle acht Stunden oder 1 000 mg nur noch alle 80 Stunden reduzieren. Es ist deshalb von großer Bedeutung, auf die zweite Dosierungsregel hinzuweisen: die Halbierungsregel von Calvin Kunin (e12), die grundsätzlich zu höheren Dosierungen führt und deshalb bei schwerkranken Patienten als wirkungssicherer erscheint (Grafik 3). Die Halbierungsregel von Kunin besagt, dass man zu Therapiebeginn die normale Startdosis gibt (Dstart entspricht Dnorm) und dann jeweils nach einer Halbwertszeit (T1/2 entspricht Tau) die halbe Startdosis nachgeben muss, um vor allem wirksame Spitzenspiegel zu erhalten. Die Halbierungsregel von Kunin macht sofort deutlich, dass bei lebensbedrohlich erkrankten Patienten eine Dosisanpassung in der Regel nicht erforderlich ist, wenn die Halbwertszeit kürzer als das Dosierungsintervall ist. Halbierungsregel nach Kunin Ist die Halbwertszeit kürzer als das Dosierungsintervall, ist in der Regel eine Dosisanpassung nicht erforderlich. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 MEDIZIN Mit der Halbierungsregel von Kunin erhält man gleiche Spitzenspiegel wie bei normaler Nierenfunktion, aber deutlich höhere Talspiegel und auch eine größere Fläche unter der Kurve als mit der Dettli-Regel (Grafik 3). Mit einer größeren Fläche kann es aber zu mehr Nebenwirkungen kommen. Auf Intensivstationen würden die Autoren aus pharmakodynamischen Gründen die Kunin-Regel vorziehen (4) und haben entsprechende Dosierungsvorschläge in Tabellenform ausgearbeitet (www.uni-ulm.de/ nephrologie/). Im Vergleich zur Überdosierung kann bei Sepsis die Unterdosierung von Antibiotika nämlich noch viel schlimmere, potenziell tödliche Auswirkungen haben. Die Bedeutung der Pharmakodynamik wird auch bei der Anwendung von Schleifendiuretika wie Furosemid und Torasemid deutlich. Beide müssen bei CKD 5, also einer GFR unter 15 mL/min, nicht geringer, sondern höher dosiert werden, um wirksam zu sein. GRAFIK 4 Sigmoide EffektKonzentrationsBeziehung. Je höher der Hill-Koeffizient (H > 1,5), desto näher zur Konzentration des halbmaximalen Effektes (CE50) liegen die Schwellenkonzentration (threshold; CE05) und die Deckenkonzentration (ceiling; CE95). Pharmakodynamik Die Dosisanpassung ist keine Frage der Pharmakokinetik allein, sondern auch der Pharmakodynamik – also eine Frage nach dem zu erreichenden Effekt. Die Pharmakodynamik formuliert den Zusammenhang zwischen Effekt und Konzentration, der am häufigsten mit dem sogenannten sigmoiden Emax-Modell beschrieben wird. Der Effekt ist dabei eine nichtlineare Funktion der Konzentration am Wirkort (C) und der Konzentration, die den halbmaximalen Effekt hervorruft (CE50). Der Parameter Emax beschreibt den maximalen Effekt und der Hill-Koeffizient (H) zeigt das Ausmaß der Sigmoidizität („S-förmigkeit“) dieser Beziehung an. Für einen HillKoeffizienten von H=1 entspricht das Emax-Modell der Michaelis-Menten-Gleichung. Die Beispiele Furosemid und Torasemid zeigen, dass sich bei Niereninsuffizienz auch die pharmakodynamischen Parameter ändern können. Die erforderliche Konzentration des halbmaximalen Effektes muss hier höher sein (CE50fail > CE50norm), weil Furosemid und Torasemid oftmals 10-fach höher dosiert werden müssen, um noch einen ausreichenden diuretischen Effekt zu erzielen. Mit dem sigmoiden Emax-Modell (Grafik 4) lässt sich eine Schwellenkonzentration („threshold“, CE05) definieren (18), bei der nur noch 5 Prozent des Maximaleffektes erzielt werden (E05 entspricht 0,05 × Emax). Pharmakodynamik Der therapeutisch wirksame Zielbereich eines Arzneimittels hängt vom Hill-Koeffizienten ab. