Immobilisation bei schweren Umknickverletzungen

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Notfall aktuell – Für Sie gelesen
Notfall Rettungsmed 2009 · 12:223–224
DOI 10.1007/s10049-009-1169-2
Online publiziert: 5. April 2009
© Springer Medizin Verlag 2009
Redaktion
K.G. Kanz, München
V. Wenzel, Innsbruck
H. Polzer
Chirurgische Klinik und Poliklinik, Campus Innenstadt,
Klinikum der Universität München, München
Immobilisation bei schweren
Umknickverletzungen
des Sprunggelenkes
Ist der Unterschenkelgips die
effektivste Behandlungsstrategie?
Originalpublikation:
Lamb S, Marsh J, Hutton J et al (2009) Mechanical supports for acute, severe ankle sprain: a
pragmatic, multicentre, randomised controlled trial. Lancet 373:575–581
Die Umknickverletzung des oberen Sprung­
gelenkes zählt zu den häufigsten Verlet­
zungen des muskuloskeletalen Systems.
Trotz unzähliger Studien und Reviews
bleibt die notwendige Diagnostik und die
optimale Behandlung Gegenstand kontro­
verser Diskussionen. Die meisten Untersu­
chungen der letzten Jahre favorisieren die
frühe funktionelle Therapie, d. h. frühest­
mög­liche Bewegungsübungen in Verbin­
dung mit einer externen Stabilisierung, ge­
genüber der Ruhigstellung im Gips und der
operativen Therapie.
Die Autoren führten eine randomisierte
Studie durch, die gemäß CONSORT-State­
ment geplant und durchgeführt wurde.
Methoden
Die multizentrische Studie in 8 Kranken­
häusern wurde über einen Zeitraum von
28 Monaten in England durchgeführt. Ein­
schlusskriterium war eine schwere Um­
knickverletzung ohne Fraktur. Als schwer
galt die Verletzung, wenn der Patient nach
3 Tagen das betroffene Bein nicht voll belas­
ten konnte. Ausschlusskriterien waren das
Vorliegen einer Fraktur, Kontraindikation
für die Immobilisation wie beispielsweise
erhöhtes Thromboserisiko, Alter unter
16 Jahren und die Tatsache, dass die Verlet­
zung mehr als 7 Tage zurücklag. Zunächst
wurden die Patienten 3 Tage mit einem elas­
tischen Verband, Hochlagerung, Kühlung
und Entlastung behandelt, dann erfolgte die
Randomisierung via Telefonzentrale; die
Zielkriterien wurden verblindet erfasst.
In den vier Gruppen wurden folgende
Behandlungen untersucht:
1.Elastischer Schlauchverband, am ge­
samten Unterschenkel und Fuß dop­
pelt angelegt;
2.Unterschenkelgips, unflexibel, synthe­
tisch, nicht abnehmbar, für 10 Tage;
3.Aircast-Orthese (DJO Incorporated,
Vista/CA, USA);
4.Bledsoe Boot (Medical Technology
Inc, Grand Prairie/TX, USA).
Alle Patienten wurden angewiesen, den be­
troffenen Fuß zu kühlen, hoch zu lagern,
mit Unterarmgehstützen zu entlasten sowie
vorsichtige Bewegungen auszuführen. Es
wurde keine Physiotherapie verordnet. Falls
die Patienten zusätzliche Therapie in An­
spruch nahmen, wurde dies dokumentiert.
Die Nachuntersuchungen erfolgten 1, 3 und
9 Monate nach Behandlungsbeginn. Haupt­
zielkriterium war die Funktion des Sprung­
gelenkes, die durch den Foot and Ankle
Score (FAOS) erfasst wurde. Nebenzielkrite­
rium war das physische und psychische
Wohl­befinden, das mit einem Fragebogen,
der Kurzform des SF-12, erhoben wurde.
Die Nachuntersuchungen erfolgten aus­
schließlich über die zurückgesandten Frage­
bögen. Die Auswertung erfolgte nach Inten­
tion-to-treat.
