STUDIENGESELLSCHAFT FÜR FRIEDENSFORSCHUNG E.V. MÜNCHEN DENKANSTÖSSE ZUM THEMA: NR. 59/60 Europäische Außen- und Sicherheitspolitik: Von der Zivil- zur Militärmacht? Die unabhängige Studiengesellschaft für Friedensforschung möchte durch Kurzinformationen interessierte Menschen anregen, sich mit der aktuellen Friedens- und Sicherheitspolitik, auch im Hinblick auf Fragen der Ökologie und der Dritten Welt, kritisch auseinanderzusetzen. Europa ist eine Tatsache Die Frage nach dem, was „Europa“ real ist und was sich die Menschen unter „Europa“ vorstellen, ist ein umstrittenes Thema. Unter „Europa“ kann man rein pragmatisch jene westlichen Staatengemeinschaften verstehen, die auf Europa Bezug nehmen, also der Europarat bzw. die Europäischen Gemeinschaften in ihren Metamorphosen bis zur heutigen Europäischen Union. Das ist ein nicht sehr eleganter, aber nachvollziehbarer Ausweg aus dem Dilemma, dass sich aus der schier endlosen Zahl von Büchern zum Thema „Europa“ für keine historische Epoche eine eindeutige Bestimmung des Begriffs, des Inhalts und der Gestalt gewinnen lässt, sondern nur die Erkenntnis einer verwirrenden, spannungsgeladenen räumlichen, ethnischen, kulturellen und politischen Vielfalt. Der Europa genannte geographische Raum präsentiert sich im Laufe der Jahrhunderte mit fließenden geographischen, kulturellen und politischen Grenzen und dient seit dem Mittelalter für eine Vielzahl von fluktuierenden kulturellen und staatlichen Einheiten, die eifersüchtig um ihre Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Freiheit bemüht sind, sich unablässig in Kriege um Macht, Herrschaft, Unabhängigkeit, Religion und anderes mehr verwickelt haben. Es ist deshalb verständlich, dass viele Historiker oder Philosophen „Europa“ weniger als materielle Einheit, sondern als kollektive Imagination, als geistiges Konstrukt begreifen, etwas, das gedacht wird. Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 1 28.10.2010 8:37:05 Uhr In der Geschichtswissenschaft macht seit einigen Jahren das Wort von der „Provinzialisierung Europas“ die Rede. Oft wird es so verstanden, als sei der Kontinent gegenüber den aufstrebenden Regionen Amerikas und Asiens an den Rand gedrängt worden. Der alte Kontinent Europa pendelt heute zwischen Wünschen, Ängsten und der Wirklichkeit. Europa sehnt sich nach Stabilität und Anstand. Das Bedürfnis nach Stabilität ist von Verunsicherung getrübt. Auf den ersten Blick ist diese europaweite Verunsicherung aber völlig unbegründet. Wir leben in Frieden und Wohlstand, genießen einen hohen Lebensstandard. Dennoch macht die Zukunft Angst. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle, die Sorge um die Garantie öffentlicher Dienstleistungen (von der Schule bis zur Rente), das Zuwanderungsproblem, die demographische Entwicklung, die schwindelerregende Staatsverschuldung, die Umweltbelastung, die Angst vor neuen Systemkrisen und der wachsende Populismus schüren die Verunsicherung Tag für Tag. Europa heute ist ein riesiges Experiment, an dem zahlreiche sehr verschiedene Staaten und Nationen beteiligt sind, von denen man annehmen sollte (und darf), dass sie eng zusammenarbeiten wollen – unter wechselnden Konstellationen auf dem gesamten Globus. Europa heute hat den aufgestauten Hass, die territorialen Streitigkeiten, die jahrhundertealten Rivalitäten allmählich hinter sich gelassen. Die Europäische Union ist ein bahnbrechendes Experiment, ein Modell dessen, was morgen eine versöhnte Menschheit sein könnte. Zivilmacht Europa? Das Streben nach militärischer Handlungsfähigkeit nach dem Versagen der Europäischen Union auf dem Balkan Anfang der 1990er Jahre stellt eine Zäsur in der Gestaltung der EU-Außenbeziehungen dar. Denn noch Anfang der 1970er Jahre hat sich die Gemeinschaft zum Leitbild einer „Zivilmacht Europa“ bekannt. In einem von den EG-Außenministern verfassten „Dokument über die Europäische Identität“ wurde im Dezember 1973 in Kopenhagen das Zivilmachtkonzept zum normativen Leitbild der EG für die Gestaltung ihrer 1 Außenbeziehungen erhoben. Umgesetzt wurde es vor allem im Rahmen der europäischen Entwicklungspolitik, denn mit ihrem Engagement als weltweit stärkstes Geberland staatlicher Entwicklungshilfe betreibt die EU eine langfristig angelegte Politik der Armutsbekämpfung und damit zugleich der Krisenprävention. Immerhin war der europäische Integrationsprozess seit seinen Anfängen auch ein sicherheitspolitisches Projekt, das vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen auf die nachhaltige Befriedung Europas zielte. Der Gefahr eines Wiederauflebens aggressiver Nationalismen trat der europäische Integrationsprozess in zweifacher Weise entgegen: Zum einen durch die freiwillige Übertragung von Teilen der nationalen Souveränität auf eine supranationale Ebene und zum anderen durch die kontinuierliche Verdichtung der transnationalen Interdependenzen, die den Nutzen anhaltender Kooperation auch zwischen ehemals verfeindeten Staaten erhöhte und so die Gefahr eines erneuten europäischen Krieges fortlaufend minderte. Für Duchêne hatte die EG damit das Potenzial entwickelt, um ein erstes Zentrum ziviler Macht im internationalen System zu werden. Allerdings wirft schon der semantische Gegensatz von zivil und militärisch Fragen nach der Kontinuität des außenpolitischen Rollenverständnisses der Gemeinschaft auf: Befindet sich die EU mit ihren verteidigungspolitischen Ambitionen auf dem Weg zur militärischen Interventionsmacht oder verbessert sie lediglich ihre Fähigkeiten, „im Einklang mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen auf internationaler Ebene zu Frieden und Sicherheit beizutragen“, wie es in den Erklärungen des Europäischen Rats vom 4. Juni 1999 in Köln heißt? Seine Idee wurde zu Beginn der neunziger Jahre vom Trierer Politikprofessor Hanns W. Maull aufgenommen, der den Begriff Zivilmacht zu einem Konzept weiter3 entwickelte. Das Ziel Maulls war es, mit dem Zivilmachtkonzept die spezifische, sich von anderen Nationen aufgrund ihrer Geschichte und außenpolitischen Entwicklung unterscheidende japanische und deutsche Außenpolitik zu typologisieren und zu erklären. Im Laufe der Jahre wurde das Konzept auch von weiteren Wissenschaftlern dann immer stärker ausdifferenziert und bildete den theoretischen Rahmen für zahlreiche 4 Analysen zur Außenpolitik Deutschlands und der EU. Wenn von der Zivilmacht Europa die Rede ist, stellt sich die Frage: Was ist eigentlich gemeint damit? Eine Zustandsbeschreibung, die darauf abhebt, dass es der EU bislang an militärischer Potenz fehlt? Oder eine Selbstcharakterisierung, mit der die Union sich selbst zu beschreiben sucht? Oder ein theoretisches Konzept, über das jedoch keine Einigkeit herrscht? In dem von François Duchêne Anfang der 1970er Jahre skizzierten Konzept einer Zivilmacht Europa wurde das friedliche Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander zum Ausgangspunkt weiterführender Reflexionen über die inter2 nationale Rolle der EG herangezogen. 1 Vgl. Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945-1993, Bonn 1994, S. 302 ff. 2 Vgl. Duchêne, François: Europe’s Role in World Peace, in: Mayne, Richard: Europe Tomorrow: Sixteen Europeans Look Ahead, London 1972, S. 31-47 Vgl. u.a. Maull, Hanns W.: Zivilmacht Deutschland. Vierzehn Thesen für eine neue deutsche Außenpolitik, in: Senghaas, Dieter (Hrsg.): Frieden machen, Frankfurt/Main 1997 4 Über die Definition einer Zivilmacht und die Frage, ob die EU als solche einzuordnen ist, wurde seit den ersten Überlegungen ausgiebig diskutiert, ohne dass sich die Autoren auf eine allgemeine Formulierung der zugrunde liegenden Bestimmungsfaktoren einigen konnten. Erschwerend für eine Konzeptualisierung ist, dass ein Teil der Literatur Zivilmacht als normatives Ideal darstellt, ohne konkrete Fälle zu testen. Ein anderer Teil der Autoren bewertet die europäische Außenpolitik anhand selbst gewählter Indikatoren, die von der eigenen Überzeugung einer gewählten Theorie beeinflusst sind. Besonders die Diskussion darum, ob durch den Aufbau der ESVP die Politik der EU noch die einer Zivilmacht sein kann, sind von dieser Dichotomie geprägt. Michael Blauberger hat in seiner Studie „Zivilmacht Europa? Leitlinien europäischer Außenpolitik in der Analyse, Marburg 2005“ in diesem Zusammenhang sinnvollerweise auf Max Webers (1864-1920) Unterscheidung zwischen „Zweckrationalität“ und „Wertrationalität“ verwiesen: „Zivilmächte“ handeln demnach „wertrational“, weil sie bestimmte Werte, die innergesellschaftlich verwirklicht wurden, als universell gültig ansehen (siehe auch Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, erstmals 1922). 3 2 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 2 28.10.2010 8:37:07 Uhr Demnach würde sich der Idealtypus der Außenpolitik einer Zivilmacht durch folgendes Verhalten auszeichnen: Kooperatives Handeln vor allem im Rahmen internationaler Institutionen: Die Außenpolitik ist multilateral angelegt und bestrebt, internationale Verhandlungssysteme auszubauen und dadurch einen Beitrag zur Verrechtlichung der internationalen Politik zu leisten sowie aktive Förderung der Zivilisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen (umfassende politische und ökonomische Verflechtung um eine ausgewogene Verteilung des internationalen Wohlstands zu erreichen und damit gegen das Risiko potenzieller Ressourcenkonflikte vorzugehen). Bewusster Verzicht auf die Methoden klassischer Machtpolitik, Präferenz für nicht-militärische Instrumente und Bevorzugung ökonomischer und diplomatischer Mittel: Militärische Mittel werden nur in Ausnahmesituationen und auf der Basis eines völkerrechtlichen Beschlusses (etwa durch die UNO) eingesetzt. Wertgebundene Außenpolitik in Form einer Förderung des internationalen Menschenrechtsschutzes und der Demokratie (aufbauend auf den Theorien des Demokratischen Friedens, denen zufolge Demokratien untereinander keine Kriege führen). Über die Zivilmachtorientierung herrscht weitgehend Konsens unter den Mitgliedstaaten. Sie eint ein „Verständnis von Außenpolitik, das auf die Herstellung von positiven Anreizen, von Vertrauen, auf Einbindung und 5 Interdependenz setzt“. Das Selbstverständnis als Zivilmacht kann empirisch unter anderem an der konstruktiven Rolle der EU in den Vereinten Nationen, der Erweiterungspolitik und teilweise in der Afrika-Politik nachgewiesen werden, da (neben der Verfolgung anderer Ziele) erhebliche Anstrengungen in der Demokratie- und Menschenrechtsförderung unternommen wor6 den sind. Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2002, S. 390, sowie Schlotter, Peter (Hrsg.): Europa – Macht – Frieden? Zur Politik der „Zivilmacht Europa“, BadenBaden 2003. Allerdings werden in den verschiedensten Ländern unterschiedlichste Vorstellungen damit verbunden. Wie vertragen sich z.B. französische oder englische Atomwaffen mit dem Begriff einer Zivilmacht? Welche Bedrohungswirkungen haben Waffenpotenziale generell? 6 Vgl. Jünemann, Annette/Knodt, Michèle (Hrsg.): Externe Demokratieförderung durch die Europäische Union, Baden-Baden 2007 Trotz seines eindeutig friedenspolitischen Kerns ist das so beschriebene Zivilmachtkonzept nicht pazifistisch zu verstehen und deshalb grundsätzlich kompatibel mit dem Aufbau und Einsatz von Militärkapazitäten. Duchêne befürwortete explizit die Anschaffung von Waffen zu Verteidigungszwecken, denn entscheidend für den Status einer Zivilmacht ist – nach seinen Vorstellungen – nicht der Besitz (oder Nicht-Besitz) von militärischen Mitteln, sondern der zurückhaltende Umgang mit diesen Mitteln. Die Bewertung, ob ein Staat bzw. die EU dem Idealtyp einer Zivilmacht entspricht oder nicht, hängt allein von der Kongruenz seines politischen Handelns mit den drei aufgeführten Kriterien ab. In diesem Sinne gilt es zunehmend als legitim und ist mit dem Verständnis von Zivilmacht vereinbar, wenn sich demokratische und die Menschenrechte achtende Staaten in die inneren Angelegenheiten solcher Staaten einmischen, die die demokratischen Spielregeln nicht beachten oder Menschenrechte massiv verletzen. Übliche zivile Instrumente der Einflussnahme sind Anreize und Sanktionen im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzkooperation sowie die gezielte Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Gegeneliten autoritärer Regime. Diese Instrumente sind heute schon integraler Bestandteil aller EU-Abkommen mit Drittländern und als legitime Instrumente einer Zivilmacht nicht zu beanstanden. Komplizierter wird es allerdings, wenn es um militärische Instrumente der Einmischung geht, also um so genannte humanitäre Einsätze. Immer öfters wird in diesem Zusammenhang auf europäischer Ebene argumentiert, der Zweck – also die friedensgerichtete Intention – rechtfertige den Rückgriff auf militärische Mittel. In Betracht gezogen werden Szenarien, die in den Rahmen der Petersberg7 Aufgaben fallen. Allerdings gibt es bisher keine Kriterien für eine legitime Intervention zur Friedenserzwingung. Fällt ein ohne UN-Mandat geführter Krieg wie der Kosovo-Krieg in diese Kategorie? Kommen auch Aktionen gegen den Internationalen Terrorismus als kompatible Szenarien in Betracht? 5 7 Am 19. Juni 1992 definierte der WEU-Ministerrat in der Petersberger Erklärung mögliche Aufgabenfelder für militärische Einsätze: humanitäre Aktionen oder Evakuierungsmaßnahmen; friedenserhaltende Maßnahmen; Kampfeinsätze für das Krisenmanagement, einschließlich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens. Historische Entwicklungen Die wichtigste Rechtfertigung der EU besteht darin, dass sie die im Untergrund der Geschichte lauernden Ungeheuer gebannt hat. Um dies zu belegen, muss man gar nicht bis zu den beiden Weltkriegen zurückgehen. Dass Osteuropa, lange eine Konfliktzone der Nationen und Ethnien, unterdessen durchaus floriert, ist wesentlich dem Integrationskurs der EU zu verdanken. Viel Geld aus Brüssel und beharrliche Diplomatie ha- ben dazu beigetragen, die Sprengsätze zu entschärfen. Auch für den Balkan kann nur die EU eine Lösung finden, welche die einstigen Kriegsgegner versöhnt und die Stationierung ausländischer Soldaten überflüssig macht. Die europäische Integration als Garant von Frieden, Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent – diese Idee ist nicht nur etwas für Großväter und Nostalgiker. 3 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 3 28.10.2010 8:37:07 Uhr Europa und die USA nach dem Zweiten Weltkrieg 8 Nach dem kriminellen Versuch der Verdeutschung Europas hatte die Katastrophe des Dritten Reiches den Überlebenden die Aufgabe hinterlassen, Deutschland zu europäisieren, wie es der junge Willy Brandt hell9 sichtig im skandinavischen Exil und nach ihm Thomas Mann bei seiner Versöhnungsreise 1953 nach Lübeck gefordert hatten. In den Jahren 1944/45 kehrten die Exilpolitiker überall dorthin zurück, wo die deutschen Besatzungstruppen zum Rückzug gezwungen wurden. Zusammen mit Widerstandskämpfern und Menschen, die in die „innere Emigration“ gegangen waren, sahen sie ihre vorrangige Aufgabe darin, nationalstaatliche Demokratien wieder zu errichten oder neu zu schaffen, mit den Kollaborateuren abzurechnen, ihre vom Krieg schwer geschädigten Länder wieder aufzubauen und, sofern sie Kolonialmächte waren, sich aus „nationalem Interesse“ um die Erhaltung der Kolonialreiche zu bemühen. Die enormen Probleme der wirtschaftlichen Normalisierung versuchten sie im nationalen Rahmen zu lösen, obwohl ihre Länder nicht fähig waren, im Alleingang die Kriegsfolgen zu überwinden und ihren 10 Platz im internationalen Handelsaustausch zu finden. Insgesamt hatte sich Europas Gewicht in der Weltwirtschaft in den ausgehenden 1940er Jahren außerordentlich vermindert, war kaum in der Lage, sich wirk- sam nach außen zu behaupten und zu sichern, während die Stellung der Vereinigten Staaten erdrückend 11 geworden war. Die politische Führung in Washington musste akzeptieren, dass es den USA nicht mehr, wie nach dem Ersten Weltkrieg, möglich sein würde, sich auf den eigenen Kontinent zurückzuziehen. Es war, so lautete die Erkenntnis der Experten der amerikanischen Außenpolitik, unausweichlich, weltweit politisch zu wirken, allein schon im Interesse der eigenen Sicherheit und des eigenen Wohlergehens und nicht nur wegen der Verantwortung, die dem Land aufgrund seiner 12 Stärke zugefallen war. Wie weit diese Verantwortung reichen würde, überblickte die amerikanische Führung allerdings nicht. Sie ging aber davon aus, dass die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion langfristig angelegt sei und dass Großbritannien und Frankreich stark genug und willens seien, eine tragende Funktion in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu übernehmen. Beide Annahmen erwiesen sich als irrig. Die Zerstörung der britischen und der französischen Wirtschaftskraft, die innenpolitische Zerrissenheit Frankreichs und die Belastungen der beiden Länder durch ihre Anstrengungen, die um ihre Selbständigkeit kämpfenden Kolonien weiter in Besitz zu halten, stellten sich als so schwer heraus, dass keine der beiden Nationen in der Lage war, dem Anspruch gerecht zu werden, eine große oder gar Weltmacht zu sein. Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1960) Vgl. Machetti, Andreas: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Politikformulierung im Beziehungsdreieck Deutschland – Frankreich – Großbritannien, Baden-Baden 2009, S. 49 ff. 12 In dem als Top Secret eingestuften „Report by the Policy Planning Staff“, Washington, February 24, 1948 (Policy Planning Study 23), wurde von George F. Kennan bezüglich der Situation der USA formuliert, dass die USA als nur kleiner Teil der Weltbevölkerung über den größten Teil des weltweiten Reichtums verfügt. Deshalb sei es notwendig, „ein Schema von Beziehungen zu erarbeiten, das es uns erlauben wird, diese Position der Ungleichheit zu bewahren“. 11 Vgl. vor allem Junker, Detlev: Kampf um die Weltmacht. Die USA und das Dritte Reich 1933-1945, Düsseldorf 1988; ders. (Hrsg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch. 2 Bände (I: 1945-1968; II: 1968-1990), Stuttgart/München 2001 9 Vgl. Günther Struve (Hrsg.): Willy Brandt. Draußen. Schriften während der Emigration, München 1966 10 Vgl. die Indexzahlen der industriellen Produktion in den europäischen Ländern bei Gasteyger, Curt: Europa von der Spaltung zur Einigung, Bonn 2001, S. 58 8 4 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 4 28.10.2010 8:37:07 Uhr Frankreich oder Großbritannien als Führungsmächte? Das Nachkriegsfrankreich unter General de Gaulle erhob den Anspruch, Ordnungsmacht im Westen des Kontinents zu werden und hier ein 13 „französisches“ Europa zu schaffen. Nach der festen Überzeugung der französischen Politik war dies eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Deutschland nie wieder zu einem Krieg fähig oder zu einem machtvollen Konkurrenten Frankreichs werden dürfe. Französische Europapolitik war deshalb in den Nachkriegsjahren vorrangig Deutschlandpolitik, und sie zielte in einer ersten Phase darauf, Deutschland zu zerstückeln, das Rheinland abzutrennen, das Ruhrgebiet als das industrielle Herz Deutschlands herauszulösen und es internationaler Verwaltung und Nutzung zu unterstellen. Um Deutschland für lange Zeit klein zu halten und Frankreich als führende Macht im westlichen Europa zu zementieren, dachte de Gaulle ferner daran, aus Frankreich mit Einschluss des Rheinlands und des Ruhrgebiets sowie der BeneluxStaaten eine „westliche Gruppierung“ zu schaffen. Er präsentierte den Plan im Oktober 1945 in Brüssel, aber die Benelux-Staaten ließen sich nicht dafür gewinnen. Der in der Folgezeit entwickelte strategische Grundgedanke der französischen Politik gegenüber Deutschland lässt sich in der Formel der „Kontrolle durch Integration“ zu14 sammenfassen. Wenn in der Nachkriegszeit auf dem europäischen Kontinent über Formen der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit gesprochen wurde, galt es als unabdingbar, dass Großbritannien mit seinem enormen Prestige, das es sich im Krieg als Bollwerk gegen NSDeutschland und als Zufluchtsort für Exilpolitiker erworben hatte, dabei sein und die Führung übernehmen müsse, auch, um eine für die Benelux-Staaten unannehmbare französische Vorherrschaft zu verhindern. Dagegen gehörte zu den britischen außenpolitischen Optionen nach dem Krieg zwar ein westeuropäischer Block. Er sollte nicht nur die westlichen Länder vor einer potenziellen neuen deutschen Aggression schützen, sondern neben dem Pfeiler des Commonwealth auch als europäischer Pfeiler für den britischen Großmachtanspruch dienen. Aber „Europa“ stellte dabei lediglich einen dem Commonwealth und den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nachgeordneten Bezugskreis britischer Politik dar. Allerdings war angesichts der sowjetischen Bedrohung auch das besiegte und seiner Souveränität entkleidete Deutschland allmählich einzubinden, da seine totale Entmachtung und Ausgrenzung die Gefahr in sich barg, es über kurz oder Vgl. seine Memoiren, wo es heißt: „Auch sagt mir mein Verstand, dass Frankreich nicht Frankreich ist, wenn es nicht an der ersten Stelle steht. … Kurz, ich glaube, ohne Größe kann Frankreich nicht Frankreich sein.“; de Gaulle, Charles: Memoiren der Hoffnung, Gütersloh 1972 14 Vgl. Ziebura, Gilber: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997, S. 81 13 lang der UdSSR in die Arme zu treiben. Die europäische Option wurde aber mit Rücksicht auf die Sowjetunion nicht wahrgenommen, die eine solche Blockbildung als unfreundlichen Akt hätte ansehen können. Außerdem schreckte die britische Regierung vor jedem europäischen Engagement zurück, das ihr weitgehende Verpflichtungen und damit eine Einschränkung in ihrem weltweiten politischen Handeln und den besonderen Beziehungen zum Commonwealth auferlegen würde. Denn nach dem Sieg 1945 herrschte in Großbritannien die von Zweifeln ungetrübte Überzeugung, neben den beiden Supermächten USA und UdSSR die dritte Weltmacht zu sein und ungebunden zusammen mit den beiden großen Kriegspartnern in den Angelegenheiten der Europa- und Weltpolitik agieren zu können. 1947 verschärfte sich der Ost-West-Gegensatz weiter und die Vorstellung, von der Sowjetunion bedroht zu werden, begann das westliche außenpolitische Denken zu beherrschen. Als sich zeigte, dass Großbritanniens Kräfte nicht ausreichten, dem Großmachtanspruch in Asien, dem Vorderen Orient und Europa zu genügen, kam London kurzzeitig auf die Idee eines westlichen Blocks als Kraftquelle für die britische Europa- und Weltpolitik zurück. Ernsthafter aber bemühte sich die britische Politik darum, die USA als Seniorpartner für ein atlantisches Sicherheitsbündnis zu gewinnen, anstatt auf ein europäisches Bündnis mit dem schwachen Partner Frankreich zu vertrauen. 5 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 5 28.10.2010 8:37:07 Uhr Die USA als Geburtshelfer Europas „Wenn es ‚Europa‘ gibt, dann nur, weil es die Amerikaner wollen“, schreibt der englische Historiker Norman Stone, und er fährt fort, fast alle europäischen Institutionen gäbe es nur, weil die Amerikaner der „Euro15 Anarchie“ ein Ende bereiten wollten. Und von Klaus Harpprecht, Vertrauter und Freund von Willy Brandt, stammt der Satz: „Wir mussten nach dem Krieg alle erst Amerikaner werden, um Europäer werden zu können.“ Die Aussage ist pointiert, aber nicht ohne Berechtigung, wie Beate Neuss in ihrer Studie über die USA 16 als Geburtshelfer Europas nachweist. Ohne den Anstoß durch den Marshall-Plan, ohne die nachdrückliche Unterstützung der US-Regierungen, ohne das Drängen und Vermitteln bei der Umsetzung der aufeinander folgenden Initiativen wäre die europäische Integration, wenn überhaupt, nicht so schnell und nicht in der Form verwirklicht worden, wie es geschehen ist. Seit Herbst 1946 vollzog sich ein tiefer, grundsätzlicher Wandel in der amerikanischen Deutschland- und Europapolitik. Äußeres Zeichen waren der wirtschaftliche Zusammenschluss der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zur so genannten Bi-Zone (1. Januar 1947), die Reduzierung der Demontagen und das Zurückweisen sowjetischer Ambitionen auf ganz Deutschland in der Reparationsfrage (Demonta17 ge, Viermächtekontrolle im Ruhrgebiet). Der Wechsel der US-Politik von der Position gegen einen europäischen Zusammenschluss zu dessen Förderung lässt sich recht präzise auf das Jahr 1947 datieren. In diesem Jahr zeichnete sich eine weltpolitische Konstellation ab, mit der die Hoffnungen des Jahres 1945 begraben werden mussten, nach dem Sieg über Nazi-Deutschland und Japan ein neues Zeitalter des globalen Friedens auf den Weg zu bringen. Die beiden Supermächte, die 1945 je eine Hälfte Europas dominierten und ihren Willen zur Zusammenarbeit bekundeten, steigerten sich in einen gegenseitigen unerklärten, 18 „Kalten Krieg“ hinein. Dieses gegenseitige Misstrauen wurde im Osten wie im Westen von Bedrohungsszenarien geschürt. Im Westen sah man, wie Osteuropa von einer der Sowjetunion vorgelagerten Einflusszone in einen politisch geschlossenen Block von „Volksdemokratien“ unter kommunistischer Herrschaft umgeformt wurde. Das gab Anlass zu immer schriller geäußerten Befürchtungen, die Politik der UdSSR sei auf Expansion ausgerichtet, sie wolle ihre gesellschaftliche und politische Ordnung immer weiter nach Westen ausdehnen und zu diesem Zweck als „fünfte Kolonne“ auch die starken kommunistischen Parteien in Westeuropa, vor allem in Frankreich und 19 Italien, einsetzen. Der folgenschwere Umschwung der amerikanischen Politik von der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu der des „containment“, der Eindämmung des vermuteten Expansionsdrangs der Sowjetunion, fand statt, nachdem die USA und Großbritannien den Eindruck gewonnen hatten, dass Stalins Politik darauf ausgerichtet sei, in der dem Westen, bzw. Großbritannien, zugestandenen Einflusszone (Persien, Türkei, Griechen20 land) Fuß zu fassen. Am 11. März 1947 verkündete Präsident Harry S. Truman in seiner berühmten Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses jene neue Maxime der amerikanischen Politik, die als „Truman-Doktrin“ in die Geschichte eingegangen ist. Mit der Truman-Doktrin sagten die USA allen freien Völkern, die der Unterjochung durch bewaffnete Minderheiten oder auswärtigem Druck widerstünden, ihren Beistand zu. Demnach stellte Truman Griechenland und die Türkei unter den Schutz Washingtons und bezog erstmals gegen die sowjeti21 schen Expansionsbestrebungen öffentlich Stellung. Die Truman-Doktrin markierte den Beginn einer aggressiven amerikanischen Außenpolitik und gab das Signal für den Aufbruch zu einem antikommunistischen Kreuzzug. Sie war zugleich das Versprechen einer festen Bindung der USA an Westeuropa, beinhaltete aber auch, dass sich die USA fortan bemühen würden, ein Europa nach ihrem Bilde, nach ihren politischen Vorstellungen und wirtschaftlichen Bedürfnissen zu schaffen. Die Containment-Politik führte zur Zunahme der Konfrontationspotenziale und zur Vertiefung der Teilung Europas. In den Worten des NATO-Generalsekretärs Lord Ismay: „… to keep the Russians out, the Americans in and the Germans down.“ Dass Europa auch ein demokratisches Europa nach dem Demokratieverständnis der USA zu sein habe, war selbstverständlich. Demokratie aber, davon waren die USA überzeugt, sei ohne Wohlstand nicht erreichbar, Wohlstand dagegen sei ohne Demokratie nicht erreichbar, und beides hielt man für untrennbar mit Marktwirtschaft und einer offenen Weltwirtschaft, dem so genannten Wirtschaftsliberalismus, verbunden. Vgl. Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr, Frankfurt/Main 1981 20 Georg F. Kennan, 1947–1950 Leiter des Planungsstabes im amerikanischen Außenministerium, prägte den Begriff „containment“ (Eindämmung). Schon 1946 hatte Kennan begonnen, seine Vorstellungen von einer amerikanischen Eindämmungspolitik zu konzipieren, trat jedoch erst im Juli 1947 mit seiner Theorie in Form eines Aufsatzes „The Sources of Soviet Conduct“ mit der Unterschrift Mr. X in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ an die Öffentlichkeit. 21 Vgl. Kerschbaumer, Johannes: 60 Jahre Europäische Sicherheitspolitik, Frankfurt/Main 2007 19 Vgl. The European, 14.-17. Mai 1992, S. 21 Vgl. Neuss, Beate: Geburtshelfer Europas. Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945-1958, Baden-Baden 2000 17 Vgl. Musial, Bogdan: Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, Berlin 2010 18 Vgl. Nolte, Ernst: Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974; Yergin, Daniel: Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas, Frankfurt/Main 1979 15 16 6 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 6 28.10.2010 8:37:07 Uhr Der Marshall-Plan Alarmiert kehrte im April 1947 der amerikanische Außenminister George Marshall von der Moskauer Außenministerkonferenz zurück. Dort war es den Alliierten wiederum nicht gelungen, sich auf eine Regelung der sie gemeinsam betreffenden Angelegenheiten zu einigen. Marshall befürchtete, die Sowjetunion werde die trostlose wirtschaftliche Lage in Westeuropa nutzen, um mit Unterstützung ihrer in den kommunistischen Parteien und Gewerkschaften organisierten Anhänger ihren Machtbereich nach Westen auszudehnen. Wenige Wochen später, am 5. Juni 1947, kündigte er in einer Rede an der Harvard-Universität ein großes wirtschaftliches Hilfsprogramm an, mit dem die USA gedachten, die Truman-Doktrin wirtschaftspolitisch zu ergänzen und die befürchtete Expansion des Kommunismus abzublocken. Das „European Recovery Program“ (ERP), bald volkstümlich „Marshall-Plan“ genannt, hatte zum Ziel, die europäische Wirtschafts- und Wiederaufbaukrise zu überwinden, die europäischen Länder mit großzügigen finanziellen und technischen Hilfen in ihren Anstrengungen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zu unterstützen und zur Zusammenarbeit beim Abbau der Handelsschranken und dem Aufbau effizienter wirtschaftlicher Strukturen anzuregen. Die Europäer mussten nach Meinung der Amerikaner dahin gebracht werden, ihre Wirtschaftsprobleme als gemeinsame Probleme zu sehen und anzupacken. Nur dann würde sich die Hilfe Amerikas voll auswirken und Europa Kraft einflößen. Marshalls Rede an der Harvard-Universität gilt heute als ein Schlüsseldokument der Nachkriegsgeschichte, in dem einige Kommentatoren den eigentlichen Beginn der europäischen Integration erkennen. Als die Rede gehalten wurde, erhielt sie nur ein schwaches Echo und blieb beinahe unbemerkt. Allein der britische Außenminister, Ernest Bevin, reagierte sofort und griff, wie er später im Unterhaus sagte, mit beiden Händen zu. Die französische Regierung zeigte sich weniger begeistert. Sie zögerte, weil sie befürchtete, ein schnelles Zugreifen könne den kommunistisch dominierten Gewerkschaften den Anlass für einen Generalstreik gegen das kapitalistische Danaergeschenk geben. Es war deshalb ein kluger Schachzug von Außenminister Marshall, auf einer Pressekonferenz am 12. Juni 1947 der Sowjetunion ausdrücklich anzubieten, in die Hilfe einbezogen zu werden. Die Sowjetunion lehnte das amerikanische Angebot wegen angeblich unzumutbarer Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität ab. Die Staaten im Machtbereich der Sowjetunion mussten gezwungenermaßen ebenfalls ablehnen. Damit kam der Nachkriegsbipolarismus zum Durchbruch. Bis zum Beginn des MarshallPlans schloss der Begriff „Europa“ nach Auffassung der USA noch Osteuropa ein. Mit der tatsächlichen Durchführung des Plans spaltete sich Europa und der Begriff verengte sich zunehmend auf jene Völker, die für sich in Anspruch nahmen, in der Tradition der „westlichen Zivilisation“ zu stehen und eine gemeinsame „westliche“ Auffassung von Demokratie, freier Wirtschaft und Gegnerschaft zum Kommunismus zu besitzen. Verteilung der von den USA gewährten Kredite auf die am Marshall-Plan beteiligten Länder April 1948 bis Januar 1952 in Mill. US-Dollar 7 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 7 28.10.2010 8:37:07 Uhr Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit – Die OEEC Nachdem sich 16 europäische Länder im September 1947 auf eine gemeinsame Vorlage an die USRegierung geeinigt hatten, verabschiedete der Kongress im April 1948 das Gesetz über Umfang und Modalitäten des „Europäischen Wiederaufbauprogramms“ (European Recovery Program, ERP). Damit nahm der Marshall-Plan Gestalt an. Das Gesetz sah zwar einerseits bilaterale Verträge vor, verlangte aber andererseits, die Verwaltung bzw. Verteilung der Mittel einer gemeinsamen Organisation zu übertragen, um eine Koordination der wirtschaftlichen Planungen und Aktivitäten der Empfängerstaaten möglich zu machen. Zu diesem Zweck gründeten die 16 Regierungen und die Militärgouverneure treuhänderisch für die drei westdeutschen Besatzungszonen die „Organization 22 for European Economic Co-operations“ (OEEC). Der Marshall-Plan enthielt eine Anzahl spezifischer Zielsetzungen wie den Ausbau der Handelsbeziehungen, Zollsenkungen, den Auftrag, die Errichtung von Zollunionen oder Freihandelszonen zu untersuchen, die Währungen zu stabilisieren, für ausgeglichene Etats zu sorgen und Vollbeschäftigung anzustreben. Kurz, das ERP sollte die westeuropäische Wirtschaft zu einer liberalen, freien markwirtschaftlichen Ordnung nach US-Vorbild umformen und sie in eine offene Weltwirtschaft einbringen. Gleichzeitig bildete sie den organisatorischen Rahmen für die Verteilung der Hilfsmittel, die sich bis zum Ende des Programms (19481951) auf 13 Milliarden Dollar summierten. Das waren immerhin 15% des amerikanischen Staatshaushalts und 3% des Nationaleinkommens. Die OEEC, der sich 1959 Spanien anschloss, wurde mit dem Pariser Abkommen vom 14. Dezember 1960 zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Organization for Economic Cooperation and Development (OECD) umbenannt. 22 An die westdeutschen Zonen bzw. die Bundesrepublik gingen einschließlich Berlin-West Güter im Ausmaß von ca. 1,3 Milliarden Dollar. Im Rahmen des „Government Aid for Recovery in Occupied Areas“ (GARIOA)-Programms erhielt Westdeutschland noch 23 etwa 1,62 Milliarden Dollar. Die Bundesrepublik zahlte aufgrund ihres Abkommens vom 15. Dezember 1949 jedoch bis 1978 insgesamt 1,1 Milliarden Dollar an die USA zurück. Politisch gesehen diente Westdeutschland vor allem als Instrument der Politik des „containment“ und wurde wirtschaftlich und gesellschaftlich zu einem anti24 kommunistischen Bollwerk aufgebaut. Das Urteil der Historiker über den Marshall-Plan ist keineswegs einhellig. Die Kontroversen betreffen die amerikanischen Motive für die Hilfe, den Anteil des Marshall-Plans am europäischen Wirtschaftsaufschwung und seine Bedeutung für die westeuropäische Integration. Die Amerikaner propagierten den Marshall-Plan als humanitäres uneigennütziges Hilfsprogramm; in Gedenkreden und im kollektiven Bewusstsein lebt dieses Bild bis heute fort. In Wirklichkeit trafen Selbstlosigkeit und Eigeninteresse auf das Engste zusammen. Die USA besaßen ein überaus großes Interesse an der „Rettung“ Westeuropas, das wegen seiner geopolitischen Lage und seiner gewaltigen Ressourcen auf keinen Fall in die Hände des weltpolitischen Konkurrenten Sowjetunion fallen durfte. Außerdem war die amerikanische Wirtschaft, wenn sie nicht in eine Krise geraten sollte, zwei Jahre nach Kriegsende dringend darauf angewiesen, einen Absatzmarkt für ihre Überschuss25 produktion zu erhalten. Das „Hilfs“-Programm war also zugleich ein Absatzförderungsprogramm für die amerikanische Wirtschaft und ein Programm zur Durchsetzung einer liberalen Weltwirtschaft im Interesse der kapitalistischen Großmacht Amerika. Ein Vergleich zeigt, dass die GARIOA-Mittel höher waren, als die Gesamtsumme des ERP für Westdeutschland. Die rein zahlenmäßige Betrachtung ist allerdings dahingehend zu differenzieren, dass es sich bei den GARIOA-Lieferungen weitgehend um Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter handelte, während erhebliche Teile des ERP direkt in den Investitionsgüterbereich flossen und sich auf die Entwicklung der industriellen Produktion auswirkten. Insgesamt bleibt festzustellen, dass die Vereinigten Staaten bei der Formulierung und Durchführung des Marshall-Plans ihre nationalen Interessen höchst wirkungsvoll eingebracht haben, während den Europäern wenig Möglichkeiten blieben, ihre Interessen durchzusetzen, soweit sie nicht mit den amerikanischen Vorstellungen vom europäischen Wiederaufbau übereinstimmten. So mussten 50% aller Hilfsgüter auf amerikanischen Schiffen und unter dem Schutz amerikanischer Versicherungsgesellschaften transportiert werden – eine Bestimmung, die bis Oktober 1948 allein 12% der bis dahin geleisteten Zahlungen kostete. Landwirtschaftliche Produkte konnten mit Marshall-Plan-Geldern nur aus amerikanischen Überschüssen gekauft werden, selbst dann, wenn sie auf anderen Märkten – etwa der Dritten Welt – billiger zu haben waren. Pläne zur Errichtung europäischer Erdölraffinerien wurden nicht genehmigt, stattdessen mussten die Europäer Öl amerikanischer Firmen zu überhöhten Preisen einführen; Mitte 1950 belief sich der Anteil allein des Erdöls an den gesamten Marshall-Plan-Lieferungen auf 11%. 24 Vgl. Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr, Frankfurt/Main 1981, S. 67 ff. 25 Wirtschaftlich waren die USA gezwungen, durch die Reduzierung des Verteidigungshaushalts von 80 Mrd. $ auf 12 Mrd. $ Verwerfungen der Wirtschaft zu kompensieren. Dafür bot sich der Markt Europa geradezu an. 23 8 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 8 28.10.2010 8:37:07 Uhr Der Europarat Die erste, von den Europäern selbst hervorgebrachte internationale Organisation, die möglichst viele europäische Staaten integrieren sollte und wegen ihrer fehlenden außen- und sicherheitspolitischen Kompetenz sogar neutrale Staaten zu ihren Gründungsmitgliedern zählte, ist der Europarat. Er wurde 1949 mit dem Ziel, die europäische Einheit und Zusammenarbeit zu stärken, von den Staaten des Brüsseler Pakts sowie Dänemark, Irland, Italien, Norwegen und Schweden gegründet und entwickelte sich schnell zur mitgliederstärksten europäischen Organisation (sie ist es mit aktuell 47 Mitgliedstaaten bis heute), die aber mit der EU und ihren Vorläufern in keinerlei institutionellem Zusammenhang steht. Der Europarat ist der erste institutionelle Ausfluss der vielgestaltigen europäischen Idee. Mit seiner berühmten Züricher Rede im September 1946, als Winston Churchill so „etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa“ (denen er Großbritannien natürlich aus historischen Gründen nicht zurechnen wollte) forderte, zog er die Aufmerksamkeit der Europavisionäre unterschiedlicher Ausrichtung auf sich. Aufgrund der Bedrohung durch die Sowjetunion – ausgelöst durch die Korea-Krise 1950 – nahm im selben Jahr der Europarat in Straßburg mit 89 Für- und 5 Gegenstimmen sowie 27 Enthaltungen den Vorschlag des damaligen britischen Oppositionsführers Winston Churchill an, eine „europäische Armee“ im Rahmen der NATO zu gründen. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) – Montanunion Deutschland und Frankreich, vorgesehen war aber auch eine Beteiligung anderer europäischer Staaten. Ein wichtiger Schritt im Prozess der europäischen Integration sowie eine ebenso wichtige Aktion im sicherheitspolitischen Bereich stellte die Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951, auch die Montanunion genannt, dar. Der Sicherheitsgedanke stand im Vordergrund als der französische Außenminister Robert Schuman, der in der Europäischen Einigung eine notwendige Voraussetzung zur Wahrung des Weltfriedens sah, am 9. Mai 1950 im Namen seiner Regierung vorschlug, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und Deutschlands zusammenzulegen und einer gemeinsamen supranationalen Hohen Behörde zu unterstellen. Der so genannten „Schuman-Plan“, wie die Initiative alsbald genannt wurde, richtete sich in erster Linie an Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion sollte die Voraussetzungen für eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung – als erste Etappe der europäischen Einigung – schaffen. Der deutsch-französische Gegensatz wurde von ihm als maßgebliche Hürde auf diesem Weg betrachtet. So wollte Schuman dafür sorgen, „dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist“. Großbritannien teilte am 3. Juni 1950 mit, es könne und wolle nicht an den Verhandlungen teilnehmen, die später zum Vertrag über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS oder Montanunion) führten. Der Vertrag über die EGKS wurde am 18. April 1951 durch Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten unterzeichnet. 9 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 9 28.10.2010 8:37:07 Uhr Militärische Allianzen – Vom Vertrag von Dünkirchen bis zur NATO Die wirtschaftliche, politische und rechtliche Integration in Westeuropa in den Jahrzehnten nach 1945 wäre ohne die militärische Orientierung an die USA nicht durchführbar gewesen. Für die gerade der NS-Herrschaft entronnenen westeuropäischen Staaten, insbesondere Frankreich, hieß Sicherheitspolitik in den ersten Nachkriegsjahren vor allem, ein Wiedererstarken Deutschlands zu verhindern und Vorkehrungen für den Fall der Erneuerung einer deutschen Aggressionspolitik zu treffen. Als die Amerikaner und Engländer aus wirtschaftlichen Gründen Anfang 1947 die von ihnen besetzten Zonen in Deutschland zur Bi-Zone zusammenschlossen, sah Frankreich darin eine Bedrohung seiner Sicherheit 26 durch ein wiedererstarkendes Deutschland. Um Frankreich dieses Bedrohungsgefühl zu nehmen, schloss England mit Frankreich den „Vertrag von Dünkirchen“ (4. März 1947). Der Vertrag erstreckte sich auf Maßnahmen zur kollektiven Verteidigung sowie zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit und war ausschließlich gegen ein mögli27 ches Wiedererstarken Deutschlands gerichtet. Angesichts der Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes im Jahre 1947 waren beide Staaten immer stärker daran interessiert, die USA für eine nachhaltige Beteiligung an der militärischen Verteidigung Westeuropas zu gewinnen. Wie im Falle der Wirtschaftshilfe erwarteten die USA aber als Zeichen des guten Willens erstmals eigene Anstrengungen der Europäer. Im Januar 1948 wandten sich die Außenminister Bevin und Bidault an die Benelux-Staaten. Diese wollten keinen reinen Militärpakt, sondern schlugen ein weitergehendes Abkommen vor. Dafür erhielten sie Rückendeckung aus Washington, und so erfolgten die Verhandlungen auf der Grundlage ihres Vorschlags. Immer noch aber war das deutsche Schreckgespenst so gegenwärtig, dass der Vertrag ausdrücklich auf eine eventuelle deutsche Aggression Bezug nehmen musste, auch um der Sowjetunion keine Gelegenheit zu geben, sich provoziert zu zeigen, selbst wenn eine Bedrohung durch Deutschland nicht mehr recht in die Zeit einer eher wahrscheinlichen sowjetischen Expansion passen wollte. Am 17. März 1948 kam es zur Unterzeichnung des „Brüsseler Pakts“, zu dem sich Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten zusammenschlos28 sen. In der Präambel und in Art. VII wurde als Ziel die Verhütung einer deutschen Aggression betont. Der ausgehandelte Vertrag erfüllte, wenn auch in abgeschwächter Form, Ansprüche der Benelux-Staaten. Er legte in seinen Artikeln, über die Pflicht zum automatischen militärischen Beistand hinaus, eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit fest. Entscheidend für den Abschluss dieses Bündnisses war der kommunistische Staatsstreich in Prag am 22.2.1948. Der Pakt wurde also einerseits wegen der realen Bedrohung durch Stalins Sowjetunion, andererseits vorsorglich aus Furcht vor einem irgendwann wiedererstarkenden Deutschland abgeschlossen. Das besiegte und besetzte Deutschland musste in dieser Zeit 12 Millionen Flüchtlinge integrieren, vier Millionen Menschen waren kriegsversehrt, 70% der Städte zerstört. 27 Dünkirchen wurde als symbolischer Ort bewusst gewählt: Hier gelang vom 27. Mai bis zum 4. Juni 1940 dem britischen Expeditionskorps mit rund 224.000 Soldaten und weiteren 95.000 verbündeten Soldaten, hauptsächlich Franzosen, die Flucht mit alliierten Schiffen aus dem Brückenkopf von Dünkirchen über den Kanal. Zu verdanken war dies zu einem großen Teil Hitlers persönlichem Eingreifens. Nachdem seine Panzer den Norden Frankreichs überrollt und die britische Armee von ihrem Stützpunkt abgeschnitten hatten, gebot Hitler ihnen in dem Augenblick Halt, als sie Dünkirchen nehmen wollten, den letzten Fluchthafen, der den Briten noch offenstand. Hitler hielt seine Panzer drei Tage lang an. Dies rettete die britischen Streitkräfte. Vgl. Hart, Liddell: Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Wiesbaden 1977, S. 105 ff. 26 Drei Monate nach Abschluss des Brüsseler Pakts begann die totale sowjetische Blockade gegen die Westsektoren Berlins (Juni 1948) und damit war offenkundig, dass mögliche Bedrohungen für die westeuropäischen Demokratien in absehbarer Zeit nicht von Deutschland, sondern von der Sowjetunion zu erwarten waren. Als gemeinsames Organ errichtete dieses Bündnis einen Konsultativrat aus den Außenministern der fünf Staaten und einen Verteidigungsrat aus den Verteidigungsministern. Dieser trat zum ersten Mal Ende April 1948 in London zusammen, um die Verteidigungsmaßnahmen abzustimmen. Amerikanische und kanadische Beobachter nahmen daran teil. Die sowjetische Blockade Berlins gab den Anstoß, ein gemeinschaftliches Oberkommando zu schaffen, mit dem britischen Feldmarschall Montgomery als Oberbefehlshaber und mit französischen und englischen Offizieren als Befehlshabern der zusammengefassten Wichtigste Bestimmung des Brüsseler Vertrages war die in Artikel 4 enthaltene Verpflichtung der Signatarstaaten zu automatischem militärischem und anderem Beistand, das heißt ohne vorherige Konsultation oder Aufforderung, im Falle eines „bewaffneten Angriffs in Europa“. 28 10 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 10 28.10.2010 8:37:08 Uhr Teilstreitkräfte. Im September 1948 beschlossen die Verteidigungsminister der fünf Brüsseler Vertragsstaaten in London, eine gemeinsame Verteidigungsorganisation aufzubauen. Nachdem sie mit ihren Generalstabschefs einen militärischen Ost-WestStärkevergleich erarbeitet hatten, mussten sie jedoch einsehen, dass die wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten der Brüsseler-Pakt-Staaten nicht ausreichten, um einen eventuellen Angriff der Sowjetunion abzuwehren. Die wachsende und unmittelbare militärische Bedrohung durch den Ostblock, dessen Staaten bereits durch zweiseitige Verträge mit der Sowjetunion ein eng zusammenarbeitendes Militärpotenzial unter sowjetischer Führung waren, schien so groß, dass es auf Veranlassung Großbritanniens zu Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten und Kanada kam, um das westeuropäische Verteidigungsbündnis über den Atlantik auszudehnen und damit wesentlich zu stärken. Die Vereinigten Staaten waren bereit, das zerstörte Gleichgewicht in Europa im Sinne einer föderativen Struktur wieder herzustellen, bis die europäischen Staaten selbst in der Lage sein würden, der sowjetischen Macht gegenüberzutreten. Der amerikanische Präsident war jedoch aus rechtlichen Gründen nicht befugt, schon in Friedenszeiten einen Beistandspakt abzuschließen. Dazu benötigte er gemäß Art. II, Abschnitt 2 der amerikanischen Verfassung die Zustimmung des Senats. Aus diesem Grunde brachte der Senator und republikanische Mehrheitsführer im Senat, A. Vandenberg, einen Resolutionsentwurf im Senatskomitee für Auswärtige Angelegenheiten ein. Mit dieser so genannten Vandenberg-Resolution, die der Senat am 11. Juni 1948 mit 64 gegen 4 Stimmen annahm, wurde die grundsätzliche Möglichkeit geschaffen, sich an regionalen und kollektiven Sicherheitsabkommen zu beteiligen, soweit diese im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen abgeschlossen wurden. Das Fünf-Mächte-Abkommen vom 17. März 1948, der „Brüsseler Pakt“, ebnete also in Washington dem „Vandenberg amendment“ den Weg, einem durch den Kongress verabschiedeten Verfassungszusatz. Das „amendment“ beendete mit die traditionelle Isolationspolitik der USA und erlaubte, Militärbündnisse schon in Friedenszeiten abzuschließen. Nach der Wiederwahl Trumans zum Präsidenten der USA war der Weg für die Verhandlungen frei, die am 4. April 1949 zum Atlantikpakt bzw. zur Gründung der „NATO“ (North Atlantic Treaty Organization) durch zehn europäische Länder, die USA und Kanada führten. Das Militärbündnis sah u.a. eine wirtschaftliche und politische Kooperation vor (Artikel 2), eine Konsultationspflicht (Artikel 4) sowie eine gemeinsame militärische Verteidigung bei einem bewaffneten Angriff auf ein oder mehrere Mitglieder, allerdings ohne automati29 scher Beistandspflicht (Artikel 5) sowie eine ständige politische und militärische Organisation (Artikel 9). In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vereinbarten die Vertragsparteien „dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbarten daher, dass im Falle eines solchen Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Bei29 Das Bündnis mit Sitz in Evere bei Brüssel entstand vor dem Hintergrund kommunistischer Expansionsbestrebungen in Ostmittel- und Südosteuropa und Bedrohungsszenarien des sich verschärfenden Kalten Krieges. Die Sowjetunion zog erst am 14. Mai 1955 mit der Gründung des Warschauer Pakts nach. Das geteilte und militarisierte Europa war damit volle Realität ge30 worden und definitiv zwischen die Fronten geraten. Am 4. April 1949 wurde der Nordatlantik-Vertrag in Washington von zwölf Staaten unterzeichnet: Den fünf Staaten des Brüsseler Pakts; Dänemark, Island, Italien, Norwegen, Portugal; USA, Kanada. Die Mitgliedschaft Spaniens, Westdeutschlands und Österreichs wurde als politisch inopportun verworfen, Schweden verzichtete aus Rücksicht auf Finnland. 1952 traten Griechenland und die Türkei, 1955 die Bundesrepublik dem Bündnis bei. Westdeutschland, einschließlich West-Berlin, wurde durch die westlichen Besatzungsmächte in das Vertragsgebiet einbezogen und zunächst durch die Garantien des Bündnisses abgesichert, obwohl die Teilnahme am Bündnis zu dieser Zeit nie ernsthaft diskutiert wurde. Die Welt wur31 de zunehmend in zwei Machtpole geteilt. stand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ Ein solcher Bündnisfall würde jedoch keinen Automatismus bezüglich militärischer Reaktionen auslösen. Vielmehr hätte jedes Mitglied die freie Entscheidung, welchen Beitrag es zu leisten bereit wäre, um Sicherheit wiederherzustellen. Bis 1999 wurde allgemein davon ausgegangen, dass der Bündnisfall nur als Folge eines staatlichen Angriffs ausgerufen werden könne. Erst durch das 1999 in Washington verabschiedete Strategische Konzept wurde festgehalten, dass auch terroristische Angriffe unter Artikel 5 des NATO-Vertrags fallen sollen und somit einen Bündnisfall auslösen können. Der bisher erste derartige und einzige Bündnisfall wurde als Folge auf den Terrorangriff auf die Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 von den USA ausgerufen. Diese Ausrufung erfolgte einen Tag nach den Anschlägen, formal beschlossen wurde der Bündnisfall jedoch erst am 4. Oktober 2001, zwei Tage nachdem die USA Beweise vorgelegt hatten, die einen Angriff durch die Taliban bzw. Al Qaida auf die USA belegten. Als Folge der Ausrufung des Bündnisfalls vereinbarten die NATOMitglieder eine Reihe von Maßnahmen, unter anderem den Austausch nachrichtendienstlicher Informationen, uneingeschränkte Überflugrechte und Zugang zu Häfen und Flugplätzen im Beitrittsgebiet durch die US-Streitkräfte und die Entsendung eines ständigen Flottenverbandes der NATO in das östliche Mittelmeer (Operation Active Endeavour). Für Deutschland bedeutete der Eintritt des Bündnisfalls zunächst förmlich die Feststellung des Bündnisfalls durch die Bundesregierung und die Verkündung im Bundesgesetzblatt. Der Bündnisfall würde es der Bundesregierung erlauben, Notstandsmaßnahmen in Kraft zu setzen, die demokratischen Rechte einzuschränken oder aufzuheben. Die Bundesregierung könnte damit beinahe uneingeschränkte Vollmachten erhalten. Das Ausrufen des Bündnisfalls hat Kritik hervorgerufen. Neben der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag, die den Bündnisfall im April 2002 als nicht länger gegeben sah, hat unter anderem der Völkerrechtler Manfred Rotter die Völkerrechtswidrigkeit der Militäraktion der Vereinigten Staaten erklärt. Seiner Meinung nach liege nach dem Völkerrecht nämlich „auf gar keinen Fall eine Kriegssituation vor.“ Da keine zwei Völkerrechtssubjekte miteinander im Krieg stünden, die Anschläge nicht unmittelbar oder mittelbar dem afghanischen Staat zugerechnet werden können, ist die Bezeichnung Krieg und die Ausrufung des Bündnisfalls problematisch. 30 Vgl. Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei? München 2008 31 Parallel zum ERP-Programm wurde das erste globale US-Militärhilfe-Programm der Ära des Kalten Krieges gestartet. Präsident Harry S. Truman unterzeichnete am 6. Oktober 1949 das US-Gesetz „Mutual Defense Assistance Act“ (MAP). Es unterstützte den Aufbau militärischer Kapazitäten weltweit. 11 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 11 28.10.2010 8:37:08 Uhr Der Pleven-Plan 32 Am 25. Juni 1950 brach der Koreakrieg aus, in den die 33 USA mit einem Mandat der UNO eingriff. Damit verschärfte sich nicht nur der Kalte Krieg in Europa, sondern Vergleiche zwischen dem geteilten Korea und dem geteilten Deutschland nährten auch Befürchtungen, so wie Südkorea aus dem Norden überfallen worden sei, könne Westdeutschland eine Invasion aus dem Osten erleben. Ja ganz Westeuropa schien von der sowjetischen Expansionspolitik bedroht zu sein: „An eine konventionelle Verteidigung des Kontinents war wegen der gewaltigen militärischen Übermacht der Roten Armee nicht zu denken. Die sowjetischen Panzer würde man wohl erst an den Pyrenäen aufhalten 34 können“, orakelten militärische Fachleute. Der Krieg beanspruchte den militärischen Apparat der Vereinigten Staaten aufs Äußerste und Lageanalysen ergaben, dass die USA im Falle eines militärischen Konflikts mit der Sowjetunion nicht in der Lage sein würden, der gerade gegründeten NATO genügend militärische Ressourcen zur Verfügung zu stellen. 1949 hatten die USA bereits durch das Zünden der ersten sowjetischen Atombombe das Nuklearwaffenmonopol verloren, deshalb mussten konventionelle Fähigkeiten gerade in Europa wieder gestärkt werden. Aus US-Sicht war es in der Folge notwendig, die Bundesrepublik Deutschland in die Verteidigung WesteuroVgl. Volkmann, Hans-Erich/Schwengler, Walter (Hrsg.): Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung, Boppard 1985; Köllner, Lutz (Hrsg.): Die EVG-Phase. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Band 2, München 1990; Schöttli, Thomas U.: USA und EVG: Truman, Eisenhower und die Europa-Armee, Bern 1994; Noack, Paul: Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Entscheidungsprozesse vor und nach dem 30. August 1954, Düsseldorf 1979 33 Am 25. Juni 1950 überquerten Truppen des kommunistischen Nordkorea – nach zahlreichen Grenzverletzungen durch Südkorea – den 38. Breitengrad und begannen einen Eroberungszug in Südkorea. Bereits drei Monate später hatten sie fast die gesamte koreanische Halbinsel unter ihre Kontrolle gebracht. In drei schrecklichen Kriegsjahren kamen 500.000 koreanische, 36.000 amerikanische und 400.000 chinesische Soldaten ums Leben. Insgesamt wird die Zahl der Kriegsopfer auf drei Millionen geschätzt. Als am 27. Juli 1953 in Pammunjom das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, stellte man den Status quo vor dem Kriege wieder her. Die Teilung des Landes war zementiert. Seit dem 27. Juli 1953 herrscht lediglich ein Waffenstillstand zwischen den hochgerüsteten koreanischen Teilstaaten. 34 Vgl. Neitzel, Sönke: Republik und Armee – ein gespaltenes Verhältnis, in: Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln-Weimar-Wien 2008, S. 353 32 pas mit einzubinden. Unvermutet wurde die deutsche Wiederbewaffnung viel früher zu einem Thema, als man gedacht hatte. Die USA setzten die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auf die Tagesordnung der am 12. September 1950 in New York beginnenden Außenministerkonferenz und bedrängten ihre Partner, den NATO-Verteidigungsausschuss zu beauftragen, Empfehlungen über die Methoden zu unterbreiten, mit denen Deutschland einen militärischen Beitrag zur 35 Verteidigung Westeuropas leisten könne. Die Idee, Deutschland wieder zu bewaffnen, war bis zu diesem Zeitpunkt bereits häufiger öffentlich diskutiert worden, aber die entschiedene amerikanische Forderung, dies nun zu tun, bestürzte die Verbündeten, vor allem Frankreich. Seit 1945 verfolgte die französische Politik unverrückbar das Ziel, Deutschland nie wieder zu einer Militärmacht werden zu lassen. Eine Sicherung vor neu aufgestellten deutschen Einheiten konnte darin bestehen, sie ohne eigene Führung direkt der NATO zu unterstellen oder in eine europäische Armee einzugliedern. Eine europäische Lösung schlug Winston Churchill im März 1950 mit einer spektakulären Rede im Londoner Unterhaus vor. Frankreich befürchtete als Folge des Koreakriegs ein Scheitern des gesamten französischen Masterplans, Deutschland unter französischen Bedingungen nach und nach Einlass in ein starkes Vereinigtes Europa zu gewähren und damit die deutsche Gefahr auf immer zu bannen. Mit der Unterstellung deutscher Truppen unter die Oberhoheit der NATO würde Westdeutschland der französischen Kontrolle entgleiten und unter den beherrschenden Einfluss der USA geraten. Verständlich daher, dass der französische Ministerpräsident René Pleven am 24. Oktober 1950 vor der französischen Nationalversammlung „für eine gemeinsame Verteidigung die Schaffung einer europäischen Armee“ vorschlug, „die mit den politischen Institutionen des geeinten Europas verbunden ist“. Gegen den „Pleven-Plan“ hatte Bundeskanzler Adenauer mehrere Einwände. Abgesehen davon, dass Deutschland auf diese Weise nur als minderberechtigter Partner an der Europaarmee beteiligt werden sollte, also mit der Armee gerade nicht die Gleichberechtigung erreicht werden würde, die Adenauer mit dem Angebot der deutschen Wiederaufrüstung einforderte, meinte er, dass die Verteidigungskraft einer so zusammengewürfelten Armee völlig unzulänglich sei. Erst nach mehrfacher französischer Intervention rang er sich – trotz der diskriminierenden Passagen des Pleven-Plans – dazu durch, am 8. November 1950 vor dem Bundestag den Vorschlag zu begrüßen. In der großen Bundestagsdebatte wandten sich Sozialdemokraten und das Zentrum leidenschaftlich gegen jede Form deutscher Wiederbewaffnung. Damit begann eine dramatische innenpolitische Auseinandersetzung, in der sich mehrere Jahre lang zwei Lager unversöhnlich 36 gegenüberstanden. Vgl. Kreft, Michael: Die Europäische Union als Sicherheitsinstitution. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft im kulturell-institutionellen Kontext der Europäischen Integration, Osnabrück 2002 36 Vgl. Kapitel 4: Die Anfänge einer Sicherheitspolitik und das Ringen um den Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland, in: Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr, Frankfurt/Main 1981, S. 147-199 35 12 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 12 28.10.2010 8:37:08 Uhr Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Ab Januar bzw. Februar 1951 fanden parallele Verhandlungen auf dem Petersberg bei Bonn und in Paris statt. Für die Bundesregierung besaßen die sofortige Aufstellung deutscher Verbände und der Beitritt zur NATO, dem großen Militärbündnis des Westens, unbedingte Priorität. Nur diese Lösung garantierte eine sofortige volle Mitsprache und Gleichberechtigung. Sie richtete deshalb ihre volle Aufmerksamkeit und Energie auf die Verhandlungen auf dem Petersberg und vernachlässigte die über die Europaarmee. Die Einladung nach Paris hatten neben der Bundesrepublik nur Italien Belgien und Luxemburg angenommen. Erst ab Oktober 1951 kamen die Niederlande dazu. Sie hatten die größten Bedenken, Souveränität auf supranationale Einrichtungen (d.h. dem Konzept der Integration unterliegend) zu übertragen. Andererseits bemühten sich die Franzosen mit aller Kraft, die Amerikaner definitiv auf ihr Modell zu verpflichten. Aber erst als die Franzosen im Juli 1951 General Eisenhower, den neuen Oberbefehlshaber der NATO und späteren US-Präsidenten, davon hatten überzeugen können, dass eine überhastete Aufstellung deutscher Divisionen nur um den Preis der Feindschaft zwischen den Völkern erreichbar und gegen Paris nicht durchsetzbar wäre, akzeptierten die Amerikaner, dass nur noch über eine Europaarmee verhandelt werden sollte. Im September 1951 zwangen sie die Bundesrepublik zum Einlenken. Deutsche Truppen würden nicht vor dem Zustandekommen der EVG aufgestellt werden, und ebenso würde die Bundesrepublik ihre volle Souveränität, d.h. die Ablösung des Besatzungsstatuts, erst nach Vertragsabschluss erhalten. Das Ergebnis der verwickelten weiteren Verhandlungen befriedigte niemanden. Am 27. Mai 1952 wurde der EVG-Vertrag von den sechs Montanunion-Staaten unterzeichnet. Zusatzverträge banden Großbritannien zwingender als durch die in dem entsprechenden Artikel des NATO-Vertrages formulierte Beistandsverpflichtung in den EVG-Vertrag ein und gliederten die EVG der NATO militärisch an. Der Vertrag sah zwar eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) mit gemeinsamen Institutionen, gemeinsamen Streitkräften – 44 Divisionen mit jeweils rund 13.000 Mann, davon 14 französische und 12 deutsche – und ein gemeinsames Budget vor, aber das supranationale Element in der Führung war nur schwach ausgebildet. Die Bundesrepublik hatte nur eine begrenzte Statusverbesserung durchsetzen können. In der Bundesrepublik wurde der Vertrag nach kontroversen parlamentarischen Auseinandersetzungen am 19. März 1953 vom Bundestag angenommen. 13 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 13 28.10.2010 8:37:08 Uhr 37 Der Vertrag war ein kompliziertes Gebilde. Aber trotz seiner raffinierten Bestimmungen bot er der französischen Nationalversammlung nicht genügend Garantien, und sie machte nach der ersten Lesung ihre Zustimmung von Vorbedingungen abhängig. Damit begann eine Politik der immer schärfer gefassten Vorbedingungen, die es der Nationalversammlung erlaubte, die endgültige Entscheidung länger als zwei Jahre hinauszuzögern. Das französische Ratifizierungsverfahren entwickelte sich zu einer beinahe unendlichen Geschichte. Ausschlaggebend für die Zurückweisung des Vertrages waren wohl die nationalistischen Aufwallungen, die Frustration über die eigene Schwäche, die deprimierende Überforderung durch den Kolonialkrieg in Indo38 china (Fall von Dien Bien Phu) und die demütigende politische und materielle Abhängigkeit von den USA. Am 29. August 1954 begann, mehr als zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages, die entscheidende Debatte in der französischen Nationalversammlung. Der radikalsozialistische Ministerpräsident Pierre Mendès-France legte den Vertrag lustlos ohne wirkliches Engagement vor: Er erklärte sich für neutral. 72 Abgeordnete standen auf der Rednerliste, nur etwa 10 kamen zu Wort. Nach der Schlussabstimmung über den Antrag, den Vertrag nicht weiter zu beraten und ihn gar nicht erst zur Abstimmung kommen zu lassen, der eine 39 Mehrheit von 319 gegen 264 Stimmen erhielt, klatschten die Gegner wild Beifall. Die extreme Rechte und die extreme Linke erhoben sich von den Bänken und sangen die Marseillaise, unterbrochen durch „Moskau! Moskau!“-Rufe aus der Mitte. Gegner der EVG waren auch Frankreichs Präsident Vincent Auriol sowie General Charles de Gaulles Rassemblement du Peuple Français, sie votierten gegen eine sich ihrer Meinung dadurch erfolgende Entnationalisierung der französischen Armee. Für de Gaulle wäre die EVG einer „Auslöschung Frankreichs als Nation“ gleichgekommen. sicherheitspolitisch nicht gänzlich von den USA abhängig zu werden. Kein Verantwortlicher in Frankreich konnte sich ernsthaft vorstellen, die Verantwortung für Atomwaffen mit den Deutschen im Rahmen der EVG zu teilen. Frankreich war nur als nationale Atommacht denkbar. Die französische Ablehnung der nur auf europäischen Strukturen ausgerichteten EVG führte zu einer jahrzehntelangen und ausschließlichen Festschreibung amerikanischer Militärpräsenz auf dem Kontinent. Man vermag sich heute kaum mehr vorzustellen, welche Chance im Jahr 1954 durch Frankreich für Europa vergeben wurde, sich militärisch dauerhaft von den USA zu emanzipieren. Mit dem Scheitern der EVG waren auch die damit gekoppelten Maßnahmen zur Aufhebung der Besatzung und zur Wiederherstellung der deutschen Souveränität hinfällig. Der EVG-Vertrag muss als Bestandteil einer Politik gesehen werden, die die Ablösung des Besatzungsstatuts und die Integration der Bundesrepublik in die westliche Gemeinschaft – aus der Sicht der Bundesrepublik auf der Basis der Gleichberechtigung, aus der Sicht der Westmächte auch zur weiteren Kontrolle Deutschlands – zum Ziel hatte. Was mit der EVG beabsichtigt war, ging weit über das hinaus, was später in 40 Maastricht vereinbart werden sollte. Vgl. Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990 40 Zur De-facto-Ablehnung der EVG in der Nationalversammlung hatten die französischen Militärs mit ihrem Druck auf die Abgeordneten erheblich beigetragen. Die Voraussetzungen für die EVG seien nicht gesichert, und es bestünden Zweifel, ob Frankreich die geforderten militärischen Leistungen überhaupt erbringen könne. Bis zu 25 Prozent des französischen Haushaltsvolumens würde die EVG verschlingen und Frankreichs Weg zur Atommacht damit blockieren. Atommacht zu werden aber schien den Militärs das einzige Mittel, um Vgl. Bashlinskaya, Aydan: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Das Rechtsverhältnis zu den Vereinten Nationen und zu regionalen Sicherheitsorganisationen, Baden-Baden 2009, S. 6 ff. 38 Nach dem Fall der Festung Dien Bien Phu, die in Paris zum Sturz der Regierung Laniel/Bidault geführt hatte, wollte der neue Ministerpräsident Mendès-France die unhaltbar gewordene koloniale Position Frankreichs abbauen. Dabei unterstütze ihn die Sowjetunion, indem sie Ho Tschi Minh trotz militärischer Erfolge dazu veranlasste, die Teilung Vietnams hinzunehmen. Damit wurde Frankreich eine glimpfliche Lösung des Indochina-Krieges ermöglicht. Als Gegenleistung gab die französische Regierung die Entscheidung in der Nationalversammlung über die EVG frei, setzte keine eigenen Prioritäten. 39 12 Enthaltungen und 31 Abwesende – darunter alle 23 Regierungsmitglieder. Vgl. Der Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit – Januar 1953 bis Juli 1954. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben und bearbeitet von Bruno Thoß et al. Reihe: Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und seine Vorläufer, Band 2, Düsseldorf 2010 37 Marshall-Plan Hilfe für Westeuropa 1948-1952 14 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 14 28.10.2010 8:37:08 Uhr Die Westeuropäische Union (WEU) Das Scheitern der EVG rief im Westen Bestürzung hervor. Der amerikanische Außenminister Dulles nannte es eine Tragödie, der luxemburgische Ministerpräsident Bech eine Katastrophe, der Belgier Paul-Henri Spaak einen Triumph der Sowjets. Bundeskanzler Konrad Adenauer war tief deprimiert und er bezeichnete den 30. August als „schwarzen Tag für Europa“ und 41 „größten Triumph“ der Sowjetunion seit 1945. Es musste schnell eine Ersatzlösung für die gescheiterte EVG gefunden werden. Großbritannien schlug vor, den Brüsseler Pakt (der als Verteidigungsallianz gedacht war, wenn auch die militärische Funktion die im April 1949 gegründete NATO übernommen hatte) unter Aufnahme der Bundesrepublik und Italiens zu einer Westeuropäischen Union zu erweitern und mit einer neuen Funktion zu versehen. Der ursprünglich auch gegen Deutschland gerichtete Brüsseler Pakt sollte nun die Einheit Europas fördern und der europäischen Westintegration Auftrieb geben. Adenauer bedauerte zutiefst, dass mit dem Scheitern der EVG auch die Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) – des politischen Überbaues – nicht zustande kam. Etwas später strebte Adenauer eine europäische Atomstreitmacht an, um unabhängig von den USA über ein eigenes Abschreckungspotenzial zu verfügen. Doch diese Pläne scheiterten schließlich am Widerstand des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der in den 1960er Jahren im nationalen Alleingang eine französische Atomstreitmacht, die so genannte „force de frappe“, aufbaute. 41 Auf der Konferenz in London (28.9.–3.10.1954) wurde den französischen Sicherheitsinteressen Rechnung getragen, indem die Bundesrepublik nun ihre Truppen der NATO unterstellte und ihre Bereitschaft zu einem grundsätzlichen Gewaltverzicht erklärte. Großbritannien erleichterte Frankreich außerdem die Zustimmung zu den Konferenzbeschlüssen durch die Bereitschaft, für die Dauer des Abkommens seine NATO-Divisionen und taktische Fliegerverbände auf dem Kontinent zu lassen. Damit einigten sich die Beteiligten auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im Rahmen der NATO und des Brüsseler Pakts. Den Engländern bot dies den attraktiven Vorteil, die ehemaligen Kriegsgegner Bundesrepublik und Italien mit ihren militärischen Kräften zur Verteidigung des Kontinents zu verpflichten, ohne sich auf supranationale Lösungen einlassen zu müssen. Die nach der Konferenz ausgearbeiteten „Pariser Verträge“ vom 23. Oktober 1954 traten nach relativ problemlosen, in kürzester Frist von den Parlamenten erfolgten Ratifizierung am 6. Mai 1955 in Kraft. Sie gestalteten das um Italien und die Bundesrepublik erweiterte Brüsseler Vertragswerk (Brüsseler Pakt) zur „Westeuropäischen Union“ (WEU) um und integrierten es in die NATO. Es ist nicht ohne historische Ironie, dass die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung zu der eigenständigen deutschen Armee führte, die Frankreich eigentlich hatte verhindern wollen. 15 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 15 28.10.2010 8:37:08 Uhr Für den nun möglichen Aufbau einer westdeutschen Verteidigung waren vor allem folgende Bestimmungen der Pariser Verträge wichtig: Höchststärke der deutschen Truppen 500.000 Mann, 12 Divisionen; Unterstellung der Verbände unter den Befehl der integrierten NATO-Stäbe; Errichtung einer Agentur für Rüstungskontrolle, die darüber zu wachen hatte, dass das Verbot zur Herstellung bestimmter Waffentypen eingehalten wird (die Bundesrepublik verpflichtete sich z.B. auf folgende schwere Waffen und Waffenträger zu verzichten: Flugkörper großer Reichweite und Lenkflugkörper; Kriegsschiffe von mehr als 3.000 Tonnen mit Ausnahme von kleineren Schiffen für Verteidigungszwecke, U-Boote, strategische Bomberflugzeuge); Verzicht der Bundesrepublik auf die Herstellung von atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen auf ihrem Gebiet (Protokoll Nr. III); die USA verpflichteten sich, in Europa und speziell in Deutschland angemessene Streitkräfte zu belassen; Großbritannien verpflichtete sich, 55.000 Soldaten auf dem europäischen Festland zur Verfügung zu halten und sie nicht ohne Zustimmung der Vertragspartner abzuziehen; die Bundesrepublik versicherte, dass sie Grenzund Wiedervereinigungsfragen nur mit friedlichen Mitteln lösen wolle. Mit Deutschlands Aufnahme in die NATO trat gleichzeitig der Deutschlandvertrag in Kraft, der das Besatzungsstatut von 1949 ablöste und der Bundesrepublik die weitgehende Wiederaufnahme in die Staatengemeinschaft gewährte. Die Westalliierten behielten sich aber als ehemalige Besatzungsmächte „die bisher von ihnen ausgeübten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung“ weiter vor, die erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag (15. März 1991) obsolet wurden. Teil des Protokolls waren auch die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte. Die Pariser Verträge enthielten auch das „Europäische Saarstatut“, bildeten einen wirksamen Damm gegen Absichten der Neutralisierung Deutschlands und ermöglichten die innenpolitisch heftig umstrittene Wie42 deraufrüstung wie die Westintegration. Da die Bundesrepublik erst als Mitglied der WEU in die NATO aufgenommen wurde, war somit die Westeuropäische Union für die Bundesrepublik der Primärpakt. Allerdings war der WEU-Vertrag unter anderem wegen der Nichtmitgliedschaft der USA und der damit fehlenden atomaren Garantie für Europa von geringerer militärischer Bedeutung. Laut Artikel VII des Vertrages In einem Referendum vom 23.10.1955 forderte die Bevölkerung des Saarlandes eine Rückkehr nach Deutschland. Die Aufgabe der WEU war es, einen Kommissar einzusetzen, der die Einhaltung des Staatstatus durch die Regierung des Saarlandes zu überwachen hatte. 42 gehörte es zu den Aufgaben der Organisation, die Einheit Europas zu fördern. Der WEU-Vertrag enthielt einige Bestimmungen, die über die NATO-Verpflichtungen weit hinausgingen: automatische militärische Beistandspflicht (Artikel V) und 50-jährige unkündbare Geltungsdauer (also bis zum Jahre 2005) – aus dem NATO-Vertrag dagegen kann jedes Mitglied nach zwanzigjähriger Vertragsdauer mit einjähriger Kündigungsfrist ausscheiden. Allerdings verfügte die WEU über keine eigene Verteidigungsorganisation, sie hatte vielmehr die Wahrnehmung der gemeinsamen Verteidigungsaufgaben der NATO überlassen. Die WEU blieb – im Gegensatz zur NATO, die erkennbar als Sicherheitsbündnis unter Führung der USA in den Vordergrund trat – weitgehend unbekannt. Ihre Bedeutung lag vor allem in der Rüstungskontrolle und in der Abstimmung der sieben Mitgliedstaaten, während die militärischen Aufgaben vorwiegend von der NATO wahrgenommen wurden. Die Pariser Verträge wurden am 27. Februar 1955 vom deutschen Bundestag gegen die Stimmen der SPD und trotz einer starken außerparlamentarischen Opposition ratifiziert. Mit ihrem Inkrafttreten wurde die Bundesrepublik souverän, blieb allerdings den genannten Einschränkungen unterworfen. Die Saar wurde nach ei43 nem Referendum angeschlossen. Die WEU blieb im Wesentlichen ein Papierprodukt, eine große politische Rolle hat sie nicht gespielt. Sie war ein Kompromiss zwischen den deutschen, englischen und französischen Wünschen. Im Grunde genommen erschöpfte sie sich darin, den NATO-Beitritt der Bundesrepublik ermöglicht zu haben. 1988 fand erstmals seit 1954/55 mit Portugal und Spanien eine Erweiterung der Vollmitglieder statt, der 1992 Griechenland folgte. Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9.11.1989 strebte die 1993 gegründete Europäische Union (EU) den Ausbau der WEU zum sicherheitspolitischen Arm der EU an. Die Aufgaben für die äußere Sicherheit Europas und Nordamerikas blieben aber weiterhin der NATOAllianz zugeordnet, die auch vorgesehene Einsätze der WEU unterstützen, ja mit der NATO-Kommandostruktur auch militärisch führen sollte. Während des Krieges zwischen dem Iran und dem Irak in den 1980er Jahren (Erster Golfkrieg) koordinierte die WEU von 1987 bis 1988 einen Minenräumeinsatz westlicher Staaten am Persischen Golf, also zu einer Zeit, in der NATOEinsätze außerhalb des Bündnisgebietes noch fremd waren. Die NATO bekannte sich erst im November 1991 in ihrem „Neuen Strategischen Konzept“ zu Friedenseinsätzen außerhalb des Bündnisgebietes. Seit dem Ende der 1980er Jahre bis zum Beginn der 1990er Jahre erfolgte ein sicherheitspolitischer Aufwertungsprozess der WEU. Im Zweiten Golfkrieg 1990/91 koordinierte die WEU am Persischen Golf insgesamt 45 Kampfschiffe, die zur Durchsetzung der UN-Sicherheitsresolution 661 (1990) vom 6.8.1990 – das Embargo gegen den Irak – beitrugen. 43 Vgl. Ehlert, Hans/Greiner, Christian/Meyer, Georg/Thoß, Bruno: Die NATO-Option. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Band 3, München 1993 16 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 16 28.10.2010 8:37:08 Uhr Dieser Zweite Golfkrieg führte auch zur ersten humanitären Operation der WEU, als ein britisch-niederländischer Verband in der Operation „Safe Haven“ im April 1991 auf Beschluss der WEU-Außenminister den bedrängten Kurden im Nordirak zu Hilfe kam, bis diese Tätigkeit im Juli 1992 von den Vereinten Nationen übernommen wurde. Weitere Einsätze wurden gemeinsam mit der NATO 1993 gegen Jugoslawien in der Straße von Oronto durchgeführt, ferner fanden im gleichen Jahr Seeoperationen im Rahmen des UN-Embargos gegen Serbien und Montenegro statt. 1992 beschloss die WEU die Petersberg-Aufgaben sowie 1994 den Polizeieinsatz in Mostar/Bosnien-Herzegowina (Juli 1992 bis Ende 1996). Zwischen Juni 1993 und September 1996 unterstützte die WEU Bulgarien, Rumänien und Ungarn bei der Durchsetzung des UN-Embargos gegen Jugoslawien entlang der Donau. 1997 wurde ein Team zum Wiederaufbau polizeilicher Strukturen nach Albanien entsandt sowie dort die Operation „Alba“ durchgeführt. Nur EU-Staaten war es möglich, WEU-Mitglied zu werden. Um den neuen Aufgaben gerecht zu werden, glich die WEU ihre Mitgliedschaft weitgehend den Mitgliedschaften von NATO und EU an, d.h. die neutralen EUMitglieder erhielten Beobachterstatus und die europäischen NATO-Staaten, die nicht Mitglied der EU waren, wurden als assoziierte Mitglieder aufgenommen. Beide Gruppen wurden Vollmitgliedern weitgehend gleichgestellt. Zu den zehn Vollmitgliedern der WEU kamen die sechs „assoziierten Mitglieder“ (Island, Norwegen, Polen, Tschechien, Türkei, Ungarn), fünf „Beobachter“ (Dänemark, Finnland, Irland, Österreich, Schweden) sowie sieben „assoziierte Beobachter“ (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien) hinzu. Am 19. Juni 1992 definierte die WEU in der Petersberger Erklärung über die Beistandspflicht des Artikels V hinaus weitere Aufgaben: humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Friedenserzwingung. Ziel war es, die WEU zum „verteidigungspolitischen Arm“ der EU auszubauen. Dies ging aber weit über Verteidigungsstrukturen hinaus, es handelte sich dabei bereits um Interventionsstreitkräfte, die theoretisch weltweit eingesetzt werden sollten. Im Rahmen der „Stärkung der operativen Rolle der WEU“ war sogar daran gedacht, multinationale Truppen unter direktem WEU-Kommando einzusetzen. Mitgliedstaaten wurden dazu aufgefordert, Truppen verbindlich für solche WEU-Verbände zur Verfügung zu stellen. Zum Aufbau einer eigenen Kommandostruktur oder gar zu Militäraktionen unter direktem WEU-Kommando kam es aber nicht. Die WEU wirkte jedoch in erster Linie als Sprachrohr der Sicherheitsinteressen der EU. 1997, bei der Vertragsreform von Amsterdam, zeichnete sich in Bezug auf die Rolle der WEU jedoch eine Neuorientierung innerhalb der EU ab. Es setzte sich zunehmend die Idee durch, die neuen Aufgaben der Friedenssicherung der EU direkt zu überantworten und die WEU, die damit überflüssig würde, in die EU zu integrieren, was einer faktischen Auflösung gleichkäme. Neben der im Frühjahr 1999 erfolgten Ratifizierung des Vertrags von Amsterdam läutete das WEU-Treffen von Bremen im Mai 1999 das Ende der WEU ein. Mit der geplanten Verschmelzung mit der EU sollte das Nebeneinander von NATO, EU und WEU allmählich beendet werden. Als im Juni 1991 im damaligen Jugoslawien die Konflikte zwischen den einzelnen Teilrepubliken und den verschiedenen Volksgruppen gewaltsam eskalierten, sah die Europäische Gemeinschaft die Gelegenheit gekommen, ihre „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“, die bis dato lediglich auf dem Papier bestand, endlich in die Praxis umzusetzen. „Das ist die Stunde Europas“, erklärte der damalige EG-Ratspräsident, Luxemburgs Außenminister Jan Poos, vor dem Straßburger Parlament mit Blick auf die Situation in ExJugoslawien. Die dortigen Konflikte werde Europa „alleine“ lösen. Poos‘ Erklärung war ein deutliches Signal an die USA, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Die EG/EU scheiterte, weil zwischen den damaligen Mitgliedstaaten zumindest in den Jahren bis 1995 keine gemeinsame politische Strategie zur Beilegung dieser Konflikte zustande kam. Sehr rasch bildete sich in der politischen Klasse der EU-Staaten die Legende heraus, Grund für das Scheitern gegenüber den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien sei der Mangel an gemeinsamen militärischen Instrumenten und Fähigkeiten der EG/EU gewesen. Daher sei die Beendigung der innerjugoslawischen Kriege erst möglich geworden, als sich die USA 1995 entschlossen hatte, militärisch einzugreifen. Diese Legende muss seitdem dazu herhalten, die angebliche Notwendigkeit einer Aufrüstung der EU zu begründen. Eine zweite Begründung scheint aber wesentlich wichtiger zu sein. Seit dem Krieg der NATO gegen Serbien im Frühsommer 1999 fühlten sich viele Sicherheitspolitiker und Militärs europäischer NATO-Staaten von den USA dominiert und nicht als gleichberechtigter Partner behandelt. 17 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 17 28.10.2010 8:37:09 Uhr Die USA diktierten im NATO-Hauptquartier weitgehend die Strategie dieses Krieges und bestimmten die Ziele. 75% der eingesetzten Kampfflugzeuge sowie 90% der verschossenen Munition kamen von den USA. Vom 24. März bis zum 9. Juni 1999 (78 Tage) wurden insgesamt 38.004 Flüge durchgeführt, davon 14.112 Luftschläge mit 27.410 abgeworfenen Bomben. Mangels Masse wurden alle militärischen Ziele durchschnittlich achtmal angegriffen und bekämpft. Die USA besaßen als einziges Land der damals 19 NATO-Mitglieder ein Satellitensystem, mit dem sie die Lage und sämtliche Bewegungen auf dem Territorium Serbiens und des Kosovo rund um die Uhr mit großer Genauigkeit überwachen konnten. Als besonders ärgerlich, ja demütigend empfanden es seinerzeit europäische Politiker und Militärs, dass die USA die mit diesem Satellitensystem gewonnenen Informationen nicht oder erst zu einem Zeitpunkt, als diese Informationen nicht mehr relevant waren, an ihre Verbündeten weitergaben. Bis 2011 wird die WEU offiziell aufgelöst. Immerhin gönnte sich die WEU am 31. März 2010 eine Portion Eigenlob, als sie ihren bedeutenden Beitrag „für Frieden und Stabilität in Europa“ rühmte. Der beschränkte sich mehr darauf, dass die WEU im Lauf der Jahrzehnte immer wieder mal als Kommunikationsforum in Krisen gefragt war und außerdem als Plattform für sicherheitspolitische Absichtserklärungen diente – ohne jenes militärische Gewicht, das die von den Vereinigten Staaten dominierte NATO seit mehr als 60 Jahren besitzt. Mit der Übernahme der ursprünglichen Aufgaben der WEU durch die EU begann die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU substanzieller zu 44 werden. Vgl. Scharping, Rudolf: Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999 44 Transatlantisches Verhältnis im Wandel – (EU-)Europa und USA Die Integration Westeuropas ist ohne die USA und ihre Hilfe zur Selbsthilfe für Westdeutschland und ihre Unterstützung für Europa nicht denkbar – so war es über weite Strecken nach Inaugurierung des Marshall-Plans in den Jahren 1947/48. Das 20. Jahrhundert wird von vielen Historikern als das „amerikanische Jahrhun45 dert“ bezeichnet und Europas Niedergang war mit Amerikas Aufstieg eng verbunden. Das Machtzentrum der Welt hatte sich in die USA verlagert. Das bürgerlich-kapitalistische Europa musste sich unter den Schutz und die Vormachtrolle der USA stellen. Es ist damit in eine Vasallenposition (Andreas Buro) geraten und musste sich weitgehend den US-Interessen unterwerfen. Westeuropas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg war mit US-amerikanischer Mithilfe erst ermöglicht worden. Die USA waren – militärisch bedingt durch ihre Truppenpräsenz, wirtschaftlich durch das European Recovery Programm (ERP) – zu einem dominierenden Faktor im westlichen Kontinent, ja auch eine die Balance haltende Garantiemacht im Prozess der gesamten europäischen Integration geworden. Welche Interessenkonflikte gab es zwischen Europäern 46 und Amerikanern? Hier ist es hilfreich, zunächst die Gemeinsamkeiten zu erwähnen: Übereinstimmungen zwischen amerikanischer und europäischen Regierungen bestanden in der Niederringung der nationalsozialistischen Herrschaft und Beseitigung eines politischideologisch übermächtigen Deutschlands, im wirtschaftlichen Wiederaufbau, der Demokratisierung des politischen Lebens Europas, vor allem der Länder der ehemaligen „Achsenmächte“ und ihrer Verbündeten, soweit sie nicht von den Sowjets besetzt worden waren. Weitgehende Übereinstimmung auf Seiten der Staaten bestand ferner in der Abwehr, Eindämmung und Zurückdrängung kommunistisch-sowjetischer BeVgl. Berg, Manfred: Das amerikanische Jahrhundert. Die soziale und politische Entwicklung der USA im 20. Jahrhundert. Zentrum für USA-Studien der Stiftung Leucorea, Lutherstadt Wittenberg 2004 46 Vgl. u.a. Brandstetter, Karl J.: Allianz des Misstrauens. Sicherheitspolitik und deutsch-amerikanische Beziehungen in der Nachkriegszeit, Köln 1989 drohungspotenziale, in der Handelsliberalisierung im westeuropäischen (OEEC) und westlich-globalen Rahmen (GATT), dem innereuropäischen Zahlungsausgleich mit der Europäischen Zahlungsunion (EZU), in der Schließung der Dollarlücke und der Konvertibilität der europäischen Währungen, in der Zusammenarbeit in der OECD, in der Normalisierung der internationalen Beziehungen und im Entspannungsprozess (KSZE), aber auch in der Implementierung des NATODoppelbeschlusses sowie in der Beendigung des Kalten Krieges in Europa. So gesehen kann von einer weitgehenden Konvergenz der politischen Zielsetzungen der Staaten Westeuropas und den USA gesprochen werden, die insbesondere in einer definitiven Lösung der Deutschlandfrage durch Kontrolle und Integration – es ging dem Westen vor allem um die Verhinderung der Neutralisierung Deutschlands, was die Sowjetunion wiederholt vorgeschlagen hatte – und in der Fortsetzung der ökonomischen Integration Westeuropas als Bollwerk des Antikommunismus bestand. Hier enden die Übereinstimmungen, bis die genannten Kernziele erreicht waren und mehr noch als erwartet bewirkt werden konnte: Das Sowjetimperium ist unter anderem im Zuge des nicht mehr durchzuhaltenden Rüstungswettlaufs zerfal47 len (1989/90) und zusammengebrochen (1991), während sich Deutschland friedlich – vor allem durch die Hilfe der USA – einte (1990). Wenn es auch an den ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen noch schwer laboriert, so blieb es aber in Westeuropa politisch und wirtschaftlich integriert. Nicht unwesentlich waren wiederholt temporär auftretende Auffassungsunterschiede und punktuelle Konflikte in den westeuropäisch-amerikanischen Beziehungen im Kontext der sich festigenden Europäischen Gemeinschaft. 