Im Irrgarten der Krebsgene - Claudia Eberhard

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IM IRRGARTEN DER KREBS-GENE
Wissenschaftler entziffern in einem weltweiten Großprojekt die genetischen Defekte der häufigsten
Tumorarten. Lassen sich im Labyrinth der Krebs-Gene tatsächlich Ansätze für neue Therapien finden?
von Claudia Eberhard-Metzger (Text) und Ronald Frommann (Fotos)
Während der Patient nervös auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nimmt, blättert der Arzt schon
im Laborbericht. „B-RAF-positiver Tumor“, liest er die bis aufs Gen genaue Diagnose vor. „Was kann
man tun?“, fragt der Patient. Der Arzt greift zur Liste mit den Medikamentenempfehlungen und rät
zu einer Wirkstoffkombination, die sowohl das krebsverursachende Gen als auch dessen Produkt, ein
schädliches Protein, ausschaltet und so die wachstumsfördernde zelluläre Signalkette unterbricht.
„Damit sind wir auf der sicheren Seite“, sagt der Arzt und verspricht: „Die Zellteilung wird sich in
einigen Tagen normalisieren, und der Tumor wird sich zurückbilden. Mit einem weiteren genbasierten Medikamentenmix sorgen wir dann dafür, dass er nicht wieder auftritt.“
Diese Szene aus der Arztpraxis der Zukunft ist zu schön, um wahr zu sein: Wer die biologische
Komplexität der Zellen – und mit ihr die Komplexität der Tumorzellen – kennt, weiß auch, dass man
selbst in ferner Zukunft nicht darauf hoffen kann, Krebserkrankungen derart einfach zu behandeln.
Und doch schildert die Szene im Kern, was sich Krebsforscher mit ihrem jüngsten Projekt als Ergebnis
wünschen: eine große Anzahl zielgerichteter Medikamente, mit der sich die tödliche Bedrohung
Krebs in eine langfristig gut behandelbare, erträgliche Erkrankung verwandeln lässt.
Das neue Projekt heißt „Entschlüsselung des Krebsgenoms“ und ist das größte und teuerste
Vorhaben in der Geschichte der Krebsforschung. Es soll endlich den entscheidenden Fortschritt
bringen. Denn in der hochmotivierten Welt der Krebsmedizin hat es auch in der Vergangenheit nicht
an Konzepten und Projekten gemangelt, wohl aber an Erfolgen: Von den über 400 000 Menschen, die
allein in Deutschland alljährlich neu an Krebs erkranken, stirbt jeder Zweite an seiner
Tumorkrankheit. Das sagt die Statistik – unverändert seit Jahrzehnten. Trotz therapeutischer
Verbesserungen bei einigen wenigen Krebserkrankungen ist der „Sieg gegen den Krebs“ bislang
ausgeblieben.
FELDZUG OHNE SIEGESFEIER
Der war in einer ersten Fassung der berühmten Kampfansage „War on Cancer“ des amerikanischen
Präsidenten Richard Nixon bereits für 1976 versprochen worden – rechtzeitig zum 200. Jahrestag der
amerikanischen Unabhängigkeit. Nach Einwänden von Forschern, so schnell werde es nicht gehen,
wurde der Feldzug 1971 zwar auf 25 Jahre verlängert, doch auch danach blieb die Siegesfeier aus. Im
Jahr 2003 schließlich erneuerte der Direktor des Nationalen Krebsinstituts der USA die mehr als drei
Jahrzehnte zurückliegende Kriegserklärung und verkündete, er wolle bis zum Jahr 2015 das „Leiden
und Sterben an Krebs beenden“. Vorsichtiger, aber nicht weniger positiv formuliert ein kürzlich vom
Imperial College of Medicine in London herausgegebener Wissenschaftsreport die Zukunft der
Krebsmedizin: Man werde den Krebs im Jahr 2025 als eine chronische Krankheit betrachten, heißt es
in dem Bericht „The Future of Cancer Care“, und Tumorerkrankungen in eine Reihe mit Diabetes,
Herzkrankheiten oder Asthma stellen, die das Leben der Menschen zwar beeinträchtigen, aber nicht
unausweichlich zum Tod führen. Nicht Heilung heißt also inzwischen das Ziel, sondern langfristige
Behandelbarkeit.
