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ACADEMIE INTERNATIONALE
D'HISTOIRE DES SCIENCES
INTERNATIONAL ACADEMY OF
THE HISTORY OF SCIENCE
ARCHIVES
INTERNATIONALES
DHISTOIRE
DES SCIENCES
INTERNATIONAL
ARCHIVEOF
THE HISTORY
OFSCIENCE
Val
62 .
N°
BR.EPOLS
168
Juin/june 2012
I-ARTICLES
WANN WAR DAS MITTELALTER FINSTER?
MIT CASSIODOR NACH TOLEDO
Emmanuel Poulle in memoriam
UTA LINDGREN·
Nach der Reconquista Toledos 1, durch König Alfons VI. im Jahr 1085 begannen die Übersetzungen medizinischer, philosophischer, mathematischer
und
naturwissenschaftlicher
Werke ins Lateinische und in lebende westliche Sprachen. Im Folgenden sollen speziell die Astronomie als Leitwissenschaft und die
mit ihr bereits seit der Antike eng verbundene Mathematik interessieren. Voran
standen die Werke griechischer und hellenistischer Autoren, dazu wurden genuin
arabische Texte übersetzt. Die meisten Übersetzungen, vor allem aus dem Arabischen, wohin sie unter den Kalifen von Bagdad übertragen worden waren,
geschahen in Spanien/. Für die Entwicklung der Naturwissenschaften
im lateinisch sprechenden Europa war diese Übersetzertätigkeit
von entscheidende~
Bedeutung.
Die Elemente von Euklid wurden mehrfach übersetzt und die Übersetzungen
revidiert. Die erste Übersetzung der Elemente mit Beweisen lag um 1120 fertig
vor. Das astronomische Handbuch (Syntaxis, bei den Arabern Almagest) von Ptolemaeus wurde 1160 aus dem Griechischen und 1175 aus dem Arabischen übersetzt", Adelard von Bath (*um 1070 + nach 1146), von dem u.a. eine Euklidüber-
1. Die ehemalige Hauptstadt
Teilkönigreichs.
des Westgotenreiches
war seit 1031 Hauptstadt
eines muslimischen
2. Aber auch in Süditalien und Sizilien (1091 von Robert Guiscart erobert) wurden Übersetzungen angefertigt, dort vor allem von griechischen Originalen.
3. Menso Folkerts, Arabische Mathematik im Abendland unter besonderer Berücksichtigung der
in: O. Engels, P. Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten, Sigmaringen 1993, 319 : .. Aus der Sicht des Wissenschaftshistorikers
kann man diese Übersetzertätigkeit
als wichtigstes Ereignis des westlichen Mittelalters bezeichnen ",
Euklid-Tradition,
4. Letzere Übersetzung, die von einem der größten Übersetzer überhaupt, von Gerhard von Cremona stammt, setzte sich in den folgenden Jahrhunderten durch. Vgl, Pierluigi Pizzamiglio, Vita e
opere di Gerardo da Cremona secondo un antico memoriale, in : Annali della Biblioteca Statale e
Libreria Civica di Cremona, XLI, 1990,3-7. - Paul Kunitzsch, Gerhard von Cremona und seine Übersetzung des .. Almagest .., in : (wie Anm. 3) 333-340.
•
Universität Bayreuth
Wissenschaftsgeschichte
Agricolastr. 43a
80686 München
Deutschland
DOl 1O.l484/J.ARIHS.1.102975
Uta Lindgren
4
setzung'' stammt, gehörte zu den ersten Übersetzern. Der tabellarische Überblick
von Crombie über die Geschichte der Übersetzungstätigkeit
gibt noch immer
einen guten Einblick6• Heute sind die Übersetzungen allgemein als großartige
Leistung anerkannt.
Man übersieht dabei leicht, daß noch ganz andere Leistungen im Spiel gewesen sein müssen, über die man staunen sollte. Man hat immer die Fremdheit der
arabischen Sprache in den Vordergrund gestellt. Ein Problem lag aber doch ebensosehr beim Lateinischen (und den modernen Sprachen), denn was zu Übersetzen
war, kannten die Gelehrten ja noch gar nicht. Wie waren die Übersetzer intellektuell in der Lage, die gigantischen Aufgaben/ zu lösen? Und woher wußten
Adelard und die anderen überhaupt, was Aristoteles, Euklid, Ptolemaeus bedeuteten, hatten sie doch kaum mehr als deren Namen gehört? Schließlich waren die
vorhergehenden Jahrhunderte die finstersten des ohnehin insgesamt dunklen Mittelalters. Kulturelle Einrichtungen und Bildungsstrukturen
des Römischen Reiches waren zusammen mit dem Staatswesen untergegangen. Die Sieger hatten
dem nichts entgegenzusetzen und waren auf unserm Gebiet auch nicht interessiert, das griechisch-hellenistische
Erbe anzutreten. Das Kulturgut der Antike
wurde allein in einigen Klöstern bewahrt, worin nicht deren zentrale Aufgabe
bestand. Die Tradierung geometrischer, arithmetischer und astronomischer Bildung entwickelte sich unterschiedlich.
Die gebildeten Römer hatten noch Griechisch verstanden, Übersetzungen
waren für sie nicht notwendig gewesen. Erst Boethius, der unter dem Westgotenkönig Theoderich bis in höchste politische Ämter aufstieg, begann damit, die
wichtigsten Werke der Arithmetik und Musik zu übersetzten, war bei der Geometrie aber im 5. Buch stecken geblieben, und den Plan, die Astronomie von Ptolemaeus (wohl den Almagest) zu übersetzen, verhinderte seine Hinrichtung im Jahr
524. Lateinische Werke diesen Ranges gab es nicht. In der großen Enzyklopädie
(Naturalis historia) des PIin ius spielt das Quadrivium eine geringe Rolle. Die
mehr als sieben Jahrhunderte, die seit der Völkerwanderung und der darauf folgenden Zerstörung des Imperium Romanum bis zur Eroberung von Toledo vergingen, haben außerdem einige lateinische Kompendien hervorgebracht.
Sie
5. Jose Maria Milläs Vallicrosa, Las primeras Iraducciones cientijicas de origen oriental hasta
mediados dei sif.lo XII, 108, in : Nuevos Estudios sobre Historia de la ciencia Espaäola, Hg. von Juan
Vemet, Bd.
n,
Barcelona
1960, 2Madrid
1987, 79-115.
6. Alistair C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft,
Köln 1959, 2München 1977, 39-44. Seitdem wurden die Kenntnisse erweitert, z.T. auch modifiziert,
wie den Editionen resp. den dazugehörigen
Einleitungen zu entnehmen ist, z.B. den vorbildlichen
Euklid-Editionen von H.L.L. Busard, vgl, Folkerts, Arabische Mathematik (wie Anm. 3) 326.
I
7. Daß die Tätigkeit Adelards gleichwohl höchst komplex gewesen sein muß, weisen R. Lorch
auf der Suche nach dem arabischen Ausgangstext, H.L.L. Busard und M. Folkerts anhand des mathematischen Gehalts der Euklidübersetzungen
nach. - Richard Lorch, Some Remarks on the ArabicLatin Euclid, in: C. Bumett (Hg.), Adelard of Bath. An English Scientist and Arabist of the Early
Twelfth Century, London 1987,45-54,
-Menso
Folkerts, Adelard's Versions of Euclid s Elements,
ibidem 55-68. - H.L.L. Busard, The First Latin Translation of Euclid's Elements Commonly Ascribed
to Adelard of Bath, Toronto 1983., r, Grundlegend war zunächst: Marshall Clagett, The Medieval
Latin Translations from the Arabic of the Elements of Euclid, with Special Emphasis on the Versions
of Adelard of Bath, in : Isis 44, 1953. 16-42.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
wurden
im Unterricht
drinischen
Die Artes
liberales
Teilbereichen
überlebten
zu Ciceros
Hochzeitsfeier
Geometrie
benutzt,
aber im Vergleich
und Arithmetik
Agrimensoren
- neben
einigen
Werken:
bekannt
ihn übersetzt
als unzulänglich.
Übersetzer
Traktat
(alias
waren
von
Origines)
zusätzlich
11. Diese
ist, nicht einmal,
Martianus
von Isidor
durch
Capella
von Sevilla
Texte
Schriften
bilden
die Bildung,
zum Start antraten.
in den Westen
(Ghobar
Zahlen)13
Grundlagen
waren
der Antike
erhalten
und Astronomie
gewesen,
gelangt,
Jahrhun-
(vor 630)10.
von Boethius
und von
nur eine bescheidene
die er in seiner Jugend
Vor 1085 war nur wenig
(5.
Quaestiones
gefunden'f
wo er den Euklidtext
Und doch ist dies die Plattform
turraum
zu
Sommnium Scipionis (um 400)8, dem in eine allegori-
vertreten
hat - empfand
Schriften
dem " Kommentar"
Wissens- und Bildungsgrundlage.
Auch Adelard von Bath - über den, trotz der autobiographischen
fast nichts
zur alexan-
gering.
im Wesentlichen
eingebetteten
dert)9 und den Etymologien
einigen
liberales
war ihr Niveau
der Artes - in drei weitverbreiteten
des Macrobius
sehe
der Artes
Gelehrsamkeit
5
und wo er
empfangen
hatte,
von der aus die ersten
aus dem arabischen
Kul-
z.B. das Astrolab, die indisch-arabischen
Ziffern
Gerbertsl4
Abacus. Die Schriften
der antiken
und mit ihnen
den frühmittelalterlichen
gebliebene
Mönchen
Bildungsgrundlage
völlig
unbekannt.
war in Geometrie,
Die aus
Arithmetik
sehr verschieden.
8. Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio, übersetzt etc. von W.H. Stahl, New York
1952.
9. Martianus Capella, Liber de nuptiis Mercurii et Philologiae, hg. von A. Dick, Stuttgart 1978.
10. Isidori Hispalensis Episcopi etymologiarum sive originum libri XX, hg. von W.M. Lindsay,
Oxford 1957.
11. Das gesamte, verfügbare mathematische Wissen war umfangreicher, wie vor allem im Bereich
der Geometrie von M. Folkerts erforscht wurde: Menso Folkerts, .. Boethius" Geometrie 11, Wiesbaden 1970. - Ders., The Development of Mathematics in Medieval Europe, 2 Bände mit Aufsätzen,
Aldershot 2003 und 2006.
12. Charles Burnett, Adelard of Bath and the Arabs, in : C. Burnett, Arabic into Latin in the Middle Ages, Aldershot 2009,llI, 89-107. - Ders. (hg. u. übers.), Adelard of Bath, Conversations with his
Nephew, Cambridge 1998, XI-XIX. - Martin Müller (Hg.), Adelardus Bathensis, Die Quaestiones
naturales, Münster 1934, über seine Familie 71, Reisestationen Syrakus, Salerno, Tarsus, Jerusalem
74, seine Reise zwischen 1104 und 1111 77, kein Hinweis auf Aufenthalt in einem arabischen Land
75. Müller stützt sich aufHans Willner, Des Adelard von Bath Traktat De eodem et diverso, München
1906.
13. Folkerts, .. Boethius " (wie Anm. 11) hat eine Tabelle mit faksimilierten Ziffern als Tafel 1.
- Ders., Die älteste lateinische Schrift über das indische Rechnen nach al-Hwarizmi, (=Bayerische
Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Abhandlungen NF H. 13) München
1997. - Ders., Frühe westliche Benennungen der indisch-arabischen Ziffern und ihr Vorkommen, in :
Sic itur ad astra, Festschrift für Paul Kunitzsch, hg. v. M. Folkerts, R. Lorch, Wiesbaden 2000, 216233. - Ders., The Names and Forms of the Numerals on the Abacus in the Gerbert Tradition, in:
F. Nuvolone (Hg.), Gerberto d'Aurillac da Abbate di Bobbio a Papa dell'Anno 1000, (Archivum
Bobiense, Studia IV) Bobbio 2001, 245-265.