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 Die Deckenkonzentration („ceiling“, CE95) erzielt 95 Prozent des Maximaleffektes (E95 entspricht 0,95×Emax). Für einen Hill-Koeffizienten von 1,0 beträgt die Schwellenkonzentration nur 1/19 der Konzentration des halbmaximalen Effektes und die Deckenkonzentration immerhin das 19-fache der Konzentration des halbmaximalen Effektes (Grafik 4). Dagegen ist für einen Hill-Koeffizienten von beispielsweise 4,25 die Schwellenkonzentration immerhin das ½-fache der Konzentration des halbmaximalen Effektes, aber die Deckenkonzentration nur das zweifache der Konzentration des halbmaximalen Effektes (Grafik 4). Der therapeutisch wirksame Zielbereich eines Arzneimittels hängt also vom Hill-Koeffizienten ab. Je höher der Hill-Koeffizient, desto schmaler ist und desto näher zur CE50 liegt der erwünschte Bereich. Antibiotika sind gute Beispiele für die Erklärungskraft der Pharmakodynamik. Man unterscheidet konzentrationsabhängig von zeitabhängig wirkenden Antibiotika (22). Aminoglykoside wie Gentamicin und Fluorochinolone wie Levofloxacin sind Beispiele für konzentrationsabhängig wirkende Antibiotika, bei denen die Deckenkonzentration („ceiling“; CE95) durchaus erreicht Antibiotikawirkung Konzentrationsabhängig wirkende Antibiotika haben einen niedrigen Hill-Koeffizienten H < 1,5; zeitabhängig wirkende Antibiotika haben einen hohen Hill-Koeffizienten H >1,5. 653 MEDIZIN GRAFIK 5 Dosisanpassung von konzentrationsabhängig wirkendem Ciprofloxacin im mechanistischen Modell (23). Wenn die Halbwertszeit sich bei Niereninsuffizienz von vier auf acht Stunden verdoppelt, sollte nicht die Dosis halbiert (Bild oben), sondern das Intervall verdoppelt werden (Bild unten). Mit der halben Dosis dauert es 168 Stunden bis der E. coli Keim eliminiert ist (oben), aber bei Verdopplung des Intervalls wird der Infektionserreger schon nach 96 Stunden eliminiert, wie bei normaler Nierenfunktion (unten). log CFU, logarithm of colony forming units Die Startdosis ist für beide, konzentrations- und zeitabhängige Antibiotika wichtig. Nachfolgend ist für konzentrationsabhängig wirkende Antibiotika jeweils der Beginn des Dosierungsintervalls wichtiger, für zeitabhängige dessen Ende. Für konzentrationsabhängig wirkende Antibiotika wie Ciprofloxacin oder Levofloxacin ist es also weniger sinnvoll, die Dosis zu reduzieren (23). Besser erscheint es, bei Niereninsuffizienz das Intervall zu verlängern und die Einzeldosis unverändert zu lassen (Grafik 5). Beispiele für konzentrationsabhängig wirkende Substanzen sind auch viele Zytostatika wie Cyclophosphamid, Melphalan und Daunoblastin (18). Im Falle von Zytostatika mit enger therapeutischer Breite ist jedoch eine genaue Abwägung notwendig, da Nebenwirkungen eventuell mit der Fläche unter der Kurve korrelieren und schon nach einmaliger Gabe auftreten können. Bei zeitabhängig wirkenden Antibiotika wie dem Betalaktam Ceftazidim und den Virustatika ist es dagegen nicht so wichtig, Spitzenspiegel zu erzielen, die wesentlich höher als die CE50 sind. Aber es ist absolut notwendig, dafür zu sorgen, dass die Talspiegel zum Ende des Dosierungsintervalls nicht die Schwellenkonzentration unterschreiten (CE05), weil dann der antimikrobielle Effekt verloren gehen kann. Eine kontinuierliche Infusion könnte für Betalaktamantibiotika somit besser sein, wie auch für Oxacillin gezeigt (24). Das ist auch bei der antiviralen HIV-Therapie eine häufig gemachte Erfahrung: Die Talspiegel dürfen nicht die therapeutisch wirksamen Konzentrationen unterschreiten, da sonst eine Replikation der Erreger stattfindet und Resistenzentwicklung droht (25). Im Gegensatz zu Ciprofloxacin oder Daptomycin ist es also bei