45 Vgl. Barth, Peter: Russland auf dem Weg ins Jahr 2000. Die wichtigsten Akteure und Faktoren im heutigen Russland, Starnberg 1996 47 18 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 18 28.10.2010 8:37:09 Uhr Gesichert erscheint, dass die Konflikte nur relativ kurz öffentlich in Erscheinung traten und mit Blick auf die höheren Ziele im Ringen des Kalten Krieges bald wieder zurückgestellt worden sind – Westeuropa und die USA waren weitgehend vereint im westlichen Lager, 48 was sie heute nicht mehr so eindeutig sind. Bei den schwer auflösbaren Gegensätzen handelt es sich historisch betrachtet vor allem um Fragen der Gestaltung und Forcierung der europäischen Integration. So beispielsweise als es um die heftig debattierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ging, die an Frankreichs Widerstand im Jahre 1954 scheiterte, das dem Drängen der USA nicht nachgeben wollte. Aber auch die Art, das Tempo und die Umsetzung der von den USA vehement mitbetriebenen Entkolonialisierung noch im gleichen Jahre im Indochina-Krieg 1954 oder bei der verzweifelten Aufrechterhaltung kolonialpolitischer Positionen der europäischen Mächte während der Suezkrise im Jahre 1956 erzeugten Irritationen. Später war es die Streitfrage der Beteiligung der Westeuropäer, vor allem der Bundesdeutschen, am Vietnam-Krieg (1957-1975), aber auch die Teilhabe und Mitwirkung an der Nuklearpolitik (MLF), die in der Infragestellung der nuklearpolitischen Juniorpartnerschaft durch Charles de Gaulle und durch von der NATO losgelöste französische Kommandostrukturen gipfelte. Divergenzen und Konflikte entstanden durch die Forcierung der Abrüstungsgespräche bis hin zur Kontroverse um die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa, die vor allem außerhalb EG49 Kerneuropas eine beachtliche Rolle spielte. Hinzu trat später noch der Problemkomplex Embargo-Politik und Technologietransfer in Richtung Osten in der letzten Periode des Kalten Krieges unter Führung von USPräsident Ronald Reagan. Diese Meinungsverschiedenheiten zwischen Westeuropäern und Amerikanern artikulierten sich während der verschiedenen Phasen des Kalten Krieges in einem akzidentiellen Dissens, der fall- und zeitweise bestand, aber bereits vorhandene, latente und subkutante Differenzen in Mentalität, Kultur und Wertfragen zum Vorschein brachte. Aus Gründen der wirtschaftlichen Abhängigkeit, der Bündnistreue, der Botmäßigkeit und Bei diesen in aller Kürze skizzierten Themen wurde nicht der Unterschied in der Einstellung zwischen der Politik der jeweiligen Regierungen und der breiten Bevölkerung (wie es sich aus Umfragen oder Bürgerbewegungen ergeben hat) herausgearbeitet. Auf den ersten Blick herrscht beispielsweise heute eitel Sonnenschein über dem Atlantik. Die Alte Welt bekundet, sie stehe in Treue fest zu Amerikas jungem Präsidenten: Vier von fünf Europäern befürworten den internationalen Kurs von Barack Obama, und allen voran die Liebe der Deutschen zum ersten schwarzen Mann im Weißen Haus scheint (mit 87% Zustimmung) ungebrochen zu sein. Und doch offenbaren die „Transatlantik Trends“, mit denen der German Marshall Fund alljährlich die Stimmung in den Vereinigten Staaten, in elf EU-Staaten und in der Türkei bemisst, allerlei Brüche zwischen den Verbündeten. So groß die Sympathien sein mögen für Obama – so gering ist der Wille der Europäer, ihm tatkräftig zu folgen. Sei es in Afghanistan (44% aller Europäer verlangen den sofortigen Abzug aller Truppen, 20% möchten wenigstens einen Teil der Soldaten heimholen), sei es in der Iran-Politik (64% aller US-Bürger wollen dem Regime in Teheran die Bombe mit militärischer Gewalt aus der Hand schlagen, nur 39% der Deutschen wollen dies). Konkret mögen die Europäer zaudern – aber im Allgemeinen möchten sie schon mehr Verantwortung übernehmen. Immerhin drei von fünf Europäern sagen, die NATO müsse ihre Interessen notfalls auch außerhalb Europas verteidigen. Eine derart „globale NATO“ wünschen sich auch 77 von 100 Amerikanern, aber nur 55% der Deutschen. Vgl. www.gmfus.org 49 Vgl. Barth, Peter/Mechtersheimer, Alfred/Reich-Hilweg, Ines: Europa – Atomwaffenfrei! Starnberg 1983 48 Solidarität in die transatlantische Allianz wurden diese überdeckt, und verschwanden schnell aus der veröffentlichten Diskussion und damit auch weitgehend aus der öffentlichen Meinung. Das Verhältnis zu den USA wird zum Bestimmungsfaktor europäischer Selbstbehauptung. Soll Europa weiter loyal zu den USA oder in erster Linie loyal zu sich selbst sein? Das ist die zentrale Frage, die sich nach den Verwerfungen im Zuge der Golfkrise, des IrakKrieges, des Kampfes gegen den Internationalen Terrorismus oder auch der Nahost-Politik bis heute stellt. Die Erfolgsgeschichte der westeuropäischen Integration war vor allem darin begründet, dass man aus den Vermessenheiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den radikalsten Ideologien und größten Kriegen der Weltgeschichte die realpolitische Konsequenz des Ausgleichs und der Integration gezogen hat. Das gelang unter dem Eindruck der sowjetischen Bedrohung leichter. Seit den 1990er Jahren steckt Europa in einem dramatischen sicherheitspolitischen Dilemma, was mit der Jugoslawien-Krise zum Ausdruck kam und in der Golfkrise eine Fortsetzung fand. Es fehlt eine tabufreie Debatte über Verbindendes und Trennendes zwischen EU-Europa und den USA, zumal die transatlantische Allianz im Kalten Krieg viele Unterschiede zugedeckt hat. Der amerikanische Analytiker Robert Kagan nannte das europäische Verhalten in der Irak-Krise kantianisch (Streben nach Ausgleich, Recht und Frieden), während er das amerikanische vom Machtdenken Thomas Hobbes geprägt sah (Anarchie, 50 Leviathan). Anstatt die von Apologeten und Schönrednern der transatlantischen Beziehungen verwendeten Stereotypen der viel betonten Übereinstimmungen sollte eine scharfsinnige Analyse der Unterschiede erfolgen, aus der eine Allianz oder Wertegemeinschaft mit mehr Verständnis für die jeweiligen Interessen und Vorstellungen beider Seiten erwachsen kann. Zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen EU-Europa und den USA bestehen nach wie vor in zahllosen verwandtschaftlichen Beziehungen, finanziellen und investitionspolitischen Transaktionen, ökonomischen Verflechtungen, elektronischer Kommunikationsverdichtung, traditioneller sicherheitspolitischer Kooperation, engen Netzwerken der wissenschaftlichen Forschung und in westlichen Lebensstilen. Daneben gibt es aber auch gravierende Differenzen. Ein Unterschied besteht in der Religiosität: Europa ist selbst in historisch zutiefst katholisch geprägten Ländern heute überwiegend säkularisiert und agnostizistisch, während die große Mehrheit der US-Bürger sehr gottgläubig und zutiefst religiös ist. Auf keinem Euro-Schein könnte heute noch „In God we trust“ stehen. Für „Kaiser, Gott und Vaterland“ zog man noch in den Ersten Weltkrieg. Ist in Europa im Unterschied zu den USA die „zweite Aufklärung“ des 19. und 20. Jahrhunderts Wirklichkeit geworden? Vgl. Kagan, Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003 sowie ders.: Die Demokratie und ihre Feinde – Wer gestaltet die neue Weltordnung? Berlin 2008 50 19 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 19 28.10.2010 8:37:09 Uhr Erhebliche Divergenzen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gibt es auch in der Pressefreiheit, beispielsweise bei der Zulassung extremistischer Lite51 ratur von Neonazis, bei der Unantastbarkeit der Menschenwürde (die mit der US-Praxis der Todesstrafe kollidiert), in der Rechtsauffassung (z.B. die in Deutschland praktizierte Unschuldsvermutung, solange kein Beweis vorhanden ist, und in der Behandlung von Kriegsgefangenen im US-Gefangenenlager auf Guantánamo) sowie im Verhältnis zur Umwelt (das von den USA nicht ratifizierte Kyoto-Protokoll). Auch beim Atomwaffen-Teststopp-Abkommen und bei der Landminen-Konvention gibt es keine US-amerikanische Bereitschaft zur Folgeleistung. strukturellen Antagonismus entwickelt. Wie weit ist 52 dieser noch abzubauen? Mag sein, dass es ein „altes“ Europa gibt, wobei sich das „neue“, von der Bush-Administration gewünschte Europa noch als modern und zivilisiert erweisen muss – militärische Interventionen und Zuschlagen auf Verdacht sind sicher nicht neu und alles andere als fortschrittlich. Humanitäre Interventionen müssen zur Entspannung und Vertrauensbildung, dürfen aber nicht zur Konfrontation und Eskalation führen. Neue und moderne Staaten versuchen Kriege zu vermeiden, alte wollen 53 und müssen sie führen. Während der Krise um die Lösung des Konflikts mit dem Regime von Saddam Hussein in Bagdad 2003 entstanden innerhalb Europas enorme Meinungsverschiedenheiten: Während die USA gemeinsam mit den damals verbündeten Regierungen aus Dänemark, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal, Spanien, Tschechische Republik und Ungarn den sofortigen Sturz des Saddam-Regimes mittels einer militärischen Intervention forderten, sprachen sich vor allem Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg gegen derartige militärische Lösungen aus. Am 30.1.2003 wurde seitens der Kriegsbefürworter ein „Brief der Acht“ an die Öffentlichkeit vorgestellt, in dem sie sich für die militärische Intervention aussprachen. Dieser Solidaritätserklärung von acht EU-Staats- und Regierungschefs an die USA schlossen sich auch der EU-Staat Niederlande und die damaligen EU-Beitrittskandidaten Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Estland, Lettland und Litauen an – diese Staaten wurden von der damaligen US-Administration unter Präsident George W. Bush als das „neue Europa“ bezeichnet. 53 Der Kriegskurs der amerikanischen Regierung im Irak spaltete nicht nur den UNSicherheitsrat, sondern auch Europa, die EU und die NATO. Bundeskanzler Schröder (SPD) manövrierte Deutschland mitten in diesen Streit. Dabei bestand sein Fehler nicht darin den Irakkrieg abgelehnt zu haben – in diesem Punkt war ihm selbst der Kanzlerkandidat der Opposition, der bayerische Ministerpräsident Stoiber (CSU), im Bundestagswahlkampf gefolgt. Vielmehr war es nur eine halbe Verweigerung, d.h. Ablehnung im Prinzip, aber Mitarbeit in der Praxis. Ferner brüskierte Schröder die mittelosteuropäischen Länder, die aufgrund ihrer prekären sicherheitspolitischen Lage die Amerikaner als Schutzmacht zu brauchen glaubten und sie deshalb auf ihrem Irak-Kurs unterstützten. Schröders brachiales Vorgehen isolierte Berlin in Europa, reduzierte den politischen Einfluss Deutschlands und schuf Misstrauen gegenüber den vom Kanzler verkündeten „deutschen Weg“ in der Außenund Sicherheitspolitik. Vgl. Joetze, Günter: Der Irak als deutsches Problem, BadenBaden 2010 52 Praktisch wie theoretisch könnten die USA nicht der EU beitreten, weil sie deren Grundbedingungen und Wertvorstellung nicht entsprechen, ja diesen zuwiderhandeln würden. In der staatlichen Unterwerfung unter supranationale Organisationen (EU, UNO, Internationaler Strafgerichtshof etc.) besteht zunehmend Dissens mit den USA. Das Vorgehen bei der Gestaltung der zukünftigen Weltordnung ist daher der zentrale Konfliktpunkt: Multilateralität und Supranationalität stehen Unilateralismus und Staatssouveränität gegenüber. Das Verhältnis weiter Teile Kontinentaleuropas zu den USA hat sich nach Ende des Kalten Krieges und zuletzt im Zeichen des Irak-Krieges und der anglo-amerikanischen Militärintervention von einem akzidentiellen Dissens zu einem Der erste Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung legt ausdrücklich fest, dass der Kongress „kein Gesetz erlassen“ darf, das die Meinungsfreiheit (beziehungsweise die Religions-, Rede-, Presse- oder Versammlungsfreiheit) einschränkt. 51 20 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 20 28.10.2010 8:37:09 Uhr Vor einer NATO-Osterweiterung als einer Fortsetzung des Kalten Krieges wurde schon seit Jahren gewarnt. Fakt ist heute, dass sie ein Hebel zur Verzögerung, wenn nicht ein Mittel zur Verhinderung der Politischen Union Europas ist. Scherzhaft meinte die PentagonBeraterin Ruth Wedgwood: „Die NATO-Erweiterung ist eine flankierende Maßnahme, um Westeuropa einzudämmen.“ Sie treibt die Sorge um, „dass Europa sich 54 skandinavisiert, neoneutral wird“. Es gibt Bewahrenswertes, aber auch Hinterfragenswertes im Verhältnis zu den USA, was eine Neudefinierung der Beziehungen notwendig macht. Willy Brandt rief einst den Anhängern der deutschen Friedensbewegung zu: „Bei allem, was bei uns über Antiamerikanismus geredet wird – ich fühle mich an wenigen Orten der Welt so wohl wie in Washington. Dort diskutieren sie über die gleichen Dinge wie wir.“ Es muss daher erlaubt und legitim sein, in Grundsatzfragen unterschiedliche Auffassungen zu vertreten und eventuell getrennte Wege zu gehen. Demokratie aber endet dort, wo es heißt: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Der Aufstieg der USA zur Weltmacht begann im 20. Jahrhundert, welches das „amerikanische Jahrhundert“ Vgl. „Dann helfen uns eben die Osteuropäer.“ Pentagon-Beraterin Ruth Wedgwood erklärt, weshalb Amerika den Krieg will und das alte Europa nicht mehr versteht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.1.2003 54 werden sollte. Der US-amerikanische machtpolitische Aufstieg war eng mit Europas machtpolitischem Niedergang, ja mit der „Selbstentmachtung des vordem 55 mächtigsten Kontinents“ verbunden. Das Ende des Kalten Krieges 1989/90 schuf völlig neue Grundlagen, auch die machtpolitische Abhängigkeit der Europäischen Union von den USA begann zu schwinden. Die EU hat die USA wirtschaftlich längst überholt und ist zu ihrem wirtschaftlichen Konkurrenten geworden. Es fragt sich nur, ob sie auch zu einem umfassenden Gegenspieler wird. Währungspolitisch hat die EU sich von den USA emanzipiert. Die Weltleitwährung Dollar existiert nicht mehr; im WTO-Rahmen herrschen schon seit Jahren Handelskonflikte. Bleibt der militärischtechnologische Komplex, wo sich der Abstand zwischen der EU und den USA erheblich vergrößert hat. Anzeichen für eine neue und genuin westeuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind bereits vorhanden. Eine Politische Union, in der die EU-Nationalstaaten eine Funktion ähnlich der US-Bundesstaaten hätten, wird von den wenigsten Amerikanern als wünschenswert erachtet. Eine solche EU würde in direktem Wettbewerb um die Welthegemonie mit den USA eintreten. Vgl. Lippgens, Walter (Hrsg.): 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986, S. 21 55 Charakteristika der EU-Außenbeziehungen Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte 1979 im Zusammenhang mit der europäischamerikanischen Kooperation die provokante Frage gestellt, welche die Telefonnummer Europas sei. Kissingers viel zitierte Bemerkung verwies auf ein grundlegendes Defizit der ansonsten erfolgreichen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik und die entsprechend beschränkten Möglichkeiten, mit der EU zu kooperieren. Heute würde Kissinger wahrscheinlich die Telefonnummer der Britin Catherine Ashton, der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, erhalten. Die Bezeichnung Hoher Vertreter, und eben nicht Außenminister, verweist darauf, dass die EU eine eigene spezifische Regelung der politischen Institutionalisierung gefunden hat bzw. finden musste. Die gesamten europäischen Außen- und Sicherheitsbeziehungen sind ein Kompromiss zwischen widerstreitenden Prinzipien und unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten. Ein großer Interessengegensatz ist die Bewahrung der nationalstaatlichen Souveränität. Die EU ist kein Staat mit einer Zentralregierung, die für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig ist. Da die Außen- und Sicherheitspolitik zu den Kernbestandteilen nationalstaatlicher Souveränität gehört, sind alle Staaten – und dies gilt auch und besonders für die Mitgliedstaaten der EU – trotz ihrer generellen Bereitschaft, Souveränität abzugeben, sehr zögerlich, in der Außen- und Sicherheitspolitik Kompetenzen auf supranationale Institutio- nen oder auch internationale Organisationen zu übertragen. Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU bleibt 56 daher prinzipiell intergouvernemental. Der intergouvernementale Charakter der Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht nur Ausdruck der generellen Ablehnung des Souveränitätsverzichts im Kernbereich nationaler Sicherheit, sondern verstärkt sich noch durch die heterogene Mitgliedschaft der mittlerweile 27 Staaten umfassenden EU mit ihren unterschiedlichen Traditionen und Interessen. Neutrale Mitgliedsländer wie Österreich, Finnland, Schweden und Irland sind nicht bereit, einem Verteidigungs- oder Militärbündnis beizutreten. Dies setzt der institutionalisierten Zusammenarbeit Grenzen bzw. macht flexible Strukturen erforderlich. Ferner orientieren sich zahlreiche Mitgliedstaaten in der Sicherheitspolitik an den USA und der NATO. Traditionell gehört Großbritannien zu diesen Atlantikern, weshalb der frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle das Vereinigte Königreich als „verlängerten Arm der USA“ betrachtete und eine Mitgliedschaft des Landes in der damaligen EG blockierte. Aber auch Spanien, Portugal, Tschechien, Bulgarien, Rumänien und Polen setzen auf die USA und begrenzen die Möglichkeiten europäischer Kooperation, da für sie der Aufbau von EU-Kapazitäten als Macht- und Statusverlust für die NATO empfunden wird, die sie als Garant ihrer Sicherheit begreifen. Das heißt, die Entscheidungskompetenz verbleibt bei den Staaten und Entscheidungen müssen einstimmig gefällt werden. 56 21 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 21 28.10.2010 8:37:09 Uhr Unter diesen schwierigen, historisch vorbelasteten Rahmenbedingungen ist die Entwicklung der Außenund Sicherheitspolitik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten beachtlich, auch wenn die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nach wie vor im Vergleich zu anderen Politikfeldern zu den Bereichen mit eher geringen Integrationsfortschritten gehören. Konkret zeigt sich immer deutlicher die Notwendigkeit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU-Staaten verfügen durchaus über gleichgerichtete Interessen, die gemeinsam weitaus wirkungsvoller vertreten werden können als im Alleingang. Zu den gleichgerichteten Interessen gehören beispielsweise Sicherheit und Frieden in Europa und die Berücksichtigung europäischer Interessen im Welthandelssystem. Weiterhin besteht eine „Nachfrage“ nach einer aktiven 57 Rolle in der Welt. Sie ergibt sich aus der Bedeutung der EU, ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und ihrem Wohlstand. Die EU ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht – die 27 Mitgliedstaaten bilden mit knapp über 500 Millionen Einwohnern den größten und kaufkräftigsten Binnenmarkt der Welt und haben einen Anteil von rund 20% am Welthandel – ein globaler Player. Es gibt zu einer aktiven Rolle der EU als globaler Akteur schlicht keine Alternative. Zur GASP sowie zur gemeinsamen Sicherheitskooperation im Inneren zwingen nicht nur die zunehmende Interdependenz und die transnationalen Bedrohungen wie der Internationale Terrorismus, die organisierte Kriminalität, die Gefahr atomarer Proliferation, das Problem der Energiesicherheit und die drohende Klimakatastrophe. Auch die einzigartige politische Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten, die notwendigerweise globale Interessen verfolgen, dabei wenig Neigung zeigen, auf die Begrenzungen durch die Vereinten Nationen Rücksicht zu nehmen, und nicht mehr bereit sind, die Kosten für die Sicherheit Europas zu übernehmen, wie dies zur Zeit des Kalten Kriegs notwendig war, lässt eine gemeinsame Interessenvertre58 tung der Europäer als unausweichlich erscheinen. Die EU ist zusammen mit den USA sowie ostasiatischen Wirtschaftsmächten (China, Japan) entscheidend in den Welthandelsrunden der WTO. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ohne die EU im Welthandelssystem keine Entscheidungen fallen können. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind mit einem Anteil von 55% an der weltweiten staatlichen Entwicklungshilfe größter Geber. Sie finanzieren rund 40% des Etats der 59 Vereinten Nationen und die EU-Mitgliedstaaten hatten 2009 circa zehnmal so viele Soldaten bei Friedensmissionen der UN im Einsatz wie die USA. So beeindruckend diese wenigen Kennzahlen auch sein mögen, sie sagen aber noch nichts darüber aus, ob die EU mit ihren 27 Nationalstaaten ein Akteur der Weltpolitik ist. Es besteht nach wie vor eine Diskrepanz zwischen den relativ geringen politischen Integrationsfortschritten und dem weltwirtschaftlichen Gewicht der EU. Vgl. Fröhlich, Stefan: Die Europäische Union als globaler Akteur, Wiesbaden 2008 Außerdem haben mit Frankreich und Großbritannien zwei EU-Staaten einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Überlegungen, daraus einen EU-Sitz zu machen, sind bisher an den nationalen Interessen der beiden Staaten gescheitert und sind auf absehbare Zeit kaum vorstellbar. 58 59 Vgl. Schubert, Klaus/Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (Hrsg.): Die Europäische Union als Akteur der Weltpolitik, Opladen 2000 57 22 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 22 28.10.2010 8:37:09 Uhr Im Ergebnis führen diese widerstreitenden Prinzipien und Anforderungen an eine EU-Außenpolitik dazu, dass die Außenbeziehungen der EU unterschiedlichen Logiken folgen. Kennzeichnend für die auswärtigen Beziehungen der EU ist, dass es zwei Klassen der 60 Politik gibt: zum einen die Gemeinschaftspolitiken, zum anderen die intergouvernementale Außenpolitik im Rahmen von GASP und ESVP. Zu den Gemeinschaftspolitiken gehören die von der Kommission verwaltete Außenhandelspolitik und die Entwicklungspolitik. Die Sicherheitspolitik ist hingegen streng intergouvernemental organisiert. Um die Sache aber noch komplizierter zu machen: Es existieren auch bei den Gemeinschaftspolitiken letztlich parallele Politiken der 60 Vgl. Herz, Dietmar: Die Europäische Union, München 2002 Nationalstaaten, so gibt es beispielsweise neben der europäischen Entwicklungspolitik, die von Deutschland zu über 20% finanziert wird, eine deutsche Entwicklungspolitik. Dies wirft in der Praxis konkrete Abstimmungs-, Koordinations- und Kohärenzprobleme auf, da durchaus Unterschiede zwischen den nationalen Außenpolitiken und derjenigen auf europäischer Ebene bestehen. Eine europäische Außenpolitik „aus einem Guss“ ist daher eher eine Ausnahme. Für diese schwer zu vermittelnde Konstruktion wurde von Reinhardt Rummel der Begriff der „zusammengesetzten Außenpolitik“ geprägt, wobei damit die Außenpolitik der EUOrgane plus derjenigen der Nationalstaaten gemeint 61 war. Vgl. Rummel, Reinhardt: Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als internationaler Akteur, Kehl 1982 61 Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Während zunächst die wirtschaftliche Integration Europas im Vordergrund stand, wurde 1970 die erste Vereinbarung über das Verfahren der außenpolitischen Zusammenarbeit mit dem „Luxemburger Bericht“ der Außenminister verabschiedet. Kernziel dieser Zusammenarbeit war zunächst die Harmonisierung der außenpolitischen Standpunkte durch gegenseitige Unterrichtung. Anschließend konnten sich die Mitglieder auf ein gezieltes gemeinsames Vorgehen verständigen. Diese außenpolitische Zusammenarbeit zeichnete sich durch einen rein zwischenstaatlichen Charakter aus und unterschied sich so von der auf Integration zielenden Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Diese in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene „Europäische Politische Zusammenarbeit“ (EPZ) zur Koordinierung der mitgliedstaatlichen Außenpolitiken war nie Teil der da62 maligen EWG-Verträge. 1972 beschloss der Pariser Gipfel eine Intensivierung der politischen Zusammenarbeit, die damit zur zweiten Säule der europäischen Einigung aufgewertet wurde. In den 1980er Jahren wurde die EPZ weiter ausgebaut und gestärkt, allerdings begrenzte sich diese Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen auf politische und wirtschaftliche Standpunkte, verteidigungsund militärpolitische Fragen blieben weitgehend ausgeklammert. Die Einheitliche Europäische Akte von 1986 regelte die EPZ erstmals in völkerrechtlich verbindlicher Form. Im Vertrag von Maastricht (auch als Vertrag über die Europäische Union bekannt) wurden 1992 schließlich die Grundlagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zweite der drei Säulen der Europäischen Union geschaffen und erstmals im EU- 1970 legte der Belgier Vicomte Étienne Davignon als Ausschussvorsitzender der politischen Direktoren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den „DavignonBericht zur Weiterentwicklung und politischen Einigung der EWG“ vor, in dem er einen Informations- und Konsultationsmechanismus auf dem Gebiet der Außenpolitik der damals noch sechs Staaten vorschlug. 62 Vertrag verankert. Seitdem ist die EU als Ganzes auf der internationalen Bühne präsent und meldet sich zu Konflikten oder Menschenrechtsfragen immer öfter mit einer Stimme zu Wort. Als eine zwischenstaatliche Kooperation auf Regierungsebene erläutert die GASP den Rahmen für eine Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Außen- und Sicherheitspolitik. Zu unterscheiden ist sie dadurch von der ersten Säule der „Europäischen Gemeinschaften“, die unter anderem die gemeinsame Handels- und Entwicklungspolitik bestimmt, sowie von der dritten Säule, der „Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit“. Gleichzeitig finden bezüglich der GASP, im Gegensatz zur ersten Säule, weder gemeinschaftliche Entscheidungsverfahren ihre Anwendung noch untersteht die GASP der Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof. Durch das Einstimmigkeitsprinzip der GASP erhält letztendlich jeder Mitgliedstaat das Vetorecht und somit die volle Kontrolle über die Entwicklung der GASP. Die Regierungen der Mitgliedstaaten bleiben über den Europäischen Rat federführend (siehe Schaubild Seite 39). Mit Außenbeziehungen der EU haben sich demnach nicht nur die EU-Staats- und Regierungschefs, der/die Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik und der Rat für auswärtige Angelegenheiten (Außenminister) zu befassen, sondern auch fünf Generaldirektionen der Europäischen Kommission (Außenbeziehungen, Handel, Erweiterung, Entwicklung, humanitäre Hilfe) sowie drei EU-Kommissare. Im Vertrag von Maastricht werden mit Gemeinsamen Strategien (Art. 13 EU-Vertrag), Gemeinsamen Aktionen (Art. 14 EU-Vertrag) und Gemeinsamen Standpunkten (Art. 15 EU-Vertrag) drei Instrumente definiert, die sich vor allem in ihrer Reichweite unterscheiden. Sie dienen dazu, die Außenpolitik der Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame EU-Linie festzulegen und damit für Kohärenz zwischen den Außenpolitiken der Mitgliedstaaten zu sorgen. (weiter Seite 26) 23 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 23 28.10.2010 8:37:09 Uhr Gemeinsame Strategien: Mit ihnen wird eine außenpolitische Leitlinie für einen bestimmten geografischen Raum oder einen thematischen Problembereich festgelegt (gemeinsame Strategien wurden bisher zu Russland, zur Ukraine und zum Mittelmeerraum verabschiedet); Gemeinsame Aktionen wie die Entsendung von Wahlbeobachtern (Russische Föderation 1993), von Sonderbeauftragten (zum Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas 1994) oder Polizeimissionen (Mazedonien 2003); Gemeinsame Standpunkte: Die Mitgliedstaaten einigen sich in einer spezifischen Frage auf eine gemeinsame Haltung und richten ihre einzelstaatliche Außenpolitik daran aus (z.B. Verbot der Einreise bestimmter Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien wegen ihrer Nähe zum Milosevic-Regime). Beschlüsse im Rahmen der GASP müssen einstimmig gefällt werden. Eingeführt wurde mit dem Vertrag auch die Möglichkeit, Sondergesandte zu entsenden, die, mit jeweils unterschiedlichen Mandaten vom Rat ausgestattet, die EU-Politik insbesondere in Krisengebieten vertreten. Ein „Hoher Repräsentant“ („Mister GASP“), zugleich Generalsekretär des Rats, sollte der GASP Gesicht und Stimme geben. Erster Amtsinhaber wurde im Oktober 1999 der spanische Politiker Javier Solana (zugleich wurde er auch Generalsekretär der WEU). Im Bereich der Sicherheitspolitik bestätigte die EU zunächst das Prinzip von Maastricht, dass die GASP die „Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) verwirklicht sehen“ (Art. 17 Abs. 1 EU-Vertrag), achten muss. Der Artikel 17 geht insgesamt davon aus, dass die EU-Politik kompatibel mit der NATO-Politik ist. In der politischen Praxis hingegen zeigt sich, dass gerade das Verhältnis zwischen EUAußen- und zunehmend auch der Sicherheitspolitik auf der einen und der NATO auf der anderen Seite keineswegs geklärt ist, sondern für langjährige Konflikte zwischen und unter den EU-Mitgliedstaaten, den EUInstitutionen, der NATO und den USA sorgt. Nachdem der Vertrag von Maastricht 1992/93 erstmals grundsätzlich eine eigene Sicherheitspolitik der EU als ein mögliches Ziel benannt hatte, dauerte es noch fast sieben Jahre bis erste Anstrengungen in dieser Richtung unternommen wurden. 