Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter

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MEDIZIN
EDITORIAL
Kopfschmerzen im Kindesund Jugendalter
Eine Herausforderung zwischen akut- und sozialmedizinischer Kompetenz
Peter Weber
Editorial
zum Beitrag von
Andreas Straube
et al.:
„Kopfschmerzen
bei Schülern:
Prävalenz und
Risikofaktoren“
auf den folgenden
Seiten
opfschmerzen stellen die häufigste Schmerzlokalisation im Kindes- und Jugendalter dar – dennoch
bereiten sie nicht nur dem Patienten und seiner Familie,
sondern nicht selten auch dem behandelnden Arzt Kopfzerbrechen. Die Sorge der Eltern überträgt sich auf den
Arzt, und nicht zuletzt deshalb sind Kopfschmerzen im
Schulalter selbst in zahlreichen tertiären neuropädiatrischen Ambulanzen die häufigste Zuweisungsdiagnose (1).
Erstens steht die Frage nach den möglichen Ursachen im
Raum: Wie sicher kann der Arzt aufgrund der Anamnese
und klinischen Untersuchung sein, dass es sich nicht um
einen symptomatischen (sekundären) Kopfschmerz handelt, vor allem nicht um das Symptom eines Hirntumors?
Zweitens stellt sich die Frage nach der Diagnose: Wie zuverlässig und gültig sind die internationalen Kriterien zur
Klassifikation von Kopfschmerzen für das Kindes- und Jugendalter? Hat der behandelnde Arzt sich einmal entschieden, die Diagnose eines chronisch primären Kopfschmerzes zu vergeben, bleibt drittens immer noch unklar, was
beim altersbezogenen Management zu berücksichtigen ist.
Der in der vorliegenden Ausgabe des Deutschen Ärzteblattes publizierte Artikel von Straube et al. (2). liefert auf der
Grundlage einer Übersichtsarbeit teilweise Antworten auf
diese alltäglichen und praktisch relevanten Fragen.
K
Diagnostik und Diagnose
Universitätskinderspital beider Basel: Prof. Dr. med.
Dipl.-Psych. Weber
Kopfschmerzen gehören mit etwa 40–60 % zu den häufigsten Primärsymptomen sich im Kindesalter manifestierender intrakranieller Tumoren (3, 4), treten aber nur als
Rarität bei kindlichen Hirntumoren isoliert auf und sind in
der Regel in diesen Fällen mit Hirnnervenausfällen oder
anderen fokal-neurologischen Symptomen assoziiert.
Anhand von „red flags“ (akute Kopfschmerzanamnese,
kurzzeitig progredienter Verlauf bezüglich Stärke und/
oder Häufigkeit der Kopfschmerzen, Änderung des Kopfschmerz-Charakters, morgendliche Kopfschmerzen mit
Nüchternerbrechen, nächtliches Erwachen wegen Kopfschmerzen, zusätzliche fokal-neurologische Symptome
oder Zeichen der Wesensveränderung, Alter des Kindes
< 3 Jahre) lässt sich klinisch gut zwischen primären und
sekundären Kopfschmerzen im Kindesalter unterscheiden
(5). Schwieriger gestaltet sich dagegen oft die Einordnung
in eine Kategorie der primären Kopfschmerzen gemäß
Kriterien der International Headache Society. Auch in der
aktuellen Datenanalyse von Straube et al. (2) wird deutlich
herausgearbeitet, dass die Treffsicherheit der Diagnose-
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 48 | 29. November 2013
kriterien für kindliche Migräne und Spannungskopfschmerzen altersabhängig ist, was dazu geführt hat, dass
im klinischen Alltag oftmals andere, klinisch praktikablere
Diagnoseraster benutzt und propagiert (6) werden.
