NR. 59/60 Europäische Außen - Studiengesellschaft für

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STUDIENGESELLSCHAFT FÜR FRIEDENSFORSCHUNG
E.V. MÜNCHEN
DENKANSTÖSSE
ZUM
THEMA:
NR. 59/60
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik:
Von der Zivil- zur Militärmacht?
Die unabhängige Studiengesellschaft für Friedensforschung möchte durch Kurzinformationen interessierte Menschen anregen, sich mit der
aktuellen Friedens- und Sicherheitspolitik, auch im Hinblick auf Fragen der Ökologie und der Dritten Welt, kritisch auseinanderzusetzen.
Europa ist eine Tatsache
Die Frage nach dem, was „Europa“
real ist und was sich die Menschen
unter „Europa“ vorstellen, ist ein umstrittenes Thema. Unter „Europa“
kann man rein pragmatisch jene
westlichen
Staatengemeinschaften
verstehen, die auf Europa Bezug
nehmen, also der Europarat bzw. die
Europäischen Gemeinschaften in
ihren Metamorphosen bis zur heutigen Europäischen Union. Das ist ein
nicht sehr eleganter, aber nachvollziehbarer Ausweg aus dem Dilemma,
dass sich aus der schier endlosen
Zahl von Büchern zum Thema „Europa“ für keine historische Epoche eine
eindeutige Bestimmung des Begriffs,
des Inhalts und der Gestalt gewinnen
lässt, sondern nur die Erkenntnis
einer verwirrenden, spannungsgeladenen räumlichen, ethnischen, kulturellen und politischen Vielfalt.
Der Europa genannte geographische
Raum präsentiert sich im Laufe der
Jahrhunderte mit fließenden geographischen, kulturellen und politischen
Grenzen und dient seit dem Mittelalter für eine Vielzahl von fluktuierenden kulturellen und staatlichen Einheiten, die eifersüchtig um ihre
Selbstbestimmung, Unabhängigkeit
und Freiheit bemüht sind, sich unablässig in Kriege um Macht, Herrschaft, Unabhängigkeit, Religion und
anderes mehr verwickelt haben. Es
ist deshalb verständlich, dass viele
Historiker oder Philosophen „Europa“
weniger als materielle Einheit, sondern als kollektive Imagination, als
geistiges Konstrukt begreifen, etwas,
das gedacht wird.
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In der Geschichtswissenschaft macht seit einigen Jahren das Wort von der „Provinzialisierung Europas“ die
Rede. Oft wird es so verstanden, als sei der Kontinent
gegenüber den aufstrebenden Regionen Amerikas und
Asiens an den Rand gedrängt worden. Der alte Kontinent Europa pendelt heute zwischen Wünschen, Ängsten und der Wirklichkeit. Europa sehnt sich nach Stabilität und Anstand. Das Bedürfnis nach Stabilität ist von
Verunsicherung getrübt. Auf den ersten Blick ist diese
europaweite Verunsicherung aber völlig unbegründet.
Wir leben in Frieden und Wohlstand, genießen einen
hohen Lebensstandard. Dennoch macht die Zukunft
Angst. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle, die Sorge um die Garantie öffentlicher Dienstleistungen (von
der Schule bis zur Rente), das Zuwanderungsproblem,
die demographische Entwicklung, die schwindelerregende Staatsverschuldung, die Umweltbelastung, die
Angst vor neuen Systemkrisen und der wachsende
Populismus schüren die Verunsicherung Tag für Tag.
Europa heute ist ein riesiges Experiment, an dem zahlreiche sehr verschiedene Staaten und Nationen beteiligt sind, von denen man annehmen sollte (und darf),
dass sie eng zusammenarbeiten wollen – unter wechselnden Konstellationen auf dem gesamten Globus.
Europa heute hat den aufgestauten Hass, die territorialen Streitigkeiten, die jahrhundertealten Rivalitäten allmählich hinter sich gelassen. Die Europäische Union ist
ein bahnbrechendes Experiment, ein Modell dessen,
was morgen eine versöhnte Menschheit sein könnte.
Zivilmacht Europa?
Das Streben nach militärischer Handlungsfähigkeit
nach dem Versagen der Europäischen Union auf dem
Balkan Anfang der 1990er Jahre stellt eine Zäsur in der
Gestaltung der EU-Außenbeziehungen dar. Denn noch
Anfang der 1970er Jahre hat sich die Gemeinschaft
zum Leitbild einer „Zivilmacht Europa“ bekannt. In
einem von den EG-Außenministern verfassten „Dokument über die Europäische Identität“ wurde im Dezember 1973 in Kopenhagen das Zivilmachtkonzept zum
normativen Leitbild der EG für die Gestaltung ihrer
1
Außenbeziehungen erhoben. Umgesetzt wurde es vor
allem im Rahmen der europäischen Entwicklungspolitik, denn mit ihrem Engagement als weltweit stärkstes
Geberland staatlicher Entwicklungshilfe betreibt die EU
eine langfristig angelegte Politik der Armutsbekämpfung und damit zugleich der Krisenprävention.
Immerhin war der europäische Integrationsprozess seit
seinen Anfängen auch ein sicherheitspolitisches Projekt, das vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen auf
die nachhaltige Befriedung Europas zielte. Der Gefahr
eines Wiederauflebens aggressiver Nationalismen trat
der europäische Integrationsprozess in zweifacher
Weise entgegen: Zum einen durch die freiwillige Übertragung von Teilen der nationalen Souveränität auf eine
supranationale Ebene und zum anderen durch die kontinuierliche Verdichtung der transnationalen Interdependenzen, die den Nutzen anhaltender Kooperation
auch zwischen ehemals verfeindeten Staaten erhöhte
und so die Gefahr eines erneuten europäischen Krieges fortlaufend minderte. Für Duchêne hatte die EG
damit das Potenzial entwickelt, um ein erstes Zentrum
ziviler Macht im internationalen System zu werden.
Allerdings wirft schon der semantische Gegensatz von
zivil und militärisch Fragen nach der Kontinuität des
außenpolitischen Rollenverständnisses der Gemeinschaft auf: Befindet sich die EU mit ihren verteidigungspolitischen Ambitionen auf dem Weg zur militärischen Interventionsmacht oder verbessert sie lediglich
ihre Fähigkeiten, „im Einklang mit den Prinzipien der
Charta der Vereinten Nationen auf internationaler Ebene zu Frieden und Sicherheit beizutragen“, wie es in
den Erklärungen des Europäischen Rats vom 4. Juni
1999 in Köln heißt?
Seine Idee wurde zu Beginn der neunziger Jahre vom
Trierer Politikprofessor Hanns W. Maull aufgenommen,
der den Begriff Zivilmacht zu einem Konzept weiter3
entwickelte. Das Ziel Maulls war es, mit dem Zivilmachtkonzept die spezifische, sich von anderen Nationen aufgrund ihrer Geschichte und außenpolitischen
Entwicklung unterscheidende japanische und deutsche
Außenpolitik zu typologisieren und zu erklären. Im Laufe der Jahre wurde das Konzept auch von weiteren
Wissenschaftlern dann immer stärker ausdifferenziert
und bildete den theoretischen Rahmen für zahlreiche
4
Analysen zur Außenpolitik Deutschlands und der EU.
Wenn von der Zivilmacht Europa die Rede ist, stellt
sich die Frage: Was ist eigentlich gemeint damit? Eine
Zustandsbeschreibung, die darauf abhebt, dass es der
EU bislang an militärischer Potenz fehlt? Oder eine
Selbstcharakterisierung, mit der die Union sich selbst
zu beschreiben sucht? Oder ein theoretisches Konzept,
über das jedoch keine Einigkeit herrscht? In dem von
François Duchêne Anfang der 1970er Jahre skizzierten
Konzept einer Zivilmacht Europa wurde das friedliche
Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander zum Ausgangspunkt weiterführender Reflexionen über die inter2
nationale Rolle der EG herangezogen.
1 Vgl. Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945-1993, Bonn
1994, S. 302 ff.
2 Vgl. Duchêne, François: Europe’s Role in World Peace, in: Mayne, Richard:
Europe Tomorrow: Sixteen Europeans Look Ahead, London 1972, S. 31-47
Vgl. u.a. Maull, Hanns W.: Zivilmacht Deutschland. Vierzehn Thesen für eine neue
deutsche Außenpolitik, in: Senghaas, Dieter (Hrsg.): Frieden machen, Frankfurt/Main
1997
4 Über die Definition einer Zivilmacht und die Frage, ob die EU als solche einzuordnen ist, wurde seit den ersten Überlegungen ausgiebig diskutiert, ohne dass sich die
Autoren auf eine allgemeine Formulierung der zugrunde liegenden Bestimmungsfaktoren einigen konnten. Erschwerend für eine Konzeptualisierung ist, dass ein Teil der
Literatur Zivilmacht als normatives Ideal darstellt, ohne konkrete Fälle zu testen. Ein
anderer Teil der Autoren bewertet die europäische Außenpolitik anhand selbst
gewählter Indikatoren, die von der eigenen Überzeugung einer gewählten Theorie
beeinflusst sind. Besonders die Diskussion darum, ob durch den Aufbau der ESVP
die Politik der EU noch die einer Zivilmacht sein kann, sind von dieser Dichotomie
geprägt. Michael Blauberger hat in seiner Studie „Zivilmacht Europa? Leitlinien
europäischer Außenpolitik in der Analyse, Marburg 2005“ in diesem Zusammenhang
sinnvollerweise auf Max Webers (1864-1920) Unterscheidung zwischen „Zweckrationalität“ und „Wertrationalität“ verwiesen: „Zivilmächte“ handeln demnach „wertrational“, weil sie bestimmte Werte, die innergesellschaftlich verwirklicht wurden, als
universell gültig ansehen (siehe auch Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft.
Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, erstmals 1922).
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Demnach würde sich der Idealtypus der Außenpolitik
einer Zivilmacht durch folgendes Verhalten auszeichnen:
Kooperatives Handeln vor allem im Rahmen internationaler Institutionen: Die Außenpolitik ist multilateral angelegt und bestrebt, internationale Verhandlungssysteme auszubauen und dadurch einen Beitrag zur Verrechtlichung der internationalen Politik
zu leisten sowie aktive Förderung der Zivilisierung
der zwischenstaatlichen Beziehungen (umfassende
politische und ökonomische Verflechtung um eine
ausgewogene Verteilung des internationalen Wohlstands zu erreichen und damit gegen das Risiko
potenzieller Ressourcenkonflikte vorzugehen).
Bewusster Verzicht auf die Methoden klassischer
Machtpolitik, Präferenz für nicht-militärische Instrumente und Bevorzugung ökonomischer und diplomatischer Mittel: Militärische Mittel werden nur in
Ausnahmesituationen und auf der Basis eines völkerrechtlichen Beschlusses (etwa durch die UNO)
eingesetzt.
Wertgebundene Außenpolitik in Form einer Förderung des internationalen Menschenrechtsschutzes
und der Demokratie (aufbauend auf den Theorien
des Demokratischen Friedens, denen zufolge Demokratien untereinander keine Kriege führen).
Über die Zivilmachtorientierung herrscht weitgehend
Konsens unter den Mitgliedstaaten. Sie eint ein „Verständnis von Außenpolitik, das auf die Herstellung von
positiven Anreizen, von Vertrauen, auf Einbindung und
5
Interdependenz setzt“. Das Selbstverständnis als Zivilmacht kann empirisch unter anderem an der konstruktiven Rolle der EU in den Vereinten Nationen, der
Erweiterungspolitik und teilweise in der Afrika-Politik
nachgewiesen werden, da (neben der Verfolgung anderer Ziele) erhebliche Anstrengungen in der Demokratie- und Menschenrechtsförderung unternommen wor6
den sind.
Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2002, S. 390, sowie Schlotter,
Peter (Hrsg.): Europa – Macht – Frieden? Zur Politik der „Zivilmacht Europa“, BadenBaden 2003. Allerdings werden in den verschiedensten Ländern unterschiedlichste
Vorstellungen damit verbunden. Wie vertragen sich z.B. französische oder englische
Atomwaffen mit dem Begriff einer Zivilmacht? Welche Bedrohungswirkungen haben
Waffenpotenziale generell?
6 Vgl. Jünemann, Annette/Knodt, Michèle (Hrsg.): Externe Demokratieförderung
durch die Europäische Union, Baden-Baden 2007
Trotz seines eindeutig friedenspolitischen Kerns ist das
so beschriebene Zivilmachtkonzept nicht pazifistisch zu
verstehen und deshalb grundsätzlich kompatibel mit
dem Aufbau und Einsatz von Militärkapazitäten. Duchêne befürwortete explizit die Anschaffung von Waffen zu Verteidigungszwecken, denn entscheidend für
den Status einer Zivilmacht ist – nach seinen Vorstellungen – nicht der Besitz (oder Nicht-Besitz) von militärischen Mitteln, sondern der zurückhaltende Umgang
mit diesen Mitteln. Die Bewertung, ob ein Staat bzw.
die EU dem Idealtyp einer Zivilmacht entspricht oder
nicht, hängt allein von der Kongruenz seines politischen Handelns mit den drei aufgeführten Kriterien ab.
In diesem Sinne gilt es zunehmend als legitim und ist
mit dem Verständnis von Zivilmacht vereinbar, wenn
sich demokratische und die Menschenrechte achtende
Staaten in die inneren Angelegenheiten solcher Staaten einmischen, die die demokratischen Spielregeln
nicht beachten oder Menschenrechte massiv verletzen.
Übliche zivile Instrumente der Einflussnahme sind Anreize und Sanktionen im Rahmen der Wirtschafts- und
Finanzkooperation sowie die gezielte Unterstützung der
zivilgesellschaftlichen Gegeneliten autoritärer Regime.
Diese Instrumente sind heute schon integraler Bestandteil aller EU-Abkommen mit Drittländern und als
legitime Instrumente einer Zivilmacht nicht zu beanstanden. Komplizierter wird es allerdings, wenn es um
militärische Instrumente der Einmischung geht, also um
so genannte humanitäre Einsätze.
Immer öfters wird in diesem Zusammenhang auf europäischer Ebene argumentiert, der Zweck – also die
friedensgerichtete Intention – rechtfertige den Rückgriff
auf militärische Mittel. In Betracht gezogen werden
Szenarien, die in den Rahmen der Petersberg7
Aufgaben fallen. Allerdings gibt es bisher keine Kriterien für eine legitime Intervention zur Friedenserzwingung. Fällt ein ohne UN-Mandat geführter Krieg wie der
Kosovo-Krieg in diese Kategorie? Kommen auch Aktionen gegen den Internationalen Terrorismus als kompatible Szenarien in Betracht?
5
7 Am 19. Juni 1992 definierte der WEU-Ministerrat in der Petersberger Erklärung
mögliche Aufgabenfelder für militärische Einsätze: humanitäre Aktionen oder Evakuierungsmaßnahmen; friedenserhaltende Maßnahmen; Kampfeinsätze für das Krisenmanagement, einschließlich Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens.
Historische Entwicklungen
Die wichtigste Rechtfertigung der EU besteht darin,
dass sie die im Untergrund der Geschichte lauernden
Ungeheuer gebannt hat. Um dies zu belegen, muss
man gar nicht bis zu den beiden Weltkriegen zurückgehen. Dass Osteuropa, lange eine Konfliktzone der Nationen und Ethnien, unterdessen durchaus floriert, ist
wesentlich dem Integrationskurs der EU zu verdanken.
Viel Geld aus Brüssel und beharrliche Diplomatie ha-
ben dazu beigetragen, die Sprengsätze zu entschärfen.
Auch für den Balkan kann nur die EU eine Lösung finden, welche die einstigen Kriegsgegner versöhnt und
die Stationierung ausländischer Soldaten überflüssig
macht. Die europäische Integration als Garant von
Frieden, Stabilität und Sicherheit auf dem Kontinent –
diese Idee ist nicht nur etwas für Großväter und Nostalgiker.
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Europa und die USA nach dem Zweiten Weltkrieg
8
Nach dem kriminellen Versuch der Verdeutschung
Europas hatte die Katastrophe des Dritten Reiches den
Überlebenden die Aufgabe hinterlassen, Deutschland
zu europäisieren, wie es der junge Willy Brandt hell9
sichtig im skandinavischen Exil und nach ihm Thomas
Mann bei seiner Versöhnungsreise 1953 nach Lübeck
gefordert hatten. In den Jahren 1944/45 kehrten die
Exilpolitiker überall dorthin zurück, wo die deutschen
Besatzungstruppen zum Rückzug gezwungen wurden.
Zusammen mit Widerstandskämpfern und Menschen,
die in die „innere Emigration“ gegangen waren, sahen
sie ihre vorrangige Aufgabe darin, nationalstaatliche
Demokratien wieder zu errichten oder neu zu schaffen,
mit den Kollaborateuren abzurechnen, ihre vom Krieg
schwer geschädigten Länder wieder aufzubauen und,
sofern sie Kolonialmächte waren, sich aus „nationalem
Interesse“ um die Erhaltung der Kolonialreiche zu bemühen. Die enormen Probleme der wirtschaftlichen
Normalisierung versuchten sie im nationalen Rahmen
zu lösen, obwohl ihre Länder nicht fähig waren, im Alleingang die Kriegsfolgen zu überwinden und ihren
10
Platz im internationalen Handelsaustausch zu finden.
Insgesamt hatte sich Europas Gewicht in der Weltwirtschaft in den ausgehenden 1940er Jahren außerordentlich vermindert, war kaum in der Lage, sich wirk-
sam nach außen zu behaupten und zu sichern, während die Stellung der Vereinigten Staaten erdrückend
11
geworden war. Die politische Führung in Washington
musste akzeptieren, dass es den USA nicht mehr, wie
nach dem Ersten Weltkrieg, möglich sein würde, sich
auf den eigenen Kontinent zurückzuziehen. Es war, so
lautete die Erkenntnis der Experten der amerikanischen
Außenpolitik, unausweichlich, weltweit politisch zu wirken, allein schon im Interesse der eigenen Sicherheit
und des eigenen Wohlergehens und nicht nur wegen
der Verantwortung, die dem Land aufgrund seiner
12
Stärke zugefallen war. Wie weit diese Verantwortung
reichen würde, überblickte die amerikanische Führung
allerdings nicht. Sie ging aber davon aus, dass die
Zusammenarbeit mit der Sowjetunion langfristig angelegt sei und dass Großbritannien und Frankreich stark
genug und willens seien, eine tragende Funktion in der
europäischen Sicherheitsarchitektur zu übernehmen.
Beide Annahmen erwiesen sich als irrig. Die Zerstörung der britischen und der französischen Wirtschaftskraft, die innenpolitische Zerrissenheit Frankreichs und
die Belastungen der beiden Länder durch ihre Anstrengungen, die um ihre Selbständigkeit kämpfenden Kolonien weiter in Besitz zu halten, stellten sich als so
schwer heraus, dass keine der beiden Nationen in der
Lage war, dem Anspruch gerecht zu werden, eine große oder gar Weltmacht zu sein.
Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1960)
Vgl. Machetti, Andreas: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Politikformulierung im Beziehungsdreieck Deutschland – Frankreich – Großbritannien, Baden-Baden 2009, S. 49 ff.
12 In dem als Top Secret eingestuften „Report by the Policy Planning Staff“, Washington, February 24, 1948 (Policy Planning Study 23), wurde von George F.
Kennan bezüglich der Situation der USA formuliert, dass die USA als nur kleiner Teil
der Weltbevölkerung über den größten Teil des weltweiten Reichtums verfügt.
Deshalb sei es notwendig, „ein Schema von Beziehungen zu erarbeiten, das es uns
erlauben wird, diese Position der Ungleichheit zu bewahren“.
11
Vgl. vor allem Junker, Detlev: Kampf um die Weltmacht. Die USA und das Dritte
Reich 1933-1945, Düsseldorf 1988; ders. (Hrsg.): Die USA und Deutschland im
Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch. 2 Bände (I: 1945-1968; II:
1968-1990), Stuttgart/München 2001
9 Vgl. Günther Struve (Hrsg.): Willy Brandt. Draußen. Schriften während der Emigration, München 1966
10 Vgl. die Indexzahlen der industriellen Produktion in den europäischen Ländern bei
Gasteyger, Curt: Europa von der Spaltung zur Einigung, Bonn 2001, S. 58
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Frankreich oder Großbritannien als
Führungsmächte?
Das Nachkriegsfrankreich unter General de
Gaulle erhob den Anspruch, Ordnungsmacht im
Westen des Kontinents zu werden und hier ein
13
„französisches“ Europa zu schaffen. Nach der
festen Überzeugung der französischen Politik war
dies eine notwendige Voraussetzung dafür, dass
Deutschland nie wieder zu einem Krieg fähig oder
zu einem machtvollen Konkurrenten Frankreichs
werden dürfe. Französische Europapolitik war
deshalb in den Nachkriegsjahren vorrangig
Deutschlandpolitik, und sie zielte in einer ersten
Phase darauf, Deutschland zu zerstückeln, das
Rheinland abzutrennen, das Ruhrgebiet als das
industrielle Herz Deutschlands herauszulösen
und es internationaler Verwaltung und Nutzung zu
unterstellen.
Um Deutschland für lange Zeit klein zu halten und
Frankreich als führende Macht im westlichen
Europa zu zementieren, dachte de Gaulle ferner
daran, aus Frankreich mit Einschluss des Rheinlands und des Ruhrgebiets sowie der BeneluxStaaten eine „westliche Gruppierung“ zu schaffen.
Er präsentierte den Plan im Oktober 1945 in
Brüssel, aber die Benelux-Staaten ließen sich
nicht dafür gewinnen. Der in der Folgezeit entwickelte strategische Grundgedanke der französischen Politik gegenüber Deutschland lässt sich in
der Formel der „Kontrolle durch Integration“ zu14
sammenfassen.
Wenn in der Nachkriegszeit auf dem europäischen
Kontinent über Formen der europäischen Sicherheit
und Zusammenarbeit gesprochen wurde, galt es als
unabdingbar, dass Großbritannien mit seinem enormen
Prestige, das es sich im Krieg als Bollwerk gegen NSDeutschland und als Zufluchtsort für Exilpolitiker erworben hatte, dabei sein und die Führung übernehmen
müsse, auch, um eine für die Benelux-Staaten unannehmbare französische Vorherrschaft zu verhindern.
Dagegen gehörte zu den britischen außenpolitischen
Optionen nach dem Krieg zwar ein westeuropäischer
Block. Er sollte nicht nur die westlichen Länder vor
einer potenziellen neuen deutschen Aggression schützen, sondern neben dem Pfeiler des Commonwealth
auch als europäischer Pfeiler für den britischen Großmachtanspruch dienen. Aber „Europa“ stellte dabei
lediglich einen dem Commonwealth und den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten nachgeordneten
Bezugskreis britischer Politik dar. Allerdings war angesichts der sowjetischen Bedrohung auch das besiegte
und seiner Souveränität entkleidete Deutschland allmählich einzubinden, da seine totale Entmachtung und
Ausgrenzung die Gefahr in sich barg, es über kurz oder
Vgl. seine Memoiren, wo es heißt: „Auch sagt mir mein Verstand, dass Frankreich
nicht Frankreich ist, wenn es nicht an der ersten Stelle steht. … Kurz, ich glaube,
ohne Größe kann Frankreich nicht Frankreich sein.“; de Gaulle, Charles: Memoiren
der Hoffnung, Gütersloh 1972
14 Vgl. Ziebura, Gilber: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen
und Realitäten, Stuttgart 1997, S. 81
13
lang der UdSSR in die Arme zu treiben. Die europäische Option wurde aber mit Rücksicht auf die Sowjetunion nicht wahrgenommen, die eine solche Blockbildung als unfreundlichen Akt hätte ansehen können.
Außerdem schreckte die britische Regierung vor jedem
europäischen Engagement zurück, das ihr weitgehende Verpflichtungen und damit eine Einschränkung in
ihrem weltweiten politischen Handeln und den besonderen Beziehungen zum Commonwealth auferlegen
würde. Denn nach dem Sieg 1945 herrschte in Großbritannien die von Zweifeln ungetrübte Überzeugung,
neben den beiden Supermächten USA und UdSSR die
dritte Weltmacht zu sein und ungebunden zusammen
mit den beiden großen Kriegspartnern in den Angelegenheiten der Europa- und Weltpolitik agieren zu können.
1947 verschärfte sich der Ost-West-Gegensatz weiter
und die Vorstellung, von der Sowjetunion bedroht zu
werden, begann das westliche außenpolitische Denken
zu beherrschen. Als sich zeigte, dass Großbritanniens
Kräfte nicht ausreichten, dem Großmachtanspruch in
Asien, dem Vorderen Orient und Europa zu genügen,
kam London kurzzeitig auf die Idee eines westlichen
Blocks als Kraftquelle für die britische Europa- und
Weltpolitik zurück. Ernsthafter aber bemühte sich die
britische Politik darum, die USA als Seniorpartner für
ein atlantisches Sicherheitsbündnis zu gewinnen, anstatt auf ein europäisches Bündnis mit dem schwachen
Partner Frankreich zu vertrauen.
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Die USA als Geburtshelfer Europas
„Wenn es ‚Europa‘ gibt, dann nur, weil es die Amerikaner wollen“, schreibt der englische Historiker Norman
Stone, und er fährt fort, fast alle europäischen Institutionen gäbe es nur, weil die Amerikaner der „Euro15
Anarchie“ ein Ende bereiten wollten. Und von Klaus
Harpprecht, Vertrauter und Freund von Willy Brandt,
stammt der Satz: „Wir mussten nach dem Krieg alle
erst Amerikaner werden, um Europäer werden zu können.“ Die Aussage ist pointiert, aber nicht ohne Berechtigung, wie Beate Neuss in ihrer Studie über die USA
16
als Geburtshelfer Europas nachweist. Ohne den Anstoß durch den Marshall-Plan, ohne die nachdrückliche
Unterstützung der US-Regierungen, ohne das Drängen
und Vermitteln bei der Umsetzung der aufeinander
folgenden Initiativen wäre die europäische Integration,
wenn überhaupt, nicht so schnell und nicht in der Form
verwirklicht worden, wie es geschehen ist.
Seit Herbst 1946 vollzog sich ein tiefer, grundsätzlicher
Wandel in der amerikanischen Deutschland- und Europapolitik. Äußeres Zeichen waren der wirtschaftliche
Zusammenschluss der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zur so genannten Bi-Zone
(1. Januar 1947), die Reduzierung der Demontagen
und das Zurückweisen sowjetischer Ambitionen auf
ganz Deutschland in der Reparationsfrage (Demonta17
ge, Viermächtekontrolle im Ruhrgebiet).
Der Wechsel der US-Politik von der Position gegen
einen europäischen Zusammenschluss zu dessen Förderung lässt sich recht präzise auf das Jahr 1947 datieren. In diesem Jahr zeichnete sich eine weltpolitische
Konstellation ab, mit der die Hoffnungen des Jahres
1945 begraben werden mussten, nach dem Sieg über
Nazi-Deutschland und
Japan ein neues Zeitalter des globalen
Friedens auf den Weg
zu bringen. Die beiden Supermächte, die
1945 je eine Hälfte
Europas dominierten
und ihren Willen zur
Zusammenarbeit bekundeten, steigerten
sich in einen gegenseitigen unerklärten,
18
„Kalten Krieg“ hinein.
Dieses gegenseitige
Misstrauen wurde im
Osten wie im Westen
von Bedrohungsszenarien geschürt. Im
Westen sah man, wie
Osteuropa von einer der Sowjetunion vorgelagerten
Einflusszone in einen politisch geschlossenen Block
von „Volksdemokratien“ unter kommunistischer Herrschaft umgeformt wurde. Das gab Anlass zu immer
schriller geäußerten Befürchtungen, die Politik der
UdSSR sei auf Expansion ausgerichtet, sie wolle ihre
gesellschaftliche und politische Ordnung immer weiter
nach Westen ausdehnen und zu diesem Zweck als
„fünfte Kolonne“ auch die starken kommunistischen
Parteien in Westeuropa, vor allem in Frankreich und
19
Italien, einsetzen.
Der folgenschwere Umschwung der amerikanischen
Politik von der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu
der des „containment“, der Eindämmung des vermuteten Expansionsdrangs der Sowjetunion, fand statt,
nachdem die USA und Großbritannien den Eindruck
gewonnen hatten, dass Stalins Politik darauf ausgerichtet sei, in der dem Westen, bzw. Großbritannien, zugestandenen Einflusszone (Persien, Türkei, Griechen20
land) Fuß zu fassen.