26 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 26 28.10.2010 8:37:10 Uhr Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) Bei einem britisch-französischen Treffen in St. Malo 1998 änderte die neu ins Amt gewählte Regierung unter Tony Blair den bisherigen Kurs und Großbritannien gab seinen Standpunkt auf, dass die militärische Sicherheitspolitik allein im Rahmen der NATO im ständigen Schulterschluss mit den USA betrieben werden könne. Großbritannien stimmte zu, der EU eine militärische Dimension zu geben und sich an einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu beteiligen. Die französische Regierung, die beharrlich eine größtmögliche Unabhängigkeit Europas von den USA anstrebte, begrüßte den Sinneswandel Tony Blairs, bemühte sich aber gleichzeitig um Einbeziehung der Bundesrepublik Deutschland, ihres traditionellen Partners bei allen bedeutsamen Integrationsschritten der Gemeinschaft. So kam es beim Europäischen Gipfeltreffen in Köln (Mai 1999) zur Integration der WEUInstitutionen in die EU und die Entwicklung „militärischer Fähigkeiten“ für ein Krisenmanagement gemäß den Petersberg-Aufgaben. Nachdem die EU in den Jugoslawien-Kriegen zwischen 1992 und 1995 weitgehend versagt hatte, zeigte die NATO-Intervention im Kosovo 1999 erneut die Hand63 lungsunfähigkeit der EU auf. Während in den Sezessions- und Bürgerkriegen bis 1995 die EU vor allem durch Uneinigkeit gelähmt war, fehlten 1999 in erster Linie militärische Kapazitäten. Es war daher wiederum das militärische Eingreifen der USA, das zum Sturz des Milosevic-Regimes in Belgrad führte. Die erneute Deklassierung der europäischen Staaten gab den äußeren Impuls für den Aufbau von EU-Militärkapazitäten. Die militärische Komponente der Europäischen Union hat sich also vor allem in Reaktion auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile und militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Diesem Vorstoß lag kein schlüssiges Konzept, geschweige denn eine eindeutige Zieldefinition zugrunde. Die Staats- und Regierungschefs waren lediglich zur Einsicht gekommen, dass die Gemeinschaft auf den grundlegenden Wandel des internationalen Systems reagieren und künftig mehr sicherheits- und verteidigungspolitische Fähigkeiten aufbauen und Verantwortung übernehmen müsse. Während einige Mitgliedstaaten, allen voran Frankreich, mit dem Projekt einer ESVP auch das Ziel einer Emanzipation Europas von der westlichen Supermacht USA verbanden, stand für andere Mitgliedstaaten wie beispielsweise Deutschland der erwartete integrationspolitische Impuls im Vordergrund. Großbritannien wiederum ging es um eine künftige Führungsrolle innerhalb der Gemeinschaft. Wie im europäischen Integrationsprozess durchaus üblich, wurden Divergenzen in Vgl. Barth, Peter: Der Zerfall Jugoslawiens und die Folgen für Europa, München 2001, 2. Auflage 63 der Zielperspektive jedoch vorerst zurückgestellt und man machte sich daran, Strukturen zu schaffen. Entscheidende Weichenstellungen dafür gingen von den EU-Gipfeln in Köln (4.6.1999) und Helsinki (10.11.12.1999) aus. Die Ratsbeschlüsse sahen konkrete Schritte zum Aufbau einer ESVP vor, die langfristig weltweite militärische Einsatzfähigkeiten gewährleisten sollten (bis 2003 sollten militärische Verbände in der Stärke von 15 Brigaden – rund 60.000 Soldaten – für Petersberg-Aufgaben zur Verfügung stehen). Die Fortentwicklung der ESVP erfolgte außerhalb der Verträge bzw. die allgemeinen Bestimmungen wurden äußerst 64 weitgehend interpretiert. Die ESVP wurde in den folgenden Jahren zum integralen Bestandteil der GASP, der zweiten Säule des Maastricht-Vertragswerks, und war damit eindeutig dem intergouvernementalen Prinzip unterworfen. Militärische und verteidigungspolitische Maßnahmen, beispielsweise Krisen- und Friedenseinsätze, bedürfen der Einstimmigkeit, hier gilt das Konsensprinzip. Doch wird der Einstimmigkeitszwang, durch Flexibilisierung und konstruktive Enthaltung abgeschwächt, wodurch europäische Aktivitäten wahrscheinlicher werden. Der Vertrag sorgte weiterhin für eindeutige Verfahrensregeln: Oberstes Entscheidungsorgan ist der Europäische Rat, der auf seinen Gipfeltreffen die Grundsätze und allgemeinen Leitlinien der GASP festlegt und Gemeinsame Strategien für das Vorgehen der Union ausarbeitet (bislang für Russland, die Ukraine und den Mittelmeerraum). An diesen Vorgaben orientiert sich der Ministerrat bei seinen Entscheidungen. Erscheint in einer besonderen Situation das Eingreifen der EU erforderlich, beschließt der Rat eine Gemeinsame Aktion, an die dann alle Mitgliedstaaten gebunden sind. Der Rat formuliert auch Gemeinsame Standpunkte, die für die Haltung der EU zu wichtigen außenpolitischen Themen maßgeblich sind. Für diese Beschlüsse genügt im Rat eine qualifizierte Mehrheit; sonst ist im Allgemeinen Einstimmigkeit erforderlich. Stimmenthaltungen eines Mitglieds beeinflussen die Entscheidung nicht. Weiteres Zeichen für den fortschreitenden Integrationsprozess innerhalb der GASP war die mit dem Vertrag von Amsterdam (02.10.1997) neu geschaffene Kompetenz des Europäischen Rates zum Abschluss von Verträgen mit Drittstaaten sowie eine Regelung, die vorsieht, dass die Kosten von Maßnahmen im Bereich der GASP in der Regel aus dem EU-Haushalt zu tragen sind. Zuvor waren solche Maßnahmen von den beteiligten Staaten im Umlageverfahren finanziert worden. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurden auch alle Petersberg-Aufgaben in die neuen Strukturen der Union inkorporiert, genauso wie das Satellitenzentrum in Torrejon bei Madrid und das Institut für Sicherheitsstudien (ISS) in Paris. Beide gehören seit Januar 2002 zu den Sicherheitsstrukturen der EU. Vgl. Kremer, Martin/Schmalz, Uwe: Nach Nizza – Perspektiven der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: integration (2), S. 167-178 64 27 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 27 28.10.2010 8:37:10 Uhr Im Rahmen der GASP entwickelt die EU inzwischen eigene politische und militärische Strukturen, die sie zur Durchführung von Krisenbewältigungsaufgaben befähigen – seien es humanitäre Aufgaben, friedenserhaltende Maßnahmen oder auch Kampfeinsätze. Die EU will künftig in der Lage sein, in Fragen der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung eigenständig zu entscheiden und in internationalen Krisen, in denen die NATO als Ganzes nicht aktiv wird, auch militärisch einzugreifen. Es soll ihr möglich sein, das gesamte Spektrum der so genannten „Petersberg-Aufgaben“ aus eigener Kraft wahrzunehmen. Sollte ursprünglich die Westeuropäische Union als „militärischer Arm“ der EU dienen, so eröffnete der Vertrag von Amsterdam die Möglichkeit einer vollständigen Integration der WEU in die EU. Durch die Beschlüsse des Gipfels von Nizza (9.12.2000) hat die Gemeinschaft ferner inzwischen eigene Krisenbewältigungsstrukturen aufgebaut und weist die Verteidigungspolitik als eigenständige Politik der Europäischen Union aus. Mit dem „Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee“ (PSK) wurde das zentrale Gremium der GASP/ESVP ins Leben gerufen. Das PSK wird von Vertretern der Mitgliedsländer im Botschafterrang gebildet, zu denen ein Kommissionsvertreter hinzutritt. Es schlägt dem Rat die im Krisenfall zu ergreifenden Maßnahmen vor und ist für die politische Kontrolle und strategische Leitung der Militäroperationen zuständig. Der Rat kann ihm auch die Leitung von Operationen übertragen. Das PSK entwickelte schnell eine Eigendynamik und etablierte sich als „operative Schaltzentrale“ 65 der GASP. Rund um das PSK entstanden in den folgenden Jahren eine ganze Reihe von Institutionen und Gremien, die dem PSK zuarbeiten und z.T. dem Hohen Vertreter direkt unterstehen: EUMC (EU Military Committee): Der Militärausschuss ist das höchste militärische Gremium und wurde mit Beschluss des Rates vom 22.01.2001 installiert. Er besteht aus den Delegierten der nationalen Generalstabschefs mit einem ständigen Vorsitzenden im Range eines Vier-Sterne-Generals. Dieser vertritt den Ausschuss vor dem PSK und dem Rat und dient als Ansprechpartner für den Hohen Vertreter in Militärangelegenheiten. Neben der umfassenden militärischen Beratung des PSK ist eine wesentliche Aufgabe des EUMC, die militärische Leitung der Union im Krisenfall zu übernehmen. EUMS (EU Military Staff): Der Militärstab wurde durch Beschluss des Rates vom 22.01.2001 installiert und unterstützt den Militärausschuss. Er setzt sich aus Mitarbeitern zusammen, die von den Mitgliedstaaten entsendet werden, und wird von einem Drei-Sterne-General geleitet. Hauptaufgabe des Stabes ist es, militärisches Fachwissen zur Verfügung zu stellen, indem er Frühwarnungen, Lagebeurteilungen und strategische Planungen hinsichtlich der Petersberg-Aufgaben erarbeitet. Operative Planungen sind jedoch dem Militärausschuss und dem PSK vorbehalten. Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2007, S. 67; Fährmann, Ingo: Die Bundeswehr im Einsatz für Europa. Die Beteiligung Deutschlands an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) – Zulässigkeit nach dem Vertrag von Lissabon, Baden-Baden 2010 65 28 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 28 28.10.2010 8:37:10 Uhr CIVCOM (Committee for Civilian Aspects of Crisis Management): Ausschuss für zivile Aspekte der Krisenbewältigung im Rahmen von ESVP-Missionen SitCen (EU Situation Centre): Eine im Ratssekretariat angesiedelte Lage- und Analyseabteilung. Obwohl von Kommission und Rat sowie von den nationalen Regierungen der Begriff „EU-Geheimdienstabteilung“ stets widersprochen wird, werden hier die Informationen nationaler (Auslands-) Geheimdienste zusammengetragen und ausgewertet. EDA (Europäische Verteidigungsagentur): ermittelt für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung den operativen Bedarf und fördert die Maßnahmen zur Bedarfsdeckung. Entscheidungen über mögliche militärische Operationen trifft der Ministerrat unter Beteiligung der EUKommission und des Hohen Vertreters der GASP. Mit ihrer ausdifferenzierten Infrastruktur verfügt die GASP über die nötigen Voraussetzungen, militärische Einsätze durchzuführen. Verschiedene Gremien übernehmen beratende, koordinierende und ausführende Aufgaben im Rahmen der ESVP. Höchstes militärisches Gremium im Rat ist der EU-Militärausschuss, der sich aus den Generalstabschefs der Mitgliedsländer zusammensetzt. Er berät das PSK in allen militärischen Fragen und nimmt die militärische Leitung im Rahmen der EU wahr. Unterstützt wird er durch den EU-Militärstab, der unter anderem für Frühwarnung, Lagebeurteilung und strategische Planung zuständig ist, die Verbindung zu den beteiligten Streitkräften herstellt und die militärischen Operationen überwacht. Parallel zum Aufbau einer Führungs- und Befehlsstruktur wurden auch die direkten militärischen Fähigkeiten der EU ausgebaut. Bereits auf dem Treffen des Europäischen Rates in Helsinki (10.-11.12.1999) beschloss die EU mit dem „European Headline Goal“ die Aufstellung von Krisenreaktionskräften (Rapid Reaction Force – ERRF) in einer Stärke von 60.000 Mann (was aufgrund der erforderlichen Rotation und logistischen Unterstützung einem Gesamtumfang von ca. 180.000 Soldaten entspricht – davon 40.000 Soldaten für Bodentruppen und 20.000 Soldaten für Luftwaffe, Marine und Militärlogistik) bis Ende 2003. Sie sollten die Union in die Lage versetzen, innerhalb von zwei Monaten eine Schnelle Eingreiftruppe in Krisengebiete zu verlegen und deren Einsatz bis zu einem Jahr aufrechtzuerhalten. Dazu gehören humanitäre Missionen und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Einsätze einschließlich militärischer Friedenserzwingung durch Kampfeinsätze. Diese Ziele werden auch als die so genannten „Petersberg-Aufgaben“ bezeichnet. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum einsatzfähig. Die Erfüllung der Petersberg-Aufgaben sowie ein Eingreifen in internationalen Konflikten können sowohl nichtmilitärische als auch militärische Maßnahmen erfordern. Bei den nichtmilitärischen Aufgaben legte die EU den Schwerpunkt auf den Einsatz von Polizeikräften, die Stärkung des Rechtsstaats (wie zum Beispiel der Justiz und dem Strafvollzug), die Stärkung der Zivilverwaltung und den Zivilschutz in Krisengebieten. 66 Neben 5.000 Polizisten haben sich die EU-Staaten verpflichtet, einen Pool von insgesamt über 7.000 Rechtsexperten, Verwaltungsfachleuten, Krisenexperten und Experten für den Katastrophenschutz zu bilden. Diese zivile Komponente soll zum Wieder- oder sogar zum Neuaufbau staatlicher Verwaltung und Infrastruktur nach Kriegszerstörung beitragen und damit die Chance auf dauerhaften Frieden nach Beendigung von Kampfhandlungen erhöhen. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass eine militärische Friedenserzwingung allein nicht ausreicht. Die kurze Frist bis 2003 konnte nicht eingehalten werden, denn die Aufstellung der EU-Eingreiftruppe verzögerte sich aufgrund von Finanzierungsproblemen. Außerdem besaßen für die Mitgliedstaaten Reformen 67 der nationalen Streitkräfte Priorität. Um trotzdem militärisch zumindest im begrenzten Rahmen intervenieren zu können, beschloss die EU, Krisenreaktionskräfte zur raschen Bewältigung von Krisen (rapid response) in Form so genannter „Battle Groups“ aufzustellen. Bei den Battle Groups handelt es sich um 13 jeweils ca. 1.500 Mann starke, aus Soldaten verschiedener EU-Mitgliedstaaten zusammengesetzte Kampfeinheiten. Sie sollen innerhalb von nur zehn Tagen einsatzbereit sein und in akuten Krisensituationen zum Schutz der Zivilbevölkerung oder zur Wiederherstellung eines Mindestmaßes an Ordnung eingesetzt werden. Bis Mitte 2008 waren die ersten zwei Battle Groups einsatzbereit. Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen machen mit knapp 20.000 Mann noch keine „Militärmacht“ aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedstaaten: Für jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammenbetteln. Es geht also nicht um militärische Großmachtgeltung; die haben nur noch einzelne Mitgliedstaaten, nicht die Union. Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steckt? Man ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist, alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geographischen Umfeld und in Afrika. Im September 2004 wurde die European Gendarmerie Force (EGF) gegründet (Niederlande, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal). 67 Vgl. Kohler-Koch, Beate/Conzelmann, Thomas/Knodt, Michèle: Europäische Integration – Europäisches Regieren, Wiesbaden 2004 66 29 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 29 28.10.2010 8:37:10 Uhr Aber die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür, dass die Europäische Union kaum an größere Operationen denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer „military capabilities“ müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine „Civil Military Cell“ zur Koordinierung der militärischen mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit bleibt die NATO das einzige relevante Militärbündnis in Europa, das darüber mitentscheidet, wozu und wie die 68 EU ihre Militärkräfte einsetzt. Die Pläne der EU zur Bildung einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Vereidigungspolitik ab 1999 wurden zunächst insbesondere von den NATOPartnern ohne EU-Mitgliedschaft sehr kritisch verfolgt. Die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright stellte 1998 in ihren „3Ds“ folgende Bedingungen an eine autonome ESVP: „No decoupling“: keine Abkoppelung europäischer von transatlantischen Entscheidungsprozessen; „No duplication“: keine Verdoppelung von Streitkräfteplanungen, Kommandostrukturen und Beschaffungsmaßnahmen; „No discrimination“: keine Diskriminierung europäischer NATO-/Nicht-EU-Mitglieder. Eine vierte Bedingung wurde vom US-Kongress hinzugefügt: Die NATO soll das „Recht auf erste Verweigerung“ (right of first refusal) in Bezug auf EUFriedenseinsätze besitzen. Diese vier Bedingungen reflektieren die sicherheits- und verteidigungspolitischen US-Interessen in Europa im Jahre 1998. Aus der im März 2006 veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA geht hervor, dass die NATO weiterhin eine relevante „Säule der US-Außenpolitik“ bleibt. Was also ist gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die Hisbollah im Libanon oder Hamas in Palästina können nur auf politischem Wege eingebunden werden, das Zerstörungspotenzial des Terrorismus lässt sich nur politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militärgebaren die Gewaltlogik noch zu verstärken. Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied läge nicht nur in der Bewaffnung und den EntscheiVgl. Blanck, Kathrin: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur, Wien-New York 2005 68 dungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: nicht militärische Interessenerzwingung, sondern zivile Rechtsdurchsetzung im Rahmen politischer Lösungen mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch gegenüber den USA. „Humanitäre Interventionen“ ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln. Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar (aber explizit möglich); es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UNOrgans fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte? Die sicherste Gewähr gegen einen europäischen Militarismus liegt aber in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU übertragen. Sachwalter dieser „gepoolten“ Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur sie hat den entsprechenden großen Stab, ein Milliardenbudget und politische Handlungsfähigkeit nach außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die Mitgliedstaaten das Sagen. Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: für die sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinandergreifen, ist so kaum möglich. Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein Global Player ist die EU nur dank ihrer zivilen und nicht ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese ein militärischer Zwerg werden wollen? 30 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 30 28.10.2010 8:37:10 Uhr Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit der Europäischen Union noch verstärken und damit auch die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung. Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei (eine Art „Fremdenlegion für den Frieden“) ließe sich demokratie- und gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den Machtetatismus in die Union hineintragen und damit deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken. Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) Die weiter bestehenden sicherheitspolitischen Differenzen der EU-Staaten brachen 2003 anlässlich des von den USA geführten Koalitionskrieges gegen den Irak deutlich auf. Frankreich und Deutschland lehnten eine Teilnahme ab, Großbritannien stellte sich vorbehaltlos an die Seite der USA. Diese förderten ihrerseits mit ihrer Politik des Gegensatzes zwischen „altem“ und „neuem“ Europa die sicherheitspolitische Spaltung der EU und trugen zu einem Rückschritt bei der Verwirklichung der ESVP bei. Als Reaktion auf die Spaltung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vorfeld des Irak-Krieges 2003 erhielt der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, Javier Solana (Mister GASP), die Aufgabe, den Entwurf einer „Europäischen Sicherheitsstrategie“ (ESS) zu formulieren. Sowohl durch das Ende des Kalten Krieges sowie aufgrund veränderten Sicherheitslage nach dem 11. September 2001 schien die Bestimmung der strategischen Rolle und Aufgaben der EU notwendig. Die ESS lehnt sich in Wort und Geist eng an die „Nationale Sicherheitsstrategie“ (NSS) der USA aus dem Jahre 2002 an und stellt das erste sicherheitspolitische Dokument seiner Art dar; es leitet einen Paradigmenwechsel in der EU ein. Die EU versteht sich mit diesem Dokument als ein globaler Akteur, der auch einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit tragen und einen Beitrag leisten soll, der seinem Potenzial entspricht. Mit diesem Dokument konnten sich die EU-Mitgliedstaaten zum ersten Mal auf eine gemeinsame Bedrohungsperzeption und einen einheitlichen Sicherheitsbegriff einigen. Für eine aktive und gemeinsame Sicherheitspolitik der EU kommt es allerdings weniger auf die von der Verfassung geplante Institutionalisierung als auf eine gemeinsame Sicht und auf einen gemeinsamen Handlungswillen an. Der Europäische Rat nahm die Strategie nach langwierigen Diskussionen am 12. Dezember 2003 an. Die ESS identifiziert zunächst die Hauptbedrohungen, denen sich Europa ausgesetzt sieht: der Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, das Scheitern von Staaten sowie die organisierte Kriminalität. Weiterhin erkennt die ESS Armut, Hunger, Krankheiten und Epidemien wie AIDS sowie den Wettstreit um Naturressourcen, insbesondere Wasser, als globale Herausforderungen und Ursachen von Sicherheitsproblemen an. Europäische Sicherheitsstrategie Ein sicheres Europa in einer besseren Welt 31 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 31 28.10.2010 8:37:10 Uhr Um die Sicherheit ihrer Bürger zu verteidigen und die Werte der EU zur Geltung zu bringen, setzt die EU als Folge auf drei strategische Ziele: die Abwehr der Bedrohungen nicht nur mit militärische Mitteln, sondern mit dem gesamten ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarium; die Stärkung der Sicherheit in unmittelbarer EUNachbarschaft durch die Entstehung eines Rings verantwortungsvoll regierender Staaten östlich der EU und an den Mittelmeergrenzen; sowie einer Weltordnung auf der Grundlage eines wirksamen Multilateralismus basierend auf den Vereinten Nationen, einer stärkeren Weltgemeinschaft, gut funktionierenden internationalen Institutionen und einer geregelten Weltordnung. Grundlage des letzteren Ziels ist die Überzeugung, dass keine Nation den neuen globalen Bedrohungen im Alleingang gewachsen ist. Die identifizierten Bedrohungen und strategischen Ziele der EU haben folglich Auswirkungen auf das Handeln der Europäischen Union. Die ESS fordert daher eine noch aktivere, kohärente und handlungsfähigere Handlungsweise der EU. Sie plädiert für ein aktiveres außenpolitisches Handeln mit dem gezielten Einsatz des breiten Spektrums von diplomatischen, handels- und entwicklungspolitischen Instrumenten bis hin zum militärischen Einsatz als letztem Mittel der Konfliktprävention und der Krisenbewältigung. Zivile und militärische Fähigkeiten müssen aufgestockt und besser genutzt werden. Diese Instrumente müssen zudem besser gebündelt und abgestimmt werden. Auch gilt es, die Zusammenarbeit der EU mit ihren Partnern – über das unersetzliche transatlantische Verhältnis hinaus – zu stärken. Als erste konkrete Umsetzungsmaßnahme hat der Europäische Rat in Brüssel am 12./13. Dezember 2003 die Strategie der EU gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen angenommen; sie stellt eine entscheidende Komponente der ESS dar. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten der EU bereits in vier Bereichen Maßnahmen implementiert. Im Rahmen eines Beitrags zu einem wirksamen Multilateralismus hat die EU die „Hochrangige Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel“ der Vereinten Nationen unterstützt, gleichzeitig arbeitet die EU daran, die Vereinten Nationen im Bereich des Krisenmanagements effektiver zu unterstützen. Im Kampf gegen den Terrorismus hat die EU 2001 über 70 Einzelmaßnahmen sowie 2004 eine Erklärung mit sieben strategischen Zielen für ein gemeinsames Vorgehen gegen den Terrorismus verabschiedet. Das „Haager Programm“, das am 5. November 2004 vom Europäischen Rat verabschiedet wurde, enthält weitreichende Maßnahmen auch zur Terrorismusbekämpfung und für den Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Im Bereich der Strategie gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten hat der Europäische Rat im Juni 2004 den Bericht über die Strategische Partnerschaft der EU mit dem Mittelmeerraum sowie dem Nahen und Mittleren Osten angenommen. Ziel dieser Partnerschaft ist eine Zusammenarbeit, die Frieden, Wohlstand und Fortschritt in der Region fördert und dabei auf bewährten Instrumenten wie dem Barcelona-Prozess aufbaut. Zugleich wird eine Lösung des Nahost-Konflikts angestrebt (vgl. Schaubild S. 43). Im Rahmen einer umfassenden Politik gegenüber Bosnien und Herzegowina strebt die EU die größtmögliche Kohärenz und Effektivität aller EU-Akteure in Bosnien und Herzegowina an. Bereits 2004 hat die EU mit EUFOR/Althea die Nachfolge der NATO-Operation SFOR angetreten. Ein Kritikpunkt der ESS ist die Unklarheit bezüglich der Auswirkungen auf das gesamteuropäische Handeln. Zwar soll die EU laut ESS aktiver, handlungsfähiger und kohärenter werden, wie dies jedoch konkret geschehen soll, bleibt offen. Ferner bleiben die konkreten Beziehungen zwischen EU und NATO undefiniert. Weiterhin bleibt unbeantwortet in welchen spezifischen Fällen sich die EU zivil oder militärisch engagieren wird. Die Europäische Sicherheitsstrategie ist folglich als Grundlage für die Weiterentwicklung des europäischen sicherheitspolitischen Denkens zu sehen sowie als Identifizierung der gemeinsamen Bedrohungen und Reaktionen. Zugleich bietet die ESS eine Basis für weiterführende außenpolitische Strategien, Konzepte und Debatten und gute Ansatzpunkte, deren Umsetzung zu einer handlungsfähigeren ESVP führen können. Im Dezember 2008 nahm der Europäische Rat einen Bericht des Hohen Repräsentanten Solana über die Umsetzung der ESS-Strategie an. Dadurch wurden die aufgeführten Herausforderungen und Bedrohungen aktualisiert. So fand die Piraterie als eine Folge gescheiterter Staaten ebenso Berücksichtigung wie die Fortschritte des iranischen Atomprogramms mit seinen Konsequenzen für die Stabilität in der Region und das Regime der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen. Die Verwundbarkeit von Lebensadern der Gesellschaft wie Informationssysteme und Energieversorgung wurde ebenso hervorgehoben wie sicherheitspolitische Folgen des Klimawandels mit Blick auf regionale Konflikte und ungelenkte Bevölkerungsbewegungen. Gleichzeitig verordnete man sich mehr Effektivität, weiteren Fähigkeitszuwachs und stärkere Sichtbarkeit „rund um die Welt“. Generell muss man feststellen, dass sich das militärische Denken Europas immer noch in amerikanischen Bahnen bewegt. Es begreift die Globalisierung nur als Projektion des Bildes, das der Westen von sich selbst hat, mit den USA als Mittelpunkt, um den die anderen Länder in einer mehr oder weniger entfernten Periphe69 rie kreisen. Eigentlich müssten sich die europäischen Verteidigungsstrategen in ihren Überlegungen auf wesentliche Fragen konzentrieren: Können die USA mit ihrer Verantwortung sowohl für die weltweite Finanzkrise als auch für diverse politisch-militärische Desaster und für die Verschärfung des „Kampfes der Kulturen“ in Zukunft den Anspruch erheben, die Welt zu führen? 69 Vgl. Barth, Peter: Globalisierung – Chancen und Risiken, München 1999 32 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 32 28.10.2010 8:37:11 Uhr Kann und soll Europa eine Weltmacht wie die USA werden? Und wenn ja: Was wäre dafür das Modell? Welche Krisen und Konflikte sind gefährlich für Europa und mit welchen militärischen oder nichtmilitärischen Mitteln wären sie zu lösen? Welche eigenen Verteidigungsstrategien könnte Europa entwickeln um Gefahren zu neutralisieren, statt sie mit Gewalt zu bekämpfen? Solange die EU auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen immer nur in den Kategorien der USStrategen denkt, obwohl die europäischen Institutionen auf Krisenmanagement, Konsens und Verhandlungen aufbauen, wird sich nichts ändern. Europa muss auf eigene Kompetenzen zurückgreifen können, wenn es darum geht, Krisen und Konflikte einzuschätzen. Viele europäische Verteidigungsexperten machen es sich zu leicht und fragen lieber, wie die Amerikaner ein bestimmtes Problem beurteilen, statt eine europäische Sichtweise zu entwickeln. Zusammenfassend gilt, dass die ESS die Möglichkeit zu präventiven Militäreinsätzen weltweit eröffnet. Die ESS selbst fordert – neben den USA – für Europa die Rolle eines Global Player und leitet daraus die Notwendigkeit eines militärischen Interventionismus ab. Die Aufstellung der EU-Battle Groups unterstreicht dieses offensive Konzept. Allerdings: Die ESS geht aus von einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der die weltweit wachsende Armut, den Hunger, die Unterernährung und Krankheiten und den daraus resultierenden Zusammenbruch ganzer Gesellschaften als zentrale Ursachen für die Zunahme von Konflikten benennt. Diesem Befund ist nicht zu widersprechen. Und genau hier setzt Kritik von zahlreichen Wissenschaftlern an. Beispielsweise in den „60 Thesen für eine europäische Friedenspolitik“ (www.uni-kassel.de/ fb5/frieden). Denn eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, muss bei den Ursachen der Konflikte im globalen System ansetzen, nicht aber deren Symptome militärisch bekämpfen. Schon bei der Ausarbeitung der Charta der Vereinten Nationen wurden diese Ursachen benannt als „Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art“, ganz wie die Achtung der (auch materiellen) Menschenrechte als Fundament einer friedensfähigen internationalen Ordnung bezeichnet wurden. Eine Analyse der Konfliktursachen muss daher die Triebkräfte benennen, die vor allem seit dem Ende des Kalten Krieges ungehemmt die Weltwirtschaftsordnung und die Sozialordnung bestimmen und deren negative Auswirkungen auf die Weltgesellschaft in zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen präzise analysiert wurden. Eine solche Analyse wäre zugleich ein produktiver Beitrag zum Verständnis und zur de-eskalierenden Reaktion auf den gebetsmühlenhaft beschworenen „Internationalen Terrorismus“, dessen militärische Bekämpfung sich nicht nur ganz offensichtlich als kontraproduktiv erweist, sondern in den Augen der Entrechteten dieser Welt zur Rechtfertigung der Anwendung extralegaler Gewalt gerät. Die ESVP in der Praxis – Militäreinsätze der EU Zwischen Januar 2003 und Mai 2010 führte die EU 23 Einsätze auf drei Kontinenten durch, 16 Missionen wurden in den Bereichen Polizei und Justiz sowie Grenzüberwachung und Sicherheitsstrukturen durchgeführt. Im Mai 2010 leitete die EU 13 Einsätze, davon waren 11 zivil. Sie stimmten mit dem Ziel der EU überein, Krisenregionen wenn irgend möglich mit zivilen und nicht mit militärischen Mitteln zu stabilisieren. Sie zeigen, dass die Europäische Union mittlerweile in der Lage ist, in begrenztem Rahmen zumindest nichtmilitärische Aufgaben der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in eigener politischer Verantwortung zu übernehmen und zu lösen. Der Ablauf der Verfahren für alle ESVP-Einsätze ist gleichermaßen klar und komplex, aber auch kompliziert. Die Klarheit folgt aus der Zuständigkeit des PSK für alle Themen der GASP und der ESVP, der Entscheidung über alle Einsätze mittels einer gemeinsamen Aktion durch den Allgemeinen Rat oder den Europäischen Rat sowie die Unterstützung auf militärischer Seite durch den Militärausschuss und den EUMilitärstab und auf nichtmilitärischer Seite durch den Ausschuss für zivile ESVP-Missionen (CIVCOM) und die Generaldirektorin des Generalsekretariats des Rates. Die Komplexität ergibt sich nicht nur durch das Zusammenführen von 27 Mitgliedstaaten in den Gremien, sondern auch durch das Zusammenbinden von ziviler und militärischer Expertise. Neben dem Aufbau entsprechender Institutionen bildete eine Verständigung mit der NATO über die Nutzung von NATO-Kapazitäten und -Infrastruktur eine weitere zentrale Voraussetzung, um konkrete Militäraktionen durchführen zu können. Nach schwierigen Verhandlungen wurde am 16. Dezember 2002 das so genannte „Berlin-Plus-Abkommen“ unterzeichnet. Das Abkommen besteht aus vierzehn Dokumenten, die eine strategische Zusammenarbeit regeln und den Zugriff der EU auf NATO-Planungskapazitäten ermöglichen (der Text des Abkommens steht nicht zur Verfügung, da