Ergebnisse
Insgesamt stellten sich im Untersu­
chungszeitraum 1192 Patienten mit einer
schweren Umknickverletzung vor, wovon
512 die Einschlusskriterien nicht erfüllten
und 79 nicht mit einer Teilnahme an der
Studie einverstanden waren, 46 davon
aufgrund der Möglichkeit, mit einem Un­
terschenkelgips behandelt zu werden.
Insgesamt 584 Patienten wurden ran­
domisiert, wovon 83% nach einem Mo­
nat, 82% nach 3 Monaten und 76% nach
9 Monaten die ausgefüllten Fragebögen
zurücksendeten. Bei jeweils einem Pati­
enten aus den mit Aircast-Orthese, Bled­
soe Boot oder Unterschenkelgips behan­
delten Gruppen trat eine Thrombose der
tiefen Beinvenen auf. Bei jeweils einem
Patient aus den mit Schlauchverband und
Aircast-Orthese behandelten Gruppen
entwickelte sich eine Lungenembolie.
Die Behandlung mittels Unterschen­
kelgips zeigte einen mittleren Unterschied
in der Funktion des Sprunggelenkes nach
3 Monaten von 9% [95%-Konfidenzinter­
vall (CI) 2,4–15,0%; p<0,007] im Vergleich
zum elastischen Schlauchverband. Eine
Definition für die Funktion des Sprung­
gelenkes wird nicht aufgeführt. Bezüglich
der Kriterien Schmerz, Symptome und
Aktivität erzielte die Behandlung mit­
tels Unterschenkelgips bessere Resultate.
Die Aircast-Orthese zeigte in Bezug auf
die Sprunggelenksfunktion nach 3 Mona­
ten vergleichbare Ergebnisse wie der Un­
terschenkelgips, bezüglich der anderen
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Kriterien war die Behandlung nicht ver­
gleichbar mit der Gipsbehandlung. Der
Bledsoe Boot zeigte keine signifikant bes­
seren Ergebnisse als der Schlauchverband.
Der Schlauchverband war insgesamt die
am wenigsten wirksame Behandlungs­
methode. Zwischen allen 4 Behandlungs­
methoden zeigten sich nach 9 Monaten
keine Unterschiede mehr.
In Bezug auf die allgemeine Lebens­
qualität war nach einem Monat der Un­
terschenkelgips die einzige Behandlungs­
methode mit signifikant besserem Er­
gebnis gegenüber dem elastischen Ver­
band. Das psychische Wohlbefinden war
in allen Behandlungsgruppen zum ersten
Nachuntersuchungszeitpunkt beeinträch­
tigt. Nach 3 Monaten zeigte sich in der mit
Aircast-Orthese und Bledoe Boot behan­
delten Gruppe aber bezogen auf das psy­
chische Wohlbefinden eine bessere Le­
bensqualität als in den anderen Behand­
lungsgruppen. Physiotherapie und ortho­
pädische Hilfen wurden in allen Gruppen
gleichermaßen in Anspruch genommen,
genauer wird dies nicht spezifiziert.
Die Autoren schlussfolgern, dass, ent­
gegen der verbreiteten Ablehnung der
Gipsbehandlung, die Behandlung von
Umknickverletzungen mittels Unter­
schenkelgips die effektivste Strategie zur
schnellen Gesundung darstellt.
Kommentar
Die Studie von Lamb et al. zeichnet sich
durch die sehr hohe Patientenzahl so­
wie die formal gute Studienplanung nach
dem CONSORT-Statement aus. Sie ist vor
allem interessant, weil sie im Gegensatz zu
den meisten publizierten Studien, Meta­
analysen und Reviews steht.
Es müssen jedoch mehrere metho­
dische Umstände genauer betrachtet wer­
den. Zum einen ist für Behandlungserfolg
und -dauer die Schwere der Bandverlet­
zung entscheidend [1]. Die Einteilung der
Bandverletzung durch die Belastbarkeit
nach 3 Tagen hat bisher keine Grundlage
in der Literatur. Vielmehr belegen Studi­
en, dass die klinische Untersuchung nach
3–5 Tagen Behandlung mittels“protection,
rest, ice, compression, elevation“ (PRICE)
Bandrupturen mit einer Sensitivität von
96% bei einer Spezifität von 86% diagnosti­
zieren kann [7]. Die Klassifikation der Ver­
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letzung mittels objektivierbaren klinischen
Tests vor und nach der Behandlung ist die
Vorraussetzung für den Vergleich verschie­
dener Behandlungsmodalitäten.