14. Zu Gerbert neuerlich die bemerkenswerte Doktorthese von Marta Materni, überarbeitete
Fassung: Attivita scientifiche di Gerberto d'Aurillac, in : Archivum Bobiense XXIX, 2007, 225-317.
6
Uta Lindgren
Geometrie
Zu den ersten großen Übersetzungen nach der Eroberung Toledos gehörten
um 1120 die Elemente von Euklid einschließlich der Beweise. Ihnen hat man von
Anfang an fundamentale Bedeutung zugemessen. Warum eigentlich?
Da der alttestamentliche
Schöpfergott die Welt nach "Maß, Zahl und
Gewicht" (Sapienta Salomonis 11,21) geordnet hatte, spielte die Geometrie in
der christlichen Gelehrsamkeit eine zentrale Rolle. Cassiodor wies um 560 die
Kundgebungen der Marktschreier, daß Jovis in seinen Werken selbst" geometrisiere" (lovem geometrizare testantur)IS als Lüge zurück; vielmehr sei diese Aussage für den wahren Schöpfer und den allmächtigen Herrn angemessen, denn in
Wirklichkeit betrieb die heilige Dreieinigkeit Geometrie (geometrizat), als sie
ihrer Schöpfung die heutigen Formen gab!". Seit dem 13. Jahrhundert wurde der
Deus creator (resp. manchmal auch ein Christus creator) bildlich mit den Attributen der Geometrie, Zirkel und rechtem Winkel, dargestellt, mit denen Gott sich
über die Erde oder sogar das ganze Universum beugt. Dies mag man als weit weg
von der Welt des Alltags empfinden. Aber Cassiodor hatte damit nur pytagoreeisches Gedankengut aufgegriffen und den (christlichen) Umständen angepaßt. Das
blieb nicht die Sicht eines Einzelnen. Hrabanus Maurus, der praeceptor Germaniae17, wies in seinem Institutiones ... um 850 nicht nur auf die fundamentale
Bedeutung der Geometrie hin, indem er Cassiodors Text wörtlich übernahm, sondern dies auch durch den eigenen Zusatz ergänzte, daß die Geometrie für die Baukunstl8 notwendig sei. In der Tat sahen die Pilger und andere Reisende an den
Wegen nach Rom und Jerusalem Bauwerke und Ruinen von Dimensionen, die in
den keltischen und germanischen Reichen des frühen Mittelalters unvorstellbar
waren. Als schiere Wunder müssen ihnen auch die muslimischen Moscheen
erschienen sein, die in jüngerer Zeit errichtet worden waren. Hrabanus Maurus
greift mit seinem Zusatz zur Geometrie haec igitur disciplina in tabernaculi templique aedificatione servata est nicht nur auf antikes Gedankengut zurück, sondern verankert die Geometrie im Aufgabenbereich der Kleriker.
IS. Cassiodori senatoris institutiones,
hg. von Roger A.B. Mynors, Oxford 1937, 150.
16. Das ganze Zitat lautet: Nunc ad Geometriam veniamus, quae est descriptio contemplativa
formarum, documentum etiam visibile philosophorum ; quod ut praeconiis efferant, lovem suum in
operibus propriis geometrizare testantun quod nescio utrum laudibus an vituperationibus applicetur;
quando quod iIlipingunt in pulvere colorato, lovem facere mentiuntur in caelo. quod si vero Creatori
et omnipotenti Domino salubriler app/icetur, potest haec sententia forsitan convivere veritati
- geometrizat enim, si fas est dicere, sancta Trini~as,q~c:nd?cr:eaturis~uis quas hodieque fecit existere, diversas speciesjormulasque concedit, Cassiodori msutunones (wie vor) 150.
17. Dietrich Tümau, Rabanus Maurus, praeceptor Germaniae. Ein Beitrag zur Geschichte der
Pädagogik des Mittelalters, München 1900, Beschäftigung mit Geometrie 31. - Hrabanus Maurus, De
institutione c/ericorum: libri tres, ed. Detlev Zimpel, Frankfurt/M. 1996,480.
18. Ibidem 480: Haec igitur discip/ina in tabernacu/i temp/ique aedificatione servata est. - Von
Cassiodors Institutiones wies Bisehoff nach, daß seit Ende des 8. Jahrhunderts häufig nur Buch 11,d.h.
die Artes, abgeschrieben wurden. Bemhard Bisehoff. Die Bibliothek im Dienste der Schule, in:
Mittelalterliche Studien, Bd. Ill, Stuttgart 1981, 213-233, besonders 225. - Raymund Kottje, Harald
Zimmermann (Hg.), Hrabanus Maurus. Lehrer, Abt und Bischof, Wiesbaden 1982.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
7
In dem antiken Handbuch der Baukunst von Vitruv konnte man schon den
Ratschlag lesen, in der Ausbildung''f unbedingt Geometrie zu lernen. Das war im
9. Jahrhundert präsent. Vitruvs De architectura libri X, geschrieben zwischen 33
und 22 vor Chr., war seit Plinius nicht nur in zahlreichen Zitaten und Auszügen
verbreitet worden, sondern aus dem 8. bis 11. Jahrhundert sind 19 Handschriften
noch erhalterr'". Außerdem weisen drei Bibliothekskataloge von Reichenau und
einer von Murbach+' das Werk im 9. Jahrhundert nach, sowie im 11. Jahrhundert
einer von Gorze. In welchem Kontext die Architektur in Reichenau gesehen
wurde, verrät der gesamte Inhalt des Sammelbandes, der neben 10 Büchern
Architektur - also vollständig - auch die Institutiones von Cassiodor und ein
Geometriebuch verschiedener Autoren sowie Astrologie von Hyginus enthielt22•
Vitruv hat seinerseits die Empfehlung geometrischer Ausbildung nicht konkretisiert. Was konnte er gemeint haben?
Die Enzyklopädien von Macrobius, Martianus Capella und Isidor von Sevilla
enthielten wenig Geometrie, aber die Jahrhunderte des frühen Mittelalters hatten
noch andere, bessere geometrische Ressourcen. In den Agrimensorenschriften='
und vor allem in dem, was sich als Geometria practica herauskristallisierte,
konnte man rudimentäre geometrische Unterweisung finden. Nach Ausweis der
verwendeten Terminologie/" fand diese auch Eingang in die Architektur. Die Tradition der Abschriften belegt sogar ihre Benutzung+' bis in die frühe Neuzeit. Das
war für die Baukunst und für die Handwerke, wie Hugo von St. Victor sie begriff,
ausreichend. Fraglich ist allerdings, ob das auch als Inspiration für die von Suger
konzipierte lichtdurchflutete Gotik diente (Chorweihe in Saint Denis 1144) oder
für die Sainte Chapelle in Paris (1248).
Denn diejenige Geometrie, die aus den Elementen zu lernen war, erschöpfte
sich keineswegs im handwerklichen Nutzen. Das Erstaunen über antike und muslimische Bauwerke kann durchaus wie eine Initialzündung gewirkt haben. Darüber hinaus erfaßt die theoretische Geometrie die gesamte Welt und dient zu
19. Vitruv zehn Bücher über Architektur, übers. v. C. Fensterbusch, Darmstadt 1981, Buch 1,1,4,
S.24.
20. Stefan Schuler, Vitruv im Mittelalter. Die Rezeption von De architectura von der Antike bis
in die frühe Neuzeit, Köln 1999, 341-357.
21. Schuler (wie vor) 114-116.
22. Item liber Vitruvii magistri de architectura comprehensa X libris. Item liber; in quo continentur institutionum divinarum et saecularium literarum Cassiodori Senatoris libri duo. Item liber geometricae artis de compluribus auctoribus confectus etliber astrologiae Hygini mirifice commendatus
ad Fabium suum dilectum zitiert nach Schuler (wie vor) liS.
23. Über die Autoren der mathematischen Schriften Vgl. M. Folkerts, Mathematische Probleme
im Corpus agrimensorum, in: O. Behrends, L. Capogrossi Colognesi (Hg.), Die römische Feldmeßkunst. Interdisziplinäre
Beiträge zu ihrer Bedeutung für die Zivilisationsgeschichte
Roms
(=Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philologisch-historische
Klasse, 3.
Folge, 193), Göttingen 1992,314-326.
24. Uta Lindgren, Forma et figura. Mathematische Lehrbücher der mittelalterlichen Architekten
und Ingenieure, in : Archives Internationales d'Histoire des Sciences Bd. 58, Nr. 160-161,2008,89-98.
25. M. Folkerts, Boethius (wie Anm. 11), 3-45. - Uta Lindgren, Representant d'un äge obscur ou
a I'aube d'un essor? Gerbert et les arts liberaux, in: F. Nuvolone (Hg.), Gerberto d'Aurillac da
Abbate di Bobbio a Papa dell'Anno 1000 (=Archivum Bobiense, Studia IV), Bobbio 2001, 107-125,
besonders 118-123.
8
Uta Lindgren
ihrem Verständnis26• Die prächtigen Bauwerke sind ihrerseits nur kleine Abbilder
der Formen und Wunder des so viel größeren Universum: Die Ordnung des Universum ist Geometrie27• Die Ordnung zu erkennen ist eine Weise, den Schöpfer
zu preisen und zu verherrlichen. Die Schöpfung zu ordnen resp. ihre Ordnung zu
erkennen leistet die Geometrie. Um der, in ihrem Glauben verankerten Aufgabe28
besser als bisher gerecht zu werden, suchten die gelehrten Mönche um 1100 nach
Euklids Elementen als der Einführung in die Grundlagen der Geometrie. So entstanden in den Jahren zwischen 1114 und 1141 mehrere verschiedene Euklidausgaben29• Thierry von Chartres (c. I lOO-c. I ISS/56), den sein Schüler Clarembald
von Arras als führenden Philosophen Europas bezeichnete, schrieb selbst die
Übersetzung ab30, die ihm Robert von Chester überlassen hatte, um sie in sein
Eptateuchon aufzunehmen. Die Achtung vor dem Originaltext von Euklid konnte
wohl schwerlich einen prägnanteren Ausdruck finden.
Arithmetik
Auch an die Arithmetik denkt der alttestamentliche Satz, wonach der Schöpfer
die Welt nach" Maß, Zahl und Gewicht" geordnet hat, selbst wenn die Bedeutung der Arithmetik in den Schriften von Cassiodor und Hrabanus Maurus nicht
ganz so stark herausgehoben wird, wie die der Geometrie. Jupiter resp. der biblische Schöpfergott wird für die Arithmetik kein zweites Mal persönlich bemüht31.