Das Vorhaben, alle genetischen Veränderungen (Mutationen) im Erbgut (Genom) der 50 häufigsten
Krebsarten zu identifizieren, könnte sich als Meilenstein auf dem Weg zur „Chronifizierung“ des
Krebses erweisen. An dem im Jahr 2008 vom „International Cancer Genome Consortium“ (ICGC)
initiierten Projekt sind derzeit mehr als 20 Staaten mit ihren besten Wissenschaftlern und seit dem
Frühjahr 2010 auch deutsche Forschergruppen beteiligt (siehe Kasten „Weltweite Offensive gegen
den Krebs“ auf Seite 27). In den nächsten Jahren werden schätzungsweise 750 Millionen Euro für die
genetische Fehlersuche in Tumorzellen eingesetzt. „Es sollte mich doch sehr wundern“, schreibt der
britische Krebsforscher Mike Stratton, einer der Leiter des Konsortiums, in der Zeitschrift Nature,
„wenn sich die Diagnose und Behandlung von Krebs dadurch in den nächsten 20 Jahren nicht völlig
verändern wird.“
WENN FEHLER ÜBERHANDNEHMEN
Ihren Optimismus begründen die Krebsforscher mit den Fortschritten der Molekularbiologie, die in
den letzten 40 bis 50 Jahren systematisch Belege dafür gesammelt hat, dass Krebs kein
schicksalhaftes Ereignis, sondern das Ergebnis genetischen Versagens ist. Immer, wenn eine Zelle sich
teilt, muss sie das Erbmolekül DNA verdoppeln. Das geschieht während eines durchschnittlichen
Menschenlebens schätzungsweise 100 Billionen Mal. Bei jeder Zellteilung aber können sich Fehler in
den genetischen Code einschleichen. Viele dieser Fehler werden die Funktion des Erbguts niemals
beeinträchtigen, zudem unterhält die Zelle Reparaturdienste, die Unregelmäßigkeiten –
beispielsweise vertauschte DNA-Buchstaben – rasch wieder beheben. Wenn sich eine Mutation aber
an einer für das Zellleben besonders heiklen Stelle ereignet, wenn der Gen-Defekt nicht mehr
repariert werden kann oder wenn sich im Laufe der Zeit so viele Fehler ansammeln, dass die Zelle aus
ihrem genetisch sensibel ausbalancierten Wachstumsgleichgewicht gerät, kann Krebs entstehen – so
weit die Theorie.
Entscheidend bestätigt wurde die molekularbiologische Betrachtungsweise der Krebsentstehung mit
der Entdeckung der „Onkogene“. Dabei handelt es sich um einzelne körpereigene Gene, die zu
Krebszellen verändert (mutiert) sind. Seither hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Tumore
hauptsächlich von Genen verursacht werden, die zufällig, durch chemische Reaktionen oder
Strahleneinwirkung, beschädigt oder modifiziert wurden. Die mutierten Gene verändern auch den
Charakter der Zelle und veranlassen sie, sich unkontrolliert auf Kosten gesunder Zellen zu vermehren.
Das erste Onkogen beschrieben Forscher 1981. Inzwischen wurden über 300 Gene identifiziert, die
für das Entstehen von Krebs verantwortlich sein sollen, darunter B-RAF oder weitere Berühmtheiten
wie p53 – ein Gen, das bei rund der Hälfte aller menschlichen Tumorarten verändert ist. Kein
Krebsforscher glaubt, dass die Liste der Onkogene schon komplett ist. Um sie zu vervollständigen,
fehlten jedoch lange die Werkzeuge und Techniken. Die Methoden sind jetzt verfügbar, und die
Wissenschaftler wenden sie derzeit rund um den Globus zur Entschlüsselung des Krebsgenoms an:
Sie „sequenzieren“, was das Zeug hält.