Am 11. März 1947 verkündete Präsident Harry S. Truman in seiner berühmten Rede vor beiden Häusern des
US-Kongresses jene neue Maxime der amerikanischen
Politik, die als „Truman-Doktrin“ in die Geschichte
eingegangen ist. Mit der Truman-Doktrin sagten die
USA allen freien Völkern, die der Unterjochung durch
bewaffnete Minderheiten oder auswärtigem Druck widerstünden, ihren Beistand zu. Demnach stellte Truman Griechenland und die Türkei unter den Schutz
Washingtons und bezog erstmals gegen die sowjeti21
schen Expansionsbestrebungen öffentlich Stellung.
Die Truman-Doktrin markierte den Beginn einer aggressiven amerikanischen Außenpolitik und gab das
Signal für den Aufbruch zu einem antikommunistischen
Kreuzzug. Sie war zugleich das Versprechen einer
festen Bindung der USA an Westeuropa, beinhaltete
aber auch, dass sich die USA fortan bemühen würden,
ein Europa nach ihrem Bilde, nach ihren politischen
Vorstellungen und wirtschaftlichen Bedürfnissen zu
schaffen. Die Containment-Politik führte zur Zunahme
der Konfrontationspotenziale und zur Vertiefung der
Teilung Europas. In den Worten des NATO-Generalsekretärs Lord Ismay: „… to keep the Russians out, the
Americans in and the Germans down.“
Dass Europa auch ein demokratisches Europa nach
dem Demokratieverständnis der USA zu sein habe, war
selbstverständlich. Demokratie aber, davon waren die
USA überzeugt, sei ohne Wohlstand nicht erreichbar,
Wohlstand dagegen sei ohne Demokratie nicht erreichbar, und beides hielt man für untrennbar mit Marktwirtschaft und einer offenen Weltwirtschaft, dem so genannten Wirtschaftsliberalismus, verbunden.
Vgl. Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr,
Frankfurt/Main 1981
20 Georg F. Kennan, 1947–1950 Leiter des Planungsstabes im amerikanischen
Außenministerium, prägte den Begriff „containment“ (Eindämmung). Schon 1946
hatte Kennan begonnen, seine Vorstellungen von einer amerikanischen Eindämmungspolitik zu konzipieren, trat jedoch erst im Juli 1947 mit seiner Theorie in Form
eines Aufsatzes „The Sources of Soviet Conduct“ mit der Unterschrift Mr. X in der
Zeitschrift „Foreign Affairs“ an die Öffentlichkeit.
21 Vgl. Kerschbaumer, Johannes: 60 Jahre Europäische Sicherheitspolitik, Frankfurt/Main 2007
19
Vgl. The European, 14.-17. Mai 1992, S. 21
Vgl. Neuss, Beate: Geburtshelfer Europas. Die Rolle der Vereinigten Staaten im
europäischen Integrationsprozess 1945-1958, Baden-Baden 2000
17 Vgl. Musial, Bogdan: Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der
Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, Berlin 2010
18 Vgl. Nolte, Ernst: Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974; Yergin, Daniel:
Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas, Frankfurt/Main 1979
15
16
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Der Marshall-Plan
Alarmiert kehrte im April 1947 der amerikanische Außenminister George Marshall von der Moskauer Außenministerkonferenz zurück. Dort war es den Alliierten
wiederum nicht gelungen, sich auf eine Regelung der
sie gemeinsam betreffenden Angelegenheiten zu einigen. Marshall befürchtete, die Sowjetunion werde die
trostlose wirtschaftliche Lage in Westeuropa nutzen,
um mit Unterstützung ihrer in den kommunistischen
Parteien und Gewerkschaften organisierten Anhänger
ihren Machtbereich nach Westen auszudehnen. Wenige Wochen später, am 5. Juni 1947, kündigte er in
einer Rede an der Harvard-Universität ein großes wirtschaftliches Hilfsprogramm an, mit dem die USA gedachten, die Truman-Doktrin wirtschaftspolitisch zu
ergänzen und die befürchtete Expansion des Kommunismus abzublocken.
Das „European Recovery Program“ (ERP), bald volkstümlich „Marshall-Plan“ genannt, hatte zum Ziel, die
europäische Wirtschafts- und Wiederaufbaukrise zu
überwinden, die europäischen Länder mit großzügigen
finanziellen und technischen Hilfen in ihren Anstrengungen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zu unterstützen und zur Zusammenarbeit beim Abbau der Handelsschranken und dem Aufbau effizienter wirtschaftlicher Strukturen anzuregen. Die Europäer mussten
nach Meinung der Amerikaner dahin gebracht werden,
ihre Wirtschaftsprobleme als gemeinsame Probleme zu
sehen und anzupacken. Nur dann würde sich die Hilfe
Amerikas voll auswirken und Europa Kraft einflößen.
Marshalls Rede an der Harvard-Universität gilt heute
als ein Schlüsseldokument der Nachkriegsgeschichte,
in dem einige Kommentatoren den eigentlichen Beginn
der europäischen Integration erkennen. Als die Rede
gehalten wurde, erhielt sie nur ein schwaches Echo
und blieb beinahe unbemerkt. Allein der britische Außenminister, Ernest Bevin, reagierte sofort und griff,
wie er später im Unterhaus sagte, mit beiden Händen
zu. Die französische Regierung zeigte sich weniger
begeistert. Sie zögerte, weil sie befürchtete, ein schnelles Zugreifen könne den kommunistisch dominierten
Gewerkschaften den Anlass für einen Generalstreik
gegen das kapitalistische Danaergeschenk geben. Es
war deshalb ein kluger Schachzug von Außenminister
Marshall, auf einer Pressekonferenz am 12. Juni 1947
der Sowjetunion ausdrücklich anzubieten, in die Hilfe
einbezogen zu werden.
Die Sowjetunion lehnte das amerikanische Angebot
wegen angeblich unzumutbarer Eingriffe in die nationalstaatliche Souveränität ab. Die Staaten im Machtbereich der Sowjetunion mussten gezwungenermaßen
ebenfalls ablehnen. Damit kam der Nachkriegsbipolarismus zum Durchbruch. Bis zum Beginn des MarshallPlans schloss der Begriff „Europa“ nach Auffassung der
USA noch Osteuropa ein. Mit der tatsächlichen Durchführung des Plans spaltete sich Europa und der Begriff
verengte sich zunehmend auf jene Völker, die für sich
in Anspruch nahmen, in der Tradition der „westlichen
Zivilisation“ zu stehen und eine gemeinsame „westliche“ Auffassung von Demokratie, freier Wirtschaft und
Gegnerschaft zum Kommunismus zu besitzen.
Verteilung der von den USA gewährten Kredite auf die am Marshall-Plan beteiligten Länder
April 1948 bis Januar 1952 in Mill. US-Dollar
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Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit –
Die OEEC
Nachdem sich 16 europäische Länder im September
1947 auf eine gemeinsame Vorlage an die USRegierung geeinigt hatten, verabschiedete der Kongress im April 1948 das Gesetz über Umfang und
Modalitäten des „Europäischen Wiederaufbauprogramms“ (European Recovery Program, ERP).
Damit nahm der Marshall-Plan Gestalt an. Das Gesetz
sah zwar einerseits bilaterale Verträge vor, verlangte
aber andererseits, die Verwaltung bzw. Verteilung der
Mittel einer gemeinsamen Organisation zu übertragen,
um eine Koordination der wirtschaftlichen Planungen
und Aktivitäten der Empfängerstaaten möglich zu machen. Zu diesem Zweck gründeten die 16 Regierungen
und die Militärgouverneure treuhänderisch für die drei
westdeutschen Besatzungszonen die „Organization
22
for European Economic Co-operations“ (OEEC).
Der Marshall-Plan enthielt eine Anzahl spezifischer
Zielsetzungen wie den Ausbau der Handelsbeziehungen, Zollsenkungen, den Auftrag, die Errichtung von
Zollunionen oder Freihandelszonen zu untersuchen,
die Währungen zu stabilisieren, für ausgeglichene
Etats zu sorgen und Vollbeschäftigung anzustreben.
Kurz, das ERP sollte die westeuropäische Wirtschaft zu
einer liberalen, freien markwirtschaftlichen Ordnung
nach US-Vorbild umformen und sie in eine offene
Weltwirtschaft einbringen. Gleichzeitig bildete sie den
organisatorischen Rahmen für die Verteilung der Hilfsmittel, die sich bis zum Ende des Programms (19481951) auf 13 Milliarden Dollar summierten. Das waren
immerhin 15% des amerikanischen Staatshaushalts
und 3% des Nationaleinkommens.
Die OEEC, der sich 1959 Spanien anschloss, wurde mit dem Pariser Abkommen
vom 14. Dezember 1960 zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung – Organization for Economic Cooperation and Development (OECD)
umbenannt.
22
An die westdeutschen Zonen bzw. die Bundesrepublik
gingen einschließlich Berlin-West Güter im Ausmaß
von ca. 1,3 Milliarden Dollar. Im Rahmen des
„Government Aid for Recovery in Occupied Areas“
(GARIOA)-Programms erhielt Westdeutschland noch
23
etwa 1,62 Milliarden Dollar. Die Bundesrepublik zahlte aufgrund ihres Abkommens vom 15. Dezember 1949
jedoch bis 1978 insgesamt 1,1 Milliarden Dollar an die
USA zurück. Politisch gesehen diente Westdeutschland
vor allem als Instrument der Politik des
„containment“ und wurde wirtschaftlich und gesellschaftlich zu einem anti24
kommunistischen Bollwerk aufgebaut.
Das Urteil der Historiker über den
Marshall-Plan ist keineswegs einhellig.
Die Kontroversen betreffen die amerikanischen Motive für die Hilfe, den
Anteil des Marshall-Plans am europäischen Wirtschaftsaufschwung und seine Bedeutung für die westeuropäische
Integration. Die Amerikaner propagierten den Marshall-Plan als humanitäres
uneigennütziges Hilfsprogramm; in Gedenkreden und im kollektiven Bewusstsein lebt dieses Bild bis heute fort. In
Wirklichkeit trafen Selbstlosigkeit und
Eigeninteresse auf das Engste zusammen. Die USA besaßen ein überaus
großes Interesse an der „Rettung“
Westeuropas, das wegen seiner geopolitischen Lage und seiner gewaltigen
Ressourcen auf keinen Fall in die Hände des weltpolitischen Konkurrenten
Sowjetunion fallen durfte. Außerdem war die amerikanische Wirtschaft, wenn sie nicht in eine Krise geraten
sollte, zwei Jahre nach Kriegsende dringend darauf
angewiesen, einen Absatzmarkt für ihre Überschuss25
produktion zu erhalten. Das „Hilfs“-Programm war
also zugleich ein Absatzförderungsprogramm für die
amerikanische Wirtschaft und ein Programm zur
Durchsetzung einer liberalen Weltwirtschaft im Interesse der kapitalistischen Großmacht Amerika.
Ein Vergleich zeigt, dass die GARIOA-Mittel höher waren, als die Gesamtsumme
des ERP für Westdeutschland. Die rein zahlenmäßige Betrachtung ist allerdings
dahingehend zu differenzieren, dass es sich bei den GARIOA-Lieferungen weitgehend um Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter handelte, während erhebliche Teile
des ERP direkt in den Investitionsgüterbereich flossen und sich auf die Entwicklung
der industriellen Produktion auswirkten. Insgesamt bleibt festzustellen, dass die
Vereinigten Staaten bei der Formulierung und Durchführung des Marshall-Plans ihre
nationalen Interessen höchst wirkungsvoll eingebracht haben, während den Europäern wenig Möglichkeiten blieben, ihre Interessen durchzusetzen, soweit sie nicht mit
den amerikanischen Vorstellungen vom europäischen Wiederaufbau übereinstimmten. So mussten 50% aller Hilfsgüter auf amerikanischen Schiffen und unter dem
Schutz amerikanischer Versicherungsgesellschaften transportiert werden – eine
Bestimmung, die bis Oktober 1948 allein 12% der bis dahin geleisteten Zahlungen
kostete. Landwirtschaftliche Produkte konnten mit Marshall-Plan-Geldern nur aus
amerikanischen Überschüssen gekauft werden, selbst dann, wenn sie auf anderen
Märkten – etwa der Dritten Welt – billiger zu haben waren. Pläne zur Errichtung
europäischer Erdölraffinerien wurden nicht genehmigt, stattdessen mussten die
Europäer Öl amerikanischer Firmen zu überhöhten Preisen einführen; Mitte 1950
belief sich der Anteil allein des Erdöls an den gesamten Marshall-Plan-Lieferungen
auf 11%.
24 Vgl. Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr,
Frankfurt/Main 1981, S. 67 ff.
25 Wirtschaftlich waren die USA gezwungen, durch die Reduzierung des Verteidigungshaushalts von 80 Mrd. $ auf 12 Mrd. $ Verwerfungen der Wirtschaft zu kompensieren. Dafür bot sich der Markt Europa geradezu an.
23
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Der Europarat
Die erste, von den Europäern selbst hervorgebrachte
internationale Organisation, die möglichst viele europäische Staaten integrieren sollte und wegen ihrer fehlenden außen- und sicherheitspolitischen Kompetenz
sogar neutrale Staaten zu ihren Gründungsmitgliedern
zählte, ist der Europarat. Er wurde 1949 mit dem Ziel,
die europäische Einheit und Zusammenarbeit zu stärken, von den Staaten des Brüsseler Pakts sowie Dänemark, Irland, Italien, Norwegen und Schweden gegründet und entwickelte sich schnell zur mitgliederstärksten europäischen Organisation (sie ist es mit
aktuell 47 Mitgliedstaaten bis heute), die aber mit der
EU und ihren Vorläufern in keinerlei institutionellem
Zusammenhang steht.
Der Europarat ist der erste institutionelle Ausfluss der
vielgestaltigen europäischen Idee. Mit seiner berühmten Züricher Rede im September 1946, als Winston
Churchill so „etwas wie die Vereinigten Staaten von
Europa“ (denen er Großbritannien natürlich aus historischen Gründen nicht zurechnen wollte) forderte, zog er
die Aufmerksamkeit der Europavisionäre unterschiedlicher Ausrichtung auf sich.
Aufgrund der Bedrohung durch die Sowjetunion – ausgelöst durch die Korea-Krise 1950 – nahm im selben
Jahr der Europarat in Straßburg mit 89 Für- und 5 Gegenstimmen sowie 27 Enthaltungen den Vorschlag des
damaligen britischen Oppositionsführers Winston Churchill an, eine „europäische Armee“ im Rahmen der
NATO zu gründen.
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
(EGKS) – Montanunion
Deutschland und Frankreich, vorgesehen war aber
auch eine Beteiligung anderer europäischer Staaten.
Ein wichtiger Schritt im Prozess der europäischen Integration sowie eine ebenso wichtige Aktion im sicherheitspolitischen Bereich stellte die Unterzeichnung des
Vertrages über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahre 1951, auch die Montanunion
genannt, dar. Der Sicherheitsgedanke stand im Vordergrund als der französische Außenminister Robert
Schuman, der in der Europäischen Einigung eine notwendige Voraussetzung zur Wahrung des Weltfriedens
sah, am 9. Mai 1950 im Namen seiner Regierung vorschlug, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und
Deutschlands zusammenzulegen und einer gemeinsamen supranationalen Hohen Behörde zu unterstellen.
Der so genannten „Schuman-Plan“, wie die Initiative
alsbald genannt wurde, richtete sich in erster Linie an
Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion
sollte die Voraussetzungen für eine gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung – als erste Etappe der europäischen Einigung – schaffen. Der deutsch-französische
Gegensatz wurde von ihm als maßgebliche Hürde auf
diesem Weg betrachtet. So wollte Schuman dafür sorgen, „dass jeder Krieg zwischen Frankreich und
Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell
unmöglich ist“. Großbritannien teilte am 3. Juni 1950
mit, es könne und wolle nicht an den Verhandlungen
teilnehmen, die später zum Vertrag über die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS
oder Montanunion) führten. Der Vertrag über die EGKS
wurde am 18. April 1951 durch Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten unterzeichnet.
9
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Militärische Allianzen – Vom Vertrag von Dünkirchen bis zur NATO
Die wirtschaftliche, politische und rechtliche Integration
in Westeuropa in den Jahrzehnten nach 1945 wäre
ohne die militärische Orientierung an die USA nicht
durchführbar gewesen. Für die gerade der NS-Herrschaft entronnenen westeuropäischen Staaten, insbesondere Frankreich, hieß Sicherheitspolitik in den ersten Nachkriegsjahren vor allem, ein Wiedererstarken
Deutschlands zu verhindern und Vorkehrungen für den
Fall der Erneuerung einer deutschen Aggressionspolitik
zu treffen.
Als die Amerikaner und Engländer aus wirtschaftlichen
Gründen Anfang 1947 die von ihnen besetzten Zonen
in Deutschland zur Bi-Zone zusammenschlossen, sah
Frankreich darin eine Bedrohung seiner Sicherheit
26
durch ein wiedererstarkendes Deutschland.
Um
Frankreich dieses Bedrohungsgefühl zu nehmen,
schloss England mit Frankreich den „Vertrag von
Dünkirchen“ (4. März 1947). Der Vertrag erstreckte
sich auf Maßnahmen zur kollektiven Verteidigung sowie zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zusammenarbeit und war ausschließlich gegen ein mögli27
ches Wiedererstarken Deutschlands gerichtet.
Angesichts der Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes
im Jahre 1947 waren beide Staaten immer stärker daran interessiert, die USA für eine nachhaltige Beteiligung an der militärischen Verteidigung Westeuropas zu
gewinnen. Wie im Falle der Wirtschaftshilfe erwarteten
die USA aber als Zeichen des guten Willens erstmals
eigene Anstrengungen der Europäer.
Im Januar 1948 wandten sich die Außenminister Bevin
und Bidault an die Benelux-Staaten. Diese wollten keinen reinen Militärpakt, sondern schlugen ein weitergehendes Abkommen vor. Dafür erhielten sie Rückendeckung aus Washington, und so erfolgten die Verhandlungen auf der Grundlage ihres Vorschlags. Immer
noch aber war das deutsche Schreckgespenst so gegenwärtig, dass der Vertrag ausdrücklich auf eine
eventuelle deutsche Aggression Bezug nehmen musste, auch um der Sowjetunion keine Gelegenheit zu
geben, sich provoziert zu zeigen, selbst wenn eine
Bedrohung durch Deutschland nicht mehr recht in die
Zeit einer eher wahrscheinlichen sowjetischen Expansion passen wollte.
Am 17. März 1948 kam es zur Unterzeichnung des
„Brüsseler Pakts“, zu dem sich Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten zusammenschlos28
sen. In der Präambel und in Art. VII wurde als Ziel die
Verhütung einer deutschen Aggression betont. Der
ausgehandelte Vertrag erfüllte, wenn auch in abgeschwächter Form, Ansprüche der Benelux-Staaten. Er
legte in seinen Artikeln, über die Pflicht zum automatischen militärischen Beistand hinaus, eine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit fest.
Entscheidend für den Abschluss dieses Bündnisses
war der kommunistische Staatsstreich in Prag am
22.2.1948. Der Pakt wurde also einerseits wegen der
realen Bedrohung durch Stalins Sowjetunion, andererseits vorsorglich aus Furcht vor einem irgendwann
wiedererstarkenden Deutschland abgeschlossen.
Das besiegte und besetzte Deutschland musste in dieser Zeit 12 Millionen Flüchtlinge integrieren, vier Millionen Menschen waren kriegsversehrt, 70% der Städte
zerstört.
27 Dünkirchen wurde als symbolischer Ort bewusst gewählt: Hier gelang vom 27. Mai
bis zum 4. Juni 1940 dem britischen Expeditionskorps mit rund 224.000 Soldaten
und weiteren 95.000 verbündeten Soldaten, hauptsächlich Franzosen, die Flucht mit
alliierten Schiffen aus dem Brückenkopf von Dünkirchen über den Kanal. Zu verdanken war dies zu einem großen Teil Hitlers persönlichem Eingreifens. Nachdem seine
Panzer den Norden Frankreichs überrollt und die britische Armee von ihrem Stützpunkt abgeschnitten hatten, gebot Hitler ihnen in dem Augenblick Halt, als sie
Dünkirchen nehmen wollten, den letzten Fluchthafen, der den Briten noch offenstand. Hitler hielt seine Panzer drei Tage lang an. Dies rettete die britischen Streitkräfte. Vgl. Hart, Liddell: Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Wiesbaden 1977,
S. 105 ff.
26
Drei Monate nach Abschluss des Brüsseler Pakts begann die totale sowjetische Blockade gegen die Westsektoren Berlins (Juni 1948) und damit war offenkundig, dass mögliche Bedrohungen für die westeuropäischen Demokratien in absehbarer Zeit nicht von
Deutschland, sondern von der Sowjetunion zu erwarten
waren. Als gemeinsames Organ errichtete dieses
Bündnis einen Konsultativrat aus den Außenministern
der fünf Staaten und einen Verteidigungsrat aus den
Verteidigungsministern. Dieser trat zum ersten Mal
Ende April 1948 in London zusammen, um die Verteidigungsmaßnahmen abzustimmen. Amerikanische und
kanadische Beobachter nahmen daran teil.
Die sowjetische Blockade Berlins gab den Anstoß, ein
gemeinschaftliches Oberkommando zu schaffen, mit
dem britischen Feldmarschall Montgomery als Oberbefehlshaber und mit französischen und englischen
Offizieren als Befehlshabern der zusammengefassten
Wichtigste Bestimmung des Brüsseler Vertrages war die in Artikel 4 enthaltene
Verpflichtung der Signatarstaaten zu automatischem militärischem und anderem
Beistand, das heißt ohne vorherige Konsultation oder Aufforderung, im Falle eines
„bewaffneten Angriffs in Europa“.
28
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Teilstreitkräfte. Im September 1948 beschlossen die
Verteidigungsminister der fünf Brüsseler Vertragsstaaten in London, eine gemeinsame Verteidigungsorganisation aufzubauen. Nachdem sie mit ihren Generalstabschefs
einen
militärischen
Ost-WestStärkevergleich erarbeitet hatten, mussten sie jedoch
einsehen, dass die wirtschaftlichen und militärischen
Möglichkeiten der Brüsseler-Pakt-Staaten nicht ausreichten, um einen eventuellen Angriff der Sowjetunion
abzuwehren. Die wachsende und unmittelbare militärische Bedrohung durch den Ostblock, dessen Staaten
bereits durch zweiseitige Verträge mit der Sowjetunion
ein eng zusammenarbeitendes Militärpotenzial unter
sowjetischer Führung waren, schien so groß, dass es
auf Veranlassung Großbritanniens zu Verhandlungen
mit den Vereinigten Staaten und Kanada kam, um das
westeuropäische Verteidigungsbündnis über den Atlantik auszudehnen und damit wesentlich zu stärken.
Die Vereinigten Staaten waren bereit, das zerstörte
Gleichgewicht in Europa im Sinne einer föderativen
Struktur wieder herzustellen, bis die europäischen
Staaten selbst in der Lage sein würden, der sowjetischen Macht gegenüberzutreten. Der amerikanische
Präsident war jedoch aus rechtlichen Gründen nicht
befugt, schon in Friedenszeiten einen Beistandspakt
abzuschließen. Dazu benötigte er gemäß Art. II, Abschnitt 2 der amerikanischen Verfassung die Zustimmung des Senats. Aus diesem Grunde brachte der
Senator und republikanische Mehrheitsführer im Senat,
A. Vandenberg, einen Resolutionsentwurf im Senatskomitee für Auswärtige Angelegenheiten ein. Mit dieser
so genannten Vandenberg-Resolution, die der Senat
am 11. Juni 1948 mit 64 gegen 4 Stimmen annahm,
wurde die grundsätzliche Möglichkeit geschaffen, sich
an regionalen und kollektiven Sicherheitsabkommen zu
beteiligen, soweit diese im Rahmen der Charta der
Vereinten Nationen abgeschlossen wurden.
Das Fünf-Mächte-Abkommen vom 17. März 1948, der
„Brüsseler Pakt“, ebnete also in Washington dem
„Vandenberg amendment“ den Weg, einem durch den
Kongress verabschiedeten Verfassungszusatz. Das
„amendment“ beendete mit die traditionelle Isolationspolitik der USA und erlaubte, Militärbündnisse schon in
Friedenszeiten abzuschließen. Nach der Wiederwahl
Trumans zum Präsidenten der USA war der Weg für
die Verhandlungen frei, die am 4. April 1949 zum Atlantikpakt bzw. zur Gründung der „NATO“ (North Atlantic
Treaty Organization) durch zehn europäische Länder,
die USA und Kanada führten.
Das Militärbündnis sah u.a. eine wirtschaftliche und
politische Kooperation vor (Artikel 2), eine Konsultationspflicht (Artikel 4) sowie eine gemeinsame militärische Verteidigung bei einem bewaffneten Angriff auf
ein oder mehrere Mitglieder, allerdings ohne automati29
scher Beistandspflicht (Artikel 5) sowie eine ständige
politische und militärische Organisation (Artikel 9).
In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vereinbarten die Vertragsparteien „dass ein
bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika
als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbarten daher, dass
im Falle eines solchen Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der
Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Bei29
Das Bündnis mit Sitz in Evere bei Brüssel entstand vor
dem Hintergrund kommunistischer Expansionsbestrebungen in Ostmittel- und Südosteuropa und Bedrohungsszenarien des sich verschärfenden Kalten Krieges. Die Sowjetunion zog erst am 14. Mai 1955 mit der
Gründung des Warschauer Pakts nach. Das geteilte
und militarisierte Europa war damit volle Realität ge30
worden und definitiv zwischen die Fronten geraten.
Am 4. April 1949 wurde der Nordatlantik-Vertrag in
Washington von zwölf Staaten unterzeichnet:
Den fünf Staaten des Brüsseler Pakts;
Dänemark, Island, Italien, Norwegen, Portugal;
USA, Kanada.
Die Mitgliedschaft Spaniens, Westdeutschlands und
Österreichs wurde als politisch inopportun verworfen,
Schweden verzichtete aus Rücksicht auf Finnland.
1952 traten Griechenland und die Türkei, 1955 die
Bundesrepublik dem Bündnis bei. Westdeutschland,
einschließlich West-Berlin, wurde durch die westlichen
Besatzungsmächte in das Vertragsgebiet einbezogen
und zunächst durch die Garantien des Bündnisses
abgesichert, obwohl die Teilnahme am Bündnis zu
dieser Zeit nie ernsthaft diskutiert wurde. Die Welt wur31
de zunehmend in zwei Machtpole geteilt.
stand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken
mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von
Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ Ein solcher Bündnisfall würde
jedoch keinen Automatismus bezüglich militärischer Reaktionen auslösen. Vielmehr
hätte jedes Mitglied die freie Entscheidung, welchen Beitrag es zu leisten bereit
wäre, um Sicherheit wiederherzustellen. Bis 1999 wurde allgemein davon ausgegangen, dass der Bündnisfall nur als Folge eines staatlichen Angriffs ausgerufen
werden könne. Erst durch das 1999 in Washington verabschiedete Strategische
Konzept wurde festgehalten, dass auch terroristische Angriffe unter Artikel 5 des
NATO-Vertrags fallen sollen und somit einen Bündnisfall auslösen können.
Der bisher erste derartige und einzige Bündnisfall wurde als Folge auf den Terrorangriff auf die Vereinigten Staaten vom 11. September 2001 von den USA ausgerufen.
Diese Ausrufung erfolgte einen Tag nach den Anschlägen, formal beschlossen
wurde der Bündnisfall jedoch erst am 4. Oktober 2001, zwei Tage nachdem die USA
Beweise vorgelegt hatten, die einen Angriff durch die Taliban bzw. Al Qaida auf die
USA belegten. Als Folge der Ausrufung des Bündnisfalls vereinbarten die NATOMitglieder eine Reihe von Maßnahmen, unter anderem den Austausch nachrichtendienstlicher Informationen, uneingeschränkte Überflugrechte und Zugang zu Häfen
und Flugplätzen im Beitrittsgebiet durch die US-Streitkräfte und die Entsendung
eines ständigen Flottenverbandes der NATO in das östliche Mittelmeer (Operation
Active Endeavour).
Für Deutschland bedeutete der Eintritt des Bündnisfalls zunächst förmlich die
Feststellung des Bündnisfalls durch die Bundesregierung und die Verkündung im
Bundesgesetzblatt. Der Bündnisfall würde es der Bundesregierung erlauben, Notstandsmaßnahmen in Kraft zu setzen, die demokratischen Rechte einzuschränken
oder aufzuheben. Die Bundesregierung könnte damit beinahe uneingeschränkte
Vollmachten erhalten.