Immerhin preist Augustinus die Omnipräsenz der Zahlen mit ungewöhnlichem
Nachdruck+,
Noch ungewöhnlicher ist das von ihm gewählte Beispiel, die
Berufswelt der Handwerker (artifices homines), an dem er das Wirken der Zahlen
ausführt. Sowohl die Bewegungen der Körper und der Werkzeuge, als auch die
entstehenden Gegenstände werden nämlich von Zahlen geprägt. Und was der
Gipfel ist: durch die Zahlen entsteht Schönheit33 (pulchritudo) ! Von dem Rhe-
26. Cassiodor (wie Anm. IS) VI,I, 151 und VI,3, 152.
27. Ibidem Il.l l, 150: bene disponitur.
28. Adelard, Quaestiones: Deo non detraho. Quidquid enim est, ab ipso et per ispum est. Id
ipsum tarnen confuse et absque discretione non est. Quae quantum scientia humana procredit audio
enda es/ ; in quo vero universaliter deficit, ad Deum res referenda est. Nos itaque quoniam nondum
insei/ia paIlemus, ad ralionem redeamus. Edition von Bumett (wie Anm. 12) 96f. - Vgl, Margaret
Gibson, Adelard of Bath, in : Bumett (Hg.), Adelard (wie Anm. 7) 7-16.
29. Folkerts, Arabische Mathematik (wie Anm. 3), 326.
30. Die Version" sogen. Adelard n ", angefertigt von Robert von Chester s. Menso Folkerts, Arabische Mathematik (wie Anm. 3), 328. - Robert of Chester's (?) Redac/ion of Euclid's Elements, the
so-called Adelord 11 Version, hg. V. H.L.L. Busard, M. Folkerts, Basel 1992, Bd.I, 39.
31. Cassiodor (wie Anm. 15) IV, 132-142. - Hrabanus Maurus, De institutione, ed. Zimpel (wie
Anm. 17), Buch 22, 475-478.
32. Seine Äußerung über formae und numeri in De libro arbitrio, hg. von Wilhelm Me Allen Green
(=CESL Bd. 77), Wien 1956, 164-166, ist geradezu ein hymnisches Lob auf die Rolle der Zahlen.
33. Ibid. Formas haben/ quia numeros haben/ ; adime illis haec, nihil erunt .... Et omnium quidem
formarum corporearum artifices homines in arte haben/ numeros quibus coap/ant opera sua, et tamdiu
manus a/que instrumenta in fabricando movent. donee i/lud quod [ormatur foris ad earn quae intus est
lucem numerorum relatum, quantum polest, impetret absolutionem placeatque per interpretem sensum
inferno iudici supemos numeros intuenti. Quaere deinde artificis ipsius membra quis moveat : numerus erit, nom moventur etiam ilia numerose. '" inspice iam pu/chrifudinem formati corporis: numeri
/enentur in loco; inspice pulchritudinem mobililalis in corpore: numeri versan/ur in tempore.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
9
torberuf des Augustinus ist dieses Beispiel weit entfernt, zumal die Handwerke
vermutlich erst in den großen Klöstern des Frühmittelalters eine merkliche Wertschätzung erfuhren. Dann allerdings kann die von Augustin inspirierte Motivation
für Zahlen sich sehr wohl ausgewirkt haben, z.B. auf die Entwicklung der Wassermühlen, der ersten Maschinen, bei denen die Kraftübertragung ausschließlich
durch Zahnräder erfolgte''",
Freilich war die Lage der Arithmetik schon seit der Spätantike etwas einfacher, vor allem im Schulunterricht. Die lateinische Tradition konnte die griechische durch die Übersetzung von Boethius unmittelbar fortsetzen. Eine nicht zu
verachtende Erleichterung brachte das Vordringen der Ghobarziffern im 10. Jahrhundert über Spanien35• Die ersten Anweisungen über das neue Rechnen mit diesen Ziffern wurden Anfang des 12. Jahrhunderts übersetzt und gehören damit zu
den frühesten Übersetzungen eines arabischen Werkes ins Lateinische. Die Ghobar-Ziffern, die in der indisch-arabischen Tradition standen, lösten - wenn-gleich
nicht schlagartig - die römischen, deutlich umständlicheren Zahlen ab, auch wenn
die Art der Zahlzeichen auf dem Abakus weniger Gewicht besaß. Eine Bearbeitung von al-Hwärizmls Schrift über das indische Rechnen36 gehörte neben
Euklids Elementen zu den ersten Übersetzungen überhaupt. Verdrängt hat diese
Schrift die alte Arithmetik nur allmählich. Ebensowenig wie die neuen Zahlen
sich schlagartig durchsetzten, wurde die Arithmetik des Boethius in den folgenden Jahrhunderten obsolet.
Ein gewisses, oft mit Astrologie verbundenes Interesse konnte die Zahlenmystik auf sich ziehen. Aber diese entfernte sich eher von der eigentlichen Arithmetik, als daß sie ihr Überleben förderte. Daran änderten auch christliche Bezüge
nichts. Zu erwähnen ist hier ein irischer Autor, der sich des Pseudonyms Isidor
bediente, und zwischen 750 und 775 einen Liber de numeris37 verfaßte, in dem
er lauter biblische Belege für die Zahlenbedeutung verwendete. Das liegt zeitlich
wenige Jahrzehnte nach Bedas Werken zur Computistik. Hrabanus Maurus verteidigt diese Art von Arithmetik, da die " mystischen Zahlen" das Verständnis der
Heiligen Schrift erleichtern sollen38•
Eine positivere Rolle fiel da schon den Aufgabensammlungen zu. Sie kamen
einem weit verbreiteten Bedürfnis entgegen, Zahlen auch spielerisch zu verwenden und dadurch den Sinn für Größenverhältnisse zu schärfen. Die Propositiones
34. Im Domesdaybook (1086) ist bei jedem auch kleineren, Kloster eine Wassermühle inventarisiert, insgesamt fast 6000 Mühlen. Vgl. Lexikon des Mittelalters s.v... Mühlen ",
35. Folkerts (wie Anm. 11).
36. Folkerts, Die älteste lateinische Schrift (wie Anm. 13).
37. R.E. McNally, Der irische Liber de numeris. Eine Quellenanalyse des pseudo-isidorischen
Liber de numeris, München 1957. -Claudio Leonardi, Intorno al Liber de numeris di Isidoro di Siviglia, in: Bulletino dell'lstituto storieo italiano, Rom, Band 68 (1956), 203-231, stellt Verwandtschaft
mit Martianus Capella, de nuptiis fest. - Marina Smyth, The Irish Liber de numeris, in : Thomas
O'Loughlin (Hg.), The Scriptures and Early Medieval Ireland, Tumhout 1999,291-297, stellt in der
2. Hälfte des 8. Jahrhunderts zunehmendes Interesse von irischen Gelehrten für Zahlen im täglichen
Leben fest.
38. ZimpeI (wie Anm. 17) 479.
10
Uta Lindgren
ad acuendos juvines (Alkuin zugeschriebenr''' haben einerseits in der Kindererziehung eine Rolle gespielt. Sie gehörten andererseits zur Unterhaltungsmathematik40 am Karolinger Hof.
Zahlen erlauben, sich Größenvorstellungen'l'
zu machen, aber dazu muß der
Umgang mit Zahlen eine Selbstverständlichkeit
sein. Das mußte geübt werden.
Um 1030 haben sich Mönche die Rithmornachie'F, das Zahlenkampfspiel, ausgedacht. Die ältesten Zeugnisse stammen vom Oberrhein und aus Mainfranken. Die
Rithmochmachie kann weder mit Gerbert von Aurillac (vor 945-1003) noch mit
Hermann von Reichenau (1013-1054) in Verbindung gebracht werden. Hier wurden keine kniffligen Aufgaben gelöst, wie in der Unterhaltungsmathematik.
Während der Vorrat solcher Aufgaben begrenzt war, dauerten die Partien der
Rithmomachie, zu denen sich zuweilen größere Parteien zusammenfanden, Stunden, Tage und länger. Wenn man die Regeln nicht veränderte, kam man überhaupt
nicht zu einem Ende. Das Spiel benötigt ein schwarz-weiß kariertes Brett, etwas
größer als ein Schachbrett und zerlegbare Spielsteine. Die Steine werden auf dem
Brett bewegt und nach arithmetischen Regeln auf- resp. abgebaut. Für diese
Regeln gab es zwar Tabellen, aber tunliehst hatte man sie im Kopf. Beim Schachspiel, das innerhalb weniger Jahrzehnte im 7. Jahrhundert aus Indien über Persien
nach Rußland und Zentraleuropa gelangt war, sind die ihm zugrundeliegenden
mathematischen Prinzipien nicht so evident43• Die Rithmomachie war bis in die
frühe Neuzeit ein beliebtes Spiel. Rechnen wurde populär, geradezu ein Volkssport !
Astronomie
Sehr viel komplexer waren die Verhältnisse bei der Astronomie, der Leitwissenschaft bis ins 18. Jahrhundert, in der sich die Wissenschaft von den Größen
(Arithmetik), die Wissenschaft von der Ausdehnung (Geometrie), die Wissenschaft von den Proportionen (Musik, Harmonielehre) mit der Bewegung vereinigten44• Die große Herausforderung der Astronomie war schon in vorgriechischer
39. Menso Folkerts, Die älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache. Die
Alkuin zugeschriebenen Propositiones ad acuendos iuvenes (=Österreichische Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse. Denkschrift 116. Bd., 6. Wien 1978.
40. Menso Folkerts, Unterhaltungsmathematik,
in : M. Folkerts, E. Knobloch, K. Reich (Hg.),
Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis und Weltbeherrschung, Wiesbaden 22001, 347-356.
41. Hrabanus Maurus, Institutiones, ed. Zimpel (wie Anm. 17) 475 1. Satz.
42. Arno Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, Heidelberg 1986. - Menso Folkerts, Rithmimachie, in: (wie Anm. 40) 333-346. Über den Zusammenhang von Rithmomachie und Arithmetik:
Menso Folkerts, La rithmomachie et le manuscrit Avranches 235, in : L. Callebat, O. Desbordes (Hg.),
Science antique, Science rnedievale (Autour d'Avranches 235), Hildesheim, Zürich, New York 2000,
347-356.
43. H. Petschar, in : Lexikon des Mittelalters s. v. "Schachspiel ".
44. Cassiodor (wie Anm. 15) Il, 21, 131.
Wann war das Mittelalter
finster?
Mit Cassiodor nach Toledo
11
Zeit erkannt worden: die scheinbare Unregelmäßigkeit'P
der Planetenbewegung,
deren Gesetzmäßigkeit in mathematischer Hinsicht erst von Kepler, in physikalischer Hinsicht sogar erst von Newton46 gefunden wurden. Aber man hatte - in
begrenztem Rahmen - Planetentafeln (Ephemeriden) berechnet. Ptolemaeus (fl.
um 100 n.Chr.) hatte sich im Almagest als Letzter der Herausforderung gestellt.
Seit der Spätantike siechte die Astronomie dahin. In Antike und altem Orient war
sie aufs engste mit Astrologie verbunden, die auf ihrer höchsten Stufe im Stellen
von Horoskopen'i/ gipfelte. Diese Verbindung zerriß wohl mehr wegen der
Schwierigkeit der Materie, die in der Spätantike mit schwindender Professionalität niemand mehr beherrschte, als wegen der Verbote seitens des sich ausbreitenden Christentum.
Ein wichtiges Hilfsmittel, das Astronomen den Sterndeutern zur Verfügung
stellten, waren die Ephemeriden der beweglichen Himmelskörper Sonne, Mond
und Planeten. Solche Sterntafeln waren in der Spätantike nicht mehr fortgeführt
worden. Erst als um 1070 die von az-Zarqälluh (+ 1081) berechneten" toledanisehen Tafeln ,.48 in die Hände der Eroberer Toledos bzw. deren gelehrtem Gefolge
gerieten, konnte man die Sterndeutung aufnehmen. Nach Einschätzung von Eastwood49 und Johannes Fried wurden astrologische Praktiken im 11. Jahrhundert50
geübt, nach Meinung von Jacob Burckhardr'! erst im 13. Jahrhundert:
"Die
Astrologie tritt mit dem 13. Jahrhundert plötzlich sehr mächtig in den Vordergund
des italienischen Lebens. Kaiser Friedrich 11. führt seinen Astrologen Theodorus
mit sich ... Seitdem scheut sich niemand mehr, die Sterne befragen zu lassen ".