zeitabhängig wirkenden Antiinfektiva wie Cefotaxim oder Aciclovir also sinnvoller, zur Dosisanpassung nicht das Intervall zu verlängern, sondern die Dosis zu reduzieren. Schlussfolgerung werden sollte – auch wenn man die CE95 oder die CE50 oft gar nicht genau kennt. Betalaktame wie Cefazolin und antivirale Substanzen wie Valganciclovir sind Beispiele für zeitabhängig wirkende Antiinfektiva, bei denen die Schwellenkonzentration („threshold“; CE05) nicht unterschritten werden sollte. Die beiden Klassen der Antibiotikawirkung unterscheiden sich in der Höhe des Hill-Koeffizienten (Grafik 4). Konzentrationsabhängig wirkende Antibiotika haben einen niedrigen Hill-Koeffizienten H < 1,5, zeitabhängig wirkende Antibiotika haben einen hohen Hill-Koeffizienten H > 1,5 (22). Grundsatz Für die Nephropharmakologie gilt der Grundsatz „sofort und hoch dosiert“, den Paul Ehrlich formuliert hat, insbesondere für Antibiotika, aber auch für Zytostatika bei Tumorpatienten. In der Geronto-Pharmakologie gibt es den Grundsatz „start low – go slow“, der von Jerry Gurwitz vor allem für Arzneimittel formuliert wurde, die im zentralen Nervensystem wirken (e13). Nicht neu, aber etwas in Vergessenheit geraten ist jedoch der Grundsatz „sofort und hoch dosieren“, den Paul Ehrlich im Jahr 1913 für die antiinfektive Therapie formuliert hat (e14). Dieser Grundsatz gilt auch in der Nephropharmakologie besonders für Antibiotika und für antivirale Arzneimittel, aber auch für Zytostatika bei Tumorpatienten. „Sofort und hoch dosieren“ heißt die Devise nicht nur auf Intensivstation, sondern auch in der Allgemeinmedizin. Vor allem darf man bei Antiinfektiva und Zytostatika nicht den Fehler machen, anfangs zu niedrig zu dosieren oder die Startdosis zu vergessen – auch nicht bei Niereninsuffizienz. Interessenkonflikt Dr. Hartmann und Prof. Keller erklären, dass sie Reisekosten und Forschungsunterstützung von Wyeth und Novartis erhielten. PD Czock erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht. Manuskriptdaten eingereicht: 6. 4. 2010, revidierte Fassung angenommen: 5. 7. 2010 654 Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 MEDIZIN LITERATUR 1. Corsonello A, Pedone C, Corica F, et al.: Concealed renal insufficiency and adverse drug reactions in elderly hospitalized patients. Arch Intern Med 2005; 165: 790–5. 2. Stevens LA, Nolin TD, Richardson MM, et al.: Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration. Comparison of drug dosing recommendations based on measured GFR and kidney function estimating equations. 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Frieder Keller Sektion Nephrologie, Klinik für Innere Medizin I, Zentrum für Innere Medizin Universitätsklinikum Ulm, Albert-Einstein-Allee 23, 89081 Ulm Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 SUMMARY Drug Therapy in Patients With Chronic Renal Failure Background: Roughly 20% of patients in hospital have impaired kidney function. This is frequently overlooked because of the creatinine-blind range in which early stages of renal failure are often hidden Chronic kidney disease is divided into 5 stages (CKD 1 to 5). Methods: Selective literature search. Results: Methotrexate, enoxaparin and metformin are examples of drugs that should no longer be prescribed if the glomerular filtration rate (GFR) is 60 mL/min or less. With antidiabetic (e.g. glibenclamide), cardiovascular (e.g. atenolol) or anticonvulsive (e.g. gabapentin) drugs, the advice is to use alternative preparations such as gliquidone, metoprolol or carbamazepine which are independent of kidney function. Drug dose adjustment should be considered with antimicrobial (e.g. ampicillin, cefazolin), antiviral (e.g. aciclovir, oseltamivir) and, most recently, also for half of all chemotherapeutic and cytotoxic drugs in patients with impaired kidney function (with e.g. cisplatin, for instance, but not with paclitaxel). Conclusion: Decisions concerning drug dose adjustment must be based on the pharmacokinetics but this is an adequate prerequisite only in conjunction with the pharmacodynamics. There are two different dose adjustment rules: proportional dose reduction according to Luzius Dettli, and the half dosage rule according to Calvin Kunin. The latter leads to higher trough concentrations but is probably more efficient for anti-infective therapy. Zitierweise: Dtsch Arztebl Int 2010; 107(37): 647–56 DOI: 10.3238/arztebl.2010.0647 @ Mit „e“ gekennzeichnete Literatur: www.aerzteblatt.de/lit3710 The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de Kasuistik unter:www.aerzteblatt.de/10m0647 Weitere Informationen zu cme Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert. Die erworbenen Fortbildungspunkte können mit Hilfe der Einheitlichen Fortbildungsnummer (EFN) verwaltet werden. Unter cme.aerzteblatt.de muss hierfür in der Rubrik „Meine Daten“ oder bei der Registrierung die EFN in das entsprechende Feld eingegeben werden und durch Bestätigen der Einverständniserklärung aktiviert werden. Die 15-stellige EFN steht auf dem Fortbildungsausweis. Wichtiger Hinweis Die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung ist ausschließlich über das Internet möglich: cme.aerzteblatt.de Einsendeschluss ist der 29. 10. 2010. Einsendungen, die per Brief oder Fax erfolgen, können nicht berücksichtigt werden. Die Lösungen zu dieser cme-Einheit werden in Heft 45/2010 an dieser Stelle veröffentlicht. Die cme-Einheit „Ärztliche Leichenschau“ (Heft 33/2010) kann noch bis zum 2. 10. 2010 bearbeitet werden. Für Heft 41/2010 ist das Thema „Lese-Rechtschreibstörung – Diagnostik, Therapie und Prävention“ vorgesehen. Lösungen zur cme-Einheit in Heft 28–29/2010 Vogel M, et al.: Therapie der HIV-Infektion. Lösungen: 1b, 2b, 3d, 4e, 5c, 6b, 7c, 8a, 9d, 10a 655 MEDIZIN Bitte beantworten Sie folgende Fragen für die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung. Pro Frage ist nur eine Antwort möglich. Bitte entscheiden Sie sich für die am ehesten zutreffende Antwort. Frage Nr. 1 Frage Nr. 6 In wie viele CKD-Stadien wird die chronische Niereninsuffizienz eingeteilt? a) 1 Stadium b) 2 Stadien c) 3 Stadien d) 4 Stadien e) 5 Stadien Zu welchem Parameter besteht eine gute lineare Korrelation mit der GFR? a) Serum Kreatinin b) Eliminationskonstante c) Halbwertszeit d) nichtrenal eliminierte Fraktion Q0 e) Schwellenkonzentration CE05 Frage Nr. 2 Frage Nr. 7 Was ist die Prävalenz der Niereninsuffizienz mit GFR < 60 mL/min in epidemiologischen Studien? a) 5–10 % b) 10–15 % c) 15–20 % d) 20–25 % e) 25–30 % Welches Medikament ist ein zeitabhängig wirkendes Antiinfektivum? a) Gentamicin b) Cefazolin c) Fluorochinolone d) Levofloxacin e) Ciprofloxacin Frage Nr. 3 Frage Nr. 8 Die Anpassung der Arzneimitteldosis an die Nierenfunktion wird in der Regel ab welcher glomulären Filtrationsrate erforderlich? a) GFR < 15 mL/min b) GFR < 30 mL/min c) GFR < 60 mL/min d) GFR < 90 mL/min e) GFR < 120 mL/min Welches Arzneimittel muss bei Niereninsuffizienz höher dosiert werden als normal? a) Atenolol b) Enoxaparin c) Etoposid d) Furosemid e) Gabapentin Frage Nr. 4 Frage Nr. 9 Welches Arzneimittel kann bei bestehender Niereninsuffizienz vier bis acht Wochen nach Einnahme eine lang anhaltende Myelotoxizität verursachen? a) Methotrexat b) Hydroxychloroquin c) Colchizin