Das Ausrufen des Bündnisfalls hat Kritik hervorgerufen. Neben der PDS-Fraktion im
Deutschen Bundestag, die den Bündnisfall im April 2002 als nicht länger gegeben
sah, hat unter anderem der Völkerrechtler Manfred Rotter die Völkerrechtswidrigkeit
der Militäraktion der Vereinigten Staaten erklärt. Seiner Meinung nach liege nach
dem Völkerrecht nämlich „auf gar keinen Fall eine Kriegssituation vor.“ Da keine
zwei Völkerrechtssubjekte miteinander im Krieg stünden, die Anschläge nicht
unmittelbar oder mittelbar dem afghanischen Staat zugerechnet werden können, ist
die Bezeichnung Krieg und die Ausrufung des Bündnisfalls problematisch.
30 Vgl. Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?
München 2008
31 Parallel zum ERP-Programm wurde das erste globale US-Militärhilfe-Programm
der Ära des Kalten Krieges gestartet. Präsident Harry S. Truman unterzeichnete am
6. Oktober 1949 das US-Gesetz „Mutual Defense Assistance Act“ (MAP). Es unterstützte den Aufbau militärischer Kapazitäten weltweit.
11
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Der Pleven-Plan
32
Am 25. Juni 1950 brach der Koreakrieg aus, in den die
33
USA mit einem Mandat der UNO eingriff. Damit verschärfte sich nicht nur der Kalte Krieg in Europa, sondern Vergleiche zwischen dem geteilten Korea und
dem geteilten Deutschland nährten auch Befürchtungen, so wie Südkorea aus dem Norden überfallen worden sei, könne Westdeutschland eine Invasion aus
dem Osten erleben. Ja ganz Westeuropa schien von
der sowjetischen Expansionspolitik bedroht zu sein:
„An eine konventionelle Verteidigung des Kontinents
war wegen der gewaltigen militärischen Übermacht der
Roten Armee nicht zu denken. Die sowjetischen Panzer würde man wohl erst an den Pyrenäen aufhalten
34
können“, orakelten militärische Fachleute.
Der Krieg beanspruchte den militärischen Apparat der
Vereinigten Staaten aufs Äußerste und Lageanalysen
ergaben, dass die USA im Falle eines militärischen
Konflikts mit der Sowjetunion nicht in der Lage sein
würden, der gerade gegründeten NATO genügend
militärische Ressourcen zur Verfügung zu stellen. 1949
hatten die USA bereits durch das Zünden der ersten
sowjetischen Atombombe das Nuklearwaffenmonopol
verloren, deshalb mussten konventionelle Fähigkeiten
gerade in Europa wieder gestärkt werden.
Aus US-Sicht war es in der Folge notwendig, die Bundesrepublik Deutschland in die Verteidigung WesteuroVgl. Volkmann, Hans-Erich/Schwengler, Walter (Hrsg.): Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung, Boppard 1985; Köllner,
Lutz (Hrsg.): Die EVG-Phase. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956,
Militärgeschichtliches Forschungsamt, Band 2, München 1990; Schöttli, Thomas U.:
USA und EVG: Truman, Eisenhower und die Europa-Armee, Bern 1994; Noack,
Paul: Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Entscheidungsprozesse vor und nach dem 30. August 1954, Düsseldorf 1979
33 Am 25. Juni 1950 überquerten Truppen des kommunistischen Nordkorea – nach
zahlreichen Grenzverletzungen durch Südkorea – den 38. Breitengrad und begannen einen Eroberungszug in Südkorea. Bereits drei Monate später hatten sie fast die
gesamte koreanische Halbinsel unter ihre Kontrolle gebracht. In drei schrecklichen
Kriegsjahren kamen 500.000 koreanische, 36.000 amerikanische und 400.000
chinesische Soldaten ums Leben. Insgesamt wird die Zahl der Kriegsopfer auf drei
Millionen geschätzt. Als am 27. Juli 1953 in Pammunjom das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, stellte man den Status quo vor dem Kriege wieder
her. Die Teilung des Landes war zementiert. Seit dem 27. Juli 1953 herrscht lediglich
ein Waffenstillstand zwischen den hochgerüsteten koreanischen Teilstaaten.
34 Vgl. Neitzel, Sönke: Republik und Armee – ein gespaltenes Verhältnis, in:
Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60
Jahren, Köln-Weimar-Wien 2008, S. 353
32
pas mit einzubinden. Unvermutet wurde die deutsche
Wiederbewaffnung viel früher zu einem Thema, als
man gedacht hatte. Die USA setzten die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auf die Tagesordnung
der am 12. September 1950 in New York beginnenden
Außenministerkonferenz und bedrängten ihre Partner,
den NATO-Verteidigungsausschuss zu beauftragen,
Empfehlungen über die Methoden zu unterbreiten, mit
denen Deutschland einen militärischen Beitrag zur
35
Verteidigung Westeuropas leisten könne. Die Idee,
Deutschland wieder zu bewaffnen, war bis zu diesem
Zeitpunkt bereits häufiger öffentlich diskutiert worden,
aber die entschiedene amerikanische Forderung, dies
nun zu tun, bestürzte die Verbündeten, vor allem
Frankreich. Seit 1945 verfolgte die französische Politik
unverrückbar das Ziel, Deutschland nie wieder zu einer
Militärmacht werden zu lassen. Eine Sicherung vor neu
aufgestellten deutschen Einheiten konnte darin bestehen, sie ohne eigene Führung direkt der NATO zu unterstellen oder in eine europäische Armee einzugliedern. Eine europäische Lösung schlug Winston Churchill im März 1950 mit einer spektakulären Rede im
Londoner Unterhaus vor.
Frankreich befürchtete als Folge des Koreakriegs ein
Scheitern des gesamten französischen Masterplans,
Deutschland unter französischen Bedingungen nach
und nach Einlass in ein starkes Vereinigtes Europa zu
gewähren und damit die deutsche Gefahr auf immer zu
bannen. Mit der Unterstellung deutscher Truppen unter
die Oberhoheit der NATO würde Westdeutschland der
französischen Kontrolle entgleiten und unter den beherrschenden Einfluss der USA geraten. Verständlich
daher, dass der französische Ministerpräsident René
Pleven am 24. Oktober 1950 vor der französischen
Nationalversammlung „für eine gemeinsame Verteidigung die Schaffung einer europäischen Armee“ vorschlug, „die mit den politischen Institutionen des geeinten Europas verbunden ist“.
Gegen den „Pleven-Plan“ hatte Bundeskanzler Adenauer mehrere Einwände. Abgesehen davon, dass
Deutschland auf diese Weise nur als minderberechtigter Partner an der Europaarmee beteiligt werden sollte,
also mit der Armee gerade nicht die Gleichberechtigung erreicht werden würde, die Adenauer mit dem
Angebot der deutschen Wiederaufrüstung einforderte,
meinte er, dass die Verteidigungskraft einer so zusammengewürfelten Armee völlig unzulänglich sei. Erst
nach mehrfacher französischer Intervention rang er
sich – trotz der diskriminierenden Passagen des Pleven-Plans – dazu durch, am 8. November 1950 vor
dem Bundestag den Vorschlag zu begrüßen. In der
großen Bundestagsdebatte wandten sich Sozialdemokraten und das Zentrum leidenschaftlich gegen jede
Form deutscher Wiederbewaffnung. Damit begann eine
dramatische innenpolitische Auseinandersetzung, in
der sich mehrere Jahre lang zwei Lager unversöhnlich
36
gegenüberstanden.
Vgl. Kreft, Michael: Die Europäische Union als Sicherheitsinstitution. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft
im kulturell-institutionellen Kontext der Europäischen Integration, Osnabrück 2002
36 Vgl. Kapitel 4: Die Anfänge einer Sicherheitspolitik und das Ringen um den
Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland, in: Barth, Peter/Pfau, Günter/Streif, Karl: Sicherheitspolitik und Bundeswehr, Frankfurt/Main 1981, S. 147-199
35
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Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
Ab Januar bzw. Februar 1951 fanden parallele Verhandlungen auf dem Petersberg bei Bonn und in Paris
statt. Für die Bundesregierung besaßen die sofortige
Aufstellung deutscher Verbände und der Beitritt zur
NATO, dem großen Militärbündnis des Westens, unbedingte Priorität. Nur diese Lösung garantierte eine sofortige volle Mitsprache und Gleichberechtigung. Sie
richtete deshalb ihre volle Aufmerksamkeit und Energie
auf die Verhandlungen auf dem Petersberg und vernachlässigte die über die Europaarmee. Die Einladung
nach Paris hatten neben der Bundesrepublik nur Italien
Belgien und Luxemburg angenommen. Erst ab Oktober
1951 kamen die Niederlande dazu. Sie hatten die größten Bedenken, Souveränität auf supranationale Einrichtungen (d.h. dem Konzept der Integration unterliegend)
zu übertragen.
Andererseits bemühten sich die Franzosen mit aller
Kraft, die Amerikaner definitiv auf ihr Modell zu verpflichten. Aber erst als die Franzosen im Juli 1951 General Eisenhower, den neuen Oberbefehlshaber der
NATO und späteren US-Präsidenten, davon hatten
überzeugen können, dass eine überhastete Aufstellung
deutscher Divisionen nur um den Preis der Feindschaft
zwischen den Völkern erreichbar und gegen Paris nicht
durchsetzbar wäre, akzeptierten die Amerikaner, dass
nur noch über eine Europaarmee verhandelt werden
sollte. Im September 1951 zwangen sie die Bundesrepublik zum Einlenken. Deutsche Truppen würden nicht
vor dem Zustandekommen der EVG aufgestellt werden, und ebenso würde die Bundesrepublik ihre volle
Souveränität, d.h. die Ablösung des Besatzungsstatuts,
erst nach Vertragsabschluss erhalten.
Das Ergebnis der verwickelten weiteren Verhandlungen
befriedigte niemanden. Am 27. Mai 1952 wurde der
EVG-Vertrag von den sechs Montanunion-Staaten unterzeichnet. Zusatzverträge banden Großbritannien
zwingender als durch die in dem entsprechenden Artikel des NATO-Vertrages formulierte Beistandsverpflichtung in den EVG-Vertrag ein und gliederten die EVG
der NATO militärisch an.
Der Vertrag sah zwar eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) mit gemeinsamen Institutionen, gemeinsamen Streitkräften – 44 Divisionen mit
jeweils rund 13.000 Mann, davon 14 französische und
12 deutsche – und ein gemeinsames Budget vor, aber
das supranationale Element in der Führung war nur
schwach ausgebildet. Die Bundesrepublik hatte nur
eine begrenzte Statusverbesserung durchsetzen können. In der Bundesrepublik wurde der Vertrag nach
kontroversen parlamentarischen Auseinandersetzungen am 19. März 1953 vom Bundestag angenommen.
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37
Der Vertrag war ein kompliziertes Gebilde. Aber trotz
seiner raffinierten Bestimmungen bot er der französischen Nationalversammlung nicht genügend Garantien, und sie machte nach der ersten Lesung ihre Zustimmung von Vorbedingungen abhängig. Damit begann eine Politik der immer schärfer gefassten Vorbedingungen, die es der Nationalversammlung erlaubte,
die endgültige Entscheidung länger als zwei Jahre hinauszuzögern.
Das französische Ratifizierungsverfahren entwickelte
sich zu einer beinahe unendlichen Geschichte. Ausschlaggebend für die Zurückweisung des Vertrages
waren wohl die nationalistischen Aufwallungen, die
Frustration über die eigene Schwäche, die deprimierende Überforderung durch den Kolonialkrieg in Indo38
china (Fall von Dien Bien Phu) und die demütigende
politische und materielle Abhängigkeit von den USA.
Am 29. August 1954 begann, mehr als zwei Jahre nach
der Unterzeichnung des Vertrages, die entscheidende
Debatte in der französischen Nationalversammlung.
Der radikalsozialistische Ministerpräsident Pierre Mendès-France legte den Vertrag lustlos ohne wirkliches
Engagement vor: Er erklärte sich für neutral. 72 Abgeordnete standen auf der Rednerliste, nur etwa 10 kamen zu Wort. Nach der Schlussabstimmung über den
Antrag, den Vertrag nicht weiter zu beraten und ihn gar
nicht erst zur Abstimmung kommen zu lassen, der eine
39
Mehrheit von 319 gegen 264 Stimmen erhielt,
klatschten die Gegner wild Beifall. Die extreme Rechte
und die extreme Linke erhoben sich von den Bänken
und sangen die Marseillaise, unterbrochen durch „Moskau! Moskau!“-Rufe aus der Mitte. Gegner der EVG
waren auch Frankreichs Präsident Vincent Auriol sowie
General Charles de Gaulles Rassemblement du Peuple
Français, sie votierten gegen eine sich ihrer Meinung
dadurch erfolgende Entnationalisierung der französischen Armee. Für de Gaulle wäre die EVG einer „Auslöschung Frankreichs als Nation“ gleichgekommen.
sicherheitspolitisch nicht gänzlich von den USA abhängig zu werden. Kein Verantwortlicher in Frankreich
konnte sich ernsthaft vorstellen, die Verantwortung für
Atomwaffen mit den Deutschen im Rahmen der EVG
zu teilen. Frankreich war nur als nationale Atommacht
denkbar.
Die französische Ablehnung der nur auf europäischen
Strukturen ausgerichteten EVG führte zu einer jahrzehntelangen und ausschließlichen Festschreibung
amerikanischer Militärpräsenz auf dem Kontinent. Man
vermag sich heute kaum mehr vorzustellen, welche
Chance im Jahr 1954 durch Frankreich für Europa vergeben wurde, sich militärisch dauerhaft von den USA
zu emanzipieren.
Mit dem Scheitern der EVG waren auch die damit gekoppelten Maßnahmen zur Aufhebung der Besatzung
und zur Wiederherstellung der deutschen Souveränität
hinfällig. Der EVG-Vertrag muss als Bestandteil einer
Politik gesehen werden, die die Ablösung des Besatzungsstatuts und die Integration der Bundesrepublik in
die westliche Gemeinschaft – aus der Sicht der Bundesrepublik auf der Basis der Gleichberechtigung, aus
der Sicht der Westmächte auch zur weiteren Kontrolle
Deutschlands – zum Ziel hatte. Was mit der EVG beabsichtigt war, ging weit über das hinaus, was später in
40
Maastricht vereinbart werden sollte.
Vgl. Loth, Wilfried: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990
40
Zur De-facto-Ablehnung der EVG in der Nationalversammlung hatten die französischen Militärs mit ihrem
Druck auf die Abgeordneten erheblich beigetragen. Die
Voraussetzungen für die EVG seien nicht gesichert,
und es bestünden Zweifel, ob Frankreich die geforderten militärischen Leistungen überhaupt erbringen könne. Bis zu 25 Prozent des französischen Haushaltsvolumens würde die EVG verschlingen und Frankreichs
Weg zur Atommacht damit blockieren. Atommacht zu
werden aber schien den Militärs das einzige Mittel, um
Vgl. Bashlinskaya, Aydan: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
der EU. Das Rechtsverhältnis zu den Vereinten Nationen und zu regionalen Sicherheitsorganisationen, Baden-Baden 2009, S. 6 ff.
38 Nach dem Fall der Festung Dien Bien Phu, die in Paris zum Sturz der Regierung
Laniel/Bidault geführt hatte, wollte der neue Ministerpräsident Mendès-France die
unhaltbar gewordene koloniale Position Frankreichs abbauen. Dabei unterstütze ihn
die Sowjetunion, indem sie Ho Tschi Minh trotz militärischer Erfolge dazu veranlasste, die Teilung Vietnams hinzunehmen. Damit wurde Frankreich eine glimpfliche
Lösung des Indochina-Krieges ermöglicht. Als Gegenleistung gab die französische
Regierung die Entscheidung in der Nationalversammlung über die EVG frei, setzte
keine eigenen Prioritäten.
39 12 Enthaltungen und 31 Abwesende – darunter alle 23 Regierungsmitglieder. Vgl.
Der Ausschuss für Fragen der europäischen Sicherheit – Januar 1953 bis Juli 1954.
Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben und bearbeitet von Bruno Thoß et al. Reihe: Der Bundestagsausschuss für Verteidigung und
seine Vorläufer, Band 2, Düsseldorf 2010
37
Marshall-Plan Hilfe für Westeuropa 1948-1952
14
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Die Westeuropäische Union (WEU)
Das Scheitern der EVG rief im Westen Bestürzung
hervor. Der amerikanische Außenminister Dulles nannte es eine Tragödie, der luxemburgische Ministerpräsident Bech eine Katastrophe, der Belgier Paul-Henri
Spaak einen Triumph der Sowjets. Bundeskanzler Konrad Adenauer war tief deprimiert und er bezeichnete
den 30. August als „schwarzen Tag für Europa“ und
41
„größten Triumph“ der Sowjetunion seit 1945. Es
musste schnell eine Ersatzlösung für die gescheiterte
EVG gefunden werden. Großbritannien schlug vor, den
Brüsseler Pakt (der als Verteidigungsallianz gedacht
war, wenn auch die militärische Funktion die im April
1949 gegründete NATO übernommen hatte) unter Aufnahme der Bundesrepublik und Italiens zu einer Westeuropäischen Union zu erweitern und mit einer neuen
Funktion zu versehen. Der ursprünglich auch gegen
Deutschland gerichtete Brüsseler Pakt sollte nun die
Einheit Europas fördern und der europäischen Westintegration Auftrieb geben.
Adenauer bedauerte zutiefst, dass mit dem Scheitern der EVG auch die Schaffung
einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) – des politischen Überbaues –
nicht zustande kam. Etwas später strebte Adenauer eine europäische Atomstreitmacht an, um unabhängig von den USA über ein eigenes Abschreckungspotenzial
zu verfügen. Doch diese Pläne scheiterten schließlich am Widerstand des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, der in den 1960er Jahren im nationalen
Alleingang eine französische Atomstreitmacht, die so genannte „force de frappe“,
aufbaute.
41
Auf der Konferenz in London (28.9.–3.10.1954) wurde
den französischen Sicherheitsinteressen Rechnung
getragen, indem die Bundesrepublik nun ihre Truppen
der NATO unterstellte und ihre Bereitschaft zu einem
grundsätzlichen Gewaltverzicht erklärte. Großbritannien erleichterte Frankreich außerdem die Zustimmung
zu den Konferenzbeschlüssen durch die Bereitschaft,
für die Dauer des Abkommens seine NATO-Divisionen
und taktische Fliegerverbände auf dem Kontinent zu
lassen. Damit einigten sich die Beteiligten auf die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik im Rahmen der
NATO und des Brüsseler Pakts. Den Engländern bot
dies den attraktiven Vorteil, die ehemaligen Kriegsgegner Bundesrepublik und Italien mit ihren militärischen
Kräften zur Verteidigung des Kontinents zu verpflichten, ohne sich auf supranationale Lösungen einlassen
zu müssen.
Die nach der Konferenz ausgearbeiteten „Pariser Verträge“ vom 23. Oktober 1954 traten nach relativ problemlosen, in kürzester Frist von den Parlamenten erfolgten Ratifizierung am 6. Mai 1955 in Kraft. Sie gestalteten das um Italien und die Bundesrepublik erweiterte Brüsseler Vertragswerk (Brüsseler Pakt) zur
„Westeuropäischen Union“ (WEU) um und integrierten es in die NATO. Es ist nicht ohne historische Ironie,
dass die Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft durch die französische Nationalversammlung zu der eigenständigen deutschen Armee führte,
die Frankreich eigentlich hatte verhindern wollen.
15
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Für den nun möglichen Aufbau einer westdeutschen
Verteidigung waren vor allem folgende Bestimmungen
der Pariser Verträge wichtig:
Höchststärke der deutschen Truppen 500.000
Mann, 12 Divisionen;
Unterstellung der Verbände unter den Befehl der
integrierten NATO-Stäbe;
Errichtung einer Agentur für Rüstungskontrolle, die
darüber zu wachen hatte, dass das Verbot zur Herstellung bestimmter Waffentypen eingehalten wird
(die Bundesrepublik verpflichtete sich z.B. auf
folgende schwere Waffen und Waffenträger zu
verzichten: Flugkörper großer Reichweite und
Lenkflugkörper; Kriegsschiffe von mehr als 3.000
Tonnen mit Ausnahme von kleineren Schiffen für
Verteidigungszwecke, U-Boote, strategische Bomberflugzeuge);
Verzicht der Bundesrepublik auf die Herstellung
von atomaren, bakteriologischen und chemischen
Waffen auf ihrem Gebiet (Protokoll Nr. III);
die USA verpflichteten sich, in Europa und speziell
in Deutschland angemessene Streitkräfte zu belassen;
Großbritannien verpflichtete sich, 55.000 Soldaten
auf dem europäischen Festland zur Verfügung zu
halten und sie nicht ohne Zustimmung der Vertragspartner abzuziehen;
die Bundesrepublik versicherte, dass sie Grenzund Wiedervereinigungsfragen nur mit friedlichen
Mitteln lösen wolle.
Mit Deutschlands Aufnahme in die NATO trat gleichzeitig der Deutschlandvertrag in Kraft, der das Besatzungsstatut von 1949 ablöste und der Bundesrepublik
die weitgehende Wiederaufnahme in die Staatengemeinschaft gewährte. Die Westalliierten behielten sich
aber als ehemalige Besatzungsmächte „die bisher von
ihnen ausgeübten Rechte und Verantwortlichkeiten in
Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und
einer friedensvertraglichen Regelung“ weiter vor, die
erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag (15. März 1991)
obsolet wurden. Teil des Protokolls waren auch die
Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte. Die
Pariser Verträge enthielten auch das „Europäische
Saarstatut“, bildeten einen wirksamen Damm gegen
Absichten der Neutralisierung Deutschlands und ermöglichten die innenpolitisch heftig umstrittene Wie42
deraufrüstung wie die Westintegration.
Da die Bundesrepublik erst als Mitglied der WEU in die
NATO aufgenommen wurde, war somit die Westeuropäische Union für die Bundesrepublik der Primärpakt.
Allerdings war der WEU-Vertrag unter anderem wegen
der Nichtmitgliedschaft der USA und der damit fehlenden atomaren Garantie für Europa von geringerer militärischer Bedeutung. Laut Artikel VII des Vertrages
In einem Referendum vom 23.10.1955 forderte die Bevölkerung des Saarlandes
eine Rückkehr nach Deutschland. Die Aufgabe der WEU war es, einen Kommissar
einzusetzen, der die Einhaltung des Staatstatus durch die Regierung des Saarlandes zu überwachen hatte.
42
gehörte es zu den Aufgaben der Organisation, die Einheit Europas zu fördern. Der WEU-Vertrag enthielt
einige Bestimmungen, die über die NATO-Verpflichtungen weit hinausgingen: automatische militärische
Beistandspflicht (Artikel V) und 50-jährige unkündbare
Geltungsdauer (also bis zum Jahre 2005) – aus dem
NATO-Vertrag dagegen kann jedes Mitglied nach
zwanzigjähriger Vertragsdauer mit einjähriger Kündigungsfrist ausscheiden. Allerdings verfügte die WEU
über keine eigene Verteidigungsorganisation, sie hatte
vielmehr die Wahrnehmung der gemeinsamen Verteidigungsaufgaben der NATO überlassen. Die WEU
blieb – im Gegensatz zur NATO, die erkennbar als
Sicherheitsbündnis unter Führung der USA in den Vordergrund trat – weitgehend unbekannt. Ihre Bedeutung
lag vor allem in der Rüstungskontrolle und in der Abstimmung der sieben Mitgliedstaaten, während die
militärischen Aufgaben vorwiegend von der NATO
wahrgenommen wurden.
Die Pariser Verträge wurden am 27. Februar 1955 vom
deutschen Bundestag gegen die Stimmen der SPD und
trotz einer starken außerparlamentarischen Opposition
ratifiziert. Mit ihrem Inkrafttreten wurde die Bundesrepublik souverän, blieb allerdings den genannten Einschränkungen unterworfen. Die Saar wurde nach ei43
nem Referendum angeschlossen.
Die WEU blieb im Wesentlichen ein Papierprodukt,
eine große politische Rolle hat sie nicht gespielt. Sie
war ein Kompromiss zwischen den deutschen, englischen und französischen Wünschen. Im Grunde genommen erschöpfte sie sich darin, den NATO-Beitritt
der Bundesrepublik ermöglicht zu haben. 1988 fand
erstmals seit 1954/55 mit Portugal und Spanien eine
Erweiterung der Vollmitglieder statt, der 1992 Griechenland folgte.
Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9.11.1989 strebte die 1993 gegründete Europäische Union (EU) den
Ausbau der WEU zum sicherheitspolitischen Arm der
EU an. Die Aufgaben für die äußere Sicherheit Europas
und Nordamerikas blieben aber weiterhin der NATOAllianz zugeordnet, die auch vorgesehene Einsätze der
WEU unterstützen, ja mit der NATO-Kommandostruktur
auch militärisch führen sollte. Während des Krieges
zwischen dem Iran und dem Irak in den 1980er Jahren
(Erster Golfkrieg) koordinierte die WEU von 1987 bis
1988 einen Minenräumeinsatz westlicher Staaten am
Persischen Golf, also zu einer Zeit, in der NATOEinsätze außerhalb des Bündnisgebietes noch fremd
waren. Die NATO bekannte sich erst im November
1991 in ihrem „Neuen Strategischen Konzept“ zu Friedenseinsätzen außerhalb des Bündnisgebietes.
Seit dem Ende der 1980er Jahre bis zum Beginn der
1990er Jahre erfolgte ein sicherheitspolitischer Aufwertungsprozess der WEU. Im Zweiten Golfkrieg 1990/91
koordinierte die WEU am Persischen Golf insgesamt
45 Kampfschiffe, die zur Durchsetzung der UN-Sicherheitsresolution 661 (1990) vom 6.8.1990 – das Embargo gegen den Irak – beitrugen.
43 Vgl. Ehlert, Hans/Greiner, Christian/Meyer, Georg/Thoß, Bruno: Die NATO-Option.
Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Band 3, München 1993
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Dieser Zweite Golfkrieg führte auch zur ersten humanitären Operation der WEU, als ein britisch-niederländischer Verband in der Operation „Safe Haven“ im April
1991 auf Beschluss der WEU-Außenminister den bedrängten Kurden im Nordirak zu Hilfe kam, bis diese
Tätigkeit im Juli 1992 von den Vereinten Nationen
übernommen wurde. Weitere Einsätze wurden gemeinsam mit der NATO 1993 gegen Jugoslawien in der
Straße von Oronto durchgeführt, ferner fanden im gleichen Jahr Seeoperationen im Rahmen des UN-Embargos gegen Serbien und Montenegro statt. 1992 beschloss die WEU die Petersberg-Aufgaben sowie 1994
den Polizeieinsatz in Mostar/Bosnien-Herzegowina (Juli
1992 bis Ende 1996). Zwischen Juni 1993 und September 1996 unterstützte die WEU Bulgarien, Rumänien und Ungarn bei der Durchsetzung des UN-Embargos gegen Jugoslawien entlang der Donau. 1997 wurde ein Team zum Wiederaufbau polizeilicher Strukturen
nach Albanien entsandt sowie dort die Operation „Alba“
durchgeführt.
Nur EU-Staaten war es möglich, WEU-Mitglied zu werden. Um den neuen Aufgaben gerecht zu werden, glich
die WEU ihre Mitgliedschaft weitgehend den Mitgliedschaften von NATO und EU an, d.h. die neutralen EUMitglieder erhielten Beobachterstatus und die europäischen NATO-Staaten, die nicht Mitglied der EU waren,
wurden als assoziierte Mitglieder aufgenommen. Beide
Gruppen wurden Vollmitgliedern weitgehend gleichgestellt. Zu den zehn Vollmitgliedern der WEU kamen die
sechs „assoziierten Mitglieder“ (Island, Norwegen,
Polen, Tschechien, Türkei, Ungarn), fünf „Beobachter“
(Dänemark, Finnland, Irland, Österreich, Schweden)
sowie sieben „assoziierte Beobachter“ (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien) hinzu.
Am 19. Juni 1992 definierte die WEU in der Petersberger Erklärung über die Beistandspflicht des Artikels V
hinaus weitere Aufgaben: humanitäre Aufgaben und
Rettungseinsätze,
friedenserhaltende
Aufgaben,
Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich Maßnahmen zur Friedenserzwingung. Ziel war es,
die WEU zum „verteidigungspolitischen Arm“ der EU
auszubauen. Dies ging aber weit über Verteidigungsstrukturen hinaus, es handelte sich dabei bereits um
Interventionsstreitkräfte, die theoretisch weltweit eingesetzt werden sollten. Im Rahmen der „Stärkung der
operativen Rolle der WEU“ war sogar
daran gedacht, multinationale Truppen unter direktem WEU-Kommando
einzusetzen. Mitgliedstaaten wurden
dazu aufgefordert, Truppen verbindlich für solche WEU-Verbände zur
Verfügung zu stellen. Zum Aufbau
einer eigenen Kommandostruktur
oder gar zu Militäraktionen unter direktem WEU-Kommando kam es aber
nicht. Die WEU wirkte jedoch in erster
Linie als Sprachrohr der Sicherheitsinteressen der EU. 1997, bei der Vertragsreform von Amsterdam, zeichnete sich in Bezug auf die Rolle der
WEU jedoch eine Neuorientierung
innerhalb der EU ab. Es setzte sich zunehmend die
Idee durch, die neuen Aufgaben der Friedenssicherung
der EU direkt zu überantworten und die WEU, die damit
überflüssig würde, in die EU zu integrieren, was einer
faktischen Auflösung gleichkäme. Neben der im Frühjahr 1999 erfolgten Ratifizierung des Vertrags von Amsterdam läutete das WEU-Treffen von Bremen im Mai
1999 das Ende der WEU ein. Mit der geplanten Verschmelzung mit der EU sollte das Nebeneinander von
NATO, EU und WEU allmählich beendet werden.