VOLLAUTOMATISCHES LESEN
Sequenzieren bedeutet: Die Reihenfolge der Buchstaben (die Sequenz) des aus Tumorzellen
gewonnenen Erbguttextes wird Buchstabe für Buchstabe ermittelt. Anschließend wird das Erbgut der
Tumorzellen Buchstabe für Buchstabe mit dem Erbgut gesunder Zellen desselben Patienten
verglichen, wobei man nach charakteristischen Unterschieden sucht. Das Lesen von Erbguttexten war
früher mühselig und zeitaufwendig. Heute erfolgt es vollautomatisch mit Lesemaschinen
(„Sequenzern“), die sehr rasch sehr große Mengen an Buchstabendaten erzeugen. Mit welchen
Datenmengen es die Forscher zu tun haben und wie groß die Herausforderung ist, die
Sequenzinformationen zu speichern und einer Auswertung zugänglich zu machen, erklärt Roland Eils
vom Bioquant-Zentrum der Universität Heidelberg. Bei Eils laufen alle Daten der deutschen
Krebsgenom-Projekte zusammen (siehe Beitrag „Der Blick aufs Ganze“ im bdw-plus „Lebenswert“
1/2011). „Unser Erbgut besteht aus drei Milliarden Buchstaben“, erklärt der Bioinformatiker. „Jeder
Buchstabe wird mit heutiger Technik im Mittel 30-fach sequenziert. Daraus ergibt sich ein
Speicherplatz von etwa drei Terabyte pro Erbgut.“ Allein im deutschen Hirntumor-Teilprojekt
„PedBrain“ sollen 1200 Erbgutsätze durchbuchstabiert werden, das entspricht rund 3,5 Petabyte an
Daten. Diese an sich schon stattliche Zahl, betont Eils, müsse man noch einmal mindestens
verdoppeln, weil nicht nur die DNA, sondern auch die Ribonukleinsäuren (die Schwestermoleküle der
DNA) und das Methylom (die epigenetische „Verpackung“ des Erbmoleküls) gelesen werden.
SPEICHERPLATZ: EINE MILLIARDE GIGABYTE
Um die Datenmassen bewältigen zu können, baut Eils im Bioquant-Zentrum gerade eine Anlage zur
Datenspeicherung auf, die weltweit zu den größten ihrer Art in den Lebenswissenschaften zählt. Der
künftige Hochleistungsdatenspeicher wird eine Kapazität von einer Milliarde Gigabyte haben. Zum
Vergleich: Ein iPhone verfügt über einen Speicher von 32 Gigabyte. „Allein für die Daten des
deutschen PedBrain-Projekts würde man also 250 000 iPhones brauchen“, veranschaulicht Eils. Doch
der Bioinformatiker muss sich nicht nur um den Speicherplatz, sondern auch um den Datentransport
Gedanken machen. Damit der möglichst rasch und ohne Stau erfolgt, lässt Eils gerade eine
Glasfaserleitung mit einer Übertragungsrate von zehn Gigabyte pro Sekunde von Heidelberg zum
ergänzenden Massenspeicher in Karlsruhe verlegen. Bis die unterirdische Datenautobahn fertig ist,
gelangen die Sequenzdaten noch über die echte Autobahn zu ihrem Speicherort – per Kurier und auf
Diskette.
Das eigentliche Problem, gibt der renommierte Krebsforscher Bert Vogelstein von der Johns Hopkins
University in „Nature“ zu bedenken, bestehe allerdings nicht darin herauszufinden, wie man am
besten Unmengen von Daten speichert und Mutationen katalogisiert. Die entscheidende Frage sei,
wie all diese genetischen Informationen genutzt werden können, um Krebspatienten zu helfen. Er
legt damit den Finger in die Wunde des Krebsgenom-Projekts: Dessen Kritiker bemängeln, dass es zu
viel Geld bei zu wenig erwartbaren Ergebnissen verschlinge. Denn wenn es einzig beim Anhäufen
großer Datenberge bliebe, wäre das Projekt tatsächlich nicht mehr als das verspielte Vorhaben
einiger Technik- und Bioinformatikfreaks, die – nachdem das menschliche Genom in einem 10Jahres-Kraftakt entziffert wurde – nun noch rasch 25 000 Krebsgenome durch die Sequenzer jagen.