es ein kodifiziertes NATO-Dokument darstellt). Die wesentlichen Aspekte dieser Berlin-Plus-Vereinbarung lauten: gesicherter EU-Rückgriff auf die Planungsinstrumente der NATO zur militärischen Planung der EUgeführten Einsätze hinsichtlich der Krisenbewältigung; Effektivität der gegenseitigen Konsultationen; Gleichheit und Rücksicht auf die Eigenständigkeit der Entscheidungsfindung der EU und der NATO; Achtung der Interessen der EU und der NATOMitgliedstaaten; Achtung der Prinzipien der UN-Charta; 33 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 33 28.10.2010 8:37:11 Uhr Mandat des Stellvertretenden Oberbefehlshabers der NATO in Europa (SACEUR) – unter dessen Kommando die EU-Einsätze stehen werden; gesicherter Zugang zu den kollektiven NATORessourcen und -Kapazitäten sowie das Verfahren für deren Management; NATO-EU-Sicherheitsabkommen; NATO-EU-Konsultationsvereinbarungen im Zusammenhang mit einem EU-geführten Krisenbewältigungseinsatz; Kohärente, transparente und gegenseitige unterstützende Entwicklung der Militärkapazitätenanforderungen, gemeinsam für beide Organisationen; Einbeziehung des militärischen Bedarfs und der militärischen Fähigkeiten in das seit langem bestehende System der Erstellung von NATO-Verteidigungsplänen. Das Abkommen wird von den NATO-Staaten allerdings unterschiedlich interpretiert. Umstritten ist vor allem die wichtige Frage, welche der beiden Organisationen im Krisenfall zuerst tätig werden darf. Hinzu kommt, dass die Türkei phasenweise den EU-NATO-Informationsaustausch blockiert (Problem Zypern). Innerhalb der EU kam es vor allem zu einer Auseinandersetzung über ein eigenes EU-Hauptquartier, wie es von Belgien, Luxemburg, Deutschland und Frankeich im Anschluss an die Unterzeichnung des Berlin-Plus-Abkommens vorgeschlagen worden war. Dieser Vorschlag scheiterte an der Ablehnung der Briten, die darin eine unnötige Duplizierung von Institutionen sahen und auf das NATO-Hauptquartier verwiesen. Die Fortdauer des Streits um das Berlin-Plus-Abkommen demonstriert, dass NATO und EU – trotz aller Fortschritte – nach wie vor in Konkurrenz zueinander stehen und dass es innerhalb der EU keine Einigung über den Stellenwert der NATO und damit der USA in der europäischen Sicherheitspolitik gibt. Einsätze unter der Führung der EU 70 Vgl. Richter, Bastian: Die strategischen Ziele und politischen Motive von ESVP-Operationen. Eine Bestandsaufnahme, in: Die Friedens-Warte, 2009, Band 84, Heft 4, S. 29-56; Siedschlag, Alexander (Hrsg.): Jahrbuch für europäische Sicherheitspolitik 2009/2010, Baden-Baden 2010; Hauser, Gunther: Europas Sicherheit und Verteidigung. Der zivil-militärische Ansatz, Frankfurt/Main 2010 70 Abgeschlossene Missionen Mission Einsatzland, Zeitraum Typ der Mission Mil. Pol. EUMM Yugoslavia Ehem. Jugoslawien 1991–31.12.07 Personal Aufgabe Hintergründe Ziv. x 190 Beobachter und örtliche Mitarbeiter Überwachungsmission Flüchtlingsströme, innerethnische Beziehungen, sicherheitspol. Entwicklungen EUFOR Concordia FYROM (Mazedonien) 31.03.03–15.12.03 x 400 Militär Militärische Operation zur Stabilisierung Überwachung des Rahmenabkommens EUFOR Artemis DR Kongo 12.06.03–01.09.03 x 1.800 Militär Krisenintervention; Unterstützung der UN-Mission MONUC Stabilisierung der Sicherheitslage im Osten des Landes nach Unruhen 180 Polizei Polizeimission zum Aufbau eines funktionierenden Polizeiapparates 12 Zivil-Experten Stützung der Rechtsstaatlichkeit, Politikberatung 50 Polizei Unterstützende Polizeimission 30 Polizei, 15 Militär Unterstützung der Afrikanischen Union bei Überwachung des Waffenstillstands 216 Zivil-Experten Beobachtermission zur Demilitarisierung EUPOL Proxima FYROM 15.12.03–15.12.05 x EUJUST Themis Georgien 16.07.04–14.07.05 EUPOL Kinshana DR Kongo 12.04.05–30.06.07 AMIS II (Unterstützung der AU) Sudan 20.07.05–31.12.07 AMM Aceh/Indonesien 15.09.05–15.12.06 x x x x x Koordinierung des Reformprozesses nach Zerrüttung des Strafsystems Waffenstillstand zwischen Befreiungsbewegung (SLA) und Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (JEM) Friedensabkommen zwischen indonesischer Regierung und Separatisten in der Provinz Aceh in Nordsumatra 34 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 34 28.10.2010 8:37:11 Uhr EUPAT FYROM 15.12.05–14.06.06 EUFOR RD Congo DR Kongo 12.06.06–30.11.06 EUFOR Tchad/RCA Tschad, Zentral Afrikanische Republik 28.01.08–25.03.09 20 Polizei, 12 Zivil-Experten Polizeimission; Beobachtung und Beratung der Landespolizei x 2.300 Militär Militäroperation; Unterstützung der UN-Mission MONUC x 3.420 Militär (+800 Reserve), 15 Zivil-Experten Militärmission zur Überbrückung; Verbesserung der Sicherheitslage für Flüchtlinge x Nachfolgemission der EUPOL Proxima Unterstützung humanitärer Maßnahmen der UN-Mission MINURCAT Laufende Missionen Mission Einsatzland, Zeitraum Typ der Mission Mil. EUPM Bosnien-Herzegowina Seit 01.01.03 Pol. x EUSEC RD Congo DR Kongo Seit 08.06.05 (x) EUJUST Lex Irak Seit 01.07.05 Aufgabe Hintergründe 490 Polizei, 60 Zivil-Experten Polizeiliche Komponente zu EUFOR Althea; Stabilisierung Ausführung des DaytonAbkommens 6.610 Militär (derzeit ca. 2.000) Militärische Operation der EUFOR zur Überwachung und Umsetzung des Dayton-Abkommens Bisher größte militärische EU-Operation, Nachfolger der NATO-Mission SFOR x 46 Zivil-(Militär-)Experten Beratungs- und Unterstützungsmission; politische Integration regionaler Gruppen Unterstützung der Sicherheitssektor-Reform x 45 Zivil-Experten x EUFOR Althea Bosnien-Herzegowina Seit 02.12.04 Personal Ziv. Rechtsstaatmission, Unterstützung irakischer Justiz, Polizei und Strafvollzug Unterstützende Kontrollmission am internationalen Grenzübergang Rafah vom Gaza-Streifen nach Ägypten Nach Schließung der Grenzen und Machtübernahme der Hamas wurde Einsatz teilweise ausgesetzt Moldauisch-ukrainische Grenze; Unterbindung des Waffen-, Menschen- und Drogenschmuggels von und nach Transnistrien EUBAM Rafah Gaza-Streifen Seit 25.11.05 x 63 Polizei, 8 Zivil-Experten (derzeit ca. 13/5) EUBAM Mol./Ukr. Moldau/Ukraine Seit 01.12.05 x 129 Polizei, 111 lokale Mitarbeiter Grenzkontrollmission EUPOL COPPS Westjordanland Seit 01.01.06 x 75 Polizei und Zivil-Experten Polizeiliche Unterstützungsmission EUPOL Afgh. Afghanistan Seit 15.05.07 x 400 Polizei, 58 Zivil-Experten Weiterentwicklung und Umsetzung einer Polizeireform EUPOL RD Congo Kongo Seit 01.07.07 x (x) 30 Polizei, 9 Zivil-Experten Polizeimission zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Justiz EULEX Kosovo Kosovo Seit 16.02.08 x x 2.000 Polizei, 406 Zivil-Experten Rechtsstaatlichkeitsmission; Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung x 30 Zivil-(Militär-)Berater Unterstützung des Sicherheitssektors Aufstellung einer örtlichen Armee mit 2.500 Soldaten x 380 militärische Beobachter und Zivil-Experten Überwachungsmission zur Wiederherstellung der Stabilität Einhaltung des 6-PunktePlans (Georgien, Südossetien, Abchasien) 1.500 Militär Schutz humanitärer Hilfslieferungen, freie Seefahrt, Bekämpfung der Piraterie 1. Marineoperation der EU EU SSR Guinea-Bi. Guinea-Bissau Seit 01.05.08 (x) EUMM Georgia Georgia Seit 01.10.08 EU Navfor Atalanta Küste Somalia Seit 08.12.08 x Ersetzt EUPOL Kinshana 35 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 35 28.10.2010 8:37:11 Uhr Vertrag von Lissabon/Auswirkungen und Perspektiven Der „Vertrag von Lissabon“, zunächst auch EUGrundlagenvertrag bzw. -Reformvertrag genannt, wurde im Dezember 2007 unterzeichnet und trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Zwar übernimmt der Vertrag wesentliche Teile des Verfassungsentwurfs, ersetzt im Gegensatz dazu allerdings nicht die gesamten bisherigen EU-Vertragsgrundlagen, sondern ändert und ergänzt das bereits bestehende Vertragswerk. Die EU erhielt mit „Lissabon“ volle Rechtspersönlichkeit. Nachhaltige Veränderungen bringt der Vertrag insbesondere für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Gemeinsame (früher Europäische) Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP statt ESVP). Zwar bedeutet auch Lissabon keinen Systemwechsel im Sinne einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Staaten bleiben Herren des Geschehens. Dennoch wird Lissabon einen Prozess beschleunigen, den man als Bürokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik verstehen kann. Im Vertrag von Lissabon wurden in Artikel 2 die Werte der Union verankert: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der Menschenrechte einschließlich der Schutz von Minderheiten und die Gewährleistung von Pluralität, NichtDiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz sowie Geschlechtergleichbehandlung. „Das Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen zu fördern“, heißt es in Artikel 3. In den weiteren Ausführungen zu dieser Zielsetzung sind dann alle relevanten Elemente einer vernetzten Sicherheit zu finden: Sicherheit, Schutz der Werte und Interessen, Klimaschutz, Schutz der Außengrenzen, Einwanderung und Asyl, Bekämpfung der Kriminalität, einen Beitrag zur friedlichen und globalen Entwicklung leisten, Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen. Es überrascht, dass an dieser exponierten Stelle kein Hinweis auf die angeblich größte Bedrohung für die Staatengemeinschaft, den Internationalen Terrorismus, gegeben wird. Diesem Bereich widmet der Vertrag jedoch seine 71 volle Aufmerksamkeit in den Artikeln 43 und 222. Der Internationale Terrorismus als einer der Hauptanlässe für westliche Militärinterventionen der letzten Jahre ist kein neues Phänomen. Denn von den fünfziger bis zu den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten die europäischen Staaten wiederholt Terroranschläge erlebt. Und vor allem: Attacken wie die 2001 in New York und Washington, 2004 in Madrid, 2005 in London oder 2008 in Mumbai sind beklagenswerte, aber zahlenmäßig unerhebliche Vorkommnisse verglichen mit den militärischen Opfern eines jeden Krieges. Dass sie im Westen dennoch derart viel politischen Raum einnehmen, ist eine Frage des Medieninteresses und nicht von Notwendigkeit oder Logik. Vgl. Barth, Peter: Internationaler Terrorismus im Zeitalter der Globalisierung, München 2003, 2. Auflage; Heuser, Beatrice: Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn 2010 71 36 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 36 28.10.2010 8:37:11 Uhr Oberste Instanz ist der „Europäische Rat“, er gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse, bestimmt die strategischen Interessen, legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen, Prioritäten und Leitlinien fest und fasst entsprechende Beschlüsse (Art. 26). Diese werden im Konsens gefällt (Art. 15). Er erhielt Organstatus und tagt in der Regel ohne die Außenminister. Dieses Gremium der Staats- und Regierungschefs wird in Zukunft von einem auf zweieinhalb Jahre gewählten „Präsident des Europäischen Rates“ geleitet. Auf diesen Posten ist im Dezember 2009 der ehemalige belgische Ministerpräsident Herman Van Rompuy gewählt worden. Die wichtigste Arbeitsinstanz ist und bleibt der Rat auf der Ebene der Fachminister der Mitgliedstaaten. Er wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig. Der Außenministerrat gestaltet die Außen- und Sicherheitspolitik. Die entscheidende Neuerung in diesem Gremium ist die Einführung der Mehrheitsentscheidung. „Soweit in Verträgen nicht anders festgelegt, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit“ (Art 16.3). Diese auch als doppelte Mehrheit bezeichnete Beschlussformel soll ab 1. November 2014 gelten, mit Übergangsbestimmungen für den Zeitraum vorher und teilweise auch nachher bis 2017. Als qualifizierte Mehrheit gilt „eine Mehrheit von mindestens 55% der Mitglieder des Rats, gebildet aus mindestens 15 Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der Union ausmachen“ (Art. 16.4). Mit der Position eines Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik wurde eine Neuerung von zentraler Bedeutung geschaffen. Der Hohe Vertreter erhält vor allem gegenüber seiner bisherigen Funktion als Hoher Beauftragter ein Initiativrecht gegenüber dem Europäischen Rat und dem Rat. Er wird mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates und mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt, er ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission (Art. 18). Erste Amtsinhaberin ist die britische Labour Politikerin, Baroness Catherine Asthton, die zuvor Handelskommissarin der Europäischen Union war. Das umfassende Aufgabenfeld des Hohen Vertreters stellt sich wie folgt dar (Art. 18, 22 und 24): Er leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung dieser Politik bei und führt sie im Auftrag des Rates durch. Er handelt ebenso im Bereich Gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er führt den Vorsitz im Rat Auswärtige Angelegenheiten. Er sorgt für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union. Er führt den Dialog mit Dritten und vertritt den Standpunkt der Union in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen. Er hört und unterrichtet regelmäßig das Europäische Parlament zu wichtigen Aspekten und Entwicklungen in der GASP und ESVP. Er ist innerhalb der Kommission mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen betraut und koordiniert die übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns; er übernimmt damit die bisherige Position eines Außenkommissars und ist Leiter des neu zu schaffenden gemeinsamen Auswärtigen Dienstes der Union. Der Vertrag von Lissabon hat die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik der EU erneuert und ausgebaut. Die Zuständigkeit der Union für diesen Bereich erstreckt sich auf alle Aktivitäten der Außenpolitik sowie sämtliche Fragen der Sicherheit. Eine vereinigte EUArmee ist derzeit nicht geplant, auch nicht im Vertrag von Lissabon. Die Teilnahme an den GSVP-Missionen und -Operationen obliegt nach wie vor der freiwilligen Entscheidung eines jeden Mitgliedstaates. In der GASP entscheiden die Mitgliedstaaten im Rat in den meisten Fällen weiterhin einstimmig, und die Rolle der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments bleibt begrenzt. Der Gerichtshof der EU hat mit wenigen Ausnahmen keine Zuständigkeiten. Die Sensibilität des Politikbereiches der GASP wird durch zwei rechtlich unverbindliche Erklärungen unterstrichen, die insbesondere auf britisches Drängen hin verabschiedet wurden und die Autonomie nationaler Außenpolitik festhalten (Erklärung 13 und 14). Gleichzeitig wurde zunächst der Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen, in dem sich die Außenminister der Mitgliedstaaten trafen, in den Rat für Allgemeine Angelegenheiten und den Rat für Auswärtige Angelegenheiten aufgeteilt. Während der Vorsitz über den Rat für Allgemeine Angelegenheiten wie bisher halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten rotiert, übernimmt der neugeschaffene Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik künftig den Vorsitz des Außenministerrats. Die Position als Ratsvorsitzender sowie als Außenkommissar und Vizepräsident der Europäischen Kommission soll es dem Hohen Vertreter ermöglichen, die schwierige Koordination der europäischen Außenpolitik zu leiten, sowie im Gegensatz zu seiner früheren Rolle als Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wo er lediglich für die Durchführung von Beschlüssen des Ministerrats zuständig war, auch selbständig Initiative zu ergreifen und Politikvorschläge zu machen. Grundsatzentscheidungen im Ministerrat können allerdings wie zuvor (außer im Fall von Restriktiven Maßnahmen wie Wirtschafts- und Finanzsanktionen, Beschlüssen zu Aktionen und Standpunkten) nur einstimmig vom Außenministerrat getroffen werden. Zeitgleich soll durch den Vertrag von Lissabon ein „Europäischer Auswärtiger Dienst“ (EAD) eingerichtet werden. Diese neue Großbürokratie soll sich aus Mitgliedern der bereits existierenden Delegationen der Europäischen Kommission, Diplomaten der Mitgliedstaaten und Personal des Ratssekretariats zusammensetzen. 37 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 37 28.10.2010 8:37:11 Uhr Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach dem Vertrag von Lissabon Der EAD soll zukünftig mit den auswärtigen Diensten der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, diese jedoch 72 nicht ersetzen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde zudem die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) in „Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik“ (GSVP) umbenannt (Art. 42). Diese legt als Ziel eine gemeinsame Verteidigungspolitik fest, die jedoch erst nach einstimmigem Beschluss des Europäischen Rates in Kraft treten kann. Neu sind gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen und militärische Beratung und Unterstützung. Die „Europäische Verteidigungsagentur“ (European Defence Agency, EDA), deren Gründung die Staatsund Regierungschefs bereits im Jahr 2004 beschlossen haben, und die im Mai 2005 ihre volle Funktionsfähigkeit erreichte, wird besonders herausgehoben. Neben ihren Hauptaufgaben, Ermittlung des operativen militärischen Bedarfs, Stärkung der industriellen und technologischen Basis im Verteidigungssektor, Beteiligung an der Festlegung einer europäischen Rüstungspolitik, Stärkung gemeinsamer Forschung und Entwicklung, unterstützt die EDA den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten in den Mitgliedstaaten. te vorschlagen (Art. 42 Abs. 4 EUV). Ebenso soll der Hohe Vertreter zur stärkeren Kohärenz des EU-Krisenmanagements beitragen. Falls eine Gruppe von Mitgliedstaaten in der GSVP schneller voranschreiten möchte als andere, haben sie künftig die Möglichkeit einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (SSZ), die im Wesentlichen der Verstärkten Zusammenarbeit in anderen Politikfeldern entspricht. Damit wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeiten zur Bildung eines Clubs eröffnet. Die Logik dieser Bestimmung ist insofern nachvollziehbar, als nur wenige Staaten zum Groß der europäischen Rüstungsausgaben beitragen. Nur vier EU-Länder erbringen 70% der europäischen Rüstungsausgaben. Die zehn größten Länder tragen zu 90% der Ausgaben bei. Entsprechend ihrer intergouvernementalen Natur werden Beschlüsse zur GSVP weiterhin einstimmig vom Rat getroffen, ohne Beteiligung der Kommission oder des Europäischen Parlaments. Allerdings bekommt der Hohe Vertreter ein Initiativrecht und kann gemeinsam mit der Kommission den Rückgriff auf deren Instrumen- Die besondere Bedeutung von Solidarität und Beistandspflicht in der Sicherheitspolitik wird als „Solidaritätsklausel“ in Artikel 222 thematisiert und befasst sich mit Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder 73 einer von Menschen verursachten Katastrophe. Ist ein Mitgliedstaat von einem dieser Ereignisse betroffen, „so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung“. Was im NATO- und im WEU-Vertrag jeweils unter Artikel V als Beistandspflicht gekennzeichnet ist, wird nun auch Gegenstand des EU-Vertrags. „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ 74 (Art. 42). Er ist ein Dienst „eigener Art“, weil die Außenbeziehungen der EU zwar einerseits zu einem gewissen Teil von der Kommission betrieben werden, wie etwa die Entwicklungspolitik oder die Projekte der Nachbarschaftspolitik (hier arbeiten rund 6.500 der rund 25.000 Kommissionsbeamten in rund 130 Delegationen der EU). Andererseits aber liegt die Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin in der Hand der Mitgliedsländer. Eine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt es nur dann, wenn diese sich auf eine einheitliche Linie einigen. Diese beiden Stränge in eine Hand, nämlich der des Hohen Vertreters, zusammenzuführen, um endlich eine Außenpolitik „aus einem Guss“ zu machen, war die Idee des Lissabon-Vertrages. Da dies auch soziale Unruhen mit einschließt, betonte EU-Militärstabschef Bentégeat, das „Originelle“ an der Solidaritätsklausel sei nicht die Möglichkeit für Inlandseinsätze zur Terrorabwehr: „Das zweite Element ist interessanter, da es den Einsatz militärischer Mittel auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates auf Anforderung seiner politischen Autoritäten vorsieht.“ Also: Militäreinsatz im Rahmen der Innenpolitik!!! 74 Damit sind aber auch alle Übersee-Gebiete der Mitgliedstaaten der Union eingeschlossen. Demgegenüber schränkte der WEU-Vertrag die Beistandsverpflichtung auf Europa ein, und der NATO-Vertrag spricht von einem Anwendungsgebiet, das Nordamerika und Europa bis zum Wendekreis des Krebses umfasst. 72 73 38 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 38 28.10.2010 8:37:11 Uhr gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen; humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze; Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung; Aufgaben der Konfliktverhütung und Erhaltung des Friedens; Erfordert eine Situation das Handeln der Union wird durch seinen Präsidenten eine außerordentliche Sitzung des Europäischen Rates einberufen, um die strategischen Vorgaben festzulegen (Art. 26) und die entsprechenden Beschlüsse zu fassen (Art. 28). Das Aufgabenspektrum für EU-Operationen wurde bisher unter dem historisch bekannten Begriff „PetersbergAufgaben“ ausgewiesen. Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten; Bekämpfung des Terrorismus, dabei auch Unterstützung von Drittländern in dieser Angelegenheit auf ihrem Territorium. Der Vertrag von Lissabon bestimmt das Aufgabenspektrum in Art. 43 neu, ohne Benutzung des Begriffs „Petersberg“ – vorgeschlagen wird von Analytikern stattdessen der Begriff „GSVP-Aufgaben“. Missionen der Union, bei denen sie auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen: In den Beschlüssen über Missionen werden Ziel, Umfang und allgemein geltende Durchführungsbestimmungen festgelegt. Der Hohe Außenpolitische Repräsentant sorgt im Benehmen mit dem „Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee“ (PSK) für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte. Das operative sicherheitspolitische Handeln der Union manifestiert sich in seinen Missionen. Auf der Basis der von der Union bestimmten Leitlinien erlässt sie Beschlüsse, in denen für eine Mission Einzelheiten ihrer Durchführung festgelegt werden (Art. 25). Auslöser derartiger Operationen sind naturgemäß die internationalen Entwicklungen. 39 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 39 28.10.2010 8:37:11 Uhr GASP und ESVP zwischen Zivil- und Militärmacht Die rapiden Entwicklungen in der Außen- und Sicherheitspolitik während der letzten Jahre verleihen zwei grundsätzlichen Fragen neue Aktualität: Wie leistungsfähig ist die EU-Außen- und Sicherheitspolitik? Ist die EU ein handlungsfähiger außenpolitischer Akteur? Welchen Charakter besitzt die EU-Außenpolitik? Trifft die offizielle/traditionelle Zuschreibung der EU als eine „Zivilmacht“ angesichts der Integration einer militärischen Dimension der Sicherheitspolitik noch zu? Bei der Antwort auf die erste Frage ist zunächst zu klären, welche Eigenschaften ein handlungsfähiger Akteur haben muss bzw. welche Voraussetzungen für Handlungsfähigkeit erfüllt sein müssen. Außenpolitische Handlungsfähigkeit basiert auf mindestens drei Voraussetzungen: Erstens müssen ausreichende Ressourcen vorhanden sein, um verschiedene außenpolitische Instrumente (diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch) überhaupt nutzen zu können. Zweitens müssen bestimmte Ziele und Strategien zu ihrer Umsetzung vorhanden sein. Und drittens bedarf es der Bereitschaft, aktiv zu werden. Diese Kriterien beziehen sich auf Nationalstaaten; im Falle der EU, die kein Staat ist, stellt sich die Situation komplizierter dar. Von zentraler Bedeutung für ihre Handlungsfähigkeit und -bereitschaft ist der Konsens zwischen den Mitgliedstaaten, denn es gilt, mit kleinen Einschränkungen, das intergouvermentale Prinzip in der GASP/ESVP. Demnach ist zu fragen, inwieweit der Konsens der Mitgliedstaaten besteht und inwieweit diese bereit sind, Ressourcen bereitzustellen, denn die EU selbst verfügt nicht über ausreichende Ressourcen in der Außenpolitik. Eine allgemein gültige Antwort darauf zu geben, ist kaum möglich. Die zunehmende Anzahl an gemeinsamen Standpunkten und Aktionen sowie Erklärungen, also der wachsende außenpolitische Besitzstand der EU, sprechen dafür. Auch der Aufbau einer militärischen Infrastruktur unter der Führung von Brüssel untermauert die Vorstellung einer funktionsfähigen Sicherheitspolitik, denn damit werden die organisatorischen Voraussetzungen für die sicherheitspolitische Kooperation geschaffen. 75 Eine vergleichende Studie über die EU-Außenpolitik bestätigt das uneinheitliche Bild in der Frage, ob die EU ein handlungsfähiger Akteur ist. Defizite im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit bestehen vor allem, wenn es um die Beziehungen zu den USA und Russland sowie um Reaktionen auf gewalttätige Krisen geht. Die Abstimmungsprozesse zwischen den EU-Staaten sind komplex und erfordern Zeit, wodurch eine häufig erforderliche schnelle Reaktion verzögert wird. Akteursqualität (Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft) so die Autoren in ihrem Resümee, lässt sich aber in den Fällen konstatieren, in denen die EU ihre traditionelle außenpolitische Linie der Zivilmacht verfolgt. Zur zweiten Frage, die EU als Zivilmacht, muss man in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgehen. Die Bezeichnung der EU als „Zivilmacht“ geht – wie bereits aufgezeigt – auf Überlegungen von Fran76 çois Duchêne zurück. Er ging von der Existenz zweier nuklear hoch gerüsteter Allianzen aus, angesichts derer jeder Krieg zur wechselseitigen Vernichtung führen würde. Er wies darauf hin, dass die Europäische Gemeinschaft keine Nuklearmacht darstellte und aufgrund ihrer inneren Verfasstheit und normativen Ordnung – Ergebnis des Lernens aus dem Desaster zweier Weltkriege – eine Macht sei, die in ihren Außenbeziehungen auf zivile, nichtmilitärische Mittel setze. Duchênes Ideen wurden zu Beginn der neunziger Jahre von Hanns Maull aufgenommen, der den Begriff 77 Zivilmacht zu einem Konzept weiterentwickelte. Das Ziel Maulls war es, mit dem Zivilmachtkonzept die spezifische, sich von anderen Nationen aufgrund ihrer Geschichte und außenpolitischen Entwicklung unterscheidende japanische und deutsche Außenpolitik zu typologisieren und zu erklären. Im Laufe der Jahre wurde das Konzept dann immer weiter ausdifferenziert und bildete den theoretischen Rahmen für zahlreiche Analysen zur Außenpolitik Deutschlands und der EU. Die Außen- und Sicherheitspolitik einer Zivilmacht Europa weist demnach drei zentrale Charakteristika auf: Kooperatives Handeln vor allem im Rahmen internationaler Institutionen: Die Außenpolitik ist daher multilateral angelegt und bestrebt, internationale Verhandlungssysteme auszubauen und dadurch einen Beitrag zur Verrechtlichung der internationalen Politik zu leisten; Präferenz für nichtmilitärische Instrumente und Bevorzugung ökonomischer und diplomatischer Mittel: Militärische Mittel werden nur in Ausnahmesituationen und auf der Basis eines völkerrechtlichen Beschlusses (z.B. durch die UNO) eingesetzt; Wertgebundene Außenpolitik in Form einer Förderung des internationalen Menschenrechtsschutzes und der Demokratie. In der Literatur und der öffentlichen Diskussion herrscht weitgehender Konsens, dass die Selbstzuschreibung der EU als Zivilmacht im Großen und Ganzen noch der realen Politik entspricht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit Zivilmacht ist eine spezifische – keineswegs einheitliche – Art und Weise des außenpolitischen Selbstverständnisses und der Art und Weise, wie außenpolitische Interessen vertreten werden, gemeint. Diese Interessen können aber durchaus egoistischer Natur sein, die Zivilmacht steht nicht für eine prinzipiell moralische oder idealistische Außenpolitik, auch wenn sie Bezugspunkte zum Idealismus aufweist. Vgl. Kohnstamm, Max/Hager, Wolfgang (Hrsg.): Zivilmacht Europa – Supermacht oder Partner? Frankfurt/Main 1973 77 Maull, Hans W.: Germany and Japan: the new civilian powers, in: Foreign Affairs, 1990/91 (winter), no. 5, S. 91-106 76 Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2007 75 40 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 40 28.10.2010 8:37:12 Uhr Die sicherheitspolitische Expertin Giovanna Bono sieht die Gefahr, dass militärische Fragen einen zu hohen Stellenwert in der EU erhalten, kritisiert die parlamentarische und politische Kontrolle der ESVP als unzureichend und moniert, dass der Multilateralismus der EU eng begrenzt sei, da die EU sehr zögerlich bei der Unterstellung von Truppen unter UN-Ober78 befehl sei. Der Mitarbeiter der Linzer „Werkstatt Frieden & Solidarität“, Gerald Oberansmayr, sieht aus friedenspolitischer Sicht beunruhigende Entwicklungen in Richtung EU-Militari79 sierung. Auch andere Analysten warnen seit Jahren vor einer massiv vorangetriebenen europäischen Außen- und Militärpoli80 tik. Belege dafür finden sie vor allem in Dokumenten und Papieren des EU-Instituts für Sicherheitsstudien (Institute for Security Studies, ISS). In ihrer Eigenschaft als „EU-Agentur“ liefert ISS „Analysen und Prognosen für den EU-Rat und den Hohen Beauftragten der GASP“. So heißt es beispielsweise 2004: „Die Transformation Europäischer Streitkräfte von der Landesverteidigung in Richtung Intervention und Expeditionskriegszügen ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Europäische Sicherheitsstrategie.