Als im Juni 1991 im damaligen Jugoslawien die Konflikte zwischen den einzelnen Teilrepubliken und den verschiedenen Volksgruppen gewaltsam eskalierten, sah
die Europäische Gemeinschaft die Gelegenheit gekommen, ihre „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“, die bis dato lediglich auf dem Papier bestand,
endlich in die Praxis umzusetzen. „Das ist die Stunde
Europas“, erklärte der damalige EG-Ratspräsident,
Luxemburgs Außenminister Jan Poos, vor dem Straßburger Parlament mit Blick auf die Situation in ExJugoslawien. Die dortigen Konflikte werde Europa „alleine“ lösen. Poos‘ Erklärung war ein deutliches Signal
an die USA, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Der
Rest der Geschichte ist bekannt. Die EG/EU scheiterte,
weil zwischen den damaligen Mitgliedstaaten zumindest in den Jahren bis 1995 keine gemeinsame politische Strategie zur Beilegung dieser Konflikte zustande
kam.
Sehr rasch bildete sich in der politischen Klasse der
EU-Staaten die Legende heraus, Grund für das Scheitern gegenüber den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien sei der Mangel an gemeinsamen militärischen
Instrumenten und Fähigkeiten der EG/EU gewesen.
Daher sei die Beendigung der innerjugoslawischen
Kriege erst möglich geworden, als sich die USA 1995
entschlossen hatte, militärisch einzugreifen. Diese Legende muss seitdem dazu herhalten, die angebliche
Notwendigkeit einer Aufrüstung der EU zu begründen.
Eine zweite Begründung scheint aber wesentlich wichtiger zu sein. Seit dem Krieg der NATO gegen Serbien
im Frühsommer 1999 fühlten sich viele Sicherheitspolitiker und Militärs europäischer NATO-Staaten von den
USA dominiert und nicht als gleichberechtigter Partner
behandelt.
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Die USA diktierten im NATO-Hauptquartier weitgehend
die Strategie dieses Krieges und bestimmten die Ziele.
75% der eingesetzten Kampfflugzeuge sowie 90% der
verschossenen Munition kamen von den USA. Vom
24. März bis zum 9. Juni 1999 (78 Tage) wurden insgesamt 38.004 Flüge durchgeführt, davon 14.112 Luftschläge mit 27.410 abgeworfenen Bomben. Mangels
Masse wurden alle militärischen Ziele durchschnittlich
achtmal angegriffen und bekämpft. Die USA besaßen
als einziges Land der damals 19 NATO-Mitglieder ein
Satellitensystem, mit dem sie die Lage und sämtliche
Bewegungen auf dem Territorium Serbiens und des
Kosovo rund um die Uhr mit großer Genauigkeit überwachen konnten. Als besonders ärgerlich, ja demütigend empfanden es seinerzeit europäische Politiker
und Militärs, dass die USA die mit diesem Satellitensystem gewonnenen Informationen nicht oder erst zu
einem Zeitpunkt, als diese Informationen nicht mehr
relevant waren, an ihre Verbündeten weitergaben. Bis
2011 wird die WEU offiziell aufgelöst. Immerhin gönnte
sich die WEU am 31. März 2010 eine Portion Eigenlob,
als sie ihren bedeutenden Beitrag „für Frieden und
Stabilität in Europa“ rühmte. Der beschränkte sich mehr
darauf, dass die WEU im Lauf der Jahrzehnte immer
wieder mal als Kommunikationsforum in Krisen gefragt
war und außerdem als Plattform für sicherheitspolitische Absichtserklärungen diente – ohne jenes militärische Gewicht, das die von den Vereinigten Staaten
dominierte NATO seit mehr als 60 Jahren besitzt. Mit
der Übernahme der ursprünglichen Aufgaben der WEU
durch die EU begann die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) der EU substanzieller zu
44
werden.
Vgl. Scharping, Rudolf: Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa,
Berlin 1999
44
Transatlantisches Verhältnis im Wandel – (EU-)Europa und USA
Die Integration Westeuropas ist ohne die USA und ihre
Hilfe zur Selbsthilfe für Westdeutschland und ihre Unterstützung für Europa nicht denkbar – so war es über
weite Strecken nach Inaugurierung des Marshall-Plans
in den Jahren 1947/48. Das 20. Jahrhundert wird von
vielen Historikern als das „amerikanische Jahrhun45
dert“ bezeichnet und Europas Niedergang war mit
Amerikas Aufstieg eng verbunden. Das Machtzentrum
der Welt hatte sich in die USA verlagert. Das bürgerlich-kapitalistische Europa musste sich unter den
Schutz und die Vormachtrolle der USA stellen. Es ist
damit in eine Vasallenposition (Andreas Buro) geraten
und musste sich weitgehend den US-Interessen unterwerfen. Westeuropas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg war mit US-amerikanischer Mithilfe erst
ermöglicht worden. Die USA waren – militärisch bedingt durch ihre Truppenpräsenz, wirtschaftlich durch
das European Recovery Programm (ERP) – zu einem
dominierenden Faktor im westlichen Kontinent, ja auch
eine die Balance haltende Garantiemacht im Prozess
der gesamten europäischen Integration geworden.
Welche Interessenkonflikte gab es zwischen Europäern
46
und Amerikanern? Hier ist es hilfreich, zunächst die
Gemeinsamkeiten zu erwähnen: Übereinstimmungen
zwischen amerikanischer und europäischen Regierungen bestanden in der Niederringung der nationalsozialistischen Herrschaft und Beseitigung eines politischideologisch übermächtigen Deutschlands, im wirtschaftlichen Wiederaufbau, der Demokratisierung des
politischen Lebens Europas, vor allem der Länder der
ehemaligen „Achsenmächte“ und ihrer Verbündeten,
soweit sie nicht von den Sowjets besetzt worden waren. Weitgehende Übereinstimmung auf Seiten der
Staaten bestand ferner in der Abwehr, Eindämmung
und Zurückdrängung kommunistisch-sowjetischer BeVgl. Berg, Manfred: Das amerikanische Jahrhundert. Die soziale und politische
Entwicklung der USA im 20. Jahrhundert. Zentrum für USA-Studien der Stiftung
Leucorea, Lutherstadt Wittenberg 2004
46 Vgl. u.a. Brandstetter, Karl J.: Allianz des Misstrauens. Sicherheitspolitik und
deutsch-amerikanische Beziehungen in der Nachkriegszeit, Köln 1989
drohungspotenziale, in der Handelsliberalisierung im
westeuropäischen (OEEC) und westlich-globalen Rahmen (GATT), dem innereuropäischen Zahlungsausgleich mit der Europäischen Zahlungsunion (EZU), in
der Schließung der Dollarlücke und der Konvertibilität
der europäischen Währungen, in der Zusammenarbeit
in der OECD, in der Normalisierung der internationalen
Beziehungen und im Entspannungsprozess (KSZE),
aber auch in der Implementierung des NATODoppelbeschlusses sowie in der Beendigung des Kalten Krieges in Europa.
So gesehen kann von einer weitgehenden Konvergenz
der politischen Zielsetzungen der Staaten Westeuropas
und den USA gesprochen werden, die insbesondere in
einer definitiven Lösung der Deutschlandfrage durch
Kontrolle und Integration – es ging dem Westen vor
allem um die Verhinderung der Neutralisierung
Deutschlands, was die Sowjetunion wiederholt vorgeschlagen hatte – und in der Fortsetzung der ökonomischen Integration Westeuropas als Bollwerk des Antikommunismus bestand. Hier enden die Übereinstimmungen, bis die genannten Kernziele erreicht waren
und mehr noch als erwartet bewirkt werden konnte:
Das Sowjetimperium ist unter anderem im Zuge des
nicht mehr durchzuhaltenden Rüstungswettlaufs zerfal47
len (1989/90) und zusammengebrochen (1991), während sich Deutschland friedlich – vor allem durch die
Hilfe der USA – einte (1990). Wenn es auch an den
ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen noch
schwer laboriert, so blieb es aber in Westeuropa politisch und wirtschaftlich integriert.
Nicht unwesentlich waren wiederholt temporär auftretende Auffassungsunterschiede und punktuelle Konflikte in den westeuropäisch-amerikanischen Beziehungen
im Kontext der sich festigenden Europäischen Gemeinschaft.
45
Vgl. Barth, Peter: Russland auf dem Weg ins Jahr 2000. Die wichtigsten Akteure
und Faktoren im heutigen Russland, Starnberg 1996
47
18
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Gesichert erscheint, dass die Konflikte nur relativ kurz
öffentlich in Erscheinung traten und mit Blick auf die
höheren Ziele im Ringen des Kalten Krieges bald wieder zurückgestellt worden sind – Westeuropa und die
USA waren weitgehend vereint im westlichen Lager,
48
was sie heute nicht mehr so eindeutig sind.
Bei den schwer auflösbaren Gegensätzen handelt es
sich historisch betrachtet vor allem um Fragen der Gestaltung und Forcierung der europäischen Integration.
So beispielsweise als es um die heftig debattierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ging, die
an Frankreichs Widerstand im Jahre 1954 scheiterte,
das dem Drängen der USA nicht nachgeben wollte.
Aber auch die Art, das Tempo und die Umsetzung der
von den USA vehement mitbetriebenen Entkolonialisierung noch im gleichen Jahre im Indochina-Krieg 1954
oder bei der verzweifelten Aufrechterhaltung kolonialpolitischer Positionen der europäischen Mächte während der Suezkrise im Jahre 1956 erzeugten Irritationen. Später war es die Streitfrage der Beteiligung der
Westeuropäer, vor allem der Bundesdeutschen, am
Vietnam-Krieg (1957-1975), aber auch die Teilhabe
und Mitwirkung an der Nuklearpolitik (MLF), die in der
Infragestellung der nuklearpolitischen Juniorpartnerschaft durch Charles de Gaulle und durch von der
NATO losgelöste französische Kommandostrukturen
gipfelte. Divergenzen und Konflikte entstanden durch
die Forcierung der Abrüstungsgespräche bis hin zur
Kontroverse um die Schaffung einer atomwaffenfreien
Zone in Europa, die vor allem außerhalb EG49
Kerneuropas eine beachtliche Rolle spielte. Hinzu trat
später noch der Problemkomplex Embargo-Politik und
Technologietransfer in Richtung Osten in der letzten
Periode des Kalten Krieges unter Führung von USPräsident Ronald Reagan.
Diese Meinungsverschiedenheiten zwischen Westeuropäern und Amerikanern artikulierten sich während
der verschiedenen Phasen des Kalten Krieges in einem
akzidentiellen Dissens, der fall- und zeitweise bestand,
aber bereits vorhandene, latente und subkutante Differenzen in Mentalität, Kultur und Wertfragen zum Vorschein brachte. Aus Gründen der wirtschaftlichen Abhängigkeit, der Bündnistreue, der Botmäßigkeit und
Bei diesen in aller Kürze skizzierten Themen wurde nicht der Unterschied in der
Einstellung zwischen der Politik der jeweiligen Regierungen und der breiten Bevölkerung (wie es sich aus Umfragen oder Bürgerbewegungen ergeben hat) herausgearbeitet. Auf den ersten Blick herrscht beispielsweise heute eitel Sonnenschein über
dem Atlantik. Die Alte Welt bekundet, sie stehe in Treue fest zu Amerikas jungem
Präsidenten: Vier von fünf Europäern befürworten den internationalen Kurs von
Barack Obama, und allen voran die Liebe der Deutschen zum ersten schwarzen
Mann im Weißen Haus scheint (mit 87% Zustimmung) ungebrochen zu sein. Und
doch offenbaren die „Transatlantik Trends“, mit denen der German Marshall Fund
alljährlich die Stimmung in den Vereinigten Staaten, in elf EU-Staaten und in der
Türkei bemisst, allerlei Brüche zwischen den Verbündeten. So groß die Sympathien
sein mögen für Obama – so gering ist der Wille der Europäer, ihm tatkräftig zu
folgen. Sei es in Afghanistan (44% aller Europäer verlangen den sofortigen Abzug
aller Truppen, 20% möchten wenigstens einen Teil der Soldaten heimholen), sei es
in der Iran-Politik (64% aller US-Bürger wollen dem Regime in Teheran die Bombe
mit militärischer Gewalt aus der Hand schlagen, nur 39% der Deutschen wollen
dies). Konkret mögen die Europäer zaudern – aber im Allgemeinen möchten sie
schon mehr Verantwortung übernehmen. Immerhin drei von fünf Europäern sagen,
die NATO müsse ihre Interessen notfalls auch außerhalb Europas verteidigen. Eine
derart „globale NATO“ wünschen sich auch 77 von 100 Amerikanern, aber nur 55%
der Deutschen. Vgl. www.gmfus.org
49 Vgl. Barth, Peter/Mechtersheimer, Alfred/Reich-Hilweg, Ines: Europa – Atomwaffenfrei! Starnberg 1983
48
Solidarität in die transatlantische Allianz wurden diese
überdeckt, und verschwanden schnell aus der veröffentlichten Diskussion und damit auch weitgehend aus
der öffentlichen Meinung.
Das Verhältnis zu den USA wird zum Bestimmungsfaktor europäischer Selbstbehauptung. Soll Europa weiter
loyal zu den USA oder in erster Linie loyal zu sich
selbst sein? Das ist die zentrale Frage, die sich nach
den Verwerfungen im Zuge der Golfkrise, des IrakKrieges, des Kampfes gegen den Internationalen Terrorismus oder auch der Nahost-Politik bis heute stellt.
Die Erfolgsgeschichte der westeuropäischen Integration war vor allem darin begründet, dass man aus den
Vermessenheiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den radikalsten Ideologien und größten Kriegen der Weltgeschichte die realpolitische Konsequenz
des Ausgleichs und der Integration gezogen hat. Das
gelang unter dem Eindruck der sowjetischen Bedrohung leichter. Seit den 1990er Jahren steckt Europa in
einem dramatischen sicherheitspolitischen Dilemma,
was mit der Jugoslawien-Krise zum Ausdruck kam und
in der Golfkrise eine Fortsetzung fand.
Es fehlt eine tabufreie Debatte über Verbindendes und
Trennendes zwischen EU-Europa und den USA, zumal
die transatlantische Allianz im Kalten Krieg viele Unterschiede zugedeckt hat. Der amerikanische Analytiker
Robert Kagan nannte das europäische Verhalten in der
Irak-Krise kantianisch (Streben nach Ausgleich, Recht
und Frieden), während er das amerikanische vom
Machtdenken Thomas Hobbes geprägt sah (Anarchie,
50
Leviathan). Anstatt die von Apologeten und Schönrednern der transatlantischen Beziehungen verwendeten Stereotypen der viel betonten Übereinstimmungen
sollte eine scharfsinnige Analyse der Unterschiede
erfolgen, aus der eine Allianz oder Wertegemeinschaft
mit mehr Verständnis für die jeweiligen Interessen und
Vorstellungen beider Seiten erwachsen kann.
Zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen EU-Europa und
den USA bestehen nach wie vor in zahllosen verwandtschaftlichen Beziehungen, finanziellen und investitionspolitischen Transaktionen, ökonomischen Verflechtungen, elektronischer Kommunikationsverdichtung, traditioneller sicherheitspolitischer Kooperation,
engen Netzwerken der wissenschaftlichen Forschung
und in westlichen Lebensstilen. Daneben gibt es aber
auch gravierende Differenzen.
Ein Unterschied besteht in der Religiosität: Europa ist
selbst in historisch zutiefst katholisch geprägten Ländern heute überwiegend säkularisiert und agnostizistisch, während die große Mehrheit der US-Bürger
sehr gottgläubig und zutiefst religiös ist. Auf keinem
Euro-Schein könnte heute noch „In God we trust“ stehen. Für „Kaiser, Gott und Vaterland“ zog man noch in
den Ersten Weltkrieg. Ist in Europa im Unterschied zu
den USA die „zweite Aufklärung“ des 19. und 20. Jahrhunderts Wirklichkeit geworden?
Vgl. Kagan, Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen
Weltordnung, Berlin 2003 sowie ders.: Die Demokratie und ihre Feinde – Wer
gestaltet die neue Weltordnung? Berlin 2008
50
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Erhebliche Divergenzen zwischen Europa und den
Vereinigten Staaten gibt es auch in der Pressefreiheit,
beispielsweise bei der Zulassung extremistischer Lite51
ratur von Neonazis, bei der Unantastbarkeit der Menschenwürde (die mit der US-Praxis der Todesstrafe
kollidiert), in der Rechtsauffassung (z.B. die in Deutschland praktizierte Unschuldsvermutung, solange kein
Beweis vorhanden ist, und in der Behandlung von
Kriegsgefangenen im US-Gefangenenlager auf Guantánamo) sowie im Verhältnis zur Umwelt (das von den
USA nicht ratifizierte Kyoto-Protokoll). Auch beim
Atomwaffen-Teststopp-Abkommen und bei der Landminen-Konvention gibt es keine US-amerikanische
Bereitschaft zur Folgeleistung.
strukturellen Antagonismus entwickelt. Wie weit ist
52
dieser noch abzubauen?
Mag sein, dass es ein „altes“ Europa gibt, wobei sich
das „neue“, von der Bush-Administration gewünschte
Europa noch als modern und zivilisiert erweisen muss
– militärische Interventionen und Zuschlagen auf Verdacht sind sicher nicht neu und alles andere als fortschrittlich. Humanitäre Interventionen müssen zur Entspannung und Vertrauensbildung, dürfen aber nicht zur
Konfrontation und Eskalation führen. Neue und moderne Staaten versuchen Kriege zu vermeiden, alte wollen
53
und müssen sie führen.
Während der Krise um die Lösung des Konflikts mit dem Regime von Saddam
Hussein in Bagdad 2003 entstanden innerhalb Europas enorme Meinungsverschiedenheiten: Während die USA gemeinsam mit den damals verbündeten Regierungen
aus Dänemark, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal, Spanien, Tschechische
Republik und Ungarn den sofortigen Sturz des Saddam-Regimes mittels einer
militärischen Intervention forderten, sprachen sich vor allem Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg gegen derartige militärische Lösungen aus. Am
30.1.2003 wurde seitens der Kriegsbefürworter ein „Brief der Acht“ an die Öffentlichkeit vorgestellt, in dem sie sich für die militärische Intervention aussprachen. Dieser
Solidaritätserklärung von acht EU-Staats- und Regierungschefs an die USA schlossen sich auch der EU-Staat Niederlande und die damaligen EU-Beitrittskandidaten
Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Estland, Lettland und Litauen an – diese Staaten wurden von der damaligen US-Administration unter Präsident George W. Bush
als das „neue Europa“ bezeichnet.
53 Der Kriegskurs der amerikanischen Regierung im Irak spaltete nicht nur den UNSicherheitsrat, sondern auch Europa, die EU und die NATO. Bundeskanzler Schröder (SPD) manövrierte Deutschland mitten in diesen Streit. Dabei bestand sein
Fehler nicht darin den Irakkrieg abgelehnt zu haben – in diesem Punkt war ihm
selbst der Kanzlerkandidat der Opposition, der bayerische Ministerpräsident Stoiber
(CSU), im Bundestagswahlkampf gefolgt. Vielmehr war es nur eine halbe Verweigerung, d.h. Ablehnung im Prinzip, aber Mitarbeit in der Praxis. Ferner brüskierte
Schröder die mittelosteuropäischen Länder, die aufgrund ihrer prekären sicherheitspolitischen Lage die Amerikaner als Schutzmacht zu brauchen glaubten und sie
deshalb auf ihrem Irak-Kurs unterstützten. Schröders brachiales Vorgehen isolierte
Berlin in Europa, reduzierte den politischen Einfluss Deutschlands und schuf Misstrauen gegenüber den vom Kanzler verkündeten „deutschen Weg“ in der Außenund Sicherheitspolitik. Vgl. Joetze, Günter: Der Irak als deutsches Problem, BadenBaden 2010
52
Praktisch wie theoretisch könnten die USA nicht der EU
beitreten, weil sie deren Grundbedingungen und Wertvorstellung nicht entsprechen, ja diesen zuwiderhandeln würden.
In der staatlichen Unterwerfung unter supranationale
Organisationen (EU, UNO, Internationaler Strafgerichtshof etc.) besteht zunehmend Dissens mit den
USA. Das Vorgehen bei der Gestaltung der zukünftigen
Weltordnung ist daher der zentrale Konfliktpunkt: Multilateralität und Supranationalität stehen Unilateralismus
und Staatssouveränität gegenüber. Das Verhältnis
weiter Teile Kontinentaleuropas zu den USA hat sich
nach Ende des Kalten Krieges und zuletzt im Zeichen
des Irak-Krieges und der anglo-amerikanischen Militärintervention von einem akzidentiellen Dissens zu einem
Der erste Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung legt ausdrücklich fest,
dass der Kongress „kein Gesetz erlassen“ darf, das die Meinungsfreiheit (beziehungsweise die Religions-, Rede-, Presse- oder Versammlungsfreiheit) einschränkt.
51
20
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Vor einer NATO-Osterweiterung als einer Fortsetzung
des Kalten Krieges wurde schon seit Jahren gewarnt.
Fakt ist heute, dass sie ein Hebel zur Verzögerung,
wenn nicht ein Mittel zur Verhinderung der Politischen
Union Europas ist. Scherzhaft meinte die PentagonBeraterin Ruth Wedgwood: „Die NATO-Erweiterung ist
eine flankierende Maßnahme, um Westeuropa einzudämmen.“ Sie treibt die Sorge um, „dass Europa sich
54
skandinavisiert, neoneutral wird“. Es gibt Bewahrenswertes, aber auch Hinterfragenswertes im Verhältnis zu den USA, was eine Neudefinierung der Beziehungen notwendig macht. Willy Brandt rief einst den
Anhängern der deutschen Friedensbewegung zu: „Bei
allem, was bei uns über Antiamerikanismus geredet
wird – ich fühle mich an wenigen Orten der Welt so
wohl wie in Washington. Dort diskutieren sie über die
gleichen Dinge wie wir.“ Es muss daher erlaubt und
legitim sein, in Grundsatzfragen unterschiedliche Auffassungen zu vertreten und eventuell getrennte Wege
zu gehen. Demokratie aber endet dort, wo es heißt:
„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“
Der Aufstieg der USA zur Weltmacht begann im 20.
Jahrhundert, welches das „amerikanische Jahrhundert“
Vgl. „Dann helfen uns eben die Osteuropäer.“ Pentagon-Beraterin Ruth Wedgwood erklärt, weshalb Amerika den Krieg will und das alte Europa nicht mehr versteht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.1.2003
54
werden sollte. Der US-amerikanische machtpolitische
Aufstieg war eng mit Europas machtpolitischem Niedergang, ja mit der „Selbstentmachtung des vordem
55
mächtigsten Kontinents“ verbunden. Das Ende des
Kalten Krieges 1989/90 schuf völlig neue Grundlagen,
auch die machtpolitische Abhängigkeit der Europäischen Union von den USA begann zu schwinden. Die
EU hat die USA wirtschaftlich längst überholt und ist zu
ihrem wirtschaftlichen Konkurrenten geworden. Es fragt
sich nur, ob sie auch zu einem umfassenden Gegenspieler wird. Währungspolitisch hat die EU sich von den
USA emanzipiert. Die Weltleitwährung Dollar existiert
nicht mehr; im WTO-Rahmen herrschen schon seit
Jahren Handelskonflikte. Bleibt der militärischtechnologische Komplex, wo sich der Abstand zwischen der EU und den USA erheblich vergrößert hat.
Anzeichen für eine neue und genuin westeuropäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind bereits vorhanden. Eine Politische Union, in der die EU-Nationalstaaten eine Funktion ähnlich der US-Bundesstaaten
hätten, wird von den wenigsten Amerikanern als wünschenswert erachtet. Eine solche EU würde in direktem
Wettbewerb um die Welthegemonie mit den USA eintreten.
Vgl. Lippgens, Walter (Hrsg.): 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung.
Dokumente 1939-1984. Von den Schriften der Widerstandsbewegung bis zum
Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, Bonn 1986, S. 21
55
Charakteristika der EU-Außenbeziehungen
Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte
1979 im Zusammenhang mit der europäischamerikanischen Kooperation die provokante Frage
gestellt, welche die Telefonnummer Europas sei. Kissingers viel zitierte Bemerkung verwies auf ein grundlegendes Defizit der ansonsten erfolgreichen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik und die entsprechend beschränkten Möglichkeiten, mit der EU zu kooperieren.
Heute würde Kissinger wahrscheinlich die Telefonnummer der Britin Catherine Ashton, der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, erhalten. Die
Bezeichnung Hoher Vertreter, und eben nicht Außenminister, verweist darauf, dass die EU eine eigene spezifische Regelung der politischen Institutionalisierung
gefunden hat bzw. finden musste. Die gesamten europäischen Außen- und Sicherheitsbeziehungen sind ein
Kompromiss zwischen widerstreitenden Prinzipien und
unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten.
Ein großer Interessengegensatz ist die Bewahrung der
nationalstaatlichen Souveränität. Die EU ist kein Staat
mit einer Zentralregierung, die für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig ist. Da die Außen- und Sicherheitspolitik zu den Kernbestandteilen nationalstaatlicher
Souveränität gehört, sind alle Staaten – und dies gilt
auch und besonders für die Mitgliedstaaten der EU –
trotz ihrer generellen Bereitschaft, Souveränität abzugeben, sehr zögerlich, in der Außen- und Sicherheitspolitik Kompetenzen auf supranationale Institutio-
nen oder auch internationale Organisationen zu übertragen. Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU bleibt
56
daher prinzipiell intergouvernemental.
Der intergouvernementale Charakter der Außen- und
Sicherheitspolitik ist nicht nur Ausdruck der generellen
Ablehnung des Souveränitätsverzichts im Kernbereich
nationaler Sicherheit, sondern verstärkt sich noch
durch die heterogene Mitgliedschaft der mittlerweile 27
Staaten umfassenden EU mit ihren unterschiedlichen
Traditionen und Interessen. Neutrale Mitgliedsländer
wie Österreich, Finnland, Schweden und Irland sind
nicht bereit, einem Verteidigungs- oder Militärbündnis
beizutreten. Dies setzt der institutionalisierten Zusammenarbeit Grenzen bzw. macht flexible Strukturen erforderlich. Ferner orientieren sich zahlreiche Mitgliedstaaten in der Sicherheitspolitik an den USA und der
NATO. Traditionell gehört Großbritannien zu diesen
Atlantikern, weshalb der frühere französische Staatspräsident Charles de Gaulle das Vereinigte Königreich
als „verlängerten Arm der USA“ betrachtete und eine
Mitgliedschaft des Landes in der damaligen EG blockierte. Aber auch Spanien, Portugal, Tschechien, Bulgarien, Rumänien und Polen setzen auf die USA und
begrenzen die Möglichkeiten europäischer Kooperation, da für sie der Aufbau von EU-Kapazitäten als
Macht- und Statusverlust für die NATO empfunden
wird, die sie als Garant ihrer Sicherheit begreifen.
Das heißt, die Entscheidungskompetenz verbleibt bei den Staaten und Entscheidungen müssen einstimmig gefällt werden.
56
21
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Unter diesen schwierigen, historisch vorbelasteten
Rahmenbedingungen ist die Entwicklung der Außenund Sicherheitspolitik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten beachtlich, auch wenn die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)
nach wie vor im Vergleich zu anderen Politikfeldern zu
den Bereichen mit eher geringen Integrationsfortschritten gehören.
Konkret zeigt sich immer deutlicher die Notwendigkeit
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die
EU-Staaten verfügen durchaus über gleichgerichtete
Interessen, die gemeinsam weitaus wirkungsvoller
vertreten werden können als im Alleingang. Zu den
gleichgerichteten Interessen gehören beispielsweise
Sicherheit und Frieden in Europa und die Berücksichtigung europäischer Interessen im Welthandelssystem.