ZEHNTAUSENDE FEHLER IM TEXT
Die ersten durchbuchstabierten Tumor-Erbguttexte – derzeit sind es rund ein Dutzend – liegen dank
der Höchstleistung der modernen Lesemaschinen bereits vor, beispielsweise von Lungen- und
Hautkrebszellen. In den entarteten Lungenzellen fanden britische Forscher nicht weniger als 22 910
„wahrscheinlich“ krebsbedingte Mutationen, in den bösartigen Hautzellen 33 345. Auch die anderen
bislang sequenzierten Krebs-Erbguttexte weisen ähnlich hohe Mutationsraten auf. Welche
medizinische Bedeutung, fragen Kritiker, soll man diesen vielen Gen-Defekten abgewinnen? Wie soll
man im Irrgarten der Krebsgene, die sich nicht nur von Tumorart zu Tumorart, sondern auch noch
von Patient zu Patient unterscheiden, die erhofften rationalen Ansätze für neue und bessere
Medikamente gegen Krebs finden? Böse Zungen lästern gar, die Zahl der von bienenfleißigen
Erbgutlesern verfassten Publikationen, in denen die Mutationen von Krebszellen aufgezählt werden,
könnte schneller wachsen als der schlimmste Krebs, den sie beschreiben.
Auch auf diese Fragen haben die Redakteure der Krebs-Erbguttexte eine Antwort: Es gelte unter den
vielen veränderten Genen die „Fahrer“ zu finden – jene wahrscheinlich nur wenigen Erbanlagen, die
den Krebs auslösen und fördern. Sie seien zu unterscheiden von den „Passagieren“, die gleichsam als
Trittbrettfahrer auf den rollenden Zug aufspringen und zur immer größer werdenden genetischen
Instabilität des Tumor-Erbguts beitragen. Wer die „Fahrer“ kennt, kennt auch die Verantwortlichen –
und kann sie mit treffsicheren Wirkstoffen ausschalten. Unter den „Passagieren“ hoffen die Forscher
ebenfalls konkrete Angriffspunkte für Medikamente zu finden – etwa mutierte Gene, die entartete
Zellen dazu anstiften, den Ort ihres Entstehens zu verlassen und sich im Körper auszubreiten.
Substanzen, die die dafür verantwortlichen Gene hemmen, könnten der verhängnisvollen
Metastasierung vorbeugen – dem Entstehen von Tochtergeschwülsten im Verlauf der
Krebserkrankung.
DAS ERSTE ZIELGENAUE MEDIKAMENT
Das vielleicht gewichtigste Argument der Befürworter des Krebsgenom-Projektes ist, dass es schon
Medikamente gibt, die zielgenau an zuvor dingfest gemachten molekularen Fehlern ansetzen. Es sind
bislang nur wenige, aber sie sind ein Beleg dafür, dass die neue Attacke gegen Krebs die richtige
Stoßrichtung haben könnte. Als erster therapeutischer Wirkstoff, der eine genetische Krebsursache
bekämpft, gilt Imatinib (Handelsname Glivec), heute das Standardmedikament zur Therapie der
chronisch myeloischen Leukämie (CML), einer unbehandelt tödlich verlaufenden
Blutkrebserkrankung. Die Geschichte des Medikaments geht zurück bis in die späten 1980er-Jahre.
Damals entdeckten Forscher, dass meist ein „Verkleben“ zweier Gene für die Krebsart verantwortlich
ist. Infolge der Mutation entsteht ein überaktives Protein, das die weißen Blutkörperchen dazu
antreibt, sich wieder und wieder zu teilen. Imatinib ist ein eigens konstruiertes kleines Molekül, das
am krebstreibenden Protein ansetzt, es blockiert und die bösartigen Zellen daran hindert, sich weiter
zu vermehren.