Zinner52 schrieb 1931 : " Die Horoskope kamen erst mit dem anderen Wissen des
Altertums im 11. und 12. Jahrhundert zur Kenntnis der Germanen. Bis dahin hatten sich ihre stemdeutenden Kenntnisse auf die Auslegung des Jahres oder des
Mondalters als günstig ... beschränkt". John North kennt als frühestes datiertes
Horoskop+' eine normannisches vom 2. August 1123.
45. Hertha von Dechend, Giorgio de Santillana, Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos
und das Gerüst der Zeit, Deutsche Übersetzung, Berlin 1993 z.B. 247, 254f., 279. - Platon Nomoi
822 a-d : Warnung von lächerlichen Deutungen. Timaios 38 b-39 e, Politeia 529 c-e.
46. Knappe Zusammenfassung
bei U. Lindgren, Kopemikus
P. Segl (Hg.), Zeitenwenden Wendezeiten. Von der Achsenzeit
2000, 137-149; leider wurden die Abbildungen nicht gedruckt.
47. John D. North, Horoscopes
and History, London
- oder wer schaffte die Wende? in :
bis zum Fall der Mauer, Dettelbach
1986,71-97.
48. Jose Maria Millas Vallicrosa, La obra astronomica de Azarquiel y las Tab/as To/edanas, in :
Estudios sobre historia de la ciencia espaüola, Hg. von Juan Vernet, Bd. I, IBarcelona 1949, 2Madrid
1967,125-176.
49. Bruce Eastwood, Ordering the Heavens. Roman Astonomy
Renaissance, Leiden, Boston 2007, 156.
50. Spiegel online 16.8.2008.
51. Die Kultur der Renaissance
Hand von 1869), 350f.
52. Die Geschichte
and Cosmology
in Italien. Ein Versuch, Darmstadt
der Sternkunde,
in the Carolingian
1962 (nach der Ausgabe letzter
Berlin 1931,381.
53. John North, Some Norman Horoscopes,
besonders 158.
in: C. Burnett (Hg.), Adelard (wie Anm. 7) 147-161,
Uta Lindgren
12
Auch wenn man im frühen Mittelalter gar nicht in der Lage war, Horoskope
zu stellen, ist in den Lehrbüchern von Macrobius, Martianus Capella und Isidor
von Sevilla eine enge Verbindung zwischen Astronomie und Astrologie festzustellen, von der übrigens der Almagest von Ptolemaeus frei war. Die zu beobachtende
Gemengelage soll im Folgenden knapp erläutert werden, weil nur daraus verständlich wird, wie die magere lateinische Tradition rezipiert wurde und was daraus an Neuem entstand. Möglicherweise
bedeutete die Gemengelage
von
Astronomie und Astrologie ein Stimulanz'", denn das Interesse an der Astronomie
war im frühen Mittelalter besonders gering. Von Alkui~ (c. 730-804) ist in einem
Brief an Karl den Großen die Klage überliefert, daß es schwer sei, Interesse für
Astronomie zu wecken+'. Ich möchte 1. feststellen, was in den drei, im frühen und
hohen Mittelalter am meisten verbreiteten Enzyklopädien steht, sowohl über
Astronomie als auch über Astrologie. Diese Bestandsaufnahme
ist notwendig,
weil das Thema einen ganz speziellen Fokus verlangr'", Weiter steht 2. auf meinem Programm die doppelte Rolle der christlichen Theologie und 3. was in der
Zeit der angeblich toten Wissenschaft an Neuem entstand oder heranreifte.
1. Die Klassiker der Artes liberales
Macrobius schrieb seine Enzyklopädie unter dem Titel Commentarii in somnium Scipionis um 40057. Er war ein Zeitgenosse von Augustinus und vermutlich
jünger als Firmicus Maternus58, Autor einer rein astrologischen Schrift in lateinischer Sprache. Wie Martianus Capella und Isidor fuhrt Macrobius in die Struktur
des Kosmos ein und benennt die unbewegten und die bewegten Himmelskörper.
Die Gesichtspunkte, unter denen die Informationen gegeben werden, sind unterschiedlich. Vieles ist im Rahmen der Arithmetik'i'' den Zahlen und der Zahlentheorie untergeordnet.
So findet man bei der Zahl Sieben wichtige
Informationen60 über die Mondbewegung sowie über die vom Mond abhängigen
Gezeiten der Ozeane. Auch die Sonne erklärt er unter der Zahl Sieben61. - Sonne
54. In diesem Sinne meinte Jacques Flamant, Macrobe et le neo-platonisme latin ä la fin du lye
siecle, Leiden 1977, 388 ... en fait. iI iIlustre son expose par des themes empruntes a l'astrologie,
Deutlich pythagoreeisch
ist die Stelle in Buch I 12,1-3, wo Macrobius die Tore des Himmels (im
Zodiaq: Krebs und Capricorn) beschreibt, durch die die Seelen hinabsteigen und aufsteigen im
Verlauf ihrer Reise zwischen Himmel (Milchstraße)
und Erde. Vg!. Meine Adriaan Elferink, La
descente de l'äme d'apres Macrobe, Leiden 1968,2.
55. Brief 148 an Karl den Großen, ed. Dümmler, MGH Epist. Kar. Aevi Il, 1895,239.
56. Astrologische Überlieferungen
im Rahmen der Astronomie wurden in letzter Zeit geleugnet
oder übergangen, z.B. von Brigitte Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter (5.-9.Jh.),
(=Sudhoffs Archiv, Beihefte H. 33), Stuttgart 1994. - Dagmar Linhard, Isidor von Sevilla, über
Glauben und Aberglauben, Dettelbach 1997. -sEasrwood, Ordering the Heavens (wie Anm. 49) 156.
- Ders., The Revival of Planetary Astronomy in Carolingian and post-Carolingian Times, Aldershot
2002. - Auch Arno Borst, Die karolingische Kalenderreform,
Hannover 1998, übergeht auffällig die
astrologisch relevanten Aspekte der Kalender.
57. Macrobius,
58. Mathesis,
Commentary
(wie Anm. 8).
hg.v. Wilhelm Kroll, Franz Krutsch,
59. So in den Kapiteln V und VI vom I. Buch.
60. VI 48-54 und 61.
61. VI 57-60.
1968.
Wann war das Mittelalter
finster?
Mit Cassiodor nach Toledo
13
und Mond finden sich im Kapitel über Astronomie'f
wieder und zwar in der
Gesellschaft der Planeten. Sonne und Mond, sagt Macrobius, beherrschen die
wichtigsten sinnlichen Fähigkeiten allen irdischen Lebens63 : die Sinneswahrnehmung (Sonne) und das Wachstum (Mond). Macrobius stellt ausdrücklich fest, die
Menschen hängen von Sonne und Mond ebenso stark64 ab, wie von den fünf
(anderen) Planeten. Ihr Zusammenwirken mit Jupiter und Venus65 wird als positiv
wahrgenommen, mit Mars und Saturn66 als negativ. Den Einfluß der Planeten auf
die Menschen hatte er unmittelbar zuvor67 schon dargelegt. Da findet man die
entscheidenden Informationen über Sonne, Mond und Planeten. Durch einen Hinweis auf das Stellen von Horoskopen hält er die Erinnerung wach, daß dies die
höchste Ausformung der Astrologie ist. Ein wichtiger Aspekt für die weitere Entwicklung der Astronomie ist die detaillierte Beschreibung einer Klepshydra zur
Bestimmung voller Stunden; es handelt sich um eine veritable Bauanleitung.
Damit schärft Macrobius das Bewußtsein dafür, daß alle Bewegungen am Himmel durch Zeit ausgedrückt werden können und daß sie ihrerseits Zeit68 sind, die
meßbar ist. Das Kapitel endet mit der Frage, wieso den Planeten gute und
schlechte Einflüsse auf die Menschen zugesprochen werden. Macrobius verweist
auf Plotins Schrift über die Wirksamkeit der Sterne und auf die Vögel, die durch
ihren Flug unwissentlich auf kommende Ereignisse deuten. Eine wirkliche Antwort versucht Macrobius nicht. - Der Kommentar ist im großväterlichen Erzählstil geschrieben.
Astronomie
und Astrologie
sind miteinander
untrennbar
verwoben.
Martianus Capella69 stellt die Verhältnisse auf den Kopf: die Alltagswelt, in
der seine Erzählung abläuft, ist die der Götter, die sowohl an der Hochzeitsfeier
als auch an den Darbietungen der sieben Jungfrauen höchst lebendig teilnehmen.
Logischerweise ist die Darbietung der menschlichen Wissenschaft der Astronomie frei von Bezügen zur Götterwelt. Die Braut Philologie hatte sich ja von allem
Menschlichen freimachen müssen und bekommt zum Trost von den Jungfrauen
ein Resumee des Wissens, auf das sie verzichtet hat. Die aufreizende Gemengelage von Menschen- und Götterwelt wird durch die emotionsreiche Hochzeitsatmosphäre noch überhöht. Martianus schrieb sein Werk im 5. Jahrhundert, also vor
Boethius aber deutlich nach Macrobius. Buch VIII ist der Astronomie gewidmet.
Im Anschluß an die Erläuterung der Struktur des Kosmos bespricht Martianus die
62. XIX.
63. XIX 23.
64. XIX 24.
65. XIX 25.
66. XIX 26.
67. XIX 20.
68. So auch Cassiodor
(wie Anm. 15) 11, VI, I. Die Meßmethoden
liefert die Geometrie.
69. Martianus Capella, Die Hochzeit der Philologia mit Merkur (De nuptiis Philologiae et Mercurii), übers. etc. v. Günter Zekl, Würzburg 2005. - Michael von Albrecht, Die römische Literatur in
Text und Darstellung, in: Hans Armin Gärtner (Hg.), Kaiserzeit 11, von Tertullian bis Boethius,
Stuttgart 1988, 334: Verfassen der Enzyklopädie
für seinen Sohn, Abfasungszeitraum
nach 400
jedoch vor 439.
Uta Lindgren
14
Sternzeichen und insbesondere die Zeichen des Tierkreises und widmet sich ausführlich deren Bewegung, speziell der Situation der Auf- und Untergänge. Es folgen Angaben zum Planetenlaut'"
und zur Reihenfolge der Planeten. Die
Planetennamen werden hier vorgestellt ohne mögliche Beziehung zur Erde, also
ohne die Eigenschaften der Götter desselben Namens. Später wird die Bahn71
jedes einzelnen Planeten behandelt. Dazwischen geschoben sind 22 Kapitel72
über Sonnen- und Mondlauf, Umlaufzeiten, jeweilige Jahreslänge, Sonnen- und
Mondfinsternisse.
Darauf, daß die Sonne die Tierkreiszeichen unterschiedlich
73
schnell
durchläuft, hatte Martianus schon vorher hingewiesen. Jetzt geht er darauf genauer74 ein. Als eine Folge davon sieht er die Klimazonen auf der Erde,
deren Zahl er mit acht angibt und nicht nur die Stunden der längsten Tage, sondern auch - ungewöhnlicherweise - die der kürzesten 75. Martianus schließt seine
Abhandlung über die Astronomie mit einem Hinweis auf Probleme, Auf- und
Untergänge der Planeten am Horizont zu beobachten. Damit behalten die Planetenbeobachtungen eine herausragende Stellung, wie schon in der Antike.