Weiterhin besteht eine „Nachfrage“ nach einer aktiven
57
Rolle in der Welt. Sie ergibt sich aus der Bedeutung
der EU, ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und
ihrem Wohlstand. Die EU ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht – die 27 Mitgliedstaaten bilden mit knapp
über 500 Millionen Einwohnern den größten und kaufkräftigsten Binnenmarkt der Welt und haben einen Anteil von rund 20% am Welthandel – ein globaler Player.
Es gibt zu einer aktiven Rolle der EU als globaler Akteur schlicht keine Alternative.
Zur GASP sowie zur gemeinsamen Sicherheitskooperation im Inneren zwingen nicht nur die zunehmende
Interdependenz und die transnationalen Bedrohungen
wie der Internationale Terrorismus, die organisierte
Kriminalität, die Gefahr atomarer Proliferation, das
Problem der Energiesicherheit und die drohende Klimakatastrophe. Auch die einzigartige politische Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten, die notwendigerweise globale Interessen verfolgen, dabei wenig Neigung zeigen, auf die Begrenzungen durch die Vereinten Nationen Rücksicht zu nehmen, und nicht mehr
bereit sind, die Kosten für die Sicherheit Europas zu
übernehmen, wie dies zur Zeit des Kalten Kriegs notwendig war, lässt eine gemeinsame Interessenvertre58
tung der Europäer als unausweichlich erscheinen.
Die EU ist zusammen mit den USA sowie ostasiatischen Wirtschaftsmächten (China, Japan) entscheidend in den Welthandelsrunden der WTO. Es ist nicht
übertrieben zu sagen, dass ohne die EU im Welthandelssystem keine Entscheidungen fallen können. Die
EU und ihre Mitgliedstaaten sind mit einem Anteil von
55% an der weltweiten staatlichen Entwicklungshilfe
größter Geber. Sie finanzieren rund 40% des Etats der
59
Vereinten Nationen und die EU-Mitgliedstaaten hatten
2009 circa zehnmal so viele Soldaten bei Friedensmissionen der UN im Einsatz wie die USA. So beeindruckend diese wenigen Kennzahlen auch sein mögen, sie
sagen aber noch nichts darüber aus, ob die EU mit
ihren 27 Nationalstaaten ein Akteur der Weltpolitik ist.
Es besteht nach wie vor eine Diskrepanz zwischen den
relativ geringen politischen Integrationsfortschritten und
dem weltwirtschaftlichen Gewicht der EU.
Vgl. Fröhlich, Stefan: Die Europäische Union als globaler Akteur, Wiesbaden 2008
Außerdem haben mit Frankreich und Großbritannien zwei EU-Staaten einen
ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Überlegungen, daraus
einen EU-Sitz zu machen, sind bisher an den nationalen Interessen der beiden
Staaten gescheitert und sind auf absehbare Zeit kaum vorstellbar.
58
59
Vgl. Schubert, Klaus/Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (Hrsg.): Die Europäische
Union als Akteur der Weltpolitik, Opladen 2000
57
22
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Im Ergebnis führen diese widerstreitenden Prinzipien
und Anforderungen an eine EU-Außenpolitik dazu,
dass die Außenbeziehungen der EU unterschiedlichen
Logiken folgen. Kennzeichnend für die auswärtigen
Beziehungen der EU ist, dass es zwei Klassen der
60
Politik gibt: zum einen die Gemeinschaftspolitiken,
zum anderen die intergouvernementale Außenpolitik im
Rahmen von GASP und ESVP. Zu den Gemeinschaftspolitiken gehören die von der Kommission verwaltete Außenhandelspolitik und die Entwicklungspolitik. Die Sicherheitspolitik ist hingegen streng intergouvernemental organisiert. Um die Sache aber noch
komplizierter zu machen: Es existieren auch bei den
Gemeinschaftspolitiken letztlich parallele Politiken der
60
Vgl. Herz, Dietmar: Die Europäische Union, München 2002
Nationalstaaten, so gibt es beispielsweise neben der
europäischen Entwicklungspolitik, die von Deutschland
zu über 20% finanziert wird, eine deutsche Entwicklungspolitik. Dies wirft in der Praxis konkrete Abstimmungs-, Koordinations- und Kohärenzprobleme auf, da
durchaus Unterschiede zwischen den nationalen Außenpolitiken und derjenigen auf europäischer Ebene
bestehen. Eine europäische Außenpolitik „aus einem
Guss“ ist daher eher eine Ausnahme. Für diese schwer
zu vermittelnde Konstruktion wurde von Reinhardt
Rummel der Begriff der „zusammengesetzten Außenpolitik“ geprägt, wobei damit die Außenpolitik der EUOrgane plus derjenigen der Nationalstaaten gemeint
61
war.
Vgl. Rummel, Reinhardt: Zusammengesetzte Außenpolitik. Westeuropa als
internationaler Akteur, Kehl 1982
61
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Während zunächst die wirtschaftliche Integration Europas im Vordergrund stand, wurde 1970 die erste Vereinbarung über das Verfahren der außenpolitischen
Zusammenarbeit mit dem „Luxemburger Bericht“ der
Außenminister verabschiedet. Kernziel dieser Zusammenarbeit war zunächst die Harmonisierung der außenpolitischen Standpunkte durch gegenseitige Unterrichtung. Anschließend konnten sich die Mitglieder auf
ein gezieltes gemeinsames Vorgehen verständigen.
Diese außenpolitische Zusammenarbeit zeichnete sich
durch einen rein zwischenstaatlichen Charakter aus
und unterschied sich so von der auf Integration zielenden Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen
Gemeinschaft. Diese in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene „Europäische Politische Zusammenarbeit“ (EPZ) zur Koordinierung der
mitgliedstaatlichen Außenpolitiken war nie Teil der da62
maligen EWG-Verträge.
1972 beschloss der Pariser Gipfel eine Intensivierung
der politischen Zusammenarbeit, die damit zur zweiten
Säule der europäischen Einigung aufgewertet wurde. In
den 1980er Jahren wurde die EPZ weiter ausgebaut
und gestärkt, allerdings begrenzte sich diese Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen auf politische und wirtschaftliche Standpunkte, verteidigungsund militärpolitische Fragen blieben weitgehend ausgeklammert. Die Einheitliche Europäische Akte von 1986
regelte die EPZ erstmals in völkerrechtlich verbindlicher
Form.
Im Vertrag von Maastricht (auch als Vertrag über die
Europäische Union bekannt) wurden 1992 schließlich
die Grundlagen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als zweite der drei Säulen der Europäischen Union geschaffen und erstmals im EU-
1970 legte der Belgier Vicomte Étienne Davignon als Ausschussvorsitzender der
politischen Direktoren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den „DavignonBericht zur Weiterentwicklung und politischen Einigung der EWG“ vor, in dem er
einen Informations- und Konsultationsmechanismus auf dem Gebiet der Außenpolitik
der damals noch sechs Staaten vorschlug.
62
Vertrag verankert. Seitdem ist die EU als Ganzes auf
der internationalen Bühne präsent und meldet sich zu
Konflikten oder Menschenrechtsfragen immer öfter mit
einer Stimme zu Wort.
Als eine zwischenstaatliche Kooperation auf Regierungsebene erläutert die GASP den Rahmen für eine
Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bezüglich der
Außen- und Sicherheitspolitik. Zu unterscheiden ist sie
dadurch von der ersten Säule der „Europäischen Gemeinschaften“, die unter anderem die gemeinsame
Handels- und Entwicklungspolitik bestimmt, sowie von
der dritten Säule, der „Polizeilichen und Justiziellen
Zusammenarbeit“. Gleichzeitig finden bezüglich der
GASP, im Gegensatz zur ersten Säule, weder gemeinschaftliche Entscheidungsverfahren ihre Anwendung
noch untersteht die GASP der Überprüfung durch den
Europäischen Gerichtshof. Durch das Einstimmigkeitsprinzip der GASP erhält letztendlich jeder Mitgliedstaat
das Vetorecht und somit die volle Kontrolle über die
Entwicklung der GASP. Die Regierungen der Mitgliedstaaten bleiben über den Europäischen Rat federführend (siehe Schaubild Seite 39).
Mit Außenbeziehungen der EU haben sich demnach
nicht nur die EU-Staats- und Regierungschefs, der/die
Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik und
der Rat für auswärtige Angelegenheiten (Außenminister) zu befassen, sondern auch fünf Generaldirektionen
der Europäischen Kommission (Außenbeziehungen,
Handel, Erweiterung, Entwicklung, humanitäre Hilfe)
sowie drei EU-Kommissare.
Im Vertrag von Maastricht werden mit Gemeinsamen
Strategien (Art. 13 EU-Vertrag), Gemeinsamen Aktionen (Art. 14 EU-Vertrag) und Gemeinsamen Standpunkten (Art. 15 EU-Vertrag) drei Instrumente definiert, die sich vor allem in ihrer Reichweite unterscheiden. Sie dienen dazu, die Außenpolitik der Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame EU-Linie festzulegen und
damit für Kohärenz zwischen den Außenpolitiken der
Mitgliedstaaten zu sorgen. (weiter Seite 26)
23
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Gemeinsame Strategien: Mit ihnen wird eine außenpolitische Leitlinie für einen bestimmten geografischen Raum oder einen thematischen Problembereich festgelegt (gemeinsame Strategien wurden
bisher zu Russland, zur Ukraine und zum Mittelmeerraum verabschiedet);
Gemeinsame Aktionen wie die Entsendung von
Wahlbeobachtern (Russische Föderation 1993),
von Sonderbeauftragten (zum Wiederaufbau Bosnien-Herzegowinas 1994) oder Polizeimissionen
(Mazedonien 2003);
Gemeinsame Standpunkte: Die Mitgliedstaaten
einigen sich in einer spezifischen Frage auf eine
gemeinsame Haltung und richten ihre einzelstaatliche Außenpolitik daran aus (z.B. Verbot der Einreise bestimmter Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien wegen ihrer Nähe zum Milosevic-Regime). Beschlüsse im Rahmen
der GASP müssen einstimmig gefällt werden.
Eingeführt wurde mit dem Vertrag auch die Möglichkeit,
Sondergesandte zu entsenden, die, mit jeweils unterschiedlichen Mandaten vom Rat ausgestattet, die
EU-Politik insbesondere in Krisengebieten vertreten.
Ein „Hoher Repräsentant“ („Mister GASP“), zugleich
Generalsekretär des Rats, sollte der GASP Gesicht
und Stimme geben. Erster Amtsinhaber wurde im
Oktober 1999 der spanische Politiker Javier Solana
(zugleich wurde er auch Generalsekretär der WEU).
Im Bereich der Sicherheitspolitik bestätigte die EU zunächst das Prinzip von Maastricht, dass die GASP die
„Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) verwirklicht sehen“ (Art. 17 Abs. 1
EU-Vertrag), achten muss. Der Artikel 17 geht insgesamt davon aus, dass die EU-Politik kompatibel mit der
NATO-Politik ist. In der politischen Praxis hingegen
zeigt sich, dass gerade das Verhältnis zwischen EUAußen- und zunehmend auch der Sicherheitspolitik auf
der einen und der NATO auf der anderen Seite keineswegs geklärt ist, sondern für langjährige Konflikte
zwischen und unter den EU-Mitgliedstaaten, den EUInstitutionen, der NATO und den USA sorgt.
Nachdem der Vertrag von Maastricht 1992/93 erstmals
grundsätzlich eine eigene Sicherheitspolitik der EU als
ein mögliches Ziel benannt hatte, dauerte es noch fast
sieben Jahre bis erste Anstrengungen in dieser Richtung unternommen wurden.
26
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Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)
Bei einem britisch-französischen Treffen in St. Malo
1998 änderte die neu ins Amt gewählte Regierung unter Tony Blair den bisherigen Kurs und Großbritannien
gab seinen Standpunkt auf, dass die militärische Sicherheitspolitik allein im Rahmen der NATO im ständigen Schulterschluss mit den USA betrieben werden
könne. Großbritannien stimmte zu, der EU eine militärische Dimension zu geben und sich an einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu beteiligen. Die französische Regierung, die beharrlich eine
größtmögliche Unabhängigkeit Europas von den USA
anstrebte, begrüßte den Sinneswandel Tony Blairs,
bemühte sich aber gleichzeitig um Einbeziehung der
Bundesrepublik Deutschland, ihres traditionellen Partners bei allen bedeutsamen Integrationsschritten der
Gemeinschaft. So kam es beim Europäischen Gipfeltreffen in Köln (Mai 1999) zur Integration der WEUInstitutionen in die EU und die Entwicklung „militärischer Fähigkeiten“ für ein Krisenmanagement gemäß
den Petersberg-Aufgaben.
Nachdem die EU in den Jugoslawien-Kriegen zwischen
1992 und 1995 weitgehend versagt hatte, zeigte die
NATO-Intervention im Kosovo 1999 erneut die Hand63
lungsunfähigkeit der EU auf. Während in den Sezessions- und Bürgerkriegen bis 1995 die EU vor allem
durch Uneinigkeit gelähmt war, fehlten 1999 in erster
Linie militärische Kapazitäten. Es war daher wiederum
das militärische Eingreifen der USA, das zum Sturz des
Milosevic-Regimes in Belgrad führte. Die erneute Deklassierung der europäischen Staaten gab den äußeren Impuls für den Aufbau von EU-Militärkapazitäten.
Die militärische Komponente der Europäischen Union
hat sich also vor allem in Reaktion auf die Kriege im
zerfallenden Jugoslawien herausgebildet. 1999 beschloss die Union, ihre bereits in Maastricht vereinbarte
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
um eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu erweitern und dafür zivile und
militärische Instrumente der Krisenreaktion bereitzustellen. Diesem Vorstoß lag kein schlüssiges Konzept,
geschweige denn eine eindeutige Zieldefinition zugrunde. Die Staats- und Regierungschefs waren lediglich
zur Einsicht gekommen, dass die Gemeinschaft auf
den grundlegenden Wandel des internationalen Systems reagieren und künftig mehr sicherheits- und verteidigungspolitische Fähigkeiten aufbauen und Verantwortung übernehmen müsse.
Während einige Mitgliedstaaten, allen voran Frankreich, mit dem Projekt einer ESVP auch das Ziel einer
Emanzipation Europas von der westlichen Supermacht
USA verbanden, stand für andere Mitgliedstaaten wie
beispielsweise Deutschland der erwartete integrationspolitische Impuls im Vordergrund. Großbritannien wiederum ging es um eine künftige Führungsrolle innerhalb der Gemeinschaft. Wie im europäischen Integrationsprozess durchaus üblich, wurden Divergenzen in
Vgl. Barth, Peter: Der Zerfall Jugoslawiens und die Folgen für Europa, München
2001, 2. Auflage
63
der Zielperspektive jedoch vorerst zurückgestellt und
man machte sich daran, Strukturen zu schaffen.
Entscheidende Weichenstellungen dafür gingen von
den EU-Gipfeln in Köln (4.6.1999) und Helsinki (10.11.12.1999) aus. Die Ratsbeschlüsse sahen konkrete
Schritte zum Aufbau einer ESVP vor, die langfristig
weltweite militärische Einsatzfähigkeiten gewährleisten
sollten (bis 2003 sollten militärische Verbände in der
Stärke von 15 Brigaden – rund 60.000 Soldaten – für
Petersberg-Aufgaben zur Verfügung stehen). Die Fortentwicklung der ESVP erfolgte außerhalb der Verträge
bzw. die allgemeinen Bestimmungen wurden äußerst
64
weitgehend interpretiert. Die ESVP wurde in den folgenden Jahren zum integralen Bestandteil der GASP,
der zweiten Säule des Maastricht-Vertragswerks, und
war damit eindeutig dem intergouvernementalen Prinzip unterworfen. Militärische und verteidigungspolitische Maßnahmen, beispielsweise Krisen- und Friedenseinsätze, bedürfen der Einstimmigkeit, hier gilt das
Konsensprinzip. Doch wird der Einstimmigkeitszwang,
durch Flexibilisierung und konstruktive Enthaltung abgeschwächt, wodurch europäische Aktivitäten wahrscheinlicher werden.
Der Vertrag sorgte weiterhin für eindeutige Verfahrensregeln: Oberstes Entscheidungsorgan ist der Europäische Rat, der auf seinen Gipfeltreffen die Grundsätze
und allgemeinen Leitlinien der GASP festlegt und Gemeinsame Strategien für das Vorgehen der Union ausarbeitet (bislang für Russland, die Ukraine und den
Mittelmeerraum). An diesen Vorgaben orientiert sich
der Ministerrat bei seinen Entscheidungen. Erscheint in
einer besonderen Situation das Eingreifen der EU erforderlich, beschließt der Rat eine Gemeinsame Aktion,
an die dann alle Mitgliedstaaten gebunden sind. Der
Rat formuliert auch Gemeinsame Standpunkte, die für
die Haltung der EU zu wichtigen außenpolitischen
Themen maßgeblich sind. Für diese Beschlüsse genügt im Rat eine qualifizierte Mehrheit; sonst ist im
Allgemeinen Einstimmigkeit erforderlich. Stimmenthaltungen eines Mitglieds beeinflussen die Entscheidung
nicht.
Weiteres Zeichen für den fortschreitenden Integrationsprozess innerhalb der GASP war die mit dem Vertrag von Amsterdam (02.10.1997) neu geschaffene
Kompetenz des Europäischen Rates zum Abschluss
von Verträgen mit Drittstaaten sowie eine Regelung,
die vorsieht, dass die Kosten von Maßnahmen im Bereich der GASP in der Regel aus dem EU-Haushalt zu
tragen sind. Zuvor waren solche Maßnahmen von den
beteiligten Staaten im Umlageverfahren finanziert worden. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurden auch alle
Petersberg-Aufgaben in die neuen Strukturen der Union inkorporiert, genauso wie das Satellitenzentrum in
Torrejon bei Madrid und das Institut für Sicherheitsstudien (ISS) in Paris. Beide gehören seit Januar 2002 zu
den Sicherheitsstrukturen der EU.
Vgl. Kremer, Martin/Schmalz, Uwe: Nach Nizza – Perspektiven der Gemeinsamen
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: integration (2), S. 167-178
64
27
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Im Rahmen der GASP entwickelt die EU inzwischen
eigene politische und militärische Strukturen, die sie
zur Durchführung von Krisenbewältigungsaufgaben befähigen – seien es humanitäre Aufgaben, friedenserhaltende Maßnahmen oder auch Kampfeinsätze. Die EU
will künftig in der Lage sein, in Fragen der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung eigenständig zu entscheiden und in internationalen Krisen, in denen die
NATO als Ganzes nicht aktiv wird, auch militärisch
einzugreifen. Es soll ihr möglich sein, das gesamte
Spektrum der so genannten „Petersberg-Aufgaben“
aus eigener Kraft wahrzunehmen.
Sollte ursprünglich die Westeuropäische Union als
„militärischer Arm“ der EU dienen, so eröffnete der
Vertrag von Amsterdam die Möglichkeit einer vollständigen Integration der WEU in die EU. Durch die Beschlüsse des Gipfels von Nizza (9.12.2000) hat die
Gemeinschaft ferner inzwischen eigene Krisenbewältigungsstrukturen aufgebaut und weist die Verteidigungspolitik als eigenständige Politik der Europäischen
Union aus.
Mit dem „Politischen und Sicherheitspolitischen
Komitee“ (PSK) wurde das zentrale Gremium der
GASP/ESVP ins Leben gerufen. Das PSK wird von
Vertretern der Mitgliedsländer im Botschafterrang gebildet, zu denen ein Kommissionsvertreter hinzutritt. Es
schlägt dem Rat die im Krisenfall zu ergreifenden Maßnahmen vor und ist für die politische Kontrolle und strategische Leitung der Militäroperationen zuständig. Der
Rat kann ihm auch die Leitung von Operationen übertragen. Das PSK entwickelte schnell eine Eigendynamik und etablierte sich als „operative Schaltzentrale“
65
der GASP. Rund um das PSK entstanden in den folgenden Jahren eine ganze Reihe von Institutionen und
Gremien, die dem PSK zuarbeiten und z.T. dem Hohen
Vertreter direkt unterstehen:
EUMC (EU Military Committee): Der Militärausschuss ist das höchste militärische Gremium und
wurde mit Beschluss des Rates vom 22.01.2001
installiert. Er besteht aus den Delegierten der nationalen Generalstabschefs mit einem ständigen
Vorsitzenden im Range eines Vier-Sterne-Generals. Dieser vertritt den Ausschuss vor dem PSK
und dem Rat und dient als Ansprechpartner für den
Hohen Vertreter in Militärangelegenheiten. Neben
der umfassenden militärischen Beratung des PSK
ist eine wesentliche Aufgabe des EUMC, die militärische Leitung der Union im Krisenfall zu übernehmen.
EUMS (EU Military Staff): Der Militärstab wurde
durch Beschluss des Rates vom 22.01.2001 installiert und unterstützt den Militärausschuss. Er setzt
sich aus Mitarbeitern zusammen, die von den Mitgliedstaaten entsendet werden, und wird von einem
Drei-Sterne-General geleitet. Hauptaufgabe des
Stabes ist es, militärisches Fachwissen zur Verfügung zu stellen, indem er Frühwarnungen, Lagebeurteilungen und strategische Planungen hinsichtlich
der Petersberg-Aufgaben erarbeitet. Operative Planungen sind jedoch dem Militärausschuss und dem
PSK vorbehalten.
Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2007, S. 67; Fährmann, Ingo:
Die Bundeswehr im Einsatz für Europa. Die Beteiligung Deutschlands an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) – Zulässigkeit nach dem
Vertrag von Lissabon, Baden-Baden 2010
65
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CIVCOM (Committee for Civilian Aspects of Crisis
Management): Ausschuss für zivile Aspekte der
Krisenbewältigung im Rahmen von ESVP-Missionen
SitCen (EU Situation Centre): Eine im Ratssekretariat angesiedelte Lage- und Analyseabteilung. Obwohl von Kommission und Rat sowie von den nationalen Regierungen der Begriff „EU-Geheimdienstabteilung“ stets widersprochen wird, werden
hier die Informationen nationaler (Auslands-) Geheimdienste zusammengetragen und ausgewertet.
EDA (Europäische Verteidigungsagentur): ermittelt
für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung
den operativen Bedarf und fördert die Maßnahmen
zur Bedarfsdeckung.
Entscheidungen über mögliche militärische Operationen trifft der Ministerrat unter Beteiligung der EUKommission und des Hohen Vertreters der GASP. Mit
ihrer ausdifferenzierten Infrastruktur verfügt die GASP
über die nötigen Voraussetzungen, militärische Einsätze durchzuführen. Verschiedene Gremien übernehmen
beratende, koordinierende und ausführende Aufgaben
im Rahmen der ESVP. Höchstes militärisches Gremium im Rat ist der EU-Militärausschuss, der sich aus
den Generalstabschefs der Mitgliedsländer zusammensetzt. Er berät das PSK in allen militärischen Fragen und nimmt die militärische Leitung im Rahmen der
EU wahr. Unterstützt wird er durch den EU-Militärstab,
der unter anderem für Frühwarnung, Lagebeurteilung
und strategische Planung zuständig ist, die Verbindung
zu den beteiligten Streitkräften herstellt und die militärischen Operationen überwacht.
Parallel zum Aufbau einer Führungs- und Befehlsstruktur wurden auch die direkten militärischen Fähigkeiten
der EU ausgebaut. Bereits auf dem Treffen des Europäischen Rates in Helsinki (10.-11.12.1999) beschloss
die EU mit dem „European Headline Goal“ die Aufstellung von Krisenreaktionskräften (Rapid Reaction Force
– ERRF) in einer Stärke von 60.000 Mann (was aufgrund der erforderlichen Rotation und logistischen Unterstützung einem Gesamtumfang von ca. 180.000
Soldaten entspricht – davon 40.000 Soldaten für Bodentruppen und 20.000 Soldaten für Luftwaffe, Marine
und Militärlogistik) bis Ende 2003.
Sie sollten die Union in die Lage versetzen, innerhalb
von zwei Monaten eine Schnelle Eingreiftruppe in Krisengebiete zu verlegen und deren Einsatz bis zu einem
Jahr aufrechtzuerhalten. Dazu gehören humanitäre
Missionen und Rettungseinsätze, friedenserhaltende
Einsätze einschließlich militärischer Friedenserzwingung durch Kampfeinsätze. Diese Ziele werden auch
als die so genannten „Petersberg-Aufgaben“ bezeichnet. Doch diese Truppe existiert bislang nur auf dem
Papier; sie wäre angesichts disparater Militärtraditionen, Waffensysteme und Befehlsstrukturen kaum
einsatzfähig.
Die Erfüllung der Petersberg-Aufgaben sowie ein Eingreifen in internationalen Konflikten können sowohl
nichtmilitärische als auch militärische Maßnahmen
erfordern. Bei den nichtmilitärischen Aufgaben legte die
EU den Schwerpunkt auf den Einsatz von Polizeikräften, die Stärkung des Rechtsstaats (wie zum Beispiel
der Justiz und dem Strafvollzug), die Stärkung der Zivilverwaltung und den Zivilschutz in Krisengebieten.
66
Neben 5.000 Polizisten haben sich die EU-Staaten
verpflichtet, einen Pool von insgesamt über 7.000
Rechtsexperten, Verwaltungsfachleuten, Krisenexperten und Experten für den Katastrophenschutz zu bilden. Diese zivile Komponente soll zum Wieder- oder
sogar zum Neuaufbau staatlicher Verwaltung und Infrastruktur nach Kriegszerstörung beitragen und damit
die Chance auf dauerhaften Frieden nach Beendigung
von Kampfhandlungen erhöhen.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass
eine militärische Friedenserzwingung allein nicht ausreicht. Die kurze Frist bis 2003 konnte nicht eingehalten
werden, denn die Aufstellung der EU-Eingreiftruppe
verzögerte sich aufgrund von Finanzierungsproblemen.
Außerdem besaßen für die Mitgliedstaaten Reformen
67
der nationalen Streitkräfte Priorität.
Um trotzdem militärisch zumindest im begrenzten
Rahmen intervenieren zu können, beschloss die EU,
Krisenreaktionskräfte zur raschen Bewältigung von
Krisen (rapid response) in Form so genannter „Battle
Groups“ aufzustellen. Bei den Battle Groups handelt
es sich um 13 jeweils ca. 1.500 Mann starke, aus Soldaten verschiedener EU-Mitgliedstaaten zusammengesetzte Kampfeinheiten. Sie sollen innerhalb von nur
zehn Tagen einsatzbereit sein und in akuten Krisensituationen zum Schutz der Zivilbevölkerung oder zur
Wiederherstellung eines Mindestmaßes an Ordnung
eingesetzt werden. Bis Mitte 2008 waren die ersten
zwei Battle Groups einsatzbereit.
Aber auch alle 13 künftigen Battle Groups zusammen
machen mit knapp 20.000 Mann noch keine „Militärmacht“ aus; jedes Mitgliedsland (außer Luxemburg) hat
mehr Truppen. Und wenn von militärischen Fähigkeiten
der Union die Rede ist, dann handelt es sich um freiwillig abgestellte Kontingente der Mitgliedstaaten: Für
jede Militärmission muss die EU sich die nötigen Truppen zusammenbetteln. Es geht also nicht um militärische Großmachtgeltung; die haben nur noch einzelne
Mitgliedstaaten, nicht die Union.
Warum also das Odium der Gewaltdrohung auf sich
nehmen, wenn so wenig Realität dahinter steckt? Man
ahnt den Grund: Auch wenn die Battle Groups die Europäische Union nicht zur Militärmacht machen, so
können sie doch wirkungsvoll etwa in einen afrikanischen Bürgerkrieg eingreifen. Die Union positioniert
sich, mit aller Ambivalenz, als militärischer Weltpolizist,
alternativ und konkurrierend zu den USA, mit besonderen Interessen im nahen geographischen Umfeld und in
Afrika.
Im September 2004 wurde die European Gendarmerie Force (EGF) gegründet
(Niederlande, Frankreich, Italien, Spanien und Portugal).
67 Vgl. Kohler-Koch, Beate/Conzelmann, Thomas/Knodt, Michèle: Europäische Integration – Europäisches Regieren, Wiesbaden 2004
66
29
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 29
28.10.2010 8:37:10 Uhr
Aber die enge Verzahnung mit der NATO sorgt dafür,
dass die Europäische Union kaum an größere Operationen denken kann. Alle Schritte zum Ausbau ihrer „military capabilities“ müssen mühsam mit der NATO abgestimmt werden. Derzeit gilt der Kompromiss, dass
die EU auf die Planungs- und Führungseinrichtungen
der NATO zurückgreifen kann, aber auf ein eigenes
Planungszentrum verzichtet; zugestanden ist ihr eine
„Civil Military Cell“ zur Koordinierung der militärischen
mit zivilen Aspekten künftiger EU-Missionen. Damit
bleibt die NATO das einzige relevante Militärbündnis in
Europa, das darüber mitentscheidet, wozu und wie die
68
EU ihre Militärkräfte einsetzt.