Ein zweites Beispiel ist Trastuzumab (Handelsname Herceptin), ein sogenannter monoklonaler
Antikörper. Das Y-förmige Molekül besetzt einen Rezeptor, eine Art Antenne für Wachstumsfaktoren,
die sich auf der Oberfläche von Brustkrebszellen finden. Diese Rezeptoren werden bei etwa jeder
vierten Brustkrebspatientin aufgrund einer Mutation – einem abnorm vervielfachten Gen –
übermäßig gebildet. Der Antikörper verhindert, dass Wachstumsbotschaften ins Innere der Zelle
weitergeleitet werden. Ein drittes Beispiel ist Gefitinib (Handelsname Iressa). Das Medikament ist
zugelassen, um Patienten mit Lungenkrebs zu behandeln, in deren entarteten Zellen Mutationen im
sogenannten EGFR-Gen, ebenfalls ein krebsbegünstigendes Gen, nachweisbar sind. Es gibt eine Reihe
weiterer gen-basierter Krebsmedikamente der neuen Generation. Doch für die meisten der neuen
Wirkstoffe ist der medizinische Nutzen bislang nur schwer abschätzbar. Einzig Imatinib gilt derzeit als
echter Durchbruch. Wenn aber erst alle genetischen Veränderungen der Tumorzellen bekannt sind,
so die Hoffnung, wird sich die Liste der gezielt ansetzenden, schlagkräftigen und
nebenwirkungsärmeren Medikamente rasch verlängern. „Das Krebsgenom-Projekt“, erwartet
Manfred Baier von der Pharmafirma Roche, die das Brustkrebsmedikament Herceptin produziert,
„wird uns die wohl komplexesten Daten liefern, die wir bislang in der Medizin kennen – es hat
endlich wieder Bewegung in die Krebsforschung gebracht.“
DIE KREBSZELLEN SCHLAGEN ZURÜCK
Aus seinem Hause stammt ein neues, derzeit noch namenloses Hoffnungsmolekül gegen den
fortgeschrittenen schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom). Der Entwicklungskandidat, ein kleines
Molekül mit dem hausinternen Kürzel RG 7204, soll gezielt mutierte Versionen des B-RAF-Proteins
hemmen, die jeder zweite Melanom-Patient aufweist und die für das aggressive Wachstum des
Tumors und seiner Metastasen verantwortlich gemacht werden. Erste klinische Studien mit der
zielgerichteten Krebstherapie erbrachten gute Ergebnisse: Bei mehr als der Hälfte der
Studienteilnehmer, bei denen mehrere vorausgegangene Therapien versagt hatten, schrumpften die
Tumore. Doch bereits wenig später zeigte sich, was bislang für jedes Medikament gegen Krebs gilt:
Die entarteten Zellen entwickeln aufgrund ihrer hohen Mutationsrate früher oder später
Gegenstrategien, sie werden „resistent“. Auch bei dem neuen Wirkstoff gegen das maligne Melanom
ist die Langzeitwirkung bislang nicht bekannt.
In der Grundlagenforschung arbeitet der Kinderarzt und Krebsforscher Stefan Pfister vom Zentrum
für Kinderheilkunde in Heidelberg. Er arbeitet mit seiner Forschergruppe „Molekulargenetik
kindlicher Hirntumoren“ am weltweiten Krebsgenom-Projekt mit. Seine Hoffnung ist, mit der
systematischen Entzifferung des Erbguts von entarteten Zellen des Gehirns („PedBrain“) für kindliche
Hirntumore das zu erreichen, was bei Blutkrebs (Leukämie) bereits gelungen ist: „Heute können wir
vier von fünf leukämiekranken Kindern heilen“, sagt Pfister. „Bei Hirntumoren sind wir noch weit
davon entfernt.“ Die Genomanalyse, berichtet Pfister, habe kürzlich Hinweise erbracht, wie
„Ependymome“, eine relativ häufige Gruppe von Hirntumoren bei Kindern, genauer unterschieden
und besser behandelt werden können. Im Erbgut der Tumorzellen entdeckten die Forscher
charakteristische genetische Veränderungen, die nun als „diagnostische Marker“ dienen: Mit ihnen
lässt sich voraussagen, wie die Krankheit verlaufen und auf welche Medikamente sie ansprechen
wird. „Je nach Risikoeinschätzung können wir jetzt die Therapie individueller planen“, erklärt Pfister.
Beim Lesen des Erbguttextes von Zellen einer weiteren Gruppe von Hirntumoren, den Astrozytomen,
trafen die Krebsforscher auf einen alten Bekannten: Das Gen B-RAF erwies sich bei über der Hälfte
der Astrozytome als mutiert. Mutationen in B-RAF, wissen die Forscher, sind charakteristisch für eine
Reihe von Tumorarten und ereignen sich stets recht früh: Sie bahnen dem Krebs gleichsam den
weiteren Weg. Könnte B-RAF einer der gesuchten „Fahrer“ sein?