>Für Behandlungserfolg und
-dauer ist die Schwere der
Bandverletzung entscheidend
Ferner zeigten alle bisher durchgeführten
Metaanalysen von kontrolliert randomisier­
ten Studien signifikant bessere Ergebnisse
für die funktionelle Behandlung gegenüber
der Ruhigstellung im Gips [3, 4, 5, 6]. In all
die­sen Studien ist die funktionelle Therapie
als eine Kombination aus frühestmöglicher
Bewegungs- bzw. Physiotherapie sowie
­einer externen Stabilisierung beispielsweise
mittels elastischen Verbandes oder Sprung­
ge­­lenksorthese definiert. In der vorliegen­
den Studie wurden 4 verschiede­ne Techni­
ken der Immobilisation untersucht, nicht
aber die funktionelle Therapie, die derzeit
die Behandlung der Wahl darstellt. Demzu­
folge kann lediglich eine Aussage zur besten
Methode der Immobi­lisation, nicht aber
zur besten Behandlung der Umknickverlet­
zung allgemein gemacht werden. Des
­Weite­ren zeigt sich, dass 16% der Patienten,
die nach Randomisierung eine Behandlung
mittels Unterschenkelgips erhalten sollten,
anders behandelt wurden. In den anderen
Behandlungsgruppen betrug die Rate zwi­
schen 0,7% und 2,7%. Trotzdem wurde die
Aus­wertung der Daten nach Intention-totreat durchgeführt.
EEine Aussage zur allgemein besten
Behandlung ist nicht möglich, da die
Immobilisation nicht mit der funktio-­
nellen Therapie verglichen wurde.
Darüber hinaus berichten die Autoren
nicht, wie die Patienten die betroffene Ex­
tremität belasteten. Es wird lediglich ange­
geben, dass jeder Patient Unterarmgehstüt­
zen erhielt. Auch über die Durchführung
einer Thromboseprophylaxe sind keine
Angaben vorhanden. Die Autoren berich­
ten über eine Rate an thromboembolischen
Ereignissen von 0,9%. In einer prospekti­
ven Studie an 1321 Patienten konnte gezeigt
werden, dass ab einer Belastung von 20 kg
und einer Beweglichkeit von 20° im oberen
Sprunggelenk keine ­Thromboseprophylaxe
notwendig ist [2]. Demzufolge ist bei der
Behandlung mittels Gips, im Unterschied
zur funktionellen Therapie, eine Throm­
boseprophylaxe durchzuführen.
Fazit für die Praxis
In der Ära der evidenzbasierten ­Medizin
stellt die Festlegung von Qualitäts-­
standards für klinische Studien, wie im
­CONSORT-­Statement verwirklicht, ­einen
wichtigen Schritt dar. Trotzdem muss
auch der inhaltlich methodische Ansatz
von klinischen Studien kritisch beurteilt
werden. Ob Patienten mit schwerer Um-­
knickverletzung des Sprunggelenkes mit-­
tels Unterschenkelgips behandelt werden
sollten, ist auch nach der vorliegenden
Studie mehr als fraglich. Aufgrund der
­aktuellen Datenlage ist aus Sicht der Au-­
toren nach wie vor die funktionelle Be-­
handlung mittels frühestmöglicher Bewe-­
gungsübungen sowie externer Stabilisie-­
rung mit einer Sprunggelenksorthese für
6 Wochen, auch für Zweibandrupturen,
die Behandlungsmethode der Wahl.
Korrespondenzadresse
Dr. H. Polzer
Chirurgische Klinik und Poli­
klinik, Campus Innenstadt, Klinikum der Universität München
Nußbaumstr. 20,
80336 München
[email protected]
Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
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