Die Pläne der EU zur Bildung einer eigenständigen
Europäischen Sicherheits- und Vereidigungspolitik ab
1999 wurden zunächst insbesondere von den NATOPartnern ohne EU-Mitgliedschaft sehr kritisch verfolgt.
Die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright
stellte 1998 in ihren „3Ds“ folgende Bedingungen an
eine autonome ESVP:
„No decoupling“: keine Abkoppelung europäischer von transatlantischen Entscheidungsprozessen;
„No duplication“: keine Verdoppelung von Streitkräfteplanungen, Kommandostrukturen und Beschaffungsmaßnahmen;
„No discrimination“: keine Diskriminierung europäischer NATO-/Nicht-EU-Mitglieder.
Eine vierte Bedingung wurde vom US-Kongress hinzugefügt: Die NATO soll das „Recht auf erste Verweigerung“ (right of first refusal) in Bezug auf EUFriedenseinsätze besitzen. Diese vier Bedingungen
reflektieren die sicherheits- und verteidigungspolitischen US-Interessen in Europa im Jahre 1998. Aus der
im März 2006 veröffentlichten Nationalen Sicherheitsstrategie der USA geht hervor, dass die NATO weiterhin eine relevante „Säule der US-Außenpolitik“ bleibt.
Was also ist gewollt: Militär oder Polizei? So richtig es
ist, dass manche Privatmilizen allein durch gutes Zureden nicht zu entwaffnen sind, so richtig ist auch, dass
sich keiner der vielen Gewaltkonflikte militärisch lösen
lässt. Die Millionen von Kleinwaffen in aller Welt sind
nur mit politisch-sozialen Mitteln zu neutralisieren, die
Hisbollah im Libanon oder Hamas in Palästina können
nur auf politischem Wege eingebunden werden, das
Zerstörungspotenzial des Terrorismus lässt sich nur
politisch minimieren. Um in diesem Sinne politisch zu
wirken, müsste die EU konsequent beim polizeinahen
Blauhelm-Modell bleiben, statt durch eigenes Militärgebaren die Gewaltlogik noch zu verstärken.
Statt in anachronistische Muster des überholten Nationalstaats zu verfallen, sollte die EU ihren weltweiten
Einfluss als Zivilmacht stärken, indem sie ihre bewaffneten Kräfte als Völkerrechtspolizei unter dem Dach
der zu reformierenden UN aufstellt. Der Unterschied
läge nicht nur in der Bewaffnung und den EntscheiVgl. Blanck, Kathrin: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im
Rahmen der europäischen Sicherheitsarchitektur, Wien-New York 2005
68
dungswegen, sondern vor allem im Denkansatz: nicht
militärische Interessenerzwingung, sondern zivile
Rechtsdurchsetzung im Rahmen politischer Lösungen
mit diplomatischen Mitteln. Mit einem solchen Neuansatz könnte die EU sich weltpolitisch aufwerten, auch
gegenüber den USA. „Humanitäre Interventionen“ ließen sich glaubwürdiger von westlicher Interessenpolitik
abgrenzen. Und im drohenden Konflikt zwischen westlicher und islamischer Welt könnte die EU glaubwürdiger vermitteln.
Natürlich ist das bestehende Völkerrecht keineswegs
ideal, man denke nur an die skandalöse Interessenpolitik der Großmächte als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat, an der die EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien mitwirken. Aber diesem Völkerrecht entgeht
die EU ohnehin nicht: Da die ESVP einstimmige Entscheidungen erfordert, ist eine EU-Mission ohne Mandat der UN undenkbar (aber explizit möglich); es genügt, dass ein einziges Mitgliedsland ein solches Mandat fordert. „Wir sind der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet“, heißt es in der Sicherheitsstrategie
der EU. Das wäre überzeugender, wenn man sich zu
allererst an Geist und Buchstaben des Völkerrechts
halten würde. Nur eine EU, die sich ohne Wenn und
Aber der Autorität des Sicherheitsrats unterstellt, kann
die Erweiterung und Reform dieses wichtigsten UNOrgans fordern. Warum also hält sich die EU das Hintertürchen offen, dass sie auch ohne UN-Mandat losschlagen könnte? Die sicherste Gewähr gegen einen
europäischen Militarismus liegt aber in den institutionellen Selbsthemmnissen der EU. Bisher haben die Mitgliedstaaten relevante Souveränitätsanteile nur im Bereich von Wirtschaft, Handel und Finanzen an die EU
übertragen. Sachwalter dieser „gepoolten“ Wirtschaftssouveränität ist die Europäische Kommission, und nur
sie hat den entsprechenden großen Stab, ein Milliardenbudget und politische Handlungsfähigkeit nach
außen. Dagegen haben bei der GASP weiterhin die
Mitgliedstaaten das Sagen.
Die Außenpolitik der EU hat also zwei Köpfe: für die
sozioökonomischen Bereiche die Kommission, für die
Sicherheitspolitik den Rat. Beide Institutionen funktionieren nach unterschiedlicher Logik, so als gehörten
sie verschiedenen, ja konkurrierenden Organisationen
an. Eine kohärente EU-Außenpolitik, bei der wirtschaftliche und politische Instrumente ineinandergreifen, ist
so kaum möglich.
Europa hat einen unvergleichlichen Reichtum an Erfahrungen und Ressourcen der nichtmilitärischen Konfliktbewältigung. Gerade vor dem Hintergrund der Vergangenheit ist die europäische Integration eines der erfolgreichsten Friedensprojekte der Weltgeschichte. Die
dabei entwickelten Strukturen geteilter Souveränität
sind weltweit einmalig und friedenspolitisch wegweisend. Die in der EU erprobten Verhandlungssysteme
haben zu Stabilität und Wohlstand beigetragen. Ein
Global Player ist die EU nur dank ihrer zivilen und nicht
ihrer militärischen Mittel; nur hier liegen ihre Vorteile
gegenüber der Militärmacht der USA und anderen geopolitischen Akteuren. Warum also sollte der zivile Riese
ein militärischer Zwerg werden wollen?
30
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 30
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Und noch etwas gilt es zu beachten: Schon jetzt unterliegt die EU-Militärpolitik keiner parlamentarischen Kontrolle. Ihr weiterer Ausbau würde das Demokratiedefizit
der Europäischen Union noch verstärken und damit
auch die Skepsis ihrer Bürger. „Die EU sollte Demokratie nicht anderswo erzwingen, sondern bei sich verwirklichen“, schreibt der Friedensforscher Johan Galtung.
Eine bewaffnete Völkerrechtspolizei (eine Art „Fremdenlegion für den Frieden“) ließe sich demokratie- und
gemeinschaftsverträglich gestalten; militärische Kulissen nicht. Eine weitere Militarisierung würde den
Machtetatismus in die Union hineintragen und damit
deren Risse vertiefen, ohne den außenpolitischen Einfluss Europas zu stärken.
Europäische Sicherheitsstrategie (ESS)
Die weiter bestehenden sicherheitspolitischen Differenzen der EU-Staaten brachen 2003 anlässlich des von
den USA geführten Koalitionskrieges gegen den Irak
deutlich auf. Frankreich und Deutschland lehnten eine
Teilnahme ab, Großbritannien stellte sich vorbehaltlos
an die Seite der USA. Diese förderten ihrerseits mit
ihrer Politik des Gegensatzes zwischen „altem“ und
„neuem“ Europa die sicherheitspolitische Spaltung der
EU und trugen zu einem Rückschritt bei der Verwirklichung der ESVP bei.
Als Reaktion auf die Spaltung der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union im Vorfeld des Irak-Krieges 2003
erhielt der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, Javier Solana (Mister GASP),
die Aufgabe, den Entwurf einer „Europäischen Sicherheitsstrategie“ (ESS) zu formulieren. Sowohl
durch das Ende des Kalten Krieges sowie aufgrund
veränderten Sicherheitslage nach dem 11. September
2001 schien die Bestimmung der strategischen Rolle
und Aufgaben der EU notwendig. Die ESS lehnt sich in
Wort und Geist eng an die „Nationale Sicherheitsstrategie“ (NSS) der USA aus dem Jahre 2002 an und
stellt das erste sicherheitspolitische Dokument seiner
Art dar; es leitet einen Paradigmenwechsel in der EU
ein. Die EU versteht sich mit diesem Dokument als ein
globaler Akteur, der auch einen Teil der Verantwortung
für die globale Sicherheit tragen und einen Beitrag leisten soll, der seinem Potenzial entspricht.
Mit diesem Dokument konnten sich die EU-Mitgliedstaaten zum ersten Mal auf eine gemeinsame Bedrohungsperzeption und einen einheitlichen Sicherheitsbegriff einigen. Für eine aktive und gemeinsame
Sicherheitspolitik der EU kommt es allerdings weniger
auf die von der Verfassung geplante Institutionalisierung als auf eine gemeinsame Sicht und auf einen gemeinsamen Handlungswillen an. Der Europäische Rat
nahm die Strategie nach langwierigen Diskussionen am
12. Dezember 2003 an.
Die ESS identifiziert zunächst die Hauptbedrohungen,
denen sich Europa ausgesetzt sieht: der Terrorismus,
die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, das Scheitern von Staaten sowie die
organisierte Kriminalität. Weiterhin erkennt die ESS
Armut, Hunger, Krankheiten und Epidemien wie AIDS
sowie den Wettstreit um Naturressourcen, insbesondere Wasser, als globale Herausforderungen und Ursachen von Sicherheitsproblemen an.
Europäische Sicherheitsstrategie
Ein sicheres Europa in einer besseren Welt
31
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 31
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Um die Sicherheit ihrer Bürger zu verteidigen und die
Werte der EU zur Geltung zu bringen, setzt die EU als
Folge auf drei strategische Ziele:
die Abwehr der Bedrohungen nicht nur mit militärische Mitteln, sondern mit dem gesamten ihr zur
Verfügung stehenden Instrumentarium;
die Stärkung der Sicherheit in unmittelbarer EUNachbarschaft durch die Entstehung eines Rings
verantwortungsvoll regierender Staaten östlich der
EU und an den Mittelmeergrenzen;
sowie einer Weltordnung auf der Grundlage eines
wirksamen Multilateralismus basierend auf den
Vereinten Nationen, einer stärkeren Weltgemeinschaft, gut funktionierenden internationalen Institutionen und einer geregelten Weltordnung.
Grundlage des letzteren Ziels ist die Überzeugung,
dass keine Nation den neuen globalen Bedrohungen im
Alleingang gewachsen ist.
Die identifizierten Bedrohungen und strategischen Ziele
der EU haben folglich Auswirkungen auf das Handeln
der Europäischen Union. Die ESS fordert daher eine
noch aktivere, kohärente und handlungsfähigere Handlungsweise der EU. Sie plädiert für ein aktiveres außenpolitisches Handeln mit dem gezielten Einsatz des
breiten Spektrums von diplomatischen, handels- und
entwicklungspolitischen Instrumenten bis hin zum militärischen Einsatz als letztem Mittel der Konfliktprävention und der Krisenbewältigung. Zivile und militärische
Fähigkeiten müssen aufgestockt und besser genutzt
werden. Diese Instrumente müssen zudem besser
gebündelt und abgestimmt werden. Auch gilt es, die
Zusammenarbeit der EU mit ihren Partnern – über das
unersetzliche transatlantische Verhältnis hinaus – zu
stärken.
Als erste konkrete Umsetzungsmaßnahme hat der
Europäische Rat in Brüssel am 12./13. Dezember 2003
die Strategie der EU gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen angenommen; sie stellt eine
entscheidende Komponente der ESS dar. Darüber
hinaus haben die Mitgliedstaaten der EU bereits in vier
Bereichen Maßnahmen implementiert. Im Rahmen
eines Beitrags zu einem wirksamen Multilateralismus
hat die EU die „Hochrangige Gruppe für Bedrohungen,
Herausforderungen und Wandel“ der Vereinten Nationen unterstützt, gleichzeitig arbeitet die EU daran, die
Vereinten Nationen im Bereich des Krisenmanagements effektiver zu unterstützen.
Im Kampf gegen den Terrorismus hat die EU 2001 über
70 Einzelmaßnahmen sowie 2004 eine Erklärung mit
sieben strategischen Zielen für ein gemeinsames Vorgehen gegen den Terrorismus verabschiedet. Das
„Haager Programm“, das am 5. November 2004 vom
Europäischen Rat verabschiedet wurde, enthält weitreichende Maßnahmen auch zur Terrorismusbekämpfung und für den Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Im Bereich der Strategie gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten hat der Europäische Rat im Juni 2004 den Bericht über die Strategische Partnerschaft der EU mit dem Mittelmeerraum
sowie dem Nahen und Mittleren Osten angenommen.
Ziel dieser Partnerschaft ist eine Zusammenarbeit, die
Frieden, Wohlstand und Fortschritt in der Region fördert und dabei auf bewährten Instrumenten wie dem
Barcelona-Prozess aufbaut. Zugleich wird eine Lösung
des Nahost-Konflikts angestrebt (vgl. Schaubild S. 43).
Im Rahmen einer umfassenden Politik gegenüber Bosnien und Herzegowina strebt die EU die größtmögliche
Kohärenz und Effektivität aller EU-Akteure in Bosnien
und Herzegowina an. Bereits 2004 hat die EU mit
EUFOR/Althea die Nachfolge der NATO-Operation
SFOR angetreten. Ein Kritikpunkt der ESS ist die Unklarheit bezüglich der Auswirkungen auf das gesamteuropäische Handeln. Zwar soll die EU laut ESS aktiver,
handlungsfähiger und kohärenter werden, wie dies
jedoch konkret geschehen soll, bleibt offen. Ferner
bleiben die konkreten Beziehungen zwischen EU und
NATO undefiniert. Weiterhin bleibt unbeantwortet in
welchen spezifischen Fällen sich die EU zivil oder militärisch engagieren wird.
Die Europäische Sicherheitsstrategie ist folglich als
Grundlage für die Weiterentwicklung des europäischen
sicherheitspolitischen Denkens zu sehen sowie als
Identifizierung der gemeinsamen Bedrohungen und
Reaktionen. Zugleich bietet die ESS eine Basis für
weiterführende außenpolitische Strategien, Konzepte
und Debatten und gute Ansatzpunkte, deren Umsetzung zu einer handlungsfähigeren ESVP führen können.
Im Dezember 2008 nahm der Europäische Rat einen
Bericht des Hohen Repräsentanten Solana über die
Umsetzung der ESS-Strategie an. Dadurch wurden die
aufgeführten Herausforderungen und Bedrohungen
aktualisiert. So fand die Piraterie als eine Folge gescheiterter Staaten ebenso Berücksichtigung wie die
Fortschritte des iranischen Atomprogramms mit seinen
Konsequenzen für die Stabilität in der Region und das
Regime der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen.
Die Verwundbarkeit von Lebensadern der Gesellschaft
wie Informationssysteme und Energieversorgung wurde ebenso hervorgehoben wie sicherheitspolitische
Folgen des Klimawandels mit Blick auf regionale Konflikte und ungelenkte Bevölkerungsbewegungen.
Gleichzeitig verordnete man sich mehr Effektivität, weiteren Fähigkeitszuwachs und stärkere Sichtbarkeit
„rund um die Welt“.
Generell muss man feststellen, dass sich das militärische Denken Europas immer noch in amerikanischen
Bahnen bewegt. Es begreift die Globalisierung nur als
Projektion des Bildes, das der Westen von sich selbst
hat, mit den USA als Mittelpunkt, um den die anderen
Länder in einer mehr oder weniger entfernten Periphe69
rie kreisen. Eigentlich müssten sich die europäischen
Verteidigungsstrategen in ihren Überlegungen auf wesentliche Fragen konzentrieren: Können die USA mit
ihrer Verantwortung sowohl für die weltweite Finanzkrise als auch für diverse politisch-militärische Desaster
und für die Verschärfung des „Kampfes der Kulturen“ in
Zukunft den Anspruch erheben, die Welt zu führen?
69
Vgl. Barth, Peter: Globalisierung – Chancen und Risiken, München 1999
32
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 32
28.10.2010 8:37:11 Uhr
Kann und soll Europa eine Weltmacht wie die USA
werden? Und wenn ja: Was wäre dafür das Modell?
Welche Krisen und Konflikte sind gefährlich für Europa
und mit welchen militärischen oder nichtmilitärischen
Mitteln wären sie zu lösen? Welche eigenen Verteidigungsstrategien könnte Europa entwickeln um Gefahren zu neutralisieren, statt sie mit Gewalt zu bekämpfen?
Solange die EU auf dem Gebiet der internationalen
Beziehungen immer nur in den Kategorien der USStrategen denkt, obwohl die europäischen Institutionen
auf Krisenmanagement, Konsens und Verhandlungen
aufbauen, wird sich nichts ändern. Europa muss auf
eigene Kompetenzen zurückgreifen können, wenn es
darum geht, Krisen und Konflikte einzuschätzen. Viele
europäische Verteidigungsexperten machen es sich zu
leicht und fragen lieber, wie die Amerikaner ein bestimmtes Problem beurteilen, statt eine europäische
Sichtweise zu entwickeln.
Zusammenfassend gilt, dass die ESS die Möglichkeit
zu präventiven Militäreinsätzen weltweit eröffnet. Die
ESS selbst fordert – neben den USA – für Europa die
Rolle eines Global Player und leitet daraus die Notwendigkeit eines militärischen Interventionismus ab.
Die Aufstellung der EU-Battle Groups unterstreicht
dieses offensive Konzept. Allerdings: Die ESS geht aus
von einem erweiterten Sicherheitsbegriff, der die weltweit wachsende Armut, den Hunger, die Unterernährung und Krankheiten und den daraus resultierenden
Zusammenbruch ganzer Gesellschaften als zentrale
Ursachen für die Zunahme von Konflikten benennt.
Diesem Befund ist nicht zu widersprechen.
Und genau hier setzt Kritik von zahlreichen Wissenschaftlern an. Beispielsweise in den „60 Thesen für
eine europäische Friedenspolitik“ (www.uni-kassel.de/
fb5/frieden). Denn eine Friedenspolitik, die diesen Namen verdient, muss bei den Ursachen der Konflikte im
globalen System ansetzen, nicht aber deren Symptome
militärisch bekämpfen. Schon bei der Ausarbeitung der
Charta der Vereinten Nationen wurden diese Ursachen
benannt als „Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art“, ganz wie die Achtung der
(auch materiellen) Menschenrechte als Fundament
einer friedensfähigen internationalen Ordnung bezeichnet wurden. Eine Analyse der Konfliktursachen muss
daher die Triebkräfte benennen, die vor allem seit dem
Ende des Kalten Krieges ungehemmt die Weltwirtschaftsordnung und die Sozialordnung bestimmen und
deren negative Auswirkungen auf die Weltgesellschaft
in zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen und
ihrer Unterorganisationen präzise analysiert wurden.
Eine solche Analyse wäre zugleich ein produktiver Beitrag zum Verständnis und zur de-eskalierenden Reaktion auf den gebetsmühlenhaft beschworenen „Internationalen Terrorismus“, dessen militärische Bekämpfung sich nicht nur ganz offensichtlich als kontraproduktiv erweist, sondern in den Augen der Entrechteten dieser Welt zur Rechtfertigung der Anwendung
extralegaler Gewalt gerät.
Die ESVP in der Praxis – Militäreinsätze der EU
Zwischen Januar 2003 und Mai 2010 führte die EU 23
Einsätze auf drei Kontinenten durch, 16 Missionen
wurden in den Bereichen Polizei und Justiz sowie
Grenzüberwachung und Sicherheitsstrukturen durchgeführt. Im Mai 2010 leitete die EU 13 Einsätze, davon
waren 11 zivil. Sie stimmten mit dem Ziel der EU überein, Krisenregionen wenn irgend möglich mit zivilen
und nicht mit militärischen Mitteln zu stabilisieren. Sie
zeigen, dass die Europäische Union mittlerweile in der
Lage ist, in begrenztem Rahmen zumindest nichtmilitärische Aufgaben der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in eigener politischer Verantwortung zu übernehmen und zu lösen.
Der Ablauf der Verfahren für alle ESVP-Einsätze ist
gleichermaßen klar und komplex, aber auch kompliziert. Die Klarheit folgt aus der Zuständigkeit des PSK
für alle Themen der GASP und der ESVP, der Entscheidung über alle Einsätze mittels einer gemeinsamen Aktion durch den Allgemeinen Rat oder den Europäischen Rat sowie die Unterstützung auf militärischer
Seite durch den Militärausschuss und den EUMilitärstab und auf nichtmilitärischer Seite durch den
Ausschuss für zivile ESVP-Missionen (CIVCOM) und
die Generaldirektorin des Generalsekretariats des Rates. Die Komplexität ergibt sich nicht nur durch das
Zusammenführen von 27 Mitgliedstaaten in den Gremien, sondern auch durch das Zusammenbinden von
ziviler und militärischer Expertise.
Neben dem Aufbau entsprechender Institutionen bildete eine Verständigung mit der NATO über die Nutzung
von NATO-Kapazitäten und -Infrastruktur eine weitere
zentrale Voraussetzung, um konkrete Militäraktionen
durchführen zu können. Nach schwierigen Verhandlungen wurde am 16. Dezember 2002 das so genannte
„Berlin-Plus-Abkommen“ unterzeichnet. Das Abkommen besteht aus vierzehn Dokumenten, die eine strategische Zusammenarbeit regeln und den Zugriff der
EU auf NATO-Planungskapazitäten ermöglichen (der
Text des Abkommens steht nicht zur Verfügung, da es
ein kodifiziertes NATO-Dokument darstellt).
Die wesentlichen Aspekte dieser Berlin-Plus-Vereinbarung lauten:
gesicherter EU-Rückgriff auf die Planungsinstrumente der NATO zur militärischen Planung der EUgeführten Einsätze hinsichtlich der Krisenbewältigung;
Effektivität der gegenseitigen Konsultationen;
Gleichheit und Rücksicht auf die Eigenständigkeit
der Entscheidungsfindung der EU und der NATO;
Achtung der Interessen der EU und der NATOMitgliedstaaten;
Achtung der Prinzipien der UN-Charta;
33
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 33
28.10.2010 8:37:11 Uhr
Mandat des Stellvertretenden Oberbefehlshabers
der NATO in Europa (SACEUR) – unter dessen
Kommando die EU-Einsätze stehen werden;
gesicherter Zugang zu den kollektiven NATORessourcen und -Kapazitäten sowie das Verfahren
für deren Management;
NATO-EU-Sicherheitsabkommen;
NATO-EU-Konsultationsvereinbarungen im Zusammenhang mit einem EU-geführten Krisenbewältigungseinsatz;
Kohärente, transparente und gegenseitige unterstützende Entwicklung der Militärkapazitätenanforderungen, gemeinsam für beide Organisationen;
Einbeziehung des militärischen Bedarfs und der
militärischen Fähigkeiten in das seit langem bestehende System der Erstellung von NATO-Verteidigungsplänen.
Das Abkommen wird von den NATO-Staaten allerdings
unterschiedlich interpretiert. Umstritten ist vor allem die
wichtige Frage, welche der beiden Organisationen im
Krisenfall zuerst tätig werden darf. Hinzu kommt, dass
die Türkei phasenweise den EU-NATO-Informationsaustausch blockiert (Problem Zypern). Innerhalb der
EU kam es vor allem zu einer Auseinandersetzung
über ein eigenes EU-Hauptquartier, wie es von Belgien,
Luxemburg, Deutschland und Frankeich im Anschluss
an die Unterzeichnung des Berlin-Plus-Abkommens
vorgeschlagen worden war. Dieser Vorschlag scheiterte an der Ablehnung der Briten, die darin eine unnötige
Duplizierung von Institutionen sahen und auf das
NATO-Hauptquartier verwiesen. Die Fortdauer des
Streits um das Berlin-Plus-Abkommen demonstriert,
dass NATO und EU – trotz aller Fortschritte – nach wie
vor in Konkurrenz zueinander stehen und dass es innerhalb der EU keine Einigung über den Stellenwert
der NATO und damit der USA in der europäischen
Sicherheitspolitik gibt.
Einsätze unter der Führung der EU
70
Vgl. Richter, Bastian: Die strategischen Ziele und politischen Motive von ESVP-Operationen. Eine Bestandsaufnahme, in: Die Friedens-Warte, 2009, Band 84, Heft 4,
S. 29-56; Siedschlag, Alexander (Hrsg.): Jahrbuch für europäische Sicherheitspolitik 2009/2010, Baden-Baden 2010; Hauser, Gunther: Europas Sicherheit und Verteidigung.
Der zivil-militärische Ansatz, Frankfurt/Main 2010
70
Abgeschlossene Missionen
Mission
Einsatzland, Zeitraum
Typ der Mission
Mil.
Pol.
EUMM Yugoslavia
Ehem. Jugoslawien
1991–31.12.07
Personal
Aufgabe
Hintergründe
Ziv.
x
190 Beobachter und
örtliche Mitarbeiter
Überwachungsmission
Flüchtlingsströme, innerethnische Beziehungen,
sicherheitspol. Entwicklungen
EUFOR Concordia
FYROM (Mazedonien)
31.03.03–15.12.03
x
400 Militär
Militärische Operation zur Stabilisierung
Überwachung des Rahmenabkommens
EUFOR Artemis
DR Kongo
12.06.03–01.09.03
x
1.800 Militär
Krisenintervention; Unterstützung
der UN-Mission MONUC
Stabilisierung der Sicherheitslage im Osten des Landes
nach Unruhen
180 Polizei
Polizeimission zum Aufbau eines
funktionierenden Polizeiapparates
12 Zivil-Experten
Stützung der Rechtsstaatlichkeit,
Politikberatung
50 Polizei
Unterstützende Polizeimission
30 Polizei, 15 Militär
Unterstützung der Afrikanischen
Union bei Überwachung des
Waffenstillstands
216 Zivil-Experten
Beobachtermission zur Demilitarisierung
EUPOL Proxima
FYROM
15.12.03–15.12.05
x
EUJUST Themis
Georgien
16.07.04–14.07.05
EUPOL Kinshana
DR Kongo
12.04.05–30.06.07
AMIS II
(Unterstützung der
AU) Sudan
20.07.05–31.12.07
AMM
Aceh/Indonesien
15.09.05–15.12.06
x
x
x
x
x
Koordinierung des Reformprozesses nach Zerrüttung
des Strafsystems
Waffenstillstand zwischen
Befreiungsbewegung (SLA)
und Bewegung für Gerechtigkeit und Gleichheit (JEM)
Friedensabkommen zwischen
indonesischer Regierung und
Separatisten in der Provinz
Aceh in Nordsumatra
34
Denkanstoß Europa - bearbeitet.pdf 34
28.10.2010 8:37:11 Uhr
EUPAT
FYROM
15.12.05–14.06.06
EUFOR RD Congo
DR Kongo
12.06.06–30.11.06
EUFOR Tchad/RCA
Tschad, Zentral
Afrikanische Republik
28.01.08–25.03.09
20 Polizei,
12 Zivil-Experten
Polizeimission; Beobachtung und
Beratung der Landespolizei
x
2.300 Militär
Militäroperation; Unterstützung
der UN-Mission MONUC
x
3.420 Militär
(+800 Reserve),
15 Zivil-Experten
Militärmission zur Überbrückung;
Verbesserung der Sicherheitslage
für Flüchtlinge
x
Nachfolgemission der
EUPOL Proxima
Unterstützung humanitärer
Maßnahmen der UN-Mission
MINURCAT
Laufende Missionen
Mission
Einsatzland, Zeitraum
Typ der Mission
Mil.
EUPM
Bosnien-Herzegowina
Seit 01.01.03
Pol.
x
EUSEC RD Congo
DR Kongo
Seit 08.06.05
(x)
EUJUST Lex
Irak
Seit 01.07.05
Aufgabe
Hintergründe
490 Polizei,
60 Zivil-Experten
Polizeiliche Komponente zu
EUFOR Althea; Stabilisierung
Ausführung des DaytonAbkommens
6.610 Militär
(derzeit ca. 2.000)
Militärische Operation der EUFOR
zur Überwachung und Umsetzung
des Dayton-Abkommens
Bisher größte militärische
EU-Operation, Nachfolger
der NATO-Mission SFOR
x
46 Zivil-(Militär-)Experten
Beratungs- und Unterstützungsmission; politische Integration
regionaler Gruppen
Unterstützung der Sicherheitssektor-Reform
x
45 Zivil-Experten
x
EUFOR Althea
Bosnien-Herzegowina
Seit 02.12.04
Personal
Ziv.