Chronische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
unterliegen in vielfacher Hinsicht einer Entwicklung. Mit
dieser reift auch die körperliche Selbstwahrnehmung des
Kindes und Jugendlichen. Sowohl positive Körpergefühle
als auch Schmerzen werden auf der Basis einer fortschreitenden körperlichen und psychischen Reifung altersabhängig wahrgenommen. Die Schmerzwahrnehmung ändert sich im Rahmen der bewussteren Körperwahrnehmung und kann sprachlich differenzierter repräsentiert
werden. Neben den neurobiologischen Aspekten der Reifung des sensorischen Schmerzsystems und den psychologischen Aspekten der Entwicklung der Schmerzwahrnehmung gilt es aber auch die familiären, sozialen und geänderten Umgebungsfaktoren zu erkennen, die sowohl zu
einer Zunahme der Prävalenz chronischer Kopfschmerzen vom Kindes- zum Jugendalter als auch zur geänderten Präsentation der klinischen Symptome der Migräne
(7) führen: Man findet neben einer altersspezifischen
Symptomatik auch altersabhängige prädisponierende
Risikofaktoren, die in einer dem Alter angemessenen
Sprache erfragt werden müssen. Bei jüngeren Kindern
helfen dabei unterstützend zum Teil auch nicht-sprachliche Methoden, wie die zeichnerische Darstellung der
Kopfschmerzen. Dieser doppelte Entwicklungsprozess –
Entwicklung im Bereich der normalen Reifung, wie auch
der klinischen Symptomatik – ist im diagnostischen Prozess zu berücksichtigen.
Die Diagnostik chronischer Kopfschmerzen verlangt
neben der fokussierten Erfassung der Schmerzaspekte
auch die Charakterisierung seiner psychosozialen Folgen,
die beispielsweise mit schmerzbedingten Schulabwesenheiten bei Kindern mit einer Migräne gravierend sind (8).
Die Kopfschmerzanamnese ist und bleibt banal, aber im
klinischen Alltag der Schlüssel zur Diagnose und die Basis der Interventionsentscheidung.
Multidimensionales Behandlungskonzept
Chronische Kopfschmerzen stellen im Kindes- und Jugendalter ein klassisches Beispiel einer Erkrankung dar,
für das kein eindimensionales, zum Beispiel rein pharmakologisches Behandlungskonzept ausreichend ist. Mit
der Herausarbeitung von Risikofaktoren unterstreichen
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Straube et al. (2) die Forderung nach einer multidimensionalen Sichtweise chronischer Kopfschmerzen, wie sie
in pädiatrischen Schmerzambulanzen Einzug gefunden
hat und im medizinischen Alltag bei der Betreuung dieser
Kinder und ihrer Familien immer berücksichtigt werden
sollte. Dabei belegt der Artikel einerseits oft gehörte Vermutungen über schmerzauslösende oder -verstärkende
Faktoren, wie zum Beispiel soziale Probleme in der Peergroup, hinterfragt aber auch andere Annahmen, wie beispielsweise die reduzierte Flüssigkeitsaufnahme als Ursache. Die Realisierung dieses Ansatzes in der Arztpraxis
bedarf der Schaffung zeitlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen, wie sie heute leider keineswegs überall
garantiert sind.
Behandlung und Prävention
Die Behandlung der chronischen Kopfschmerzen im
Schulalter beginnt mit einem Aufklärungsgespräch – nicht
mit dem Rezeptblock, auch wenn dies für viele betroffene
Familien und Ärzte als einfacherer Weg erscheint.
Die Identifikation von Risikofaktoren vermutlich weniger bei der Genese, als vielmehr bei der Auslösung und
Verstärkung von Kopfschmerzen bei Schulkindern ermöglicht zumindest sekundär präventive Maßnahmen.
Die Stärkung der Person des Kindes, die Unterstützung
bei der Entwicklung von Coping-Strategien, die Schulung
der sozialen Kompetenz von Mitschülern und Lehrern
zum Beispiel über sonderpädagogische Projekte zur Konfliktbewältigung im Schulalltag als systembezogene Intervention oder über die Information der Lehrpersonen über
die Erkrankungssituation des Schülers und den möglichen
Zusammenhang zu Faktoren des Schulalltages als individuelle Intervention erscheinen relevant, möglich und indiziert zur Reduktion psychosozialer Stressoren. Aber auch
die Sensibilität für innerfamiliäre Stressoren und die Überorganisation des kindlichen Alltags scheint angezeigt zu
sein: Die Frage nach der individuellen Reizüberflutung
und nach Erholungszeiten im kindlichen Alltag ist diagnostischer und therapeutischer Teil des ärztlichen Gesprächs.