In der Arithmetik geht Martianus ähnlich vor: er behandelt die Zahlen,
Rechenarten und Zahlentheorie, aber ohne Zusammenhänge mit den Sternen oder
anderen Bereichen. Eine Anspielung auf die Kraft (virtus) der Sterne (astra)76 findet sich in der Rhetorik.
Als die Götter nach Beendigung des Astronomievortrages
fragen, was noch
ansteht, beeilt sich Phoebus, Geneathlike (und andere Deuterinnenj'? vorzuschlagen, aber da vor Sonnenaufgang nur noch ein Vortrag möglich ist, kommen sie
nicht zum Zuge. Jupiter läßt den letzten, von Merkur vorgesehenen Vortrag halten, nämlich über HarmonielMusik. Damit ist der klassische Kanon der Artes
liberales vollendet.
Die Etymologien (alias Origines) von Isidor von Sevilla (c. 560-636)78,
geschrieben in reiferen Jahren, enthalten, ähnlich wie die Naturalis historia von
Plinius, sehr viel mehr als die Artes liberales. Diesen sind die ersten Bücher
gewidmet, Buch III dem Quadrivium, die Kapitel 24-71 der Astronomie. Nach
79
der Struktur des Kosmos werden Sonne und Mond
schlicht, aber doch mit einigen Details, behandelt. Es folgen die übrigen St:me, wobei Isidor aber Fixsterne
und Planeten nur ungenügend auseinander hält. Uber Planetenbahnen erfährt man
wenig, statt dessen den Hinweis, daß sich mit Planeten (und Kometen) die Astro-
70. VIII 850-854.
71. VII 879-886.
72. VIII 855-876.
73. VIII 848.
74. VIII 872-878.
75. Wenn man sie addiert,
76. V 429.
77. IX 894.
sollten sie 24 Stunden ergeben, was aber nicht immer der Fall ist.
78.lsidori Etymologiarum Libri (wie Anm. 10).
79. Buch
III
47-59.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
IS
logen befassen. Isidor reduziert die Planeten also auf die Astrologie! Aberglauben
und Schicksalsprognose,
die aus den Sternen abgeleitet werden, sollen von den
Christen ignoriert werden. Sowohl Kirchenlehrer als auch die heidnischen Lehrer
wie Plato und Aristoteles'P verdammen derlei Stemenglaube. Kurz vorher hatte
Isidor die (nicht im Einzelnen genannten) Planeteneigenschaften
dem Teufel81
zugeschrieben. Ausgenommen davon sind Wetterprognosen:
Sonne und Jupiter
im Sternbild Fische bringen große Regenmengen82 ; an anderer Stelle83 erklärt er
die Zeichen, die auf bestimmtes Wetter deuten. Zum Namen "Hundstage ,,84
erklärt er, daß sie Krankheiten hervorrufen. Damit, so könnte man sagen, hat
Isidor ein christlich bereinigtes Kapitel über Astrologie geschrieben.
Etwas mehr durften seine Leser über Magier, Wahrsager, Astrologen, Horoskope etc. im Buch De ecclesia et sectis85 erfahren. Dort erscheinen die Götter
der Heiden86 mit ihren Planetennamen, die Funktionen87 der Planeten, die einzelnen Planetengötter'f
mit ihren Begleitern, sowie Geister, Penaten, Larven,
Incubi89 etc.
Im Buch De libris et officiis ecclesiasticir'' befindet sich die ziemlich ausführlich behandelte Berechnung des Ostertermins'" aus dem Mondlauf, sogar mit
tabellarischem Anhang. Es folgen die anderen christlichen Festtage92• Hier steht
der Computus also ganz herausgelöst aus dem astronomischen Zusammenhang.
Isidors Schriften, besonders auch die Etymologiae, wurden bereits zu seinen
Lebzeiten und unmittelbar nach seinem Tod in ganz Spanien verbreitet, dann auch
in Frankreich, Italien und Irland93• Noch erhalten sind drei Exemplare, die um
700 geschrieben wurden, drei weitere Ende des 7. und im 8. Jahrhundert94• In der
"karolingischen
Renaissance" spielten sie eine große Rolle. Nach der Beobachtung von B. Bischoff5 haben sie entscheidend zum Sieg des Systems der sieben
Artes liberales beigetragen. Dies gilt freilich nur mit der Einschränkung, daß die
80. Ill, 71, 38-40.
81. III 71, 22.
82. III 71, 31 f.
83. III 71, 11 f.
84. III 71, 15.
85. Buch VIII.
86. VIII 11.
87. VIIIli, 24.
88. VIII 11,71.
89. VIII 11,98.
90. Buch VI.
91. VI 17.
92. VI 18.
93. Bemhard Bisehoff Scriptorio e manoscritti media/ori di civil/a dal ses/o secolo alla riforma
di Carlo Magna, in: B. Bischoff, Mittelalterliche Studien, Bd. 11,Stuttgart 1967, 312-327, besonders
314f. - Bemard Ribemont, Les origines des encyclopedies medievales d'/sidore de Seville aux Carolingiens, Paris 2001, 241: Isidor als Que11efür Alkuin, Dikuil und Jonas von Orleans.
94. Bemhard Bischoff, Die europäische Verbreitung der Werke /sidors von Sevilla, in:
B. Bisehoff Mittelalterliche Studien, Bd. I, Stuttgart 1966, 176-180.
95. Bischoff, Verbreitung (wie Anm. 94), 194. B. nennt dies ein" erstaunliches Phänomen ".
16
Uta Lindgren
Lücke zwischen der Zerstörung des Imperium Romanum und Isidor zuvor schon
von Macrobius, Martianus Capella, Boethius u.a. überbrückt worden war.
2. Die doppelte Rolle christlicher
Theologie
Die moralische Rolle
Zwei Bischöfe waren durch ihre Verdammung der Astrologie besonders wirksam, lange über ihre Lebenszeit hinaus. Isidor'" von dessen Etymologien soeben
die Rede war, wurde um 600 als Nachfolger seines Bruders Leander Bischof von
Sevilla. Mindestens so wirkungsvoll waren die negativen Äußerungen des
Kirchenlehrers Augustinus (354-430), Bischof von Hippo Regius in Nordafrika,
in vielen seiner Schriften, vor allem in seinem umfangreichsten und viel gelesenen Werk De civitate Dei (413-427). Darin stellt er sich nicht nur gegen den heidnischen Götterglauben und astrologische Praktiken, er benennt und beschreibt sie
auch ausflihrlich97. Auch bei Augustinus hat man sich also im Mittelalter über
heidnische Prognosepraktiken und Einflußnahme auf das Schicksal informieren
können, freilich nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zur Astronomie. Aber
Augustinus hatte sich den Artes liberales98 gegenüber, als christlicher Bildungsgrundlage, aufgeschlossen gezeigt99 und hatte den Plan gehabt, ein entsprechendes Schulbuch zu schreiben; erhalten ist nur der Anfang einer musica.
Auf der einen Seite haben Augustinus und Isidor heidnische Praktiken verdammt, obschon in einer Weise, daß ihre Schriften immer noch als informativ
gelten können. Auf der anderen Seite haben sie Astrologie und Astronomie streng
getrennt. Das war in der Antike schon so gewesen, weshalb Isidor sich auf Platon
und Aristoteles I00 beruft. Allerdings war die Fortführung dieser Trennung nach
dem Ende des Imperium Romanum alles andere als selbstverständlich, wie das
Beispiel Macrobius zeigt (s.o.), aber nur so konnte die Vorstellung von der Astronomie als Wissenschaft bis in den hochmittelalterlichen
Rationalismus überleben.
Christliches Interesse am Quadrivium
Hier soll nur andeutungsweise daran erinnert werdenlOI, daß seitens der antiken Christen ein grundsätzliches Interesse an den Fächern des Quadrivium und an
96. Emest Brehaut, An Encyclopedist of the Dark Ages. Isidore of Seville, New York 1912,
15-34 Isidore's Life and Writings.
97. Lynn Thomdike, A History of Magic and Experimental Science during the First Thirteen
Centuries of our Era, Bd I, New York 1923,504,513-521.
- De ctvitate Del, V, 1-7 und passim.
Augustinus wird bis heute als eine der wertvollsten Quellen auf diesem Gebiet geschätzt, was
vermutlich nicht in seiner Absicht gelegen hat. Vergleichbar war Senecas Schicksal, nachdem er den
römischen Luxus angeprangert hatte.
98. Henri Irenee Marrou, Les arts liberaux dans I 'Antiquite classique, in : Arts liberaux et philosophie au Moyen Age, Montreal, Paris 1969. - Ders., Saint Augustin et la fin de la culture antique,
Paris 1937.
99. Vgl. Uta Lindgren, Die Artcz: liberales in Antike und Mittelalter. Bildungs- und wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungslinien,
München 2004, 40 f.
100. s.o. Anm. 80.
101. Ausführlich bereits früher von mir behandelt: Gerbert von Aurillac und das Quadrivium.
Untersuchungen
zur Bidlung im Zeitalter der Ottonen (= SudhofTs Archiv, Beiheft 18), Wiesbaden
1976, 63-65.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
17
der Naturkunde (Plinius d.Ä.) bestand: Die Kenntnisse sollten den Geistlichen,
Mönchen und Schülern helfen, die Herrlichkeit der Schöpfung zu verstehen. Der
Spruch in Sapientia Salomonis (11,21), daß Gott die Welt nach Maß, Zahl und
Gewicht geschaffen hat, befand sich im Einklang mit der Lehre der Pythagoreer.
Der Bibel konnte man weitere Ausführungen zu diesem Thema nicht entnehmen,
daher waren Kleriker und Mönche auf andere Informationen angewiesen.
Für Augustinus, der selbst eine klassische Erziehung genossen hatte, war die
Fortfiihrung der klassischen Bildung in der christlichen Welt selbstverständlich.
Ebenso für Cassiodor, der sich nach dem Ende seiner politischen Laufbahn auf
seine kalabrischen Güter zurückgezogen hatte, um dort ein Kloster zu gründen,
dessen Aufgabe der Aufbau einer Bibliothek (mittels Scriptorium) und die Ausbildung junger Geistlicher sein sollte. So wie Cassiodor selbst eine klassische
Erziehung genossen hatte, war es ihm selbstverständlich, daß Schriften der Artes
liberales in die Klosterbibliothek gehörten und bei der Ausbildung herangezogen
werden sollten. Seine Gründung Vivarium hatte keinen Bestand, aber die Bildungsaufgaben, vor allem die Scriptorien, nahm auch Benedikt von Nursia (um
480-550) in seine Ordensregel (nach 529) auf, die zum Vorbild aller mittelalterlichen Ordensgründungen wurde. Mit auffallend aktiven Scriptorien waren diejenigen Klöster im Frankenreich ausgerüstet, die auf die Gründung durch iroschottische Mönche zurückgingen: z.B. Luxeuil, Bobbio, Reichenau, St. Gallen,
Fulda, Corbie. Dort waren stets auch Schriften zum Quadrivium vorhandenl02.
Die ältesten erhaltenen Abschriften des Corpus Agrimensorum stammen aus dem
ausgehenden 5. bis 7. Jahrhundert'Y'. Daß die Astronomie in den Jahrhunderten
nach Ptolemaeus "vor allem der Astrologie ... diente" (van der Waerdenl04)
kann man bei den klösterlichen Abschreibern und Lehrern mit Sicherheit nicht
behaupten.