Rechtsstaatmission, Unterstützung irakischer Justiz, Polizei
und Strafvollzug
Unterstützende Kontrollmission
am internationalen Grenzübergang Rafah vom Gaza-Streifen
nach Ägypten
Nach Schließung der Grenzen und Machtübernahme
der Hamas wurde Einsatz
teilweise ausgesetzt
Moldauisch-ukrainische
Grenze; Unterbindung des
Waffen-, Menschen- und
Drogenschmuggels von und
nach Transnistrien
EUBAM Rafah
Gaza-Streifen
Seit 25.11.05
x
63 Polizei,
8 Zivil-Experten
(derzeit ca. 13/5)
EUBAM Mol./Ukr.
Moldau/Ukraine
Seit 01.12.05
x
129 Polizei,
111 lokale Mitarbeiter
Grenzkontrollmission
EUPOL COPPS
Westjordanland
Seit 01.01.06
x
75 Polizei und
Zivil-Experten
Polizeiliche Unterstützungsmission
EUPOL Afgh.
Afghanistan
Seit 15.05.07
x
400 Polizei,
58 Zivil-Experten
Weiterentwicklung und Umsetzung einer Polizeireform
EUPOL RD Congo
Kongo
Seit 01.07.07
x
(x)
30 Polizei,
9 Zivil-Experten
Polizeimission zur Verbesserung
der Zusammenarbeit zwischen
Polizei und Justiz
EULEX Kosovo
Kosovo
Seit 16.02.08
x
x
2.000 Polizei,
406 Zivil-Experten
Rechtsstaatlichkeitsmission;
Aufbau von Polizei, Justiz und
Verwaltung
x
30 Zivil-(Militär-)Berater
Unterstützung des Sicherheitssektors
Aufstellung einer örtlichen
Armee mit 2.500 Soldaten
x
380 militärische
Beobachter und
Zivil-Experten
Überwachungsmission zur
Wiederherstellung der Stabilität
Einhaltung des 6-PunktePlans (Georgien, Südossetien, Abchasien)
1.500 Militär
Schutz humanitärer Hilfslieferungen, freie Seefahrt, Bekämpfung
der Piraterie
1. Marineoperation der EU
EU SSR Guinea-Bi.
Guinea-Bissau
Seit 01.05.08
(x)
EUMM Georgia
Georgia
Seit 01.10.08
EU Navfor Atalanta
Küste Somalia
Seit 08.12.08
x
Ersetzt EUPOL Kinshana
35
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Vertrag von Lissabon/Auswirkungen und Perspektiven
Der „Vertrag von Lissabon“, zunächst auch EUGrundlagenvertrag bzw. -Reformvertrag genannt, wurde im Dezember 2007 unterzeichnet und trat am
1. Dezember 2009 in Kraft. Zwar übernimmt der Vertrag wesentliche Teile des Verfassungsentwurfs, ersetzt im Gegensatz dazu allerdings nicht die gesamten
bisherigen EU-Vertragsgrundlagen, sondern ändert und
ergänzt das bereits bestehende Vertragswerk. Die EU
erhielt mit „Lissabon“ volle Rechtspersönlichkeit. Nachhaltige Veränderungen bringt der Vertrag insbesondere
für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
(GASP) sowie die Gemeinsame (früher Europäische)
Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP statt
ESVP). Zwar bedeutet auch Lissabon keinen Systemwechsel im Sinne einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Staaten bleiben Herren
des Geschehens. Dennoch wird Lissabon einen Prozess beschleunigen, den man als Bürokratisierung der
Außen- und Sicherheitspolitik verstehen kann.
Im Vertrag von Lissabon wurden in Artikel 2 die Werte
der Union verankert: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Beachtung der
Menschenrechte einschließlich der Schutz von Minderheiten und die Gewährleistung von Pluralität, NichtDiskriminierung, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz
sowie Geschlechtergleichbehandlung. „Das Ziel der
Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen zu fördern“, heißt es in Artikel 3. In den weiteren
Ausführungen zu dieser Zielsetzung sind dann alle
relevanten Elemente einer vernetzten Sicherheit zu
finden: Sicherheit, Schutz der Werte und Interessen,
Klimaschutz, Schutz der Außengrenzen, Einwanderung
und Asyl, Bekämpfung der Kriminalität, einen Beitrag
zur friedlichen und globalen Entwicklung leisten, Wahrung der Grundsätze der Vereinten Nationen. Es überrascht, dass an dieser exponierten Stelle kein Hinweis
auf die angeblich größte Bedrohung für die Staatengemeinschaft, den Internationalen Terrorismus, gegeben
wird. Diesem Bereich widmet der Vertrag jedoch seine
71
volle Aufmerksamkeit in den Artikeln 43 und 222.
Der Internationale Terrorismus als einer der Hauptanlässe für westliche Militärinterventionen der letzten Jahre ist kein neues Phänomen. Denn von den fünfziger bis
zu den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten die europäischen Staaten
wiederholt Terroranschläge erlebt. Und vor allem: Attacken wie die 2001 in New
York und Washington, 2004 in Madrid, 2005 in London oder 2008 in Mumbai sind
beklagenswerte, aber zahlenmäßig unerhebliche Vorkommnisse verglichen mit den
militärischen Opfern eines jeden Krieges. Dass sie im Westen dennoch derart viel
politischen Raum einnehmen, ist eine Frage des Medieninteresses und nicht von
Notwendigkeit oder Logik. Vgl. Barth, Peter: Internationaler Terrorismus im Zeitalter
der Globalisierung, München 2003, 2. Auflage; Heuser, Beatrice: Den Krieg denken.
Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn 2010
71
36
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Oberste Instanz ist der „Europäische Rat“, er gibt der
Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse,
bestimmt die strategischen Interessen, legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen, Prioritäten und
Leitlinien fest und fasst entsprechende Beschlüsse
(Art. 26). Diese werden im Konsens gefällt (Art. 15). Er
erhielt Organstatus und tagt in der Regel ohne die Außenminister. Dieses Gremium der Staats- und Regierungschefs wird in Zukunft von einem auf zweieinhalb
Jahre gewählten „Präsident des Europäischen Rates“ geleitet. Auf diesen Posten ist im Dezember 2009
der ehemalige belgische Ministerpräsident Herman Van
Rompuy gewählt worden.
Die wichtigste Arbeitsinstanz ist und bleibt der Rat auf
der Ebene der Fachminister der Mitgliedstaaten. Er
wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als
Gesetzgeber tätig. Der Außenministerrat gestaltet die
Außen- und Sicherheitspolitik. Die entscheidende Neuerung in diesem Gremium ist die Einführung der Mehrheitsentscheidung. „Soweit in Verträgen nicht anders
festgelegt, beschließt der Rat mit qualifizierter Mehrheit“ (Art 16.3). Diese auch als doppelte Mehrheit bezeichnete Beschlussformel soll ab 1. November 2014
gelten, mit Übergangsbestimmungen für den Zeitraum
vorher und teilweise auch nachher bis 2017. Als qualifizierte Mehrheit gilt „eine Mehrheit von mindestens 55%
der Mitglieder des Rats, gebildet aus mindestens 15
Mitgliedern, sofern die von diesen vertretenen Mitgliedstaaten zusammen mindestens 65% der Bevölkerung
der Union ausmachen“ (Art. 16.4).
Mit der Position eines Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik wurde eine Neuerung von
zentraler Bedeutung geschaffen. Der Hohe Vertreter
erhält vor allem gegenüber seiner bisherigen Funktion
als Hoher Beauftragter ein Initiativrecht gegenüber dem
Europäischen Rat und dem Rat. Er wird mit qualifizierter Mehrheit des Europäischen Rates und mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt, er ist
gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission
(Art. 18). Erste Amtsinhaberin ist die britische Labour
Politikerin, Baroness Catherine Asthton, die zuvor
Handelskommissarin der Europäischen Union war.
Das umfassende Aufgabenfeld des Hohen Vertreters
stellt sich wie folgt dar (Art. 18, 22 und 24):
Er leitet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Er trägt durch seine Vorschläge zur Festlegung
dieser Politik bei und führt sie im Auftrag des Rates
durch.
Er handelt ebenso im Bereich Gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Er führt den Vorsitz im Rat Auswärtige Angelegenheiten.
Er sorgt für die Kohärenz des auswärtigen Handelns der Union.
Er führt den Dialog mit Dritten und vertritt den
Standpunkt der Union in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen.
Er hört und unterrichtet regelmäßig das Europäische Parlament zu wichtigen Aspekten und Entwicklungen in der GASP und ESVP.
Er ist innerhalb der Kommission mit deren Zuständigkeiten im Bereich der Außenbeziehungen betraut und koordiniert die übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns; er übernimmt damit die bisherige Position eines Außenkommissars und ist Leiter
des neu zu schaffenden gemeinsamen Auswärtigen Dienstes der Union.
Der Vertrag von Lissabon hat die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik der EU erneuert und ausgebaut.
Die Zuständigkeit der Union für diesen Bereich erstreckt sich auf alle Aktivitäten der Außenpolitik sowie
sämtliche Fragen der Sicherheit. Eine vereinigte EUArmee ist derzeit nicht geplant, auch nicht im Vertrag
von Lissabon. Die Teilnahme an den GSVP-Missionen
und -Operationen obliegt nach wie vor der freiwilligen
Entscheidung eines jeden Mitgliedstaates. In der GASP
entscheiden die Mitgliedstaaten im Rat in den meisten
Fällen weiterhin einstimmig, und die Rolle der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments
bleibt begrenzt. Der Gerichtshof der EU hat mit wenigen Ausnahmen keine Zuständigkeiten. Die Sensibilität
des Politikbereiches der GASP wird durch zwei rechtlich unverbindliche Erklärungen unterstrichen, die insbesondere auf britisches Drängen hin verabschiedet
wurden und die Autonomie nationaler Außenpolitik
festhalten (Erklärung 13 und 14).
Gleichzeitig wurde zunächst der Rat für Allgemeine
Angelegenheiten und Außenbeziehungen, in dem sich
die Außenminister der Mitgliedstaaten trafen, in den
Rat für Allgemeine Angelegenheiten und den Rat für
Auswärtige Angelegenheiten aufgeteilt. Während der
Vorsitz über den Rat für Allgemeine Angelegenheiten
wie bisher halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten
rotiert, übernimmt der neugeschaffene Hohe Vertreter
der EU für Außen- und Sicherheitspolitik künftig den
Vorsitz des Außenministerrats.
Die Position als Ratsvorsitzender sowie als Außenkommissar und Vizepräsident der Europäischen Kommission soll es dem Hohen Vertreter ermöglichen, die
schwierige Koordination der europäischen Außenpolitik
zu leiten, sowie im Gegensatz zu seiner früheren Rolle
als Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik, wo er lediglich für die Durchführung
von Beschlüssen des Ministerrats zuständig war, auch
selbständig Initiative zu ergreifen und Politikvorschläge
zu machen. Grundsatzentscheidungen im Ministerrat
können allerdings wie zuvor (außer im Fall von Restriktiven Maßnahmen wie Wirtschafts- und Finanzsanktionen, Beschlüssen zu Aktionen und Standpunkten) nur
einstimmig vom Außenministerrat getroffen werden.
Zeitgleich soll durch den Vertrag von Lissabon ein „Europäischer Auswärtiger Dienst“ (EAD) eingerichtet
werden. Diese neue Großbürokratie soll sich aus Mitgliedern der bereits existierenden Delegationen der
Europäischen Kommission, Diplomaten der Mitgliedstaaten und Personal des Ratssekretariats zusammensetzen.
37
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Außen- und Sicherheitspolitik der EU nach dem Vertrag von Lissabon
Der EAD soll zukünftig mit den auswärtigen Diensten
der Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, diese jedoch
72
nicht ersetzen. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde
zudem die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) in „Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik“ (GSVP) umbenannt (Art.
42). Diese legt als Ziel eine gemeinsame Verteidigungspolitik fest, die jedoch erst nach einstimmigem
Beschluss des Europäischen Rates in Kraft treten
kann. Neu sind gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen
und militärische Beratung und Unterstützung.
Die „Europäische Verteidigungsagentur“ (European
Defence Agency, EDA), deren Gründung die Staatsund Regierungschefs bereits im Jahr 2004 beschlossen
haben, und die im Mai 2005 ihre volle Funktionsfähigkeit erreichte, wird besonders herausgehoben. Neben
ihren Hauptaufgaben, Ermittlung des operativen militärischen Bedarfs, Stärkung der industriellen und technologischen Basis im Verteidigungssektor, Beteiligung an
der Festlegung einer europäischen Rüstungspolitik,
Stärkung gemeinsamer Forschung und Entwicklung,
unterstützt die EDA den Rat bei der Beurteilung der
Verbesserung der militärischen Fähigkeiten in den Mitgliedstaaten.
te vorschlagen (Art. 42 Abs. 4 EUV). Ebenso soll der
Hohe Vertreter zur stärkeren Kohärenz des EU-Krisenmanagements beitragen.
Falls eine Gruppe von Mitgliedstaaten in der GSVP
schneller voranschreiten möchte als andere, haben sie
künftig die Möglichkeit einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (SSZ), die im Wesentlichen der
Verstärkten Zusammenarbeit in anderen Politikfeldern
entspricht. Damit wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeiten zur Bildung eines Clubs eröffnet. Die Logik dieser Bestimmung ist insofern nachvollziehbar, als nur
wenige Staaten zum Groß der europäischen Rüstungsausgaben beitragen. Nur vier EU-Länder erbringen 70% der europäischen Rüstungsausgaben. Die
zehn größten Länder tragen zu 90% der Ausgaben bei.
Entsprechend ihrer intergouvernementalen Natur werden Beschlüsse zur GSVP weiterhin einstimmig vom
Rat getroffen, ohne Beteiligung der Kommission oder
des Europäischen Parlaments. Allerdings bekommt der
Hohe Vertreter ein Initiativrecht und kann gemeinsam
mit der Kommission den Rückgriff auf deren Instrumen-
Die besondere Bedeutung von Solidarität und Beistandspflicht in der Sicherheitspolitik wird als „Solidaritätsklausel“ in Artikel 222 thematisiert und befasst
sich mit Terroranschlägen, Naturkatastrophen oder
73
einer von Menschen verursachten Katastrophe. Ist
ein Mitgliedstaat von einem dieser Ereignisse betroffen,
„so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung“. Was im
NATO- und im WEU-Vertrag jeweils unter Artikel V als
Beistandspflicht gekennzeichnet ist, wird nun auch
Gegenstand des EU-Vertrags. „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle
in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“
74
(Art. 42).
Er ist ein Dienst „eigener Art“, weil die Außenbeziehungen der EU zwar einerseits
zu einem gewissen Teil von der Kommission betrieben werden, wie etwa die Entwicklungspolitik oder die Projekte der Nachbarschaftspolitik (hier arbeiten rund 6.500
der rund 25.000 Kommissionsbeamten in rund 130 Delegationen der EU). Andererseits aber liegt die Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin in der Hand der Mitgliedsländer. Eine gemeinsame europäische Außenpolitik gibt es nur dann, wenn diese
sich auf eine einheitliche Linie einigen. Diese beiden Stränge in eine Hand, nämlich
der des Hohen Vertreters, zusammenzuführen, um endlich eine Außenpolitik „aus
einem Guss“ zu machen, war die Idee des Lissabon-Vertrages.
Da dies auch soziale Unruhen mit einschließt, betonte EU-Militärstabschef Bentégeat, das „Originelle“ an der Solidaritätsklausel sei nicht die Möglichkeit für Inlandseinsätze zur Terrorabwehr: „Das zweite Element ist interessanter, da es den Einsatz
militärischer Mittel auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates auf Anforderung seiner
politischen Autoritäten vorsieht.“ Also: Militäreinsatz im Rahmen der Innenpolitik!!!
74 Damit sind aber auch alle Übersee-Gebiete der Mitgliedstaaten der Union eingeschlossen. Demgegenüber schränkte der WEU-Vertrag die Beistandsverpflichtung
auf Europa ein, und der NATO-Vertrag spricht von einem Anwendungsgebiet, das
Nordamerika und Europa bis zum Wendekreis des Krebses umfasst.
72
73
38
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gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen;
humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze;
Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung;
Aufgaben der Konfliktverhütung und Erhaltung des
Friedens;
Erfordert eine Situation das Handeln der Union wird
durch seinen Präsidenten eine außerordentliche Sitzung des Europäischen Rates einberufen, um die strategischen Vorgaben festzulegen (Art. 26) und die entsprechenden Beschlüsse zu fassen (Art. 28). Das
Aufgabenspektrum für EU-Operationen wurde bisher
unter dem historisch bekannten Begriff „PetersbergAufgaben“ ausgewiesen.
Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung
einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen
und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach
Konflikten;
Bekämpfung des Terrorismus, dabei auch Unterstützung von Drittländern in dieser Angelegenheit
auf ihrem Territorium.
Der Vertrag von Lissabon bestimmt das Aufgabenspektrum in Art. 43 neu, ohne Benutzung des Begriffs
„Petersberg“ – vorgeschlagen wird von Analytikern
stattdessen der Begriff „GSVP-Aufgaben“. Missionen
der Union, bei denen sie auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen:
In den Beschlüssen über Missionen werden Ziel, Umfang und allgemein geltende Durchführungsbestimmungen festgelegt. Der Hohe Außenpolitische Repräsentant sorgt im Benehmen mit dem „Politischen und
Sicherheitspolitischen Komitee“ (PSK) für die Koordinierung der zivilen und militärischen Aspekte.
Das operative sicherheitspolitische Handeln der Union
manifestiert sich in seinen Missionen. Auf der Basis der
von der Union bestimmten Leitlinien erlässt sie Beschlüsse, in denen für eine Mission Einzelheiten ihrer
Durchführung festgelegt werden (Art. 25). Auslöser
derartiger Operationen sind naturgemäß die internationalen Entwicklungen.
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GASP und ESVP zwischen Zivil- und Militärmacht
Die rapiden Entwicklungen in der Außen- und Sicherheitspolitik während der letzten Jahre verleihen zwei
grundsätzlichen Fragen neue Aktualität:
Wie leistungsfähig ist die EU-Außen- und Sicherheitspolitik? Ist die EU ein handlungsfähiger außenpolitischer Akteur?
Welchen Charakter besitzt die EU-Außenpolitik?
Trifft die offizielle/traditionelle Zuschreibung der EU
als eine „Zivilmacht“ angesichts der Integration einer militärischen Dimension der Sicherheitspolitik
noch zu?
Bei der Antwort auf die erste Frage ist zunächst zu
klären, welche Eigenschaften ein handlungsfähiger
Akteur haben muss bzw. welche Voraussetzungen für
Handlungsfähigkeit erfüllt sein müssen. Außenpolitische Handlungsfähigkeit basiert auf mindestens drei
Voraussetzungen: Erstens müssen ausreichende Ressourcen vorhanden sein, um verschiedene außenpolitische Instrumente (diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch) überhaupt nutzen zu können. Zweitens müssen
bestimmte Ziele und Strategien zu ihrer Umsetzung
vorhanden sein. Und drittens bedarf es der Bereitschaft, aktiv zu werden. Diese Kriterien beziehen sich
auf Nationalstaaten; im Falle der EU, die kein Staat ist,
stellt sich die Situation komplizierter dar. Von zentraler
Bedeutung für ihre Handlungsfähigkeit und -bereitschaft ist der Konsens zwischen den Mitgliedstaaten,
denn es gilt, mit kleinen Einschränkungen, das intergouvermentale Prinzip in der GASP/ESVP. Demnach
ist zu fragen, inwieweit der Konsens der Mitgliedstaaten besteht und inwieweit diese bereit sind, Ressourcen bereitzustellen, denn die EU selbst verfügt nicht
über ausreichende Ressourcen in der Außenpolitik.
Eine allgemein gültige Antwort darauf zu geben, ist
kaum möglich. Die zunehmende Anzahl an gemeinsamen Standpunkten und Aktionen sowie Erklärungen,
also der wachsende außenpolitische Besitzstand der
EU, sprechen dafür. Auch der Aufbau einer militärischen Infrastruktur unter der Führung von Brüssel untermauert die Vorstellung einer funktionsfähigen Sicherheitspolitik, denn damit werden die organisatorischen Voraussetzungen für die sicherheitspolitische
Kooperation geschaffen.
75
Eine vergleichende Studie über die EU-Außenpolitik
bestätigt das uneinheitliche Bild in der Frage, ob die EU
ein handlungsfähiger Akteur ist. Defizite im Hinblick auf
die Handlungsfähigkeit bestehen vor allem, wenn es
um die Beziehungen zu den USA und Russland sowie
um Reaktionen auf gewalttätige Krisen geht. Die Abstimmungsprozesse zwischen den EU-Staaten sind
komplex und erfordern Zeit, wodurch eine häufig erforderliche schnelle Reaktion verzögert wird. Akteursqualität (Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft) so
die Autoren in ihrem Resümee, lässt sich aber in den
Fällen konstatieren, in denen die EU ihre traditionelle
außenpolitische Linie der Zivilmacht verfolgt.
Zur zweiten Frage, die EU als Zivilmacht, muss man in
die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgehen. Die Bezeichnung der EU als „Zivilmacht“ geht –
wie bereits aufgezeigt – auf Überlegungen von Fran76
çois Duchêne zurück. Er ging von der Existenz zweier
nuklear hoch gerüsteter Allianzen aus, angesichts derer jeder Krieg zur wechselseitigen Vernichtung führen
würde. Er wies darauf hin, dass die Europäische Gemeinschaft keine Nuklearmacht darstellte und aufgrund
ihrer inneren Verfasstheit und normativen Ordnung –
Ergebnis des Lernens aus dem Desaster zweier Weltkriege – eine Macht sei, die in ihren Außenbeziehungen auf zivile, nichtmilitärische Mittel setze.
Duchênes Ideen wurden zu Beginn der neunziger Jahre von Hanns Maull aufgenommen, der den Begriff
77
Zivilmacht zu einem Konzept weiterentwickelte. Das
Ziel Maulls war es, mit dem Zivilmachtkonzept die spezifische, sich von anderen Nationen aufgrund ihrer
Geschichte und außenpolitischen Entwicklung unterscheidende japanische und deutsche Außenpolitik zu
typologisieren und zu erklären. Im Laufe der Jahre
wurde das Konzept dann immer weiter ausdifferenziert
und bildete den theoretischen Rahmen für zahlreiche
Analysen zur Außenpolitik Deutschlands und der EU.
Die Außen- und Sicherheitspolitik einer Zivilmacht Europa weist demnach drei zentrale Charakteristika auf:
Kooperatives Handeln vor allem im Rahmen internationaler Institutionen: Die Außenpolitik ist daher
multilateral angelegt und bestrebt, internationale
Verhandlungssysteme auszubauen und dadurch
einen Beitrag zur Verrechtlichung der internationalen Politik zu leisten;
Präferenz für nichtmilitärische Instrumente und
Bevorzugung ökonomischer und diplomatischer
Mittel: Militärische Mittel werden nur in Ausnahmesituationen und auf der Basis eines völkerrechtlichen Beschlusses (z.B. durch die UNO) eingesetzt;
Wertgebundene Außenpolitik in Form einer Förderung des internationalen Menschenrechtsschutzes
und der Demokratie.
In der Literatur und der öffentlichen Diskussion herrscht
weitgehender Konsens, dass die Selbstzuschreibung
der EU als Zivilmacht im Großen und Ganzen noch der
realen Politik entspricht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit Zivilmacht ist eine spezifische – keineswegs einheitliche – Art und Weise des außenpolitischen Selbstverständnisses und der Art und Weise,
wie außenpolitische Interessen vertreten werden, gemeint. Diese Interessen können aber durchaus egoistischer Natur sein, die Zivilmacht steht nicht für eine
prinzipiell moralische oder idealistische Außenpolitik,
auch wenn sie Bezugspunkte zum Idealismus aufweist.
Vgl. Kohnstamm, Max/Hager, Wolfgang (Hrsg.): Zivilmacht Europa – Supermacht
oder Partner? Frankfurt/Main 1973
77 Maull, Hans W.: Germany and Japan: the new civilian powers, in: Foreign Affairs,
1990/91 (winter), no. 5, S. 91-106
76
Vgl. Jopp, Mathias/Schlotter, Peter (Hrsg.): Kollektive Außenpolitik – Die Europäische Union als internationaler Akteur, Baden-Baden 2007
75
40
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Die sicherheitspolitische Expertin Giovanna Bono sieht die
Gefahr, dass militärische Fragen
einen zu hohen Stellenwert in
der EU erhalten, kritisiert die
parlamentarische und politische
Kontrolle der ESVP als unzureichend und moniert, dass der
Multilateralismus der EU eng
begrenzt sei, da die EU sehr
zögerlich bei der Unterstellung
von Truppen unter UN-Ober78
befehl sei. Der Mitarbeiter der
Linzer „Werkstatt Frieden & Solidarität“, Gerald Oberansmayr,
sieht aus friedenspolitischer
Sicht beunruhigende Entwicklungen in Richtung EU-Militari79
sierung. Auch andere Analysten warnen seit Jahren vor einer
massiv vorangetriebenen europäischen Außen- und Militärpoli80
tik.
Belege dafür finden sie vor allem in Dokumenten und Papieren des EU-Instituts für Sicherheitsstudien (Institute for Security Studies, ISS). In ihrer Eigenschaft als „EU-Agentur“
liefert ISS „Analysen und Prognosen für den EU-Rat
und den Hohen Beauftragten der GASP“.
So heißt es beispielsweise 2004: „Die Transformation
Europäischer Streitkräfte von der Landesverteidigung
in Richtung Intervention und Expeditionskriegszügen ist
eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive
Europäische Sicherheitsstrategie.“ Die EU „will mehr
globale Verantwortung übernehmen … und eine Strategie präventiven Engagements übernehmen“. Dafür
brauche man sowohl „mobile, flexible und schnelle
Streitkräfte für Expeditionsinterventionen“ als auch
Besatzungstruppen, um diese „über sehr lange Zeiträume einzusetzen und aufrechtzuerhalten“. Militärische Szenarien werden entwickelt, „in denen die nationalen Atomstreitkräfte von EU-Mitgliedstaaten (Frankreich und Großbritannien) in die Gleichung entweder
81
explizit oder implizit eingehen können“.
Im Juli 2009 legte das EU-ISS eine neue Studie vor:
82
„What Ambition für European Defence in 2020“. Darin
heißt es: Die wichtigste Aufgabe der EU-Sicherheitspolitik werde sein, die „transnationalen funktionellen
Ströme und deren Knotenpunkte“ sicherzustellen: also
Vgl. Bono, Giovanna: The perils of conceiving EU Foreign Policy as a „civilizing“
force, in: International Politics and Society (IPG), (1) 2006, S. 150-163,
www.giovannabono.wordpress.com
79 Vgl. Oberansmayr, Gerald: Auf dem Weg zur Supermacht – Die Militarisierung der
Europäischen Union, Wien 2004
80 So u.a. Pflüger, Tobias/Wagner, Jürgen: Europas Kriege der Zukunft, in: Blätter für
deutsche und internationale Politik, Heft 6/2005, S. 715-724; ferner „60 Thesen für
eine europäische Friedenspolitik“ der AG Friedensforschung der Uni Kassel (Friedensratschlag), www.uni-kassel.de/fb5/frieden
81 Vgl. Institut für Sicherheitsstudien: European Defence – A proposal for a White
Paper, Paris Mai 2004, www.iss-eu.org
82 Vgl. Institut für Sicherheitsstudien: What Ambitions für European Defence in 2020,
2009, www.iss-eu.org
78
vor allem der Waren-, Kapital- und Rohstoffströme. Das
erfordere „globale militärische Überwachungskapazitäten und die Fähigkeit zur Machtprojektion“ – vor allem
durch die Zusammenarbeit von „Transnationalen Konzernen“ und den so genannten „Postmodernen Gesellschaften“ (EU, USA), da diese an der Spitze der „globalen hierarchischen Klassengesellschaft“ stünden und
damit die wichtigsten „stakeholder“ der Globalisierung
seien. Die EU brauche daher eine „symbiotische Beziehung mit den Transnationalen Konzernen“, denn
83
„diese brauchen den Staat und der Staat braucht sie“.
Gewünscht wird also eine schlagkräftige Militär- und
Wirtschaftsmacht mit einer Militärmaschinerie, die
weltweit Einfluss und Macht ausüben kann.
Die Hektik und Intensität, mit der in der EU einige Analysten die Militarisierung vorantreiben wollen, korrespondiert mit der wachsenden globalen Macht von EUKonzernen. Das bestätigt die vom US-amerikanischen
Wissenschaftsmagazin Fortune regelmäßig herausge84
gebene Liste der 500 größten Konzerne. Waren 2004
in dieser Liste noch die US-Konzerne in Führung, so
haben ihnen bereits 2008 die EU-Konzerne den Rang
abgelaufen. 178 EU-Konzerne mit einem Umsatzanteil
von 39,2% befinden sich unter den Top 500. Zum Vergleich: USA: 140 Konzerne (Umsatzanteil 30,1%), Japan: 68 Konzerne (Umsatzanteil 11,9%), China: 37
Konzerne (Umsatzanteil 6,6%). Die EU-Konzerne sind
sowohl beim Warenexport im Allgemeinen und dem
Rüstungsexport im Besonderen klare Nummer eins.