Die Betonung von persönlichen Ressourcen und Stärkung von Coping-Kompetenzen hat eine nachgewiesene
Bedeutung für die Behandlung von chronischen
Schmerzen im Schulalter, dies gilt für Kopfschmerzen,
wie für andere Schmerzen (9). Die Frage, die wir uns
aber stellen lassen müssen, ist, ob wir auch über ausreichend Fachpersonen und Behandlungszentren verfügen,
die diese Maßnahmen kompetent und, wo erforderlich,
kontinuierlich anbieten können. Dabei gilt es auch von
ärztlicher und psychotherapeutischer Seite her neue
Möglichkeiten der Intervention zu kreieren, zu nutzen
und zu evaluieren, um die Betroffenen besser zu erreichen (10).
Im Sinne der tertiären Prävention ist eine solche fundierte multidimensionale Intervention notwendig. Der
„natürliche“ Verlauf der chronischen Kopfschmerzen im
Schulalter impliziert nämlich nicht nur ein erhöhtes Risiko für Kopfschmerzen im Erwachsenenalter (11), sondern auch für andere organische und psychiatrische
Symptome (12).
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Schlussfolgerung
Eine schmerzfreie Entwicklung ist eines der selbstverständlichsten Ziele, die wir den Kindern und Jugendlichen
unserer Gesellschaft ermöglichen sollten. Selbst im Fall
einer biologischen Prädisposition für chronische Kopfschmerzen können wir sekundär und tertiär präventiv tätig
sein. Der Artikel von Straube et al. hilft uns, hierfür patienten- wie systembezogen im ärztlichen Alltag therapeutische und sozialmedizinische Strategien zu entwickeln.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
LITERATUR
1. Dooley JM, Gordon KE, Wood EP, CamfieldCS, Camfield PR: The utility of the physical examination and investigations in the pediatricneurology Consultation. Pediatric Neurology 2005; 28: 96–9.
2. Straube A, Heinen F, Ebinger F, von Kries R: Headache in
school children: prevalence and risk factors. Dtsch Arztebl Int 2013;
110(48): 811–18.
3. Wilne SH, Ferris RC, Nathwani A, Kennedy CR: The presenting features of brain tumours: a review of 200 cases. Arch Disease Child
2006; 91: 502–6.
4. Reulecke BC, Erker CG, Fiedler BJ, Niederstadt TU, Kurlemann G:
Brain tumors in children: initial symptoms and their influence on the
time span between symptom onset and diagnosis. J Child Neurol
2008; 23: 178–83.
5. Parisi P, Papetti L, Spalice A, Nicita F, Ursitti F, Villa MP: Tension-type
headache in pediatric age. Acta Paediatrica 2011; 100: 491–5.
6. Jacobs H, Gladstein J: Pediatric headache: a clinical review. Headache 2012; 52: 333–9.
7. Guidett V, Galli F, Termine C: Headache in children. Handb Clin Neurol 2010; 97: 739–54.
8. Hershey AD, Powers SW, Vockell ALB, LeCates S, Kabbouche MA,
Maynard MK: Development of a questionnaire to assess disability of
migraines in children. Neurology 2001; 57: 2034–9.
9. Eccleston C, Palermo TM, Williams ACDC, et al.: Psychological
therapies for the management of chronic and recurrent pain in
children and adolescents. Cochrane Database Sys Rev 2012; 12:
CD003968.
10. Trautmann E, Kröner-Herwig B: A randomized controlled trial of Internet-based self-help training for recurrent headache in childhood
and adolescence. Behaviour Research Therapy 2010; 48: 28–37.
11. Brna P, Dooley J, Gordon K, Dewan T: The prognosis of childhood
headache. Arch Pediatr Adolesc Med 2005; 159: 1157–60.
12. Fearon P, Hotopf M: Relation between headache in childhood and
physical and psychiatric symptoms in adulthood: national birth cohort study. BMJ 2001; 322: 1–6.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Weber
Universitätskinderspital beider Basel
Spitalstraße 33, 4056 Basel, Schweiz
E-Mail: Peter [email protected]
Headache in Childhood and Adolescence—A Challenge in Acute
Medicine and Public Health.
Zitierweise
Weber P: Headache in childhood and adolescence—a challenge in
acute medicine and public health. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(48): 809–10.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0809
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The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 110 | Heft 48 | 29. November 2013
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