3. Was aus der bescheidenen Überlieferung wird - neue Entwicklungen in der
Astronomie
Mit der Kalenderberechnung (Computus) begann eine neue Interessensrichtung in der AstronomielOS, die es in der Antike nicht gegeben hatte, und die in
keinem Zusammenhang mit astrologischen Zielen stand. Beda Venerabilis (673102. Bischoff, Bibliothek (wie Anm. 18),213,216,217,226. - Babette Tewes, Die Handschriften
der Schule von Luxeuil, Kunst und Ikonographie eines frühmittelalterlichen Skriptorium, Wiesbaden
2011,24,27,35.
103. Es handelt sich um die Manuskripte Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Guelf. 36.23
Aug.2° und Reims, Bibliotheque Municipale, 132. Vg!. Lucio Toneatto, Il nuovo censimento dei
manoscritti latini d'agrimensura, in : Feldmeßkunst (wie Anm. 23) 26-66, besonders 57. Zum mathematischen Inhalt Vg!. Folkerts, Mathematische Probleme (wie Anm. 23) 311-336.
104. s.v. Astronomie in : Lexikon des Mittelalters, 1, 1980. - Ähnlich: Stephen C. McCluskey,
Astronomies in the Latin Westfrom the Fifth to the Ninth Centuries, in : P.L. Butzer, D. Lohrmann,
Science in Western and Eastern Civilization in Carolingian Times, Basel 1993, 139-160, besonders
155 f. ist davon überzeugt, daß das Ziel der frühmittelalterlichen Astronomie sei, to master the
predictive astronomy of antiquity.
105. Eastwood, Ordering (wie Anm. 49). Computus war nach seiner Meinung eine neue exakte
Wissenschaft auf reiner Rechenbasis.
18
Uta Lindgren
735)106, einem englischen Mönch, fiel um 700 auf, daß sich der Osterterminlv?
verschoben hatte, wenn er sich am Julianischen Kalender orientierte und zum
Vergleich die Beobachtung der aktuellen Tag- und Nachtgleiche heranzog. Die
Folge war für die Klostergemeinschaften
fatal, denn der Kalender gestattete nicht
mehr, Ostern wirklich am Tag der Auferstehung Jesu zu feiern. Wie hatte das passieren können?
Der Julianische Kalender baut bekanntlich auf dem 532-jährigen Sonnen- und
Mondzyklus auf. Das kalendarische Jahr war aber etwas kürzer. Bis ins 5. Jahrhundert hatte die römische Kirche die Ostertermine von alexandrinischen Gelehrten übernommen. Nach einigen Vorläufern wurde 525 Dionysius Exiguus, ein in
Rom lebender Skythe, der u.a. mit Cassiodor befreundet war, mit dieser Aufgabe
betraut, und verfaßte dazu die Schrift Liber de PaschatelO8• Dionysius Exiguus
und Beda Venerabilis waren keineswegs die einzigen, die sich mit der für die Kirche existentiell wichtigen Frage des Osterdatums befaßten. Man findet diese
Autoren - und nur von Autoren wissen wir ja - bei Borstl09 mit akribischem
Fleiß zusammengestellt. Borst hat dies im größeren Zusammenhang der Kalender
(Jahreskalender) untersucht, die seit der Karolinger Zeit auch astronomische
Angaben enthielten. Darunter waren mitunter auch astrologisch nutzbare Angaben, u.a. über Planeten, Fixsterne, Sternbilder und Tierkreiszeichen als" Zeitmesser". Was dem englischen Mönch Beda um 700 nach genauem Quellenstudium
- denn zuerst hatte er einen Fehler der Abschreiber vermutet - klar wurde, war,
daß die Ungenauigkeit des Julianischen Kalenders sich summiert hatte.
Bedas Hauptwerk De temporum ratione (725)110 wurde bis zur Kalenderreform 1582 benutzt. Beda hat nicht nur selbst Sonne und Mond ständig beobachtet, er hat dies auch allen empfohlen, die für die Berechnung des christlichen
Festkalenders zuständig waren. An den Universitäten wurde Computus als Lehrfach angeboten. Sonnen- und Mondlauf erwiesen sich aber als so kompliziert, daß
niemand die Reformierung des Kalenders wagte. Papst Gregor XIII., der dies
schließlich anordnete, war bezeichnenderweise kein Astronom, sondern ein erfahrener Verwaltungsjurist. Der gregorianische Kalender ist durch sein System von
Schaltjahren so flexibel, daß er bis heute brauchbar ist.
Borst stellte fest, daß der neuartige Karolinger Kalenderlll auf einem neuen,
von der Computistik hervorgerufenen Zeitbewußtsein basiert. Am Prinzip der
julianischen Zeitrechnung wurde damals nichts geändert. Aber ihr Fehler wurde
festgehalten. Im Jahr 816 betrug er 6 Tage.
Durch den Computus bekam die Beobachtung von Sonne und Mond neue
Bedeutung, wenngleich die Beobachtungsdaten nicht systematisch dokumentiert
106.Borst, Kalenderreform (wie Anm. 56) 182-185.
107. Erster Sonntag nach dem ersten Vollmond nach Frühlingsanfang d.h. der Tag- und
Nachtgleiche.
108. Dionysii Exigui Epistolae duae de ratione Scripta anno Christi 525, MPL 67, 19-28.
109. Kalenderreform (wie Anm. 56) XV-XXX und im weiteren Sinn bis XVII.
110.Ch.W. Jones (Hg.), Bedae opera de temporibus, Cambridge (Mass.), 1943,175-291.
Ill. Amo Borst, Der Streit um den karolingischen Kalender, Hannover 2004, 16 et passim.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
19
wurden. Das Interesse an den übrigen beweglichen Himmelskörpern, den Planeten, stieg möglicherweise seit der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts. Die Leidener
Aratea Handschrift'V enthält u.a. ein Diagramm mit exzentrischen Planetenbahnen sowie ihren Absiden. Die Datierung dieses Diagramms ist unterschiedlich
diskutiert worden 113. Aber das Diagramm ist schon deshalb ungewöhnlich, weil
der ursprüngliche Arattext (3. Jahrhundert v.Chr.) sich gar nicht mit Planeten
befaßte. Andere Abschriften enthalten auch kein derartiges Diagramm'!". Hier
gab offenbar das Interesse des Abschreibers den Ausschlag.
Borst gibt den 18. März 816 als I. Schöpfungstag (bzw. dessen Wiederholung) an, an dem in Aachen der Stand der Planeten in den Kalender eingezeichnet
wurde. Borst nennt das die" veritable Planetenuhr "llS. Sie beruhte auf Texten
von Plinius und Martianus Capella. Von dort aus wäre die Berechnung von Planetenläufen gegebenenfalls durchfiihrbar.
Auf die Schwierigkeit, Planetenstände ohne Sterntafeln und ohne ausreichende Beobachtungen zu bestimmen, ging ein seit dem Ende des 8. Jahrhunderts
belegter anonymer Text mit dem Incipit In qua signa verse/ur marsl16 ein. Hier
sollten allein durch Berechnungen die Längen der Planeten gefunden werden.
Voraussetzung für die Methode ist I. die Kenntnis der Planetenstellungen
bei
Erschaffung der Welt, wie man sie bei Macrobius 117 findet; 2. die Tierkreisperioden der Planeten, die im Traktat angegeben sind und 3. das Weltalter. Die Planetenperioden sind Rechengrößen, die - mit der Ausnahme von Saturn - nicht
mit den wirklichen Umlaufzeiten korrellieren, wie sie bei Macrobius, Martianus
Capella und Isidor überliefert sind. Das verwendete Weltalter enthält der Text
nicht, so als wäre das wie ein Code mündlich weitergegeben worden. Borst und
Justel18 fuhren mehrere mögliche Weltalter auf. Auch dies sind Rechengrößen.
Juste versichert, die Methode funktioniere. Die Kenntnisse konnte man jedenfalls
112. Voss. lat. 79.
113. Es wurden sogar verschiedene Daten diskutiert: Eastwood, The Astronomy of Pliny, Martianus Capella and lsidore of Sevilla in the Carolingian World, in: Science (wie Anm. 104) (1993)
kam auf das Datum 28.3.579, Pingree (1990) dg!. und 14.4.816, Mostert u. Mostert (1990) 18.3.816.
Zur vergleichenden und bewertenden Diskussion Vgl, Elly Dekker, Carolingian Planetary
Observations: the Case of the Leiden Planetary Configuration, in : Journal for the History of Astronomy XXXVIIl, 2007, 77-90. - Hr. Kollege Ludwig Braun (Würzburg) hat mit Redshift (s.n. 1994)
relativ große Ungenauigkeiten festgestellt. Vgl. Auch Borst, Kalenderreform (wie Anm. 56) 662, wo
er von seinen Ergebnissen der elektronischen Überprüfung spricht, die er als" nicht zweifelsfrei, aber
ungefähr" bezeichnet.
114. Bernhard Bischoffu.a. (Hg.), Aratea, Kommentar zum Aratus des Germanicus, MS Voss. lat.
Q 79, Bibliothek der Rijksuniversiteit Leiden, Luzern 1989. Zur Datierung: Pieter FJ. Obbema, Die
Handschrift, in: ibidem, 9-29. Zur Tradierung : Bischoff, in: ibidem, 89f.
liS. Borst, Kalenderreforrn (wie Anm. 56),662.
116. David Juste, Neither Observation nor Astronomical tables: An Alternative Way of Computing the Planetary Longitudes in the Early Western Middle Ages, in : Studies in the History of the
Exact Sciences in Honour of David Pingree, hg.v. C. Burnett, J.P. Hogendijk, K. Plofker, M. Yano,
Leiden 2004,181-222.
117. Macrobius, Commentary (wie Anm. 8) I 21, 24.
118. Borst, Kalenderreforrn (wie Anm. 56) 662, 725. - David Juste, Les Alchandreana primitifs.
Etude sur les plus anciens traites astrologiques latins d'origine arabe (Jf siecle), Leiden, Boston
2007, 107.
20
Uta Lindgren
den spätantik-frühchristlichen astronomischen Kompendien entnehmen. Rätselhaft sind die Rechengrößen der Planetenperioden. Der Zweck, den die Planetenberechner verfolgten, ist unklar; er dürfte wohl außerhalb des Computus gelegen
haben.
Im Rahmen der Kalenderrechnung hat Hrabanus Maurus Anfang des 9. Jahrhunderts eine Passage über eigene Planetenbeobachtungen angesiedelt. In seiner
Scbulschrift'P' De computo läßt er einen Schüler fragen, wo die Planeten derzeit
stehen, worauf der Lehrer antwortet: Am 9. Juli 820 est sol in XXII! parte cancri,
luna in nona parte tauri, steJla saturni in signo arietis, iouis in librae, martis in
piscium, veneris quoque steJla et mercurii, quia iuxta solem in luce diurna modo
sunt, non apparel in quo signo morenturl20• Nicht zu vergessen: die Textbasis
der astronomischen Bildung ist unverändert dieselbe, nur das Interesse wächst
- und das Verständnis!
Einem unmittelbar erkennbaren Zweck dienten damals weder die Sonnen- und
Mondbeobachtungen noch die Beobachtungen der Planeten. An das ptolemäische
System, den Planetenstand auf(postulierten) Kreisbahnen mit Exzentern und Epizyklen aufrechnerischem Wege zu bestimmen, hatte man im Frühmittelalter nicht
anschließen können.