Von Sorafenib (Handelsname Nexavar), einem Medikament, das derzeit gegen Nieren- und
Leberkrebs eingesetzt wird, ist bekannt, dass es auf das mutierte B-RAF-Gen und die dadurch
verhängnisvoll veränderten Signalketten einzuwirken vermag. Mit dem gen-basierten Medikament,
berichtet Pfister, wurden in Heidelberg kürzlich einige Hirntumorpatienten behandelt. Die Tumore
bildeten sich teilweise zurück. Jetzt ist eine Studie mit einer größeren Anzahl von Patienten geplant.
„Das Krebsgenom-Projekt birgt einen unermesslich großen Datenschatz. „Wir kommen gar nicht
umhin, ihn zu heben, wenn wir Fortschritte in der Krebsmedizin erzielen wollen“, betont Pfister. Er ist
jedoch sicher, dass „uns auch nach zehn Jahren Forschung die Fragen nicht ausgehen werden – aber
haben wir eine andere Wahl?“
In Heidelberg soll die Zukunft bereits in fünf Jahren beginnen. Dann, verspricht Otmar Wiestler, der
wissenschaftliche Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums, soll im jüngst
eröffneten Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) das Krebsgenom eines jeden
Patienten entziffert und für die gen-genaue Diagnose herangezogen werden. Technisch wird das in
wenigen Stunden für nur 500 Euro möglich sein. Ob sich bis dahin auch die maßgeschneiderte
Medikamentenvielfalt hinzugesellt hat oder ob man trotz moderner molekularer Feindiagnose
weiterhin mit den alten grobschlächtigen Waffen „Stahl, Strahl und Zellgiften“ gegen den Krebs
antreten muss, ist offen. Robert Weinberg, der Entdecker des ersten Onkogens, warnte bereits vor
drei Jahrzehnten: Die Euphorie, die sich an den menschlichen Tumor-Genen entzünde, könnte nur
von kurzer Dauer sein, „weil die Isolierung dieser Gene mehr Fragen aufwirft, als sie Antworten
liefert.“ Bislang hat er damit recht behalten. ■
Die Wissenschaftsjournalistin und langjährige bdw-Autorin CLAUDIA EBERHARD-METZGER lebt in der
Nähe von Heidelberg, wo sie die Zukunft der Krebsmedizin schon heute studieren kann. Fotograf
RONALD FROMMANN aus Hamburg fasste nach der Reportage in der Martini-Klinik einen Vorsatz
fürs Jahr 2011: Vorsorge.
WELTWEITE OFFENSIVE GEGEN DEN KREBS
2008 startete das Internationale Krebsgenom-Konsortium (ICGC), das mindestens 50 Tumorarten
molekular umfassend analysieren will. Das Ziel der in den Laboren rund um den Globus arbeitenden
Wissenschaftler ist es, Kennzeichen (Marker) zu identifizieren, die eine frühe und präzise Diagnose
ermöglichen. Darüber hinaus sollen neue und nebenwirkungsarme Therapien für eine individuelle
Krebsbehandlung entwickelt werden. Bislang sind Forschergruppen aus über 20 Ländern an dem
ICGC-Vorhaben beteiligt.
Seit dem Jahr 2010 ist auch Deutschland mit drei Projekten vertreten:
Hirntumore: Das „PedBrain-Tumorprojekt“ wird im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in
Heidelberg koordiniert und hat zum Ziel, die molekulargenetischen Ursachen der beiden häufigsten
Hirntumore von Kindern zu analysieren.
Prostatakrebs: Der ICGC-Forschungsverbund Prostatakrebs wird vom DKFZ und dem
Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf organisiert, zu dem auch die Martini-Klinik (siehe Fotos
in diesem Beitrag) gehört. In den kommenden fünf Jahren sollen die vollständigen Erbgutsätze von
Prostatakrebs-Patienten unter 50 Jahren sowie von Kontrollgeweben entziffert und eine Karte aller
genetischen Veränderungen des Prostatakrebses erstellt werden.
Lymphome: Der Forschungsverbund Maligne Lymphome, koordiniert in der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, will tumorspezifische Gen-Veränderungen bei bösartigen Erkrankungen des
Lymphsystems identifizieren.
Die Deutsche Krebshilfe e.V. und das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördern die
deutschen ICGC-Beteiligungen über fünf Jahre mit insgesamt 15 Millionen Euro.
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