d) Leflunomide e) Levomethadon Wie viel Prozent des Maximaleffektes produziert die Schwellenkonzentration? a) 5 % b) 20 % c) 35 % d) 50 % e) 75 % Frage Nr. 10 Frage Nr. 5 Welches Arzneimittel ist für Therapie der Ko-Morbidität niereninsuffizienter Patienten ungeeignet? a) Captropril b) Bicarbonat c) Calcitriol d) Diclofenac e) Phosphatbinder 656 Wie muss bei Niereninsuffizienz die Ciprofloxacin-Dosierung angepasst werden, wenn sich die Halbwertszeit des Medikaments verdoppelt? a) Halbierung der Dosis b) Verdopplung des Intervalls c) Durchführung eines Drugmonitoring d) einschleichende Erhöhung der Dosis e) Verdopplung der Therapiedauer Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 MEDIZIN Arzneimitteltherapie bei Patienten mit chronischem Nierenversagen Bertram Hartmann, David Czock, Frieder Keller eLITERATUR e1. Levey AS, Stevens LA, Schmid CH, et al.: CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration): A new equation to estimate glomerular filtration rate. Ann Intern Med 2009; 150: 604–12. e2. Schou M, Kampf D: Lithium and the kidneys. In: Bauer M, Grof P, Mueller-Oerlinghausen B (eds.): Lithium in Neuropsychiatry. The comprehensive guide. London Infarma Healthcare 2006: 251–8 e3. Rabkin R, Ryan MP, Duckworth WC: The renal metabolism of insulin. Diabetologia 1984; 27: 351–7. e4. Drüeke TB, Locatelli F, Clyne N, et al.: CREATE Investigators: Normalization of hemoglobin level in patients with chronic kidney disease and anemia. N Engl J Med 2006; 355: 2071–84. e5. Singh AK, Szczech L, Tang KL, et al.: CHOIR Investigators: Correction of anemia with epoetin alfa in chronic kidney disease. N Engl J Med 2006; 355: 2085–98. e6. 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Die normale Dosierung beträgt 500 mg 3 × 2 Filmtabletten täglich. Kasuistik Foto: picture-alliance Eine 33-jährige Patientin wird stationär aufgenommen zur Vorbereitung für die Bauchfelldialyse und Implantation eines Tenckhoff-Katheters. Sie hat ein chronisches Transplantat-Versagen, nachdem sie vor 12 Jahren nierentransplantiert wurde. Sie wurde wegen einer Fokal segmentalen Glomerulosklerose im Alter von 19 Jahren terminal niereninsuffizient. Bei der Patientin war vor 10 Monaten bioptisch eine interstitielle Fibrose mit tubulärer Atrophie und Calcineurin-Hemmer-Schaden diagnostiziert worden. Das Serum-Kreatinin beträgt 1 220 mcmoL/L, entsprechend einer GFR von 5,7 mL/min. Es bestehen aber sonst keine bedrohlichen Laborabweichungen. Die Patientin lehnt die Hämodialyse überhaupt sowie die Anlage einer Dialysefistel oder eines Shaldon-Katheters kategorisch ab. Abbildung: Herpes labialis Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 37 | 17. September 2010 Welche Dosis hätten Sie gegeben ? Die Autoren haben Valganciclovir in reduzierter Dosis mit 500 mg 2 × 1 täglich gegeben. Diese angepasste Dosis war aber immer noch doppelt so hoch wie die in den Tabellen empfohlene Dosierung von höchstens 500 mg 1 × täglich (4). Heute würden die Autoren übrigens Brivudin 1 × 125 mg geben, das nierenunabhängig zu Bromovinyluracil, einem inaktiven Metaboliten abgebaut wird. Der Herpes labialis geht nach 48 Stunden komplett zurück, die Patientin wird in die Chirurgie verlegt und in Kurznarkose anderntags operiert. Zwei Tage nach der Operation werden wir zu der Patientin gerufen, da sie inzwischen nicht mehr sprechen und sich nur noch mit Hilfe aufrichten kann. Wir vermuten eine neurotoxische Nebenwirkung von Aciclovir und versprechen der Patientin, dass sich die Symptome innerhalb von 24 Stunden bessern werden. Valaciclovir wird abgesetzt und die Neurotoxizität bessert sich auch prompt. 11