Starkes Interesse manifestiert sich ebenfalls durch das Anwachsen der Textex_
zerpte, der Kornmentare'<', Zitate und Glossen. Borst und Eastwood haben Zur
Kenntnis dieses Textsammelsurium viel beigetragen. Borst und Ganz sprechen in
diesem Zusammenhang von karolingischen" Enzyklopädien". David Ganz122
bezeichnet ein umfangreiches alphabetisches Glossarium aus dem 9. Jahrhundert,
welches ein Zeugnis der kursierenden Literatur ablegt, mit dem Begriff Enzyklopädie. Bei Borst123 sind mehrere karolingische Schriften zum Zeitverständnis
damit gemeint. Seit dem 9. Jahrhundert sind vermehrt Abschriften der drei Enzyklopädien über die Artes liberales von Macrobius, Martianus Capella und Isidor
erhalten, von denen ich ausgegangen bin. Johannes Scotus Eriugena hat in der
119. Vg!. Maria Rissel, Hrabans Liber de computo als Quelle der Fuldaer Unterrichtspraxis in
den Artes Arithmetik und Astronomie, in : Hrabanus Maurus und seine Schule, hg.v. W. Böhne, Fulda
1980, 138-155.
120. 48 CCL 1979 S. 259 Auch diese Daten hat Hr. Kollege Braun dankenswerterweise mit
seinem Redshift (wie Anm. 113) nachgerechnet. Selbstverständlich können Sonne, Mond und die
Planeten nicht gleichzeitig sichtbar sein. Das sagt Hrabanus Maurus ja auch nicht, sondern er sagt, wo
sie am 9. Juli 820 stehen. Nur der Mond. der eigentlich am leichtesten zu bestimmen sein sollte, stand
in Wirklichkeit nicht in nona parte tauri, sondern in nona vicesima parte tauri Dazu sagt der
Altphilologe Braun: .. Textkritisch scheint mir das gleichfalls durchaus plausibel, denn die gerade
vorausgehende Angabe zur Sonne lautet ausgeschrieben, wie ein Teil der Uberlieferung dies auch
präsentiert, in vicesima tertia parte, und daß identische Worte in enger Nachbarschaft dazu fuhren,
daß eines von beiden durch Abirren des Auges beim Abschreiben ausfällt, ist eine überaus häufige
Fehlerursache der Textüberlieferung .. (Brief vom 22. 6. 20 11).
121. Sehr interessant in diesem Zusammenhang die Glossen zur Arithmetik des Boethius, Ende
des IO.lAnfang des 11. Jahrhunderts, vg!. Michael Bemhard, in: Scire litteras. Forschungen zum
mittelalterlichen Geistesleben. hg. v. S. Krämer, M. Bernhard, München 1988,23-34 (mit Edition).
122. David Ganz, The Liber Glossarum: A Carolingian Encyclopedia, in: Science (wie Anm.
104) 127-135.
123. Alcuin und die Enzyklopädie von 809, in : Science (wie Anm. 104) 53-78.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
21
Mitte des 9. Jahrhunderts einen umfangreichen Kommentarl24 zu Martianus
Capella verfaßt. Auch er bewegt sich ausschließlich in der lateinischen Überlieferung.
Zwischenbilanz
Die Beweggründe, sich mit Geometrie, Arithmetik und Astronomie zu befassen und diese Fächer zu lehren, waren in der Spätantike und im Frühmittelalter
fachspezifisch sehr unterschiedlich. In allen drei Disziplinen kann jedoch festgestellt werden, daß Kelten und Germanen sich das spätantike Kulturgut aneigneten,
soweit es in lateinischer Sprache zugänglich war. Bis zum 11. Jahrhundert sind
sie sogar in aktuellen Einzelpunkten über das Tradierte hinausgegangen, ohne insgesamt das theoretische Niveau des Hellenismus zu erreichen. Der Abstand war
immer noch groß, hatte sich aber mit der intensiven Lektüre von Boethius, Martianus Capella und Isidor deutlich verringert. Vor allen Dingen war ein reges
Interesse entstanden. Und offenbar auch wissenschaftliche Neugier geweckt.
Warum Toledo?
Es ist schon lange festgestellt worden, daß nach der Eroberung Toledos (1085)
die Übersetzung der antiken Lehrbücher, vor allem von Euklid und Ptolemaeus
einsetzte125, ohne daß man einen Zusammenhang hat plausibel machen können126• Unter den reichen, auch in kultureller Hinsicht reichen Städten im muslimischen Spanien, war Toledo die erste, deren Reconquista dauerhaft gelang.
Wegen der natürlichen Festungslage hoch über dem Tajo hatte Toledo in muslimiseher Zeit eine zentrale Funktion. Es lag in dem ständig umkämpften Grenz-
124. Tutti i commenti a Marziano Capel/a, Mailand 2006, al1gemeine Einführung von Giovanni
Reale, Einführungen zu den Kapiteln von I1aria Ramelli.
125. Für die Geschichte der Naturwissenschaften z.B. George Sarton, Introduction to the History
of Science, 3CambridgelMass. 1950. - Charles Homer Haskins, Studies in the Mediaeval Science,
Boston 1924, NO New York 1960, 12 fT.- Für Pierre Duhem, Le systeme du monde, Bd. 3, Paris 1913
f., ND Paris 1958, 177 begann unter Erzbischof Raimund von Toledo die intensive Übersetzertätigkeit. Diese Einschätzung war nicht immer so. Thomas Goldstein, Dawn of Modem Science, Boston
1980,92-128, setzt einen enormen Aufschwung der natural sciences etwas später, aber nicht genau
bestimmt, an ; er lokalisiert die Rezeption des Gift of Islam in Chartres, insbesondere bei Thierry
(* urn 1100 + urn 1155). - Bei David C. Lindberg, The Transmission of Greek and Arabic Learning
to the West, in : D.C. Lindberg (Hg.), Science in the Middle Ages, Chicago 1978, 52-90, besonders
64, beginnt die Übersetzungstätigkeit in Toledo erst in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Im Jahr
1969 spielten auf dem internationalen Kongress Arts liberaux et philosophie au Moyen Age, Montreal,
Paris 1969, die Artes des Quadrivium nur eine untergeordnete Rol1e und insbesondere des 12. Jahhundert wurde nicht behandelt. - Für die allgemeine Geschichte (Sozialgeschichte, politische Geschichte
etc.) ist dies ebenfal1s keine so deutliche Zäsur. Philippe WolfT,Histoire de la pensee europeenne. I.
/'Eveil intel/ectuel de /'Europe, Paris 1971, sieht einen kulturellen Aufstieg in drei Etappen, die er mit
den Namen Alkuin, Gerbert und Abelard verbindet. Toledo kommt dabei nicht vor. Neuerdings wird
das z.B. bei Johannes Fried, Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, München 2008, 205 f. und Klaus
Herbers, Geschichte Spaniens im Mittelalter. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts,
Stuttgart 2006, 215, anders bewertet, wobei die Aristotelesrezeption, nicht die Mathematik, seit der
Eroberung von Toledo im Vordergrund steht.
126. Andreas Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer seientia naturalis im 12. Jahrhundert, Leiden 1995,9, stel1te ebenfal1s die Frage: Was hat das Interesse an
den aristotelischen Schriften ausgelöst? Geometrie kommt bei ihm nicht vor.
22
Uta Lindgren
gebiet zum kastilisch-leonesischen
Reich. Bereits dem Vater von Alfons VI.,
Ferdinand I. (* um 1016/1018 + 1065) war es gelungen, Toledo)27 und andere
Städte zur Tributpflicht zu zwingen. Toledo ging an Alfons (* 1040 + 1109).
Nach einer Niederlage in den Erbauseinandersetzungen
mit seinem ältesten Bruder Sancho findet Alfons von Januar bis Oktober 1072 dort Aufnahme)28 bei dem
Taifaherrscher Yahyä al-Ma' mün (reg. 1037-1074). Unter dessen Herrschaft war
Toledo kulturell erblüht, u.a. durch die Zuwanderung von Gelehrten und Künstlern aus Cordoba, das vom Ende des Kalifats 1031 besonders betroffen war)29. In
den 60er Jahren wurde der Taifaherrscher insbesondere durch den Kadi Sä'id alAndalusl unterstützt, der in Toledo um sich einen Gelehrtenkreis versammelte
welcher besonders an Astronomie interessiert warl3o. In seiner 1068 veröffent~
lichten Chronik (Livre des categories des nations»)3) zählt er namentlich neben
al-Zarqäluh .wweitere zwei Astronomen und zwei Mathematiker (Geometrie)
auf. Obwohl Säid bereits 1070 im Alter von 41 Jahren starb, dürfte Alfons ZWei
Jahre später bei seinem Toledoaufenthalt noch von dieser islamischen Blütezeit
der mathernatisch-astronomischen
Gelehrsamkeit gehört haben. Nach Meinung
der Zeitgenossen hatte Alfons 1072 auch Muße, die strategischen Gegebenheiten
der Stadt zu studierenI32. Der junge Nachfolger von al-Ma' mün, al-Qädir, war
kein ernsthafter Gegner)33 für Alfons, als er im Winter 1084/1085 die Stadt durch
Belagerung von ihren Nachschubwegen abschnitt, so daß er im Mai 1085 kampflos in Toledol34 einziehen konnte.
127. Einen guten Gesamteindruck findet man bei : Herbers, Geschichte Spaniens (wie Anm. 125)
140-142,198,213-218. -Ludwig Vones, Reconquista und Convivencia. Die Könige von Kastilien_
Leon und die mozarabischen Organisationsstrukturen in den südlichen Grenzzonen im Umkreis der
Eroberung_envon Coiinbra (1064) und Tole~o (J08~), in: (wie.Anm. 3) 221-242.Zur Orientierung
über Ferdinand I. el Magno vgl, L. Vones Im Lexikon des Mittelalters s.v. "Ferdinand I. "; über
Alfons VI. Emilio Säez, ibidem s.v... Alfons VI".
128. Peter C. Scales, Cual era la verdadera importancia de la conquista de Tuletwu, capital de
los godos? in: Estudios sobre Alfonso VI. y la reconquista de Toledo (= Aetas deI II Congreso
Intremacional de Estudios Mozärabes, Toledo 20-26 Mayo 1985» Bd. I, 1987, 339-352, 341.
-Joseph F. O'Calla ghan, A History of Medieval Spain, lthaca, London 1975,gibt 1068 als Datum
an anstatt 1072. Auch er sieht in der Eroberung von Toledo keine Wirkung auf die abendländische
Kultur.
129. Jean-Pierre Dedieu, Le reflux de l'islam espagnol, in: Tolede XUe_XllIe• Musulmans, ehretiens etjuifs: le savoir et la tolerance, hg.v. L. Cardillac, Paris 1991,42.
130. Horacio Santiago Otero, Transmision de saberes en/re las minorlas etnicas de Toledo en la
epoca de la Reconquista, in: Estudios (wie Anm. 128) Bd. 3, Toledo 1989,219-236,besonders 222.
131. Santiago Otero (wie Anm. 130)221 Anm. 5.
132.Pelayo von Oviedo (erstmals Bischof llOI +ll53) nennt es in seiner Chronica 'Gottes Vorhersehung', daß Alfons sich neun Monate lang in Toledo aufhalten konnte. Vgl, Jose Luis Martin, La
Monarqula Leonesa. Fernando I y Alfonso VI (1037-1/09), in: El reino de Leön en la Alta Edad
Media, Ill, La Monarquia Astur-Leonesa de Pelayo a Alfonso VI (718-1109),Leon 1995,417-559,
besonders 443 f.