“ Die EU „will mehr globale Verantwortung übernehmen … und eine Strategie präventiven Engagements übernehmen“. Dafür brauche man sowohl „mobile, flexible und schnelle Streitkräfte für Expeditionsinterventionen“ als auch Besatzungstruppen, um diese „über sehr lange Zeiträume einzusetzen und aufrechtzuerhalten“. Militärische Szenarien werden entwickelt, „in denen die nationalen Atomstreitkräfte von EU-Mitgliedstaaten (Frankreich und Großbritannien) in die Gleichung entweder 81 explizit oder implizit eingehen können“. Im Juli 2009 legte das EU-ISS eine neue Studie vor: 82 „What Ambition für European Defence in 2020“. Darin heißt es: Die wichtigste Aufgabe der EU-Sicherheitspolitik werde sein, die „transnationalen funktionellen Ströme und deren Knotenpunkte“ sicherzustellen: also Vgl. Bono, Giovanna: The perils of conceiving EU Foreign Policy as a „civilizing“ force, in: International Politics and Society (IPG), (1) 2006, S. 150-163, www.giovannabono.wordpress.com 79 Vgl. Oberansmayr, Gerald: Auf dem Weg zur Supermacht – Die Militarisierung der Europäischen Union, Wien 2004 80 So u.a. Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen: Europas Kriege der Zukunft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6/2005, S. 715-724; ferner „60 Thesen für eine europäische Friedenspolitik“ der AG Friedensforschung der Uni Kassel (Friedensratschlag), www.uni-kassel.de/fb5/frieden 81 Vgl. Institut für Sicherheitsstudien: European Defence – A proposal for a White Paper, Paris Mai 2004, www.iss-eu.org 82 Vgl. Institut für Sicherheitsstudien: What Ambitions für European Defence in 2020, 2009, www.iss-eu.org 78 vor allem der Waren-, Kapital- und Rohstoffströme. Das erfordere „globale militärische Überwachungskapazitäten und die Fähigkeit zur Machtprojektion“ – vor allem durch die Zusammenarbeit von „Transnationalen Konzernen“ und den so genannten „Postmodernen Gesellschaften“ (EU, USA), da diese an der Spitze der „globalen hierarchischen Klassengesellschaft“ stünden und damit die wichtigsten „stakeholder“ der Globalisierung seien. Die EU brauche daher eine „symbiotische Beziehung mit den Transnationalen Konzernen“, denn 83 „diese brauchen den Staat und der Staat braucht sie“. Gewünscht wird also eine schlagkräftige Militär- und Wirtschaftsmacht mit einer Militärmaschinerie, die weltweit Einfluss und Macht ausüben kann. Die Hektik und Intensität, mit der in der EU einige Analysten die Militarisierung vorantreiben wollen, korrespondiert mit der wachsenden globalen Macht von EUKonzernen. Das bestätigt die vom US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Fortune regelmäßig herausge84 gebene Liste der 500 größten Konzerne. Waren 2004 in dieser Liste noch die US-Konzerne in Führung, so haben ihnen bereits 2008 die EU-Konzerne den Rang abgelaufen. 178 EU-Konzerne mit einem Umsatzanteil von 39,2% befinden sich unter den Top 500. Zum Vergleich: USA: 140 Konzerne (Umsatzanteil 30,1%), Japan: 68 Konzerne (Umsatzanteil 11,9%), China: 37 Konzerne (Umsatzanteil 6,6%). Die EU-Konzerne sind sowohl beim Warenexport im Allgemeinen und dem Rüstungsexport im Besonderen klare Nummer eins. Vgl. auch Informationsstelle Militarisierung e.V.: EU-Militarisierung 2020, www.imionline.de 84 Vgl. Fortune (2008): The 500 biggest companies, www.money.cnn.com 83 41 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 41 28.10.2010 8:37:12 Uhr Geradezu explodiert sind zwischen 2004 und 2007 die Nettokapitalüberschüsse der EU-Konzerne bei den ausländischen Direktinvestitionen, sie übertrafen im Jahr 2007 die US-amerikanischen um das Vier- und die japanischen um das Sechsfache. Auch beim Import strategischer Rohstoffe sind die EU-Staaten ganz vorne. Der Anteil der EU am globalen Rohölimport betrug 2007 bereits 28,3% (vor den USA mit 22,5%, Japan mit 9,4% und China mit 7,3%), beim Anteil an den weltweiten Erdgasimporten führten die EU-Europäer mit 35,2% (vor den USA mit 14,2%, Japan mit 9,6% und der Ukraine mit 5,4%). Und nicht zuletzt verbraucht die EU 32,4% des globalen Urans (USA: 30,9%, Japan: 85 10,1%, Russland: 5,8%). stehen keine prinzipiellen Einwände gegen eine EUMilitäroperation im politischen Extremfall. Anders: Der Aufbau militärischer Kapazitäten ist mit dem Zivil89 machtkonzept nach Duchêne durchaus vereinbar. Seit Jahren versucht also die „Zivilmacht EU“, auch militärisch „glaubwürdig“ zu werden. Wie aufgezeigt, warnen zahlreiche Wissenschaftler und Friedensgruppen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber anders, als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar nicht –, sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet, statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen. Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die EU international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische Einfluss müsse durch militärische Macht gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall. Werden diese Zusammenhänge aber von den politischen Entscheidungsträgern – vor dem Hintergrund einer wenig verbreiteten „zivilen“ Sicherheitskultur, der Entwicklung angeblich „besserer“ Waffensysteme und einer an Einfluss gewinnenden Rüstungsindustrie – vernachlässigt, so treten die Risiken und negativen Folgewirkungen militärischer Interventionen in den Entscheidungsprozessen der ESVP zunehmend in den Hintergrund. Andere Autoren sehen hingegen die Gefahr einer Militarisierung nicht, denn sie argumentieren, dass die zivilen Mittel und Instrumente dominieren und die bisherigen Militäreinsätze durchaus dem Selbstverständnis einer Zivilmacht entsprächen, denn Zivilmacht bedeutet nicht den völligen Verzicht auf militärische Mit86 tel. Darüber hinaus, so Hanns W. Maull, mangele es der EU schlicht an militärischen Fähigkeiten und dem politischen Willen, eine traditionelle Großmachtpolitik anzustreben. Überdies zielten die ESVP-Missionen bisher nicht auf Machtzugewinn, sondern auf den Aufbau von Ordnungsstrukturen im Rahmen von Friedens87 regelungen, die mit der UN-Politik kompatibel seien. Die Ziele und Agenda der EU unterschieden sich damit signifikant von denen der amerikanischen Außenpolitik 88 der Bush-Administration (2000-2008). Es gibt also unterschiedliche Wahrnehmungen, inwieweit die ESVP in einer langfristigen Perspektive mit den Ansprüchen einer Zivilmacht Europa kompatibel ist. Dabei geht es nicht um den Aufbau militärischer Kapazitäten der EU an sich, denn Wahrung größter Zurückhaltung und die Einbettung einer militärischen Intervention in eine zivile Gesamtstrategie vorausgesetzt, be- Vgl. Bundesanstalt für Geowissenschaften, www.bgr.bund.de Vgl. Kaim, Markus: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Präferenzbildungs- und Aushandlungsprozesse in der Europäischen Union (1990-2005), Baden-Baden 2007 87 Vgl. Maull, Hanns W.: The perils of NOT conceiving European Foreign Policy as a civilian project, in: International Politics and Society (IPG), (1) 2006, S. 164-172 88 Vgl. Barth, Peter: George W. Bush’s Krieg gegen den Irak und die Auswirkungen auf die arabische Welt, München 2004; eine Radikalkritik an den außenpolitischen Konstanten der USA findet man bei Kolko, Gabriel: Machtpolitik ohne Perspektive. Die USA gegen den Rest der Welt, Zürich 2007 85 86 Durch die einseitige Konzentration auf die militärische Dimension der ESVP könnte jedoch eine der zentralen Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung verloren gehen, dass nämlich militärischen Mitteln im Kontext des internationalen Krisenmanagements eine nur sehr begrenzte Bedeutung zukommt. Denn der Einsatz militärischer Machtmittel kann zur Konfliktlösung wenig beitragen, da er (siehe Bosnien und Kosovo) auf die zugrundeliegenden Konfliktursachen nicht einwirkt. Dies wären in erster Linie die potenziellen Verluste an Menschenleben. Der Krieg in Afghanistan zeigt einmal mehr, dass auch modernste Präzisionswaffen nicht in der Lage sind, Opfer unter der Zivilbevölkerung wirk90 sam zu minimieren oder gar zu vermeiden. Ferner ist zu berücksichtigen, dass Militäreinsätze einen Konflikt leider meist verschärfen und damit einer politischen Problemlösung entgegenwirken können. Weitere Probleme ergeben sich in Bezug auf die Glaubwürdigkeit militärischer Interventionen: Allein schon die Tatsache, dass humanitäre Militäroperationen grundsätzlich nur in solchen Ländern möglich sind, deren Machtpotenzial eindeutig schwächer ist als das der intervenierenden Staaten, führt geradezu zwangsläufig zu einer Politik der doppelten Moral und provoziert damit eine Einbuße an internationaler Glaubwürdigkeit. Die Gefahr des Glaubwürdigkeitsverlustes steigt einmal mehr, wenn die Entscheidung über die Durchführung einer Intervention weniger von der gegebenen Situation vor Ort abhängig gemacht wird, als von den Interessen, die dem betroffenen Land entgegengebracht werden – oder auch nicht. Die zu Recht und vielfach kritisierte NichtIntervention der UN zur Verhinderung des Genozids in Ruanda 1994 kennzeichnet das Risiko eines unglaubwürdigen Interventionismus, dem sich auch die EU künftig aussetzen würde. Ein weiterer zentraler Punkt ist das Problem der mangelnden Rechtssicherheit. Während nämlich humanitäre Aktionen, wie die Evakuierung von Flüchtlingen oder Maßnahmen des Katastrophenschutzes, völkerrechtlich unproblematisch sind und keines UN-Mandats bedürfen, befinden sich Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung, die ebenfalls in den Bereich der PetersbergAufgaben fallen, in einer völkerrechtlichen Grauzone. Vgl. Jünemann, Annette/Schöring, Niklas: Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der „Zivilmacht Europa“. Ein Widerspruch in sich? HSFK-Report 13/2002, S. 41 90 Vgl. Studiengesellschaft für Friedensforschung, Denkanstoß Nr. 58: Afghanistan am Abgrund? München 2009 89 42 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 42 28.10.2010 8:37:12 Uhr Die neue Mittelmeer-Union Ihnen fehlt bis zur Kodifizierung eines internationalen Interventionsrechts eine solide, Rechtssicherheit schaffende und Objektivität verbürgende Rechtsgrundlage, was die Kompatibilitätsproblematik mit dem Konzept 91 der Zivilmacht nur noch deutlicher aufzeigt. Schließlich muss auf den Ressourcenkonflikt hingewiesen werden, der nicht nur zwischen der militärischen und der zivilen Dimension der ESVP besteht (und schon längst zuungunsten letzterer entschieden wurde), sondern auch zwischen der militärischen Dimension der ESVP und den zivilen Bereichen der EU-Außenbeziehungen insgesamt. Ihren maßgeblichen Beitrag zur Konfliktprävention leistet die EU im Rahmen ihrer Entwicklungspolitik und ihrer Assoziationspolitik mit den ehemaligen Kolonien sowie den Partnerschaftsabkommen mit einzelnen Drittländern (wie Russland) und ganzen Ländergruppen (wie den Balkanstaaten) bis hin zur Europäischen Mittelmeerpolitik (EMP/Barcelona92 Prozess). Auch die EU-Osterweiterung gehört in diesen Kontext. Durch umfassende Wirtschafts- und Finanzhilfen sowie praktische Unterstützung im politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozess wirkt die EU in ihrem unmittelbaren regionalen Umfeld konfliktverhütend. Gewinnen jedoch die Stimmen Gehör, die eine umfassende Verlagerung knapper Ressourcen hin zum militärischen Arm der ESVP fordern, so wird auch ohne den Einsatz dieser Machtmittel die zivile Orientierung der Union gefährdet. Die Frage, ob die EU auch weiterhin noch als Zivilmacht im Sinne des Idealtypus bezeichnet werden kann, ist derzeit also nicht eindeutig zu beantworten. Noch lässt sich die sich immer stärker abzeichnende Konzentration der europäischen Rüstungsindustrie und ihr wachsender Einfluss auf den sicherheitspolitischen Diskurs politisch so gestalten, dass die Risiken für den zivilen Charakter der EU-Außenbeziehungen kompensiert werden können. Vgl. Kimminich, Otto: Der Mythos der humanitären Intervention, in: Archiv des Völkerrechts, Jg. 33, Nr. 4, 1995, S. 403-458 92 Vgl. Böttger, Katrin: Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Akteure und Koalitionen. Baden-Baden 2010 91 Noch ist es möglich, einer machtpolitischen Instrumentalisierung der ESVP durch einzelne Länder politisch entgegenzusteuern. Lässt man den eigendynamischen Entwicklungen allerdings freien Lauf, so scheint ein außenpolitischer Paradigmenwechsel der EU nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich – allen positiven Entwicklungen in den zivilen Bereichen der EU-Außenbeziehungen zum Trotz. Insgesamt gesehen befindet sich das Projekt der ESVP, trotz der bemerkenswerten Geschwindigkeit, mit der es in den letzten Jahren vorangetrieben wurde, nach wie vor in seiner Aufbauphase. Ein Großteil der Kritik in der öffentlichen Diskussion an der ESVP zielt deshalb auch nicht auf die potenziellen Risiken, sondern ganz im Gegenteil auf den Umstand, dass die ESVP aufgrund ihrer derzeit noch bestehenden Defizite im Bereich der militärischen Kapazitäten und vor allem wegen der noch mangelhaften Ausstattung nicht ernst zu nehmen sei. In der Tat stehen dem Aufbau europäischer Militärkapazitäten in fast allen Mitgliedstaaten fiskalische Sparzwänge entgegen, von denen die Verteidigungsministerien mit betroffen sind. In den allermeisten EU-Staaten ist – allein schon aus immer knapper werdenden Ressourcen in den Staatskassen und dem Erhalt des Wohlfahrtsstaates mit allen Mitteln – kaum die Bereitschaft vorhanden, mehr Geld für Streitkräfte auszugeben. Um daran etwas zu ändern, müsste die ESVP auf der politischen Prioritätenliste der Mitgliedstaaten entscheidend aufgewertet werden, womit derzeit jedoch kaum zu rechnen ist. In einer langfristigen Perspektive sprechen allerdings gute Gründe dafür, von einer vollständig entwickelten ESVP auszugehen. Immerhin hat die EU schon sehr viel strittigere Integrationsprojekte, wie beispielsweise die Währungsunion oder das Schengener Abkommen, gegen alle Widerstände durchzusetzen vermocht. Auch ist die ESVP derzeit eines der wichtigsten Integrationsprojekte der Gemeinschaft, so dass sie nicht nur von den führenden Mitgliedstaaten, sondern auch von der Kommission und dem Europäischen Parlament vorangetrieben wird. 43 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 43 28.10.2010 8:37:12 Uhr Humanitäre Intervention Als humanitäre Intervention wird der – meist gewaltsame – Eingriff in das Hoheitsgebiet eines Staates bezeichnet, der den Schutz von Menschen in einer humanitären Notlage zum Ziel hat. Vorausgesetzt wird, dass der betroffene Staat selbst nicht in der Lage oder willens ist, die Gefährdeten zu schützen. Die humanitäre Intervention ist nicht als Instrument in der Charta der Vereinten Nationen verankert und kollidiert mit dem Souveränitätsprinzip. Daher ist die völkerrechtliche Zulässigkeit der humanitären Interventionen umstritten. Nach wie vor ungelöst bleibt das Problem, dass die Mandatierung einer Intervention durch die UNO vom Konsens der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates abhängig ist. Wenn, wie in der Vergangenheit häufig der Fall, mindestens ein ständiges Mitglied eine entsprechende Resolution durch sein Veto zu Fall bringt, dann bleiben lediglich zwei Möglichkeiten: entweder, wie im Falle des Kosovo-Krieges von 1999, eine Militärintervention ohne UN-Mandat (und damit völkerrechtswidrig) oder der Verzicht auf die geplante Mission. In diesem Zusammenhang haben verschiedene Regierungen der EU-Staaten bzw. auch die EU selbst bereits Anstrengungen unternommen, um dieses Dilemma zu lösen. Allerdings bleibt das für die EU-Sicherheitspolitik maßgebliche Dokument, die Europäische Sicherheitsstrategie, in diesem Zusammenhang vage und zweideutig. Explizit hervorgehoben wird die UNCharta als grundlegender Rahmen für die internationalen Beziehungen, während es gleichzeitig heißt, die EU fühle sich der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet. Ist damit auch gemeint, im Falle einer Blockade des UNSicherheitsrates andere Möglichkeiten der Mandatierung zu erwägen? Humanitäre Interventionen sind häufig militärische Interventionen zur Beendigung von schweren Völkerrechtsverletzungen oder von vorgegebenen. Bei einem solchen Eingreifen wird also Gewalt eingesetzt, um besonders grausame Gewaltverhältnisse wie systematisch auftretende Folter, Mord, Vertreibung, Vergewaltigungen oder andere massive Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat zu beenden. Dabei bedeutet humanitäre Intervention nicht zwingend die gewaltsame Besetzung eines Staates. Vielmehr sind verschiedene Interventionsformen mit unterschiedlichen Graden des Gewalteinsatzes zu unterscheiden. Die wichtigsten Formen sind: Hilfslieferungen zur Versorgung der Zivilbevölkerung (die gegebenenfalls mit Gewalt zu schützen sind); Embargomaßnahmen, wie Waffen-, Handels- oder Erdölembargos, die mit Gewalt durchgesetzt werden können (Bsp. Bosnien und Kosovo); Errichtung von Sicherheitszonen, um die zu schützende Zivilbevölkerung vor Gewalthandlungen der jeweiligen Konfliktparteien zu bewahren. Diese Sicherheitszonen sind im Notfall mit Gewalt gegen die Konfliktparteien zu verteidigen; Luftschläge, durch die versucht wird, die stärkere und als gefährlicher eingeschätzte Konfliktpartei zu strafen und nachhaltig zu schwächen (Bsp. Bosnien); Besetzungen, bei denen Truppen in das Gebiet verlegt werden, um beispielsweise ein Friedensabkommen mit Gewalt durchzusetzen (Bsp. Bosnien und Kosovo); Invasionen, bei denen Truppen mit Gewalt in einen Staat eindringen, um dort den Konflikt gewaltsam zu beenden. Pro-Humanitäre Interventionen Angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen darf sich die Weltgemeinschaft nicht gleichgültig aufgrund der Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung aus der Verantwortung ziehen. In der modernen Menschenrechtslehre geht man also von einer allgemeinen Gültigkeit für alle Menschen aus, wobei kein Staat das Recht besäße, diese Menschenrechte einzuschränken. Daraus resultiert die unbedingte Notwendigkeit diese Rechte notfalls mit Gewalt durchzusetzen. In extremen Fällen von Staatsauflösungsprozessen, oft begleitet von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, massenhaftem Sterben und weitflächigen Hungersnöten, bleibt keine Alternative als die militärische Absicherung humanitärer Hilfe. Die wesentliche Aufgabe der Interventionsgruppen besteht also im Schutz humanitärer Hilfe und in der Absicherung lebenswichtiger Einrichtungen. Eine militärische Intervention bringt die abschreckende Wirkung einer Rechtfertigung auch einseitiger Maßnahmen zugunsten der gefährdeten Bevölkerung mit sich und kann auf diesem Wege Staaten präventiv dazu anhalten, keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen. 44 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 44 28.10.2010 8:37:12 Uhr Kontra-Humanitäre Intervention Es besteht eine große Missbrauchsgefahr, da sich hinter dem Mantel menschenrechtlicher und humanitärer Absichten auch immer ökonomische oder politische Eigeninteressen verbergen können. Der Krieg als probates politisches Mittel erhält eine Relegitimierung. Es besteht weiterhin eine enorme Gefahr, dass Militäreinsätze der politischen Kontrolle entgleiten und eine gefährliche Eigendynamik entwickeln. Militäroperationen erschweren häufig die humanitäre Hilfe und sind oft nur ein Ersatz für fehlende politische Konzepte und Problemlösungen. Gefahr, dass durch militärisches Eingreifen auch erhebliche Schäden, Opfer, Zerstörungen entstehen und Gewaltstrukturen (z.B. ethnische) noch verfestigt werden. Zugrundeliegende Probleme werden nicht gelöst. Es müsste konsequent bei allen humanitären Problemen unabhängig von der Opportunität eingegriffen werden. Prüfkriterien für Militäreinsätze Gibt es einen hinreichenden Grund? Gibt es eine ausreichende Legitimationsgrundlage? Verfolgt man ein verantwortbares Ziel? Gibt es Aussicht auf Erfolg? Wird die Verhältnismäßigkeit gewahrt? Bleiben Unschuldige verschont? Ist der Einsatz begrenzbar? Welche Folgen treten auf? Kann nach Beendigung ein besserer Zustand aufgebaut werden? Vgl. Münkler, Herfried/Malowitz, Karsten: Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung, Wiesbaden 2008; Hirsch, Wilfried/Janssen, Dieter: Menschenrechte militärisch schützen. Ein Plädoyer für humanitäre Interventionen, München 2006; Janssen, Dieter: Menschenrechtsschutz in Krisengebieten. Humanitäre Interventionen nach dem Ende des Kalten Krieges, Frankfurt/Main 2008; Maerschalk, Martin: Humanitäre Intervention. Probleme und völkerrechtliche Zulässigkeit, München 2008; Schulte, Lukas: Völkerrecht und humanitäre Intervention. Die Chancen innerhalb der liberalen Theorie internationaler Beziehungen, Hamburg 2009 Zukunftsperspektiven Die Geschichte der europäischen Einigung ist auch die Geschichte ihrer Krisen. Jede von ihnen trieb seine Entwicklung weiter voran und in eine unbekannte Zukunft. Die Montanunion von 1951 ging unmittelbar aus der Furcht von einem Wiedererstarken Deutschlands hervor, die in den Nachkriegsjahren in Frankreich umging. In den fünfziger Jahren scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG am Starrsinn der Franzosen. Die in der Folge gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verdankte ihre Entstehung den Herausforderungen, die sich durch neuen Wohlstand und Konkurrenz ergaben und ihrerseits das Erbe des Marshall-Plans waren. Nach de Gaulles Veto gegen den Beitritt der Briten kam es im Brüssel der sechziger Jahre zu radikalen institutionellen Reformen. Margaret Thatcher griff Ende der siebziger Jahre mit dem Schlachtruf „I want my money back!“ in die gemeinsame Kasse. Der Zusammenbruch des nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Bretton-Woods-Systems und die währungspolitischen Schwankungen der siebziger Jahre führten zur Europäischen Währungsunion. Nach dem Fall der Berliner Mauer fürchtete sich François Mitterand vor einem großdeutschen Reich und erzwang den Übergang von der Deutschen Mark zum Euro. Die französischen und niederländischen Stimm- bürger versenkten schließlich 2005 die europäische Verfassung. Die meisten dieser Fortschritte waren das Produkt französischer Bemühungen um die Zügelung eines zunehmend selbstbewussten und dann auch wiedervereinigten Deutschlands. Frankreich schürte gewissermaßen europäische Krisen, um seine Partner in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Immer wieder bringen nationale Alleingänge den sorgsam geschmierten Motor zum Stottern, zum Leidwesen seiner Brüsseler Maschinisten. Ohne ihre Krisen aber wäre die EU möglicherweise längst gescheitert. Nur unter dem Druck drängender Probleme ist ein komplexes Gebilde wie diese Union souveräner Staaten überhaupt in der Lage, sich zu reformieren. Und das ist gut so, denn nur durch schwerfällige, konsensorientierte Entscheidungsprozesse kann gewährleistet werden, dass die kleinen Mitglieder nicht von den Großen über den Tisch gezogen werden. Was gern als Brüsseler Bürokratismus gescholten wird, kann auch ein sinnvolles Element sein, um die Vielfalt Europas zu erhalten. Denn die Bürokratie bzw. der europäische Verwaltungsapparat ist alles andere als „aufgeblasen“ und kommt im Verhältnis zu seinen Mitgliedstaaten mit erstaunlich wenig Personal aus. Es wäre falsch, den Zusammenhalt der EU zu unterschätzen. 45 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 45 28.10.2010 8:37:12 Uhr Solange es das Projekt der Europäischen Gemeinschaft gibt, haben immer zwei Tendenzen einander die Waage gehalten: Dem Bestreben nach Integration stand der Wunsch entgegen, die eigene nationale Souveränität so weit wie möglich zu erhalten. Alle europäischen Staaten, die ja souveräne Subjekte geblieben sind, befinden sich weiterhin in Konkurrenz zueinander; gleichzeitig aber konkurriert Europa insgesamt mit den anderen Regionen der Erde. Jedes europäische Land muss sich zugleich seine eigene Stärke und die Stärke Europas wünschen, wobei diese aber immer nur auf Kosten einzelner Länder wachsen kann. Die EU hat die politischen Wunden nach dem Zweiten Weltkrieg geheilt, den Nationalismus weitgehend überwunden, Deutschland mit seinen Nachbarn im Westen und im Osten versöhnt und zu einer historisch vergleichslos langen Zeit des Friedens und der Sicherheit in Europa geführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es in Europa lange darum, Deutschland nicht wieder mächtig werden zu lassen oder deutsche Macht in einem solidarischen Europa einzubetten, sie dadurch erträglich zu machen und europäisch zu kontrollieren. Deutschland wurde so zum bevölkerungsreichsten Mitgliedstaat der Europäischen Union und zugleich zu ihrer größten Volkswirtschaft. Heute ist Deutschland doppelt so groß wie Polen, achtmal so groß wie die Tschechische Republik, fünfmal so groß wie Holland, fünfzehnmal so groß wie Dänemark und die Volkswirtschaft ist die viertgrößte der ganzen Welt. Diese angesichts der bisherigen Geschichte einmalige Größenordnung muss uns Deutsche zur Rücksichtnahme auf unsere vielen Nachbarn und auf unsere EU-Partner drängen. Wenn ein dicker und fetter Nachbar sich gegenüber einem kleineren Nachbarn anmaßend benehmen sollte, dann weckt er bei den Nachbarn Ängste und Abneigung. Wenn dann noch die Erinnerung an die deutsche Besatzung und ihre Verbrechen im letzten Weltkrieg hinzukommen sollte, wenn obendrein der Genozid an den Juden keineswegs vergessen ist, dann kann daraus Unheil für beide Nachbarn entstehen. Wenn sich die deutsche Bevölkerung wieder einmal in übertriebener Weise ängstigen lassen sollte, zum Beispiel heute wegen der Zukunft der Weltwährung Euro, so kann sich daraus die Versuchung zu einem deut93 schen Alleingang ergeben. Jedoch darf man solcher Versuchung nicht nachgeben. Vielmehr muss die Rücksichtnahme auf Nachbarn und Partner Vorrang behalten. Deutschlands Feld ist nicht die Weltpolitik und nicht die atomare Strategie, nicht Asien, nicht der Nahe und Mittlere Osten oder Afrika, sondern die europäischen Nachbarn. Der Ausbau der Europäischen Es ist noch nicht klar, von welcher enormer Tragweite für die weitere Entwicklung der Währungsunion die Entscheidungen des Jahres 2010 sind: das Ende des Stabilitätspakts mit Schuldengrenzen, die Preisgabe des Haftungsausschlusses der Euro-Staaten, die Beseitigung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EBZ), die Staatsanleihen südlicher Länder aufzukaufen genötigt worden ist. Vgl. Bandulet, Bruno: Die letzten Jahre des Euro. Ein Bericht über das Geld, das die Deutschen nicht wollten, Rottenburg 2010 93 Union geschieht nicht aus Idealismus, sondern aus 94 einer politisch-strategischen Notwendigkeit. Sicherheitspolitische, ökologische und demographische Herausforderungen, Klimawandel, Umweltprobleme und Migrationsbewegungen zeigen eines: für globale Probleme genügen nationale Lösungen nicht mehr. Wenn Europa den Anspruch erhebt, bei der Ausgestaltung globaler Lösungen mitwirken zu wollen, gründet dieser Anspruch auf dem Fortschritt der wirtschaftlichen Integration Europas. Wer deshalb die ökonomische Desintegration Europas zulässt, zerstört Europas Status in der Welt. Deutscher Gestaltungswille muss und kann dafür sorgen, dass Europa seine Mitsprache bei der globalen Suche nach globalen Problemlösungen nicht verliert. Entscheidend für die Zukunft der GASP/ESVP bleibt die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, sich auf gemeinsame, friedensorientierte, sicherheitspartnerschaftliche Ziele und Strategien zu verständigen, auch wenn sich eine gewisse Vergemeinschaftung der EU-Außenpolitik – trotz ihrer intergouvernementalen Anlage – entwickelt hat. Allerdings erschwert die 2004 und 2008 vollzogene Osterweiterung den erforderlichen Konsens der Mitgliedstaaten, da die neuen Mitglieder spezifische historische Erfahrungen und eigene Interessen und Prinzipien mitbringen. Dies zeigt sich besonders im Verhältnis zu den USA. Hier unterstützten die mittelosteuropäischen Staaten häufig die US-Positionen und bevorzugen die NATO als Sicherheitsgarant, da sie sich davon mehr Sicherheitsgewinn als durch die EU versprechen. Die nach wie vor bestehende Interessenheterogenität wird in der Praxis zur Fortsetzung einer gewissen Ambivalenz der EU-Außenpolitik führen. Einerseits wird die EU durchaus handlungsfähig sein und kann wirkungsvolle EU-Außenpolitik verfolgen, andererseits besteht die Gefahr einer aufgrund interner Differenzen gelähmten EU, die versucht, ihre Handlungsunfähigkeit durch diplomatische Erklärungen zu verdecken. Zukünftig wird die Frage der öffentlichen Akzeptanz der Militäreinsätze im Sinne friedensrelevanter Maßnahmen (durch Mandat der UN legitimiert) wichtig werden. Bislang stand die EU-Außen- und Sicherheitspolitik im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit in den Mitgliedsländern. Die Übernahme politischer Verantwortung wenn auch nicht ausschließlich, aber eben auch durch Militäreinsätze, könnte für kritische Diskussion sorgen wenn die Einsätze verlustreich oder problematisch verlaufen sollten. Unklar ist auch, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, beträchtliche Kosten für Militärmissionen, die nicht vom relativ bescheidenen GASPHaushalt gedeckt werden, zu übernehmen. Betrachtet man die Entwicklung der europäischen Außenpolitik in den zurückliegenden drei Jahrzehnten, so lässt sich feststellen dass es häufig Anstöße von außen (Balkankriege, Kosovo) waren, die Impulse für eine Weiterent95 wicklung der Außenpolitik gaben. Vgl. Schmidt, Helmut/Stern, Fritz: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch, München 2010 95 Vgl. Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2009, Baden-Baden 2010, S. 241 ff. 94 46 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 46 28.10.2010 8:37:12 Uhr Die Sparmaßnahmen der EU-Staaten werden auch Auswirkungen auf die Rolle der Europäischen Union als globaler Akteur haben. Das Glaubwürdigkeitsdilemma der EU bezüglich ihrer außenpolitischen Rolle in der Welt – sprich die Lücke zwischen ihrem Anspruch auf globale Mitgestaltung und der politischen Wirklichkeit der seit zwei Jahrzehnten rückläufigen Verteidigungsetats – ist hinlänglich bekannt. Vor dem Hintergrund der augenblicklichen Krisenlage in Europa und allseits angekündigten Sparmaßnahmen durch die Mitgliedsländer erscheint die von der Hohen Repräsentantin für die Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, geforderte Stärkung des außenpolitischen Profils der EU gerade zum jetzigen Zeitpunkt eher als Euphemismus für ein beträchtliches Wahrnehmungsproblem der Europäer. Oder will man gar, was durchaus möglich ist, die Krise als Chance für den Aufbruch der Union zu neuen Ufern, also mehr Effizienz und Synergien in der Außen- und Sicherheitspolitik, sehen? quellen und der Ausbeutung seltener Metalle in Afri96 ka. Festzustellen bleibt eine strukturelle Schwäche der Europäischen Union, die mehr und mehr ins politische Hintertreffen gerät. Während China und andere wirtschaftlich aufstrebende Länder wie Russland, Brasilien und selbst Indien ihre wirtschaftliche Dynamik mit einem selbstbewussten Auftreten in internationalen Konferenzen und Tagungen ergänzen, schleppt sich der wirtschaftliche Riese EU außenpolitisch führungslos dahin. Somit ist Europas Gewicht in der Weltpolitik leichter geworden. Wir sind Zeitzeugen einer geopolitischen Machtverschiebung vom euro-atlantischen Raum in die asiatisch-pazifische Region mit China als neuem Machtzentrum. China wird zu einer der beherrschenden globalen Mächte des 21. Jahrhunderts. Vielleicht sogar zu der Weltmacht. China versorgt die Welt mit wertvollen Bodenschätzen, so genannte Seltene Erden. Sie werden zu 95% in China abgebaut und sind unentbehrlich für die Lasertechnologie, bei Festplatten, Hybridantrieben, Windturbinen und in der Rüstungsindustrie. China setzt sie immer mehr als Druckmittel für seine außen- und wirtschaftspolitischen Interessen ein und versetzt die Welt damit in einen neuen unangenehmen Zustand der Verwundbarkeit. Einem internen Bericht der Europäischen Kommission zufolge, ist die Versorgungslage bei 14 von 41 überprüften Mineralien kritisch. Zu den knappen Rohstoffen gehören Magnesium und Graphit, aber auch Kobalt, das für die Herstellung von Akkus und synthetischen Kraftstoffen genutzt wird, Gallium, das unter anderem für dünne Sonnenkollektoren benötigt wird, Germanium, aus dem Fiberglaskabel hergestellt werden, Platin, das für Katalysatoren benötigt wird, oder Neodym, mit dem unter anderem Magnete für Kernspintomographen produziert werden. 96 Europas Anteil an der Weltbevölkerung beträgt heute 7% (im Vergleich zu 25% zu Beginn des 20. Jahrhunderts). In den letzten 60 Jahren ist sein Anteil am globalen Bruttoinlandprodukt von 28 auf etwa 21% gesunken; gleichzeitig wachsen Chinas, Indiens oder Brasiliens Ökonomien jährlich um bis zu 10% (einschließlich ihres Verteidigungsbudgets) und stärken spürbar deren politischen Einfluss und Selbstbewusstsein – ob bei den Klimaverhandlungen, in der Iran-Frage oder aber im Zusammenhang mit der Erschließung von Energie- 47 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 47 28.10.2010 8:37:13 Uhr dass die Truppen bis zum Jahr 2016 in Afghanistan stationiert bleiben. Kosten, die nicht im Haushalt enthalten sind, stellen somit einen weiteren wichtigen Aspekt bei der Beurteilung der Gesamtkosten für die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan dar. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat erheblichen Einfluss auf das, was die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Partner in den kommenden Jahren für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auszugeben bereit sind und wie ambitioniert sie sein können. Angesichts hoher Staatsverschuldung und großer Haushaltsdefizite rückt die Frage: „Können wir uns das 97 leisten?“ in das Zentrum der politischen Debatte. Auch die vier Großen – Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien –, also jene Staaten, die als einzige nennenswerte Beiträge zu den Auslandseinsätzen der NATO und der EU beisteuern können, haben angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise kräftige Einsparungen angekündigt. Das heißt, Europa wird sich auf Aufgaben des Konfliktmanagements auf dem Balkan, kleinere Stabilisierungsoperationen am Horn von Afrika im Kampf gegen Piraterie (inklusive Ausbildungsprogramme in fragilen Staaten wie Jemen oder Somalia) und auf Vermittlungsaktionen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (wie etwa in Geor99 gien) konzentrieren müssen. Dies alles ist zwar nicht zu unterschätzen, ebenso die Tatsache, dass die EU mittlerweile insgesamt 23 Missionen und Operationen (16 davon waren zivile Missionen) auf drei Kontinenten durchgeführt hat (mit insgesamt bisher ca. 70.000 Soldaten und Polizisten, Stand Mitte 2010). Zu anspruchsvollen, material- und personalintensiven Operationen wie im Kosovo, Afghanistan oder Bosnien aber sind die Europäer ohne die USA bis heute nicht in der Lage. Sie spielt auch bei der Bundesehr-Reform von Verteidigungsminister zu Guttenberg eine wesentliche Rolle. Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich seit 2001 an dem von den USA geführten Krieg in Afghanistan. Die wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung sind schwer zu berechnen. Erste realistische Schätzungen wurden vom Deutschen Institut für Wirtschafts98 forschung (DIW) in Berlin vorgelegt. Demnach werden sich die Staatsausgaben der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan auf 18 bis 31 Milliarden Euro belaufen, wobei im Mittel Kosten von rund 24,5 Milliarden Euro erwartet werden. Die jährlichen Kosten (ohne Einbeziehung der beachtlichen Zinskosten) dürften fast zwei Milliarden Euro betragen. Dies liegt weit über dem, was die in der Vergangenheit von der Regierung veröffentlichten Zahlen aufzeigen. Außerdem belaufen sich die sonstigen wirtschaftlichen Kosten des realistischen Szenarios auf 6 bis 15 Milliarden Euro. Dieser Betrag umfasst die Kosten für die Finanzierung des Einsatzes sowie allgemeine gesellschaftliche Kosten. Als realistisches Szenario wurde angenommen, Allerdings birgt die Geldknappheit auch Chancen, indem sie notwendige Anpassungs-, Rationalisierungsund Kooperationsmöglichkeiten in den Mitgliedstaaten wieder in den Fokus rückt. Erstens müssen die Europäer ein außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept auf Basis klar definierter Eigeninteressen im multilateralen Kontext entwickeln: Deutschland wird endlich den Weg in Richtung einer Freiwilligenarmee gehen müssen. Dazu müsste eine Konzeption für gemeinsame europäische Streitkräfte erstellt werden. Zweitens sollte die Rüstungs- und Strukturplanung der Europäer alle Möglichkeiten einer Kooperation ausloten und über spontan vereinbarte zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinaus Synergien eines europäischen Verbunds nutzen. Drittens sollten die Mitgliedstaaten sich der verfügbaren Instrumente wie der Europäischen Verteidigungsagentur oder der mit dem Vertrag von Lissabon geschaffenen „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ aktiv bedienen. Noch bleibt die Finalität der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in weiter Ferne, denn es herrscht immer noch Uneinigkeit über den 100 europäischen Einigungsprozess. Am 19. März 2003 griffen die USA und ihre Koalition der Willigen den Irak an. Vor dem Krieg wurde von Präsident Bush und seinen Beratern ein schneller Krieg vorhergesagt, der noch dazu mit geschätzten Kriegskosten von lediglich 69-200 Milliarden US-Dollar als „preiswert“ dargestellt wurde. Stattdessen erleben die USAmerikaner einen Krieg, bei dem bisher über 4.000 US-Soldaten gefallen und über 60.000 verwundet, verstümmelt oder ernsthaft erkrankt sind. Einen Krieg, der mehr kostet, als es sich irgendjemand in seinen schlimmsten Träumen ausgedacht hätte. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gemeinsam mit Linda Bilmes nicht nur die ökonomischen Kosten für die USA und die Welt berechnet, sondern auch erstmals die langfristigen politischen, sozialen und humanitären Auswirkungen dieses Konflikts dargestellt. Die Autoren kommen mit ihren Berechnungen auf 2,7 Billionen US-Dollar an direkten Haushaltskosten und 5 Billionen US-Dollar an sonstigen Kosten. Vgl. Stiglitz, Joseph/Bilmes, Linda: Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts, München 2008 98 Vgl. Wochenbericht Nr. 21/2010 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan Vgl. Böttger, Katrin: Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Akteure und Koalitionen, Baden-Baden 2010 100 Die Europäische Union ist ein politisches Projekt zwischen Staatenbund und Bundesstaat, in dem Konfrontationen von Ideen, Interessen und Identitäten in zivilisierter Form ausgetragen werden. Dabei lassen sich supranationale Vernunft und nationale Leidenschaft nicht gegeneinander ausspielen. Objekte eines europäischen Verfassungspatriotismus müssten die Prinzipien und Praktiken der Toleranz sein, die in der EU-Tagespolitik eine wichtige Rolle spielen – und das von diesen getragene pluralistische, liberale Friedens- und Freiheitsprojekt Europa, welches eben keine neue „Nation Europa“ konstituieren will, sondern mit existierenden Nationalgefühlen und fortdauernder kultureller Vielfalt weitgehend kompatibel ist. Gefordert wird von den Bürgern in einer solchen Verhandlungsdemokratie nicht Toleranz im Sinne von Nachsicht gegenüber Missständen in Brüssel, sondern liberale Aufmerksamkeit, kritisches Wohlwollen für ein einzigartiges – und einzigartig erfolgreiches – politisches Experiment. Vgl. Müller, Jan-Werner: Verfassungspatriotismus, Berlin 2010 97 99 48 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 48 28.10.2010 8:37:13 Uhr Denn zum einen müsste die EU die gesamteuropäischen Interessen identifizieren. Diese sind aber nicht eine Summierung nationaler Interessen bzw. der – wohl kleinste – gemeinsame Nenner derselben. Vielmehr stellten sie eine eigene Ebene dar, die auch einzelnen nationalen Interessen entgegen stehen kann. Und zum anderen will man derzeit in Europa einfach nicht verstehen, dass es übergeordnete Gesamtinteressen geben kann und gibt. Auch wenn die Diskussionen im EU-Parlament gelegentlich Anlass zur Hoffnung geben. Ohne Gesamtinteressen kann es letztlich aber keine gemeinsame Außenpolitik und keine europäische Verteidigungspolitik geben, die über symbolische Aktionen hinausgeht. Zum anderen müsste sich die Union, die ja mit Frankreich und Großbritannien zwei Atommächte hat, auf eine gemeinsame Nuklearordnung verständigen. Will sie ein global wirksamer sicherheitspolitischer Faktor werden, so kann sie an der Frage der Kriterien für den möglichen Einsatz von europäischen Atomwaffen auf Dauer nicht vorbeigehen. Oder aber sie unterstützt endlich die Initiative des amerikanischen Präsidenten Obama für eine atomwaffenfreie Welt, die er in 101 einer Rede in Prag am 5. April 2009 formuliert hat. Will die EU tatsächlich ein globaler Akteur werden, so muss sie sich Gedanken machen über eine Weltnuklearordnung. Sie muss Strategien gegenüber neuen Nuklearmächten oder Staaten, die andere Massenvernichtungswaffen einsetzen können, entwickeln und eine über die bisherigen, hoffnungsorientierten Vorhaben hinausgehende Politik zur Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen artikulieren. Und schließlich auch die Frage erörtern, ob und wieweit die nationalen Nukleararsenale von EU-Ländern in die gemeinsame Verteidigungspolitik eingebracht werden sollen. Festzustellen bleibt, dass die EU in den letzten zehn Jahren mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik einen gewaltigen Sprung in Richtung Supranationalität vollzogen hat. Sie ist heute ein Faktor, der aus der globalen Krisenbewältigung nicht mehr wegzudenken ist. Gemessen aber an den Krisen, die die Welt gegenwärtig erschüttern und an denen, die noch kommen werden, haben die Europäer noch einen weiten Weg vor sich. Eine Union, in der alles in allem fast zwei Millio102 nen Menschen unter Waffen stehen, sollte militärisch nicht schon die Luft ausgehen, wenn sie 70.000 von ihnen im Einsatz hat. Und dass in der EU mit über 500 Millionen Einwohnern nur 240 Polizisten für den Aufbaueinsatz in Afghanistan aufgetrieben werden konnten, obwohl 400 versprochen waren, ist auch nicht hinnehmbar. Jenseits der Behebung dieser Mängel gilt es nun, die europäische Sicherheitspolitik politisch zu festigen und zu verstetigen. Von denen allerdings nur 10-15% für Auslandeinsätze als verlegefähig einzuschätzen sind. Die Gründe liegen vor allem in den internen EU-Duplizierungen, der übergroßen Anzahl von nichtverlegbaren Wehrdienstleistenden, Defiziten in den militärischen Fähigkeiten wie strategischer Transport, C3 (Command, Control, Computers) sowie die langsam vor sich gehende Transformation von einer Territorialverteidigung hin zu Auslandseinsätzen. 102 Vgl. auch die Resolution 1887 des UN-Sicherheitsrates vom 24. September 2009 für eine Welt ohne Nuklearwaffen. Frankreich stemmt sich derzeit grundsätzlich gegen nukleare Abrüstungsvisionen. Schon die Erwähnung des Ziels einer atomwaffenfreien Welt im zukünftigen NATO-Konzept geht Frankreich zu weit. Paris sieht dadurch seine nationale Souveränität in Frage gestellt. 101 49 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 49 28.10.2010 8:37:13 Uhr Fazit Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einheit der westeuropäischen Länder auf institutionellem, nicht aber auf politischem Wege hergestellt. Niemand hat die französischen, deutschen oder italienischen Wähler gefragt, ob sie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Gemeinschaft oder irgendeine der im Umfeld dieser Bündnisse entstehenden Institutionen wünschten: den Europäischen Gerichtshof, die gemeinsame Agrarpolitik, den Europäischen Wechselkursverbund der siebziger Jahre und alle weiteren Einrichtungen. Das war auch klug, denn vor den siebziger Jahren wären diese auf den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Heimat abzielenden Projekte mit ziemlicher Sicherheit abgelehnt worden. Doch der Aufbau Europas von oben – durch bürokratische Eliten, die institutionelle Schutzwälle gegen Konflikte zwischen den Nationen errichteten – forderte einen weitaus höheren Preis, als irgendwer erwartet hatte. Erst 1979 wurden EU-weite Wahlen eingeführt. Die sind noch nie auf besonderes Interesse gestoßen und haben bestenfalls als Ersatzterrain zum Austragen innenpolitischer Auseinandersetzungen gedient; die Wahlbeteiligung hat sich durchgehend rückläufig entwickelt. Derweil ist es gerade der bürokratische und elitäre Charakter der europäischen Verwaltungskaste, der heute auf stärkste Ablehnung stößt – was sich allerorten vor allem Nationalisten zunutze machen. Seit einigen Jahren unterzieht sich die EU sozusagen einer zweiten Gründung und damit wandelt sich zugleich die Begründung für die europäische Integration. Nach der ersten Gründung 1957 erfolgt seit Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre eine stärkere Politisierung der Integration, verbunden mit einem gesteigertem Interesse der europäischen Bürger (aber auch stärkerer Kritik) an der Integration. Zugleich wandelt sich seit dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der Teilung Europas die Begründung: War die europäische Integration in den ersten Jahrzehnten vorrangig eine Angelegenheit der inneren Aussöhnung unter den Staaten und Völkern Europas, so richtet sie sich seit einigen Jahren immer deutlicher aus an der Suche nach einer neuen globalen Rolle Europas im Zeitalter der Globalisierung und des Managements globaler Fragestellungen. Die Weichenstellungen zur Militarisierung der EUAußenpolitik seit Mitte der neunziger Jahre sind bislang ohne nennenswerten Widerspruch und ohne die eigentlich dringend nötige Diskussion in den Parlamenten und in der Öffentlichkeit der inzwischen 27 Mitgliedsländer erfolgt. Das mag damit zu tun haben, dass allgemein die Vorstellung von einer „Friedensmacht Europa“ vorherrscht. Und dies umso stärker, als sich die USA offen unfriedlich verhalten und gegen das Völkerrecht verstoßen. Bis weit in ehemals friedensbewegte grüne und auch linke Kreise hinein ist der Glaube verbreitet, die – tatsächlich sehr notwendige und wünschenswerte – außenpolitische Emanzipation Europas von den USA und der Zugewinn eigenständiger europäischer Handlungsmöglichkeiten (zum Beispiel im Nahostkonflikt) seien nur möglich, wenn sich die EU auch gemeinsame militärische Instrument zulegt. In der gemeinsamen Sicherheitsstrategie der EU (ESS) wird die Notwendigkeit einer militärischen Rolle der EU nicht mehr nur mit Konflikten in Europa begründet, sondern mit globalen Herausforderungen und Bedrohungen. Folglich wird eine weltweite militärische Handlungs- und Interventionsmöglichkeit der EU angestrebt. Doch die Militarisierung der EU-Außenpolitik mit dem Ziel der politischen Emanzipation von den USA ist ein kostspieliger und kontraproduktiver Irrweg. Es gibt bisher über die Gesamtkosten der Aufrüstungsmaßnahmen, die die EU seit dem Kosovo-Krieg von 1999 beschlossen hat, keine offizielle Übersicht. Denn die Finanzierung dieser Maßnahmen erfolgt anteilig über die nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten und nicht über den EU-Haushalt und unterliegt somit keiner Kontrolle durch das Europäische Parlament. Aber auch die nationalen Parlamente haben keine Übersicht über die 103 Gesamtkosten. Der Aufbau weiterer herkömmlicher militärischer Strukturen verschlingt Ressourcen, welche die EU dringend zur zivilpräventiven Konfliktbearbeitung benötigt. Die schon jetzt vorhandene Tendenz, Mittel aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) für militärische Aktivitäten zur Friedenssicherung zu verwenden, schwächt den Ansatz der Armutsbekämpfung ebenso wie die Umsetzung einer nachhaltig und langfristig orientierten Entwicklungspolitik, die der Herausbildung von Krisen vorbeugt. Jeder Euro zusätzlich, den die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten für militärische Zwecke ausgeben, fehlt bei der Finanzierung von zivilen Instrumenten, Programmen und Personal für die Prävention und Beilegung internationaler Konflikte sowie sozialen und anderen wichtigen innerstaatlichen Aufgaben. Dazu kommt, dass die USA bei den militärischen Kapazitäten und bei der militärtechnologischen Forschung einen gewaltigen Vorsprung vor allen anderen Staaten der Erde haben. Und sie werden ihre militärischen Fähigkeiten in den nächsten Jahren weiter ausbauen und modernisieren – mit einem Finanzeinsatz, der nach dem Stand von 2010 bei rund 640 Milliarden US-Dollar jährlich liegt. Das heißt: Die EU würde bei einem Militarisierungswettlauf mit den USA das militärische Machtgefälle nicht verringern, zugleich aber enorme Ressourcen verschleudern und dadurch ihre nichtmilitärischen außenpolitischen Handlungsmöglichkeiten einschränken. Seit es Staaten gibt, sind darunter mächtigere und weniger mächtige. Die Mächtigeren lassen es die weniger Mächtigen fühlen, dass sie die Stärkeren sind. Wo sich, wie in Europa, so etwas wie ein Staatensystem ausbildet, schälen sich immer wieder Hegemonialmächte heraus. Dies können in jedem Jahrhundert andere sein. Erste Schätzungen von unabhängigen Friedens- und Konfliktforschern kamen auf rund 150 Milliarden Euro bis zum Jahr 2012. 103 50 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 50 28.10.2010 8:37:13 Uhr Im Europa des sechzehnten Jahrhunderts war es Spanien, im siebzehnten Frankreich, im achtzehnten und vor allem im neunzehnten Großbritannien. Aber keine dieser Mächte hatte eine so unangefochtene Führungsposition wie heute die USA. Hegemonialmacht hat ihre Versuchungen. Sie kann sich manches ungestraft erlauben, was andere Staaten besser nicht wagen. Vieles, was heute den USA vorgeworfen wird, ist nicht „typisch amerikanisch“, sondern das übliche Gebaren einer Hegemonialmacht. Dagegen hilft kein Moralisieren, sondern allenfalls der Aufbau einer anderen Macht, deren Wort man auch in Washington nicht überhören kann. Das wäre eine Europäische Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Was Europa heute braucht ist eine klare und eindeutige Definition von europäischen Zielen. Während der ganzen Ära Bush hat sich Europa weitgehend an den amerikanischen Zielen orientiert; teils wurden sie abgelehnt, wie der Irak-Krieg, teils wurde widerstrebend mitgewirkt, wie beim Wiederaufbau und dem Schuldenerlass für den Irak; teils wurden sie umgedeutet, wie der „Krieg gegen den Terror“, den wir Europäer als Krieg gegen Al Qaida bejahten, aber nicht als weltweiten „Kreuzzug“. Ein europäischer Zielkatalog könnte so aussehen: • Neue internationale Regeln für das globale Finanzsystem; • Stärkung der Vereinten Nationen und striktes Einhalten der im Jahre 2000 beim UN-Gipfel beschlos104 senen Milleniumsziele; • Erhaltung des Freihandels bei Berücksichtigung der Interessen der Entwicklungsländer; • Klimaschutz und regenerative Energieformen; • Nukleare Abrüstung und regionale konventionelle Rüstungskontrolle; • Menschenrechte, humanitäre Interventionen, Internationaler Strafgerichtshof; • Hineinwachsen der großen Schwellenländer in die internationalen Regeln. Zusammenarbeit mit ihnen statt Konfrontation und Misstrauen (das gilt auch und gerade für den Nachbarn Russland). Die Herausforderung, der sich die Europäische Union heute gegenübersieht, besteht nicht in der Frage, ob oder wie die griechische Wirtschaft zu retten ist, auch Wie schwer das ist, zeigt sich daran, dass die EU-Führung gerade gescheitert ist, bei den Vereinten Nationen in New York vom Beobachter zum Quasi-Mitglied hochgestuft zu werden. Der angestrebte Status hätte es dem europäischen Ratspräsidenten, Herman Van Rompuy, unter anderem erlaubt, in der UN-Vollversammlung zu reden und eigene Vorschläge einzubringen. Ein Beobachterstatus wird vielen Organisationen zugestanden, von der Arabischen Liga bis zum Roten Kreuz. Der Brüsseler Wunsch nach Höherstufung wurde mit der Mehrheit vieler Drittweltstaaten aus Afrika, dem karibischen und pazifischen Raum – den so genannten AKPStaaten – abgelehnt. Aber auch Großbritannien und Frankreich stehen unter Sabotageverdacht. Die einstigen Kolonialmächte sind heute quasi zu Schutzpatronen ihrer ehemaligen Übersee-Besitzungen geworden. Sie stimmen sich deshalb bei solchen Themen gerne mit ihnen ab. Womöglich war das auch hier der Fall, und London und Paris haben, so ein Brüsseler Diplomat, „über die afrikanisch-karibische Bande gespielt“. Denn die beiden ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wären wenig begeistert gewesen von einer zusätzlichen EU-Stimme. 104 nicht in der Neuausrichtung der Währungspolitik oder der Wahl zwischen Sparen und Wachstumspolitik 105 (auch wenn tagespolitisch alles wichtig ist). Die EUAußenpolitik muss sich endlich auf ihre Stärken konzentrieren: wirtschaftliche Integration, Diplomatie, zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Die Bundesregierung sollte das ursprüngliche Ziel der UN, dass jeder Industriestaat 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen solle, binnen zehn Jahren realisieren. Auf der Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte gerade die EU andere, zivilmächtige, Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität werden lassen könnten. Diese wäre eine nachhaltigere Sicherheitspolitik, als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist. Nur eine im Umfang zu steigernde und qualitativ zu verbessernde, als Prävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik, kann Grundlage einer wirklich friedensorientierten Außenpolitik sein. Als US-Präsident George W. Bush 2002 für seinen Irakkrieg eine „Koalition der Willigen“ konstruierte, wurde er auf einer Pressekonferenz gefragt, ob die Deutschen mit dabei wären. Mit einer knappen Handbewegung erledigte er seine Antwort: „The Germans are pacifists“, – auf Deutsch: Auf die ist kein militärischer Verlass. Wir brauchen uns des Pazifismus unseres Volkes nicht zu schämen. Deutschland ist 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weltweit geachtet, nicht mehr geächtet. Der Pazifismus entspricht nicht nur unserer historischen Erfahrung, sondern auch modernen Einsichten. Jede postmoderne, das heißt kinderarme und risikoscheue Gesellschaft, teilt sie in Wirklichkeit. Nirgends mehr gibt es „heroisch“ geführte Volkskriege. Soweit westliche Staaten Kriege führen, tun sie dies durch disziplinierte und bestausgerüstete Berufssoldaten, ergänzt durch ein Heer hochbezahlter Privatangestellter (Söldner) mit Risikozuschlag. Aber trotzdem bedeuten diese Kriege keine Spaziergänge, sondern enden meist in asymmetrischen Kriegen, mit anschließender Gefahr von staatsfreien Räumen. Unter diesen Umständen müssen wir uns wegen der Ablehnung von „Kampfaufträgen“ nicht schämen und können der Kritik anderer Partner ins Auge sehen. Es ist daher sicher sinnvoll, daran zu erinnern, wie eindrucksvoll sich Europa von außen darstellt. Es gibt noch immer keinen wohlhabenderen Kontinent. Die EU-Mitgliedstaaten erfreuen sich besserer Beziehungen zu ihren Nachbarn als irgendwer sonst, was die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Konflikte verringert. Die Brüsseler Union ist noch immer das beste und am meisten bewunderte Vorbild für einen Zusammenschluss souveräner Staaten in transnationalen Institutionen, der die nationale Identität und Autonomie nicht gefährdet. Die Menschen in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Südostasien würden viel dafür geben, auch nur annähernd so erfolgreich zu sein wie die EU. Für Deutschland ist der Euro eine Schicksalsfrage. Es gibt kein anderes Land, das vom gemeinsamen Binnenmarkt und von der Währungsunion so profitiert wie die Bundesrepublik. 105 51 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 51 28.10.2010 8:37:13 Uhr Europa könnte der Kontinent werden, an dem sich die Welle der Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt bricht. Denn was am 11. September 2001 auf so tragische Weise sichtbar wurde, ist das Ergebnis einer schon länger zu beobachtenden Entwicklung, die sich nach dem Zerfall der alten bipolaren Weltordnung drastisch beschleunigte: der Verfall der Staatlichkeit und des staatlichen Gewaltmonopols. Die berüchtigten Todesschwadronen in mittel- und südamerikanischen Ländern, die von Warlords angeführten Rebellenarmeen in Teilen Afrikas, die Drogenbarone in Afghanistan, aggressive und korrupte Eliten, die Unversöhnlichkeit fundamentalistischer Strömungen in Form von Terrororganisationen, die Taliban in Afghanistan und Pakistan, aber auch das Wiederaufleben der Piraterie in Südostasien und am Horn von Afrika, sind die sichtbarsten Anzeichen für den Zerfall des staatlichen Gewaltmonopols und die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt. Privatisierte und kommerzialisierte Gewalt ist aber mit den Kategorien Krieg und Frieden nicht zu fassen. Wir haben es vielmehr zunehmend mit einem Zustand jenseits von Krieg und Frieden zu tun. Im Kern handelt es sich so gut wie immer um Kriminalität, für die eigentlich Polizei und die Gerichte zuständig sind. Diese aber sind – vor allem dort, wo ein Staat gar nicht mehr existiert – zunehmend überfordert. Da aber die Welt nicht einfach zusehen kann, wie Hunderttausende von Menschen hingeschlachtet werden, sind militärische Interventionen aus Menschenrechtserwägungen manchmal unvermeidlich. Das Militär wird dann immer mehr zur Hilfspolizei einer erzwungenen Welt-Innenpolitik. Aber eben nur als Teil einer Strategie, in der die militärischen Aktionen ihre genau abgegrenzte und vor allem begrenzte Funktion haben. Wo die Gefahr besteht, dass die militärischen Mittel im Sinne der politischen Gesamtstrategie mehr schaden als nützen, dürfen sie nicht eingesetzt werden. Dadurch wird auch der alte Pazifismus, der im Kern ein Antimilitarismus war, fragwürdig. Denn kein Pazifist kann gegen polizeiliche Gewalt zum Schutze unschuldiger Menschen sein, nur weil diese mit militärischen Mitteln ausgeübt werden muss. In diesem Sinne sollte die Europäische Union nicht versuchen, eine neue, militärisch definierte multipolare Machtbalance zu errichten, sondern einen alternativen Weg einschlagen, der in einer entschlossenen Stärkung der UNO, einer drastischen Erhöhung der Entwicklungshilfe und einer sehr viel stärkeren Gewichtung des zivilen Elements bei Friedensinterventionen besteht. Gleichzeitig können die Europäer auf ein internationales Gewaltmonopol und eine Weltpolizei im Rahmen der UNO hinarbeiten. Dazu müssten sie aber vor allem ihre eigene, die europäische Einigung voranbringen. Wie heißt es so schön bei Max Weber in seinem Werk „Politik als Beruf“: „Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.“ Unsere Denkanstöße können von Ihnen unverändert abgedruckt oder von uns bezogen werden. Wir bitten um einen Beitrag zu unseren Selbstkosten (2,00 Euro pro Exemplar + Porto). Postbank München, Konto 14 15 00-800, BLZ 700 100 80 Herausgeber: Studiengesellschaft für Friedensforschung e.V., Fritz-Baer-Straße 21, D-81476 München, Telefon und Fax 0 89 / 72 44 71 43 www.studiengesellschaft-friedensforschung.de, [email protected] Druck: Grapho Druck GmbH, Blütenweg 9, D-82008 Unterhaching V. i. S. d. P.: Dr. Peter Barth, Rieder Straße 39, D-82211 Herrsching am Ammersee 11/2010 52 Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 52 28.10.2010 8:37:13 Uhr