133. Scales (wie Anm. 128)344 f.
134. Vones (wie Anm. 127)230. - Miguel Angel Caballero Kroschel, Reconquista und Kaiseridee. Die Iberische Halbinsel und Europa von der Eroberung Toledos (1085) bis zum Tod Alfonsos X
(1284), Hamburg 2008,51,53. -Julio Valdeön Baroque, La Reconquista. El concepto de Espaiia:
unidad y diversidad, Madrid 2006, 89. - Herbers zitiert Sisnando Davidiz, einen Gesandten von
Alfons VI. : " Wenn ihr kein Geld und keine Soldaten mehr habt, werden wir das Land mit geringstem
Aufwand zurückerobern", (wie Anm. 125) 140.
Wann war das Mittelalter
finster?
Mit Cassiodor nach Toledo
23
Al-Qädir wiederum wird nach seiner Niederlage im Jahr 1086 Taifaftirst von
Valencia, wohin Alfons seinen Lehnsmann Rodrigo Diaz de Vivar (gen. EI Cid)
abordnet, um al-Qädir zu unterstützen, was aber nicht verhinderte, daß der Taifaherrscher 1092 bei einer Revolte ermordet wurde.
Ebenso planmäßig, wie die Reconquista Toledos, sind auch die ersten beiden
Erzbischöfe auf ihr Amt vorbereitet worden. Bemhard, Erzbischof von 1086 bis
1124, wurde um 1040/1050 in Sauvetat (bei Agen, Gascogne) geboren, trat in ein
Cluniazenser Kloster ein' und wurde 1080 Abt von Sahagün 135, dem Geburtsort
von Alfons VI. Sein Nachfolger Raimund (* 1080 + 1152), vermutlich ein Verwandter, wurde ebenfalls in Sauvetat in der Gascogne=" geboren, in Toledo erzogen und 1109 Bischof von Osma bei Burgos. Von 1125 bis 1152 war er
Erzbischof von Toledo und erwarb sich Verdienste als Mäzen 137 der Übersetzer.
Bei seinem Amtsantritt waren die ersten mathematischen Werke (Euklid, Algorismus) bereits übersetzt.
Es ist vermutet worden, daß die ersten Übersetzer ihre Arbeit nicht in Toledo,
wohl aber im bereits länger eroberten Ebrotal oder in Barcelona verrichteten138.
Was sie benötigten, war ja neben dem arabischen Text nur Bett und Tisch,
Schreibmaterial und vermutlich ein zweibeiniges Lexikon als Gehilfen. Diese
Arbeitsbedingungen waren nicht an Toledo gebunden, aber die Übersetzungshilfe139 fand man in der Nähe der Grenze zu al-Andalus leichter als etwa in England.
135. Francisco
1. Hernändez,
La cathedrale, instrument d'assimilation, in : Tolede (wie Anm.
129) 79.
136. Hernändez,
Cathedrale
(wie vor) 85.
137. Milläs, La Roma cristiana y el autentico ser de Espaha, 40 f., in: Nuevos
Estudios
(wie
Anm. 5) 30-48.
138. Folkerts, Arabische Mathematik (wie Anm. 3). - Milläs, Las primeras traducciones cientificas de origen oriental hasta mediados del siglo Xll, 112, in: Nuevos Estudios (wie Anm. 5) 79-115.
- Während Amable 1ourdain, Recherehes critiques sur l'äge et l'origine des traductions latines
d' Aristote, Paris 1819, 112, erstmals von Übersetzerschulen (colleges de traducteurs) sprach, dem sich
Valentin Rose, Ptolemaeus und die Schule von Toledo, in : Hermes 8, 1874, 328-349, und Jean-Pierre
Molenat, in: Lexikon des Mittelalters s.v ... Übersetzer, Übersetzungen.
Die Schule von Toledo"
anschlossen, geht man heute davon aus, daß es, mindestens in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung Toledos, keine organisierte Übersetzungstätigkeit
gab. Charles Bumett lehnt vehement jegliche
Schulbildung (schola) im Sinne einer pädagogisch-didaktischen
Lehreinrichtung ab. Vgl, The Institu-
n.
tional Context of Arabic-Latin Translations of the Middle Ages: a Reassessment of the "School of
Toledo ", in : Olga Weijers (Hg.), Vocabulary of Teaching and Research Between Middle Ages and
Renaissance, Turnhout 1995,214-235;
zur Frage, wo sich die arabischen Bücher befanden, kann Burnett nur sagen (227): nicht in der aus der Moschee umgewandelten
Kathedrale. - Jacqueline
Hamesse, Les glossaires bilingues, instruments de travail des traducteurs medievaux, in : Ioannis Taifacos (Hg.), The Origins of European Scholarship, Stuttgart 2005, 137-146, weiß auch keine Antwort
auf die Frage nach der Herkunft der Texte.
139. Arabische Unterschriften von Schenkem oder Zeugen finden sich mindestens noch 50 Jahre
nach der Eroberung von Toledo auf den Urkunden der Kathedrale, vg!. Hernandez, Cathedrale, (wie
Anm. 129) 86.
24
Uta Lindgren
Die zu übersetzenden arabischen Texte standen in Bibliotheken der Stadtbewohner. Da keine militärische Eroberung von Toledo stattgefunden hatte, war das
Zivilleben intakt geblieben 140.
Das politische und kirchliche Umfeld der Reconquista von Toledo ist hinreichend klar. Aber die Frage "Warum Toledo?"
ist damit, was den Beginn der
Übersetzungstätigkeit
betriffi, noch nicht geklärt, vor allem nicht die zeitliche
Dimension. Da bleiben noch Fragen offen. Die Übersetzungen beginnen mit den
zentralen Werken der griechisch-hellenistischen
Mathematik und Astronomie und
eröffnen damit schlagartig neue Perspektiven. Warum haben sich christliche
Gelehrte diese Werke nicht früher beschaffi? Wenn Gerbert von Aurillac, ohne
aus einer namhaften Familie zu stammen, allein durch seine Gelehrsamkeit am
Papst- und Kaiserhof reüssieren konnte, warum fand er keine Nachahmer?
Warum war die Zeit erst drei Generationen nach Gerbert reif dafür, an den Stand
der griechisch-hellenistischen
Antike anzuknüpfen?
Und was bedeutet"
finsteres Mittelalter"
?
Es handelt sich um ein wenig spezifisches, in jedem Fall diffamierendes
Schlagwortv'". Es sieht auf den ersten Blick so aus, als sei die Diffamierung
historisch-chronologisch
gemeint, aber bei genauerem Hinsehen werden alle
möglichen Personen und ihr Umfeld ausgenommen, z.B. Karl der Große, die
Ottonen, Friedrich 11. etc. In gewisser Weise ist das Schimpfwort" finsteres Mittelalter" vergleichbar mit der Kategorisierung aller Nichtgriechen als" Barbaren ".
Bereits die Renaissance sprach im Rückblick vom .. finsteren Mittelalter tt, die
Aufklärung wiederholte diese Diffamierung'V.
Man kann sie historisch verfolgen, aber keinesfalls inhaltlich. Dem •• finstern Mittelalter" werden moralische
Vergehen ebenso vorgeworfen wie Aberglauben und Dummheit. In diese Rich-
140. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die Introductio zu einer medizinischen Übersetzung
von Marcos von Toledo, etwa ein Jahrhundert nach der Eroberung. Marcos, der später - wie auch
andere Übersetzer - Kanoniker in Toledo wurde, war bereits dort geboren, entstammte aber einer aus
dem Norden nach Kastilien zugewanderten Familie (Marie Therese d'Alverny, Mare de Tolede, in:
Estudios (wie Anm. 128) Bd. Ill, 1989,27). Der Text der Introductio wurde erstmals von V. Rose
1874 publiziert (d'Alverny 27), das lateinische Zitat lautet:
magistri ... et scolares, quibus iam
notum erat me Iinguam nouisse arabicam, ... exorantes ut
in latinum transferre(m) sermonem
(Galieni)... Deinde, post hunc, iuxta iIIud Euangelicum: Querite et inuenietis, pulsate et aperietur
uobis, in armariis Arabum studiose querens alium quem tranferrem librum (Galieni) ... Das vollständige Zitat bei: A.J. Alvarez-Vizcaino, Problemas en tomo a unos Mss. de la 'Isagoge de Iohanniccius' existentes en el AC de la Catedral de Toledo, in: Estudios (wie Anm. 128) Bd. Ill, 1989, 201.
141. Norbert Brieskom, Finsteres Mittelalter ? Ober das Lebensgefühl einer Epoche, Mainz
1991, nähert sich der Problematik als Philosoph etwas distanziert und stellt sie auf diese Weise in ein
neues, auch moralisches Licht.
142. Jacques Le GolT, Aufder Suche nach dem Mittelalter, München 2004,15 "Die überaus.
fruchtbare Mediävistik in Frankreich hat trotz ihrer wissenschaftlichen Erfolge daran offenbar nichts
geändert, in den Medien und auch sonst überall herrschen dieselben Vorurteile. Manchmal entmutigt
mich das..... - Uber die fatale Wirkung der" Geschichte der Mechanik" von Ernst Mach, ab 1883 in
7 Auflagen erschienen, davon 3 englische Übersetzungen, vgl. Harald Siebert, Wie der Westen sich
modern schrieb. Epoche machen im Zeichen der Wissenschaft, FrankfurtlM. 2009; darin auch ein
Kapitel: Moderner Westen vs. 'Finsteres Mittelalter'.
Wann war das Mittelalter finster? Mit Cassiodor nach Toledo
tung gehen die Diffamierungen,
erforscht ist, eher seltenl43•
da die Bildungsgeschichte
25
ohnehin
wenig
Resumee
Global betrachtet muß man festhalten, daß es sich bei dem oben dargelegten
Weg der frühmittelalterIichen
Aneignung antiker Bildung um individuelle Leistungen handelt, die aber auf zunehmendes Interesse stießen. Häufig wurde in der
Geschichtsschreibung
der Eindruck vermittelt, Euklid und die anderen seien
"wieder"
nach Europa zurückgekehrt. Dabei wird vergessen, daß Euklid (u.a.)
bis zu den Kelten und Germanen noch nie gekommen war. Mit dem gesamten
dargelegten Aneignungsprozeß
hatten Kelten und Germanen für sich Neuland
betreten. Durch die Übersetzungen griechischer und hellenistischer Werke ins
Lateinische wurde dieser Weg nun beschleunigt fortgesetzt. Insofern brachte
Toledos Eroberung keine Wende, jedenfalls nicht in dem Sinn einer Richtungsänderungl44•
143. Zu diesen Ausnahmen gehörte Hans Martin Klinkenberg, Der Verfall des Quadrivium im
frühen Mittelalter, in : JosefKoch (Hg.), Artes liberales von der antiken Bildung zur Wissenschaft des
Mittelalters, Leiden, Köln 1959, 1-32, der immanente Kritik im seihen Band durch O. Pedersen 109
f. findet. Eine deutliche Zurechtweisung erfuhr Klinkenberg durch Kurt Reindei, Vom Beginn des
Quadriviums, in: Deutsches Archiv 15, 1959,516-522. Darin heißt es:" Über die Entwicklung des
Quadrivium im Frühmittelalter wird noch nicht das letzte Wort gesprochen sein ".
144. Vg!. Siebert (wie Anm. 142), der sich besonders mit der Theorie der wissenschaftlichen
Revolutionen versus kontinuierlicher Entwicklung (Duhem, Koyre) widmet. Er ist ein vorzüglicher
Führer durch alles, was sich in der Geschichte dreht und wendet.
.
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