Vgl. auch Informationsstelle Militarisierung e.V.: EU-Militarisierung 2020, www.imionline.de
84 Vgl. Fortune (2008): The 500 biggest companies, www.money.cnn.com
83
41
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Geradezu explodiert sind zwischen 2004 und 2007 die
Nettokapitalüberschüsse der EU-Konzerne bei den
ausländischen Direktinvestitionen, sie übertrafen im
Jahr 2007 die US-amerikanischen um das Vier- und die
japanischen um das Sechsfache. Auch beim Import
strategischer Rohstoffe sind die EU-Staaten ganz vorne. Der Anteil der EU am globalen Rohölimport betrug
2007 bereits 28,3% (vor den USA mit 22,5%, Japan mit
9,4% und China mit 7,3%), beim Anteil an den weltweiten Erdgasimporten führten die EU-Europäer mit 35,2%
(vor den USA mit 14,2%, Japan mit 9,6% und der
Ukraine mit 5,4%). Und nicht zuletzt verbraucht die
EU 32,4% des globalen Urans (USA: 30,9%, Japan:
85
10,1%, Russland: 5,8%).
stehen keine prinzipiellen Einwände gegen eine EUMilitäroperation im politischen Extremfall. Anders: Der
Aufbau militärischer Kapazitäten ist mit dem Zivil89
machtkonzept nach Duchêne durchaus vereinbar.
Seit Jahren versucht also die „Zivilmacht EU“, auch
militärisch „glaubwürdig“ zu werden. Wie aufgezeigt,
warnen zahlreiche Wissenschaftler und Friedensgruppen vor dieser Militarisierung; sie haben Recht, aber
anders, als sie meinen: Das Ärgernis ist nicht, dass die
EU zur Militärmacht werden könnte – das kann sie gar
nicht –, sondern dass sie dafür Ressourcen vergeudet,
statt entschieden ihre zivilen Stärken auszubauen.
Genau diese zivilen Stärken haben die EU zu einer
wirtschaftlichen Weltmacht und zum Ordnungsfaktor in
Europa gemacht. Aber in dem Maße, in dem die EU
international an Gewicht gewann, wurde auch die traditionell-staatliche Idee wiederbelebt, der außenpolitische
Einfluss müsse durch militärische Macht gestärkt werden. Das Gegenteil ist der Fall.
Werden diese Zusammenhänge aber von den politischen Entscheidungsträgern – vor dem Hintergrund
einer wenig verbreiteten „zivilen“ Sicherheitskultur, der
Entwicklung angeblich „besserer“ Waffensysteme und
einer an Einfluss gewinnenden Rüstungsindustrie –
vernachlässigt, so treten die Risiken und negativen
Folgewirkungen militärischer Interventionen in den
Entscheidungsprozessen der ESVP zunehmend in den
Hintergrund.
Andere Autoren sehen hingegen die Gefahr einer Militarisierung nicht, denn sie argumentieren, dass die
zivilen Mittel und Instrumente dominieren und die bisherigen Militäreinsätze durchaus dem Selbstverständnis einer Zivilmacht entsprächen, denn Zivilmacht bedeutet nicht den völligen Verzicht auf militärische Mit86
tel. Darüber hinaus, so Hanns W. Maull, mangele es
der EU schlicht an militärischen Fähigkeiten und dem
politischen Willen, eine traditionelle Großmachtpolitik
anzustreben. Überdies zielten die ESVP-Missionen
bisher nicht auf Machtzugewinn, sondern auf den Aufbau von Ordnungsstrukturen im Rahmen von Friedens87
regelungen, die mit der UN-Politik kompatibel seien.
Die Ziele und Agenda der EU unterschieden sich damit
signifikant von denen der amerikanischen Außenpolitik
88
der Bush-Administration (2000-2008).
Es gibt also unterschiedliche Wahrnehmungen, inwieweit die ESVP in einer langfristigen Perspektive mit den
Ansprüchen einer Zivilmacht Europa kompatibel ist.
Dabei geht es nicht um den Aufbau militärischer Kapazitäten der EU an sich, denn Wahrung größter Zurückhaltung und die Einbettung einer militärischen Intervention in eine zivile Gesamtstrategie vorausgesetzt, be-
Vgl. Bundesanstalt für Geowissenschaften, www.bgr.bund.de
Vgl. Kaim, Markus: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Präferenzbildungs- und Aushandlungsprozesse in der Europäischen Union (1990-2005),
Baden-Baden 2007
87 Vgl. Maull, Hanns W.: The perils of NOT conceiving European Foreign Policy as a
civilian project, in: International Politics and Society (IPG), (1) 2006, S. 164-172
88 Vgl. Barth, Peter: George W. Bush’s Krieg gegen den Irak und die Auswirkungen
auf die arabische Welt, München 2004; eine Radikalkritik an den außenpolitischen
Konstanten der USA findet man bei Kolko, Gabriel: Machtpolitik ohne Perspektive.
Die USA gegen den Rest der Welt, Zürich 2007
85
86
Durch die einseitige Konzentration auf die militärische
Dimension der ESVP könnte jedoch eine der zentralen
Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung verloren gehen, dass nämlich militärischen Mitteln im Kontext des internationalen Krisenmanagements eine nur
sehr begrenzte Bedeutung zukommt. Denn der Einsatz
militärischer Machtmittel kann zur Konfliktlösung wenig
beitragen, da er (siehe Bosnien und Kosovo) auf die
zugrundeliegenden Konfliktursachen nicht einwirkt.
Dies wären in erster Linie die potenziellen Verluste an
Menschenleben. Der Krieg in Afghanistan zeigt einmal
mehr, dass auch modernste Präzisionswaffen nicht in
der Lage sind, Opfer unter der Zivilbevölkerung wirk90
sam zu minimieren oder gar zu vermeiden. Ferner ist
zu berücksichtigen, dass Militäreinsätze einen Konflikt
leider meist verschärfen und damit einer politischen
Problemlösung entgegenwirken können. Weitere Probleme ergeben sich in Bezug auf die Glaubwürdigkeit
militärischer Interventionen: Allein schon die Tatsache,
dass humanitäre Militäroperationen grundsätzlich nur in
solchen Ländern möglich sind, deren Machtpotenzial
eindeutig schwächer ist als das der intervenierenden
Staaten, führt geradezu zwangsläufig zu einer Politik
der doppelten Moral und provoziert damit eine Einbuße
an internationaler Glaubwürdigkeit. Die Gefahr des
Glaubwürdigkeitsverlustes steigt einmal mehr, wenn
die Entscheidung über die Durchführung einer Intervention weniger von der gegebenen Situation vor Ort abhängig gemacht wird, als von den Interessen, die dem
betroffenen Land entgegengebracht werden – oder
auch nicht. Die zu Recht und vielfach kritisierte NichtIntervention der UN zur Verhinderung des Genozids in
Ruanda 1994 kennzeichnet das Risiko eines unglaubwürdigen Interventionismus, dem sich auch die EU
künftig aussetzen würde.
Ein weiterer zentraler Punkt ist das Problem der mangelnden Rechtssicherheit. Während nämlich humanitäre Aktionen, wie die Evakuierung von Flüchtlingen oder
Maßnahmen des Katastrophenschutzes, völkerrechtlich
unproblematisch sind und keines UN-Mandats bedürfen, befinden sich Kampfeinsätze zur Friedenserzwingung, die ebenfalls in den Bereich der PetersbergAufgaben fallen, in einer völkerrechtlichen Grauzone.
Vgl. Jünemann, Annette/Schöring, Niklas: Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der „Zivilmacht Europa“. Ein Widerspruch in sich? HSFK-Report 13/2002, S. 41
90 Vgl. Studiengesellschaft für Friedensforschung, Denkanstoß Nr. 58: Afghanistan
am Abgrund? München 2009
89
42
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Die neue Mittelmeer-Union
Ihnen fehlt bis zur Kodifizierung eines internationalen
Interventionsrechts eine solide, Rechtssicherheit schaffende und Objektivität verbürgende Rechtsgrundlage,
was die Kompatibilitätsproblematik mit dem Konzept
91
der Zivilmacht nur noch deutlicher aufzeigt.
Schließlich muss auf den Ressourcenkonflikt hingewiesen werden, der nicht nur zwischen der militärischen
und der zivilen Dimension der ESVP besteht (und
schon längst zuungunsten letzterer entschieden wurde), sondern auch zwischen der militärischen Dimension der ESVP und den zivilen Bereichen der EU-Außenbeziehungen insgesamt. Ihren maßgeblichen Beitrag
zur Konfliktprävention leistet die EU im Rahmen ihrer
Entwicklungspolitik und ihrer Assoziationspolitik mit den
ehemaligen Kolonien sowie den Partnerschaftsabkommen mit einzelnen Drittländern (wie Russland) und
ganzen Ländergruppen (wie den Balkanstaaten) bis hin
zur Europäischen Mittelmeerpolitik (EMP/Barcelona92
Prozess). Auch die EU-Osterweiterung gehört in diesen Kontext. Durch umfassende Wirtschafts- und Finanzhilfen sowie praktische Unterstützung im politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozess
wirkt die EU in ihrem unmittelbaren regionalen Umfeld
konfliktverhütend. Gewinnen jedoch die Stimmen Gehör, die eine umfassende Verlagerung knapper Ressourcen hin zum militärischen Arm der ESVP fordern,
so wird auch ohne den Einsatz dieser Machtmittel die
zivile Orientierung der Union gefährdet.
Die Frage, ob die EU auch weiterhin noch als Zivilmacht im Sinne des Idealtypus bezeichnet werden
kann, ist derzeit also nicht eindeutig zu beantworten.
Noch lässt sich die sich immer stärker abzeichnende
Konzentration der europäischen Rüstungsindustrie und
ihr wachsender Einfluss auf den sicherheitspolitischen
Diskurs politisch so gestalten, dass die Risiken für den
zivilen Charakter der EU-Außenbeziehungen kompensiert werden können.
Vgl. Kimminich, Otto: Der Mythos der humanitären Intervention, in: Archiv des
Völkerrechts, Jg. 33, Nr. 4, 1995, S. 403-458
92 Vgl. Böttger, Katrin: Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Akteure und Koalitionen. Baden-Baden 2010
91
Noch ist es möglich, einer machtpolitischen Instrumentalisierung der ESVP durch einzelne Länder politisch
entgegenzusteuern. Lässt man den eigendynamischen
Entwicklungen allerdings freien Lauf, so scheint ein
außenpolitischer Paradigmenwechsel der EU nicht nur
möglich, sondern auch wahrscheinlich – allen positiven
Entwicklungen in den zivilen Bereichen der EU-Außenbeziehungen zum Trotz.
Insgesamt gesehen befindet sich das Projekt der
ESVP, trotz der bemerkenswerten Geschwindigkeit, mit
der es in den letzten Jahren vorangetrieben wurde,
nach wie vor in seiner Aufbauphase. Ein Großteil der
Kritik in der öffentlichen Diskussion an der ESVP zielt
deshalb auch nicht auf die potenziellen Risiken, sondern ganz im Gegenteil auf den Umstand, dass die
ESVP aufgrund ihrer derzeit noch bestehenden Defizite
im Bereich der militärischen Kapazitäten und vor allem
wegen der noch mangelhaften Ausstattung nicht ernst
zu nehmen sei. In der Tat stehen dem Aufbau europäischer Militärkapazitäten in fast allen Mitgliedstaaten
fiskalische Sparzwänge entgegen, von denen die Verteidigungsministerien mit betroffen sind. In den allermeisten EU-Staaten ist – allein schon aus immer knapper werdenden Ressourcen in den Staatskassen und
dem Erhalt des Wohlfahrtsstaates mit allen Mitteln –
kaum die Bereitschaft vorhanden, mehr Geld für Streitkräfte auszugeben.
Um daran etwas zu ändern, müsste die ESVP auf der
politischen Prioritätenliste der Mitgliedstaaten entscheidend aufgewertet werden, womit derzeit jedoch kaum
zu rechnen ist. In einer langfristigen Perspektive sprechen allerdings gute Gründe dafür, von einer vollständig entwickelten ESVP auszugehen. Immerhin hat die
EU schon sehr viel strittigere Integrationsprojekte, wie
beispielsweise die Währungsunion oder das Schengener Abkommen, gegen alle Widerstände durchzusetzen
vermocht. Auch ist die ESVP derzeit eines der wichtigsten Integrationsprojekte der Gemeinschaft, so dass sie
nicht nur von den führenden Mitgliedstaaten, sondern
auch von der Kommission und dem Europäischen Parlament vorangetrieben wird.
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Humanitäre Intervention
Als humanitäre Intervention wird der – meist gewaltsame – Eingriff in das Hoheitsgebiet eines Staates bezeichnet,
der den Schutz von Menschen in einer humanitären Notlage zum Ziel hat. Vorausgesetzt wird, dass der betroffene
Staat selbst nicht in der Lage oder willens ist, die Gefährdeten zu schützen. Die humanitäre Intervention ist nicht
als Instrument in der Charta der Vereinten Nationen verankert und kollidiert mit dem Souveränitätsprinzip. Daher ist
die völkerrechtliche Zulässigkeit der humanitären Interventionen umstritten.
Nach wie vor ungelöst bleibt das Problem, dass die Mandatierung einer Intervention durch die UNO vom Konsens
der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates abhängig ist. Wenn, wie in der Vergangenheit häufig der
Fall, mindestens ein ständiges Mitglied eine entsprechende Resolution durch sein Veto zu Fall bringt, dann bleiben
lediglich zwei Möglichkeiten: entweder, wie im Falle des Kosovo-Krieges von 1999, eine Militärintervention ohne
UN-Mandat (und damit völkerrechtswidrig) oder der Verzicht auf die geplante Mission. In diesem Zusammenhang
haben verschiedene Regierungen der EU-Staaten bzw. auch die EU selbst bereits Anstrengungen unternommen,
um dieses Dilemma zu lösen. Allerdings bleibt das für die EU-Sicherheitspolitik maßgebliche Dokument, die Europäische Sicherheitsstrategie, in diesem Zusammenhang vage und zweideutig. Explizit hervorgehoben wird die UNCharta als grundlegender Rahmen für die internationalen Beziehungen, während es gleichzeitig heißt, die EU fühle
sich der Weiterentwicklung des Völkerrechts verpflichtet. Ist damit auch gemeint, im Falle einer Blockade des UNSicherheitsrates andere Möglichkeiten der Mandatierung zu erwägen?
Humanitäre Interventionen sind häufig militärische Interventionen zur Beendigung von schweren Völkerrechtsverletzungen oder von vorgegebenen. Bei einem solchen Eingreifen wird also Gewalt eingesetzt, um besonders grausame Gewaltverhältnisse wie systematisch auftretende Folter, Mord, Vertreibung, Vergewaltigungen oder andere
massive Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat zu beenden. Dabei bedeutet humanitäre Intervention nicht zwingend die gewaltsame Besetzung eines Staates. Vielmehr sind verschiedene Interventionsformen mit
unterschiedlichen Graden des Gewalteinsatzes zu unterscheiden.
Die wichtigsten Formen sind:
Hilfslieferungen zur Versorgung der Zivilbevölkerung (die gegebenenfalls mit Gewalt zu schützen sind);
Embargomaßnahmen, wie Waffen-, Handels- oder Erdölembargos, die mit Gewalt durchgesetzt werden können (Bsp. Bosnien und Kosovo);
Errichtung von Sicherheitszonen, um die zu schützende Zivilbevölkerung vor Gewalthandlungen der jeweiligen Konfliktparteien zu bewahren. Diese Sicherheitszonen sind im Notfall mit Gewalt gegen die Konfliktparteien
zu verteidigen;
Luftschläge, durch die versucht wird, die stärkere und als gefährlicher eingeschätzte Konfliktpartei zu strafen
und nachhaltig zu schwächen (Bsp. Bosnien);
Besetzungen, bei denen Truppen in das Gebiet verlegt werden, um beispielsweise ein Friedensabkommen mit
Gewalt durchzusetzen (Bsp. Bosnien und Kosovo);
Invasionen, bei denen Truppen mit Gewalt in einen Staat eindringen, um dort den Konflikt gewaltsam zu beenden.
Pro-Humanitäre Interventionen
Angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen darf sich die Weltgemeinschaft nicht gleichgültig aufgrund
der Prinzipien der Souveränität und Nichteinmischung aus der Verantwortung ziehen. In der modernen Menschenrechtslehre geht man also von einer allgemeinen Gültigkeit für alle Menschen aus, wobei kein Staat das
Recht besäße, diese Menschenrechte einzuschränken. Daraus resultiert die unbedingte Notwendigkeit diese
Rechte notfalls mit Gewalt durchzusetzen.
In extremen Fällen von Staatsauflösungsprozessen, oft begleitet von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, massenhaftem Sterben und weitflächigen Hungersnöten, bleibt keine Alternative als die militärische Absicherung
humanitärer Hilfe. Die wesentliche Aufgabe der Interventionsgruppen besteht also im Schutz humanitärer Hilfe
und in der Absicherung lebenswichtiger Einrichtungen.
Eine militärische Intervention bringt die abschreckende Wirkung einer Rechtfertigung auch einseitiger Maßnahmen zugunsten der gefährdeten Bevölkerung mit sich und kann auf diesem Wege Staaten präventiv dazu
anhalten, keine Menschenrechtsverletzungen zu begehen.
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Kontra-Humanitäre Intervention
Es besteht eine große Missbrauchsgefahr, da sich hinter dem Mantel menschenrechtlicher und humanitärer
Absichten auch immer ökonomische oder politische Eigeninteressen verbergen können.
Der Krieg als probates politisches Mittel erhält eine Relegitimierung. Es besteht weiterhin eine enorme Gefahr,
dass Militäreinsätze der politischen Kontrolle entgleiten und eine gefährliche Eigendynamik entwickeln.
Militäroperationen erschweren häufig die humanitäre Hilfe und sind oft nur ein Ersatz für fehlende politische
Konzepte und Problemlösungen.
Gefahr, dass durch militärisches Eingreifen auch erhebliche Schäden, Opfer, Zerstörungen entstehen und Gewaltstrukturen (z.B. ethnische) noch verfestigt werden.
Zugrundeliegende Probleme werden nicht gelöst.
Es müsste konsequent bei allen humanitären Problemen unabhängig von der Opportunität eingegriffen werden.
Prüfkriterien für Militäreinsätze
Gibt es einen hinreichenden Grund?
Gibt es eine ausreichende Legitimationsgrundlage?
Verfolgt man ein verantwortbares Ziel?
Gibt es Aussicht auf Erfolg?
Wird die Verhältnismäßigkeit gewahrt?
Bleiben Unschuldige verschont?
Ist der Einsatz begrenzbar?
Welche Folgen treten auf?
Kann nach Beendigung ein besserer Zustand aufgebaut werden?
Vgl. Münkler, Herfried/Malowitz, Karsten: Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung, Wiesbaden 2008; Hirsch, Wilfried/Janssen, Dieter:
Menschenrechte militärisch schützen. Ein Plädoyer für humanitäre Interventionen, München 2006; Janssen, Dieter: Menschenrechtsschutz in Krisengebieten. Humanitäre
Interventionen nach dem Ende des Kalten Krieges, Frankfurt/Main 2008; Maerschalk, Martin: Humanitäre Intervention. Probleme und völkerrechtliche Zulässigkeit, München
2008; Schulte, Lukas: Völkerrecht und humanitäre Intervention. Die Chancen innerhalb der liberalen Theorie internationaler Beziehungen, Hamburg 2009
Zukunftsperspektiven
Die Geschichte der europäischen Einigung ist auch die
Geschichte ihrer Krisen. Jede von ihnen trieb seine
Entwicklung weiter voran und in eine unbekannte Zukunft. Die Montanunion von 1951 ging unmittelbar aus
der Furcht von einem Wiedererstarken Deutschlands
hervor, die in den Nachkriegsjahren in Frankreich umging. In den fünfziger Jahren scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG am Starrsinn der
Franzosen. Die in der Folge gegründete Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft verdankte ihre Entstehung
den Herausforderungen, die sich durch neuen Wohlstand und Konkurrenz ergaben und ihrerseits das Erbe
des Marshall-Plans waren. Nach de Gaulles Veto gegen den Beitritt der Briten kam es im Brüssel der sechziger Jahre zu radikalen institutionellen Reformen.
Margaret Thatcher griff Ende der siebziger Jahre mit
dem Schlachtruf „I want my money back!“ in die gemeinsame Kasse. Der Zusammenbruch des nach dem
Zweiten Weltkrieg etablierten Bretton-Woods-Systems
und die währungspolitischen Schwankungen der siebziger Jahre führten zur Europäischen Währungsunion.
Nach dem Fall der Berliner Mauer fürchtete sich François Mitterand vor einem großdeutschen Reich und
erzwang den Übergang von der Deutschen Mark zum
Euro. Die französischen und niederländischen Stimm-
bürger versenkten schließlich 2005 die europäische
Verfassung. Die meisten dieser Fortschritte waren das
Produkt französischer Bemühungen um die Zügelung
eines zunehmend selbstbewussten und dann auch
wiedervereinigten Deutschlands. Frankreich schürte
gewissermaßen europäische Krisen, um seine Partner
in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.
Immer wieder bringen nationale Alleingänge den sorgsam geschmierten Motor zum Stottern, zum Leidwesen
seiner Brüsseler Maschinisten. Ohne ihre Krisen aber
wäre die EU möglicherweise längst gescheitert. Nur
unter dem Druck drängender Probleme ist ein komplexes Gebilde wie diese Union souveräner Staaten überhaupt in der Lage, sich zu reformieren. Und das ist gut
so, denn nur durch schwerfällige, konsensorientierte
Entscheidungsprozesse kann gewährleistet werden,
dass die kleinen Mitglieder nicht von den Großen über
den Tisch gezogen werden. Was gern als Brüsseler
Bürokratismus gescholten wird, kann auch ein sinnvolles Element sein, um die Vielfalt Europas zu erhalten.
Denn die Bürokratie bzw. der europäische Verwaltungsapparat ist alles andere als „aufgeblasen“ und
kommt im Verhältnis zu seinen Mitgliedstaaten mit erstaunlich wenig Personal aus. Es wäre falsch, den Zusammenhalt der EU zu unterschätzen.
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Solange es das Projekt der Europäischen Gemeinschaft gibt, haben immer zwei Tendenzen einander die
Waage gehalten: Dem Bestreben nach Integration
stand der Wunsch entgegen, die eigene nationale Souveränität so weit wie möglich zu erhalten. Alle europäischen Staaten, die ja souveräne Subjekte geblieben
sind, befinden sich weiterhin in Konkurrenz zueinander;
gleichzeitig aber konkurriert Europa insgesamt mit den
anderen Regionen der Erde. Jedes europäische Land
muss sich zugleich seine eigene Stärke und die Stärke
Europas wünschen, wobei diese aber immer nur auf
Kosten einzelner Länder wachsen kann.
Die EU hat die politischen Wunden nach dem Zweiten
Weltkrieg geheilt, den Nationalismus weitgehend überwunden, Deutschland mit seinen Nachbarn im Westen
und im Osten versöhnt und zu einer historisch
vergleichslos langen Zeit des Friedens und der Sicherheit in Europa geführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg
ging es in Europa lange darum, Deutschland nicht wieder mächtig werden zu lassen oder deutsche Macht in
einem solidarischen Europa einzubetten, sie dadurch
erträglich zu machen und europäisch zu kontrollieren.
Deutschland wurde so zum bevölkerungsreichsten
Mitgliedstaat der Europäischen Union und zugleich zu
ihrer größten Volkswirtschaft.
Heute ist Deutschland doppelt so groß wie Polen,
achtmal so groß wie die Tschechische Republik, fünfmal so groß wie Holland, fünfzehnmal so groß wie Dänemark und die Volkswirtschaft ist die viertgrößte der
ganzen Welt. Diese angesichts der bisherigen Geschichte einmalige Größenordnung muss uns Deutsche
zur Rücksichtnahme auf unsere vielen Nachbarn und
auf unsere EU-Partner drängen. Wenn ein dicker und
fetter Nachbar sich gegenüber einem kleineren Nachbarn anmaßend benehmen sollte, dann weckt er bei
den Nachbarn Ängste und Abneigung. Wenn dann
noch die Erinnerung an die deutsche Besatzung und
ihre Verbrechen im letzten Weltkrieg hinzukommen
sollte, wenn obendrein der Genozid an den Juden keineswegs vergessen ist, dann kann daraus Unheil für
beide Nachbarn entstehen.
Wenn sich die deutsche Bevölkerung wieder einmal in
übertriebener Weise ängstigen lassen sollte, zum Beispiel heute wegen der Zukunft der Weltwährung Euro,
so kann sich daraus die Versuchung zu einem deut93
schen Alleingang ergeben. Jedoch darf man solcher
Versuchung nicht nachgeben. Vielmehr muss die
Rücksichtnahme auf Nachbarn und Partner Vorrang
behalten. Deutschlands Feld ist nicht die Weltpolitik
und nicht die atomare Strategie, nicht Asien, nicht der
Nahe und Mittlere Osten oder Afrika, sondern die europäischen Nachbarn. Der Ausbau der Europäischen
Es ist noch nicht klar, von welcher enormer Tragweite für die weitere Entwicklung
der Währungsunion die Entscheidungen des Jahres 2010 sind: das Ende des
Stabilitätspakts mit Schuldengrenzen, die Preisgabe des Haftungsausschlusses der
Euro-Staaten, die Beseitigung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank
(EBZ), die Staatsanleihen südlicher Länder aufzukaufen genötigt worden ist. Vgl.
Bandulet, Bruno: Die letzten Jahre des Euro. Ein Bericht über das Geld, das die
Deutschen nicht wollten, Rottenburg 2010
93
Union geschieht nicht aus Idealismus, sondern aus
94
einer politisch-strategischen Notwendigkeit.
Sicherheitspolitische, ökologische und demographische
Herausforderungen, Klimawandel, Umweltprobleme
und Migrationsbewegungen zeigen eines: für globale
Probleme genügen nationale Lösungen nicht mehr.
Wenn Europa den Anspruch erhebt, bei der Ausgestaltung globaler Lösungen mitwirken zu wollen, gründet
dieser Anspruch auf dem Fortschritt der wirtschaftlichen Integration Europas. Wer deshalb die ökonomische Desintegration Europas zulässt, zerstört Europas
Status in der Welt. Deutscher Gestaltungswille muss
und kann dafür sorgen, dass Europa seine Mitsprache
bei der globalen Suche nach globalen Problemlösungen nicht verliert.
Entscheidend für die Zukunft der GASP/ESVP bleibt
die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, sich auf gemeinsame, friedensorientierte, sicherheitspartnerschaftliche
Ziele und Strategien zu verständigen, auch wenn sich
eine gewisse Vergemeinschaftung der EU-Außenpolitik
– trotz ihrer intergouvernementalen Anlage – entwickelt
hat. Allerdings erschwert die 2004 und 2008 vollzogene
Osterweiterung den erforderlichen Konsens der Mitgliedstaaten, da die neuen Mitglieder spezifische historische Erfahrungen und eigene Interessen und Prinzipien mitbringen. Dies zeigt sich besonders im Verhältnis zu den USA. Hier unterstützten die mittelosteuropäischen Staaten häufig die US-Positionen und bevorzugen die NATO als Sicherheitsgarant, da sie sich davon
mehr Sicherheitsgewinn als durch die EU versprechen.
Die nach wie vor bestehende Interessenheterogenität
wird in der Praxis zur Fortsetzung einer gewissen Ambivalenz der EU-Außenpolitik führen. Einerseits wird
die EU durchaus handlungsfähig sein und kann wirkungsvolle EU-Außenpolitik verfolgen, andererseits
besteht die Gefahr einer aufgrund interner Differenzen
gelähmten EU, die versucht, ihre Handlungsunfähigkeit
durch diplomatische Erklärungen zu verdecken. Zukünftig wird die Frage der öffentlichen Akzeptanz der
Militäreinsätze im Sinne friedensrelevanter Maßnahmen (durch Mandat der UN legitimiert) wichtig werden.
Bislang stand die EU-Außen- und Sicherheitspolitik im
Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit in den Mitgliedsländern. Die Übernahme politischer Verantwortung wenn auch nicht ausschließlich, aber eben auch
durch Militäreinsätze, könnte für kritische Diskussion
sorgen wenn die Einsätze verlustreich oder problematisch verlaufen sollten. Unklar ist auch, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, beträchtliche Kosten für Militärmissionen, die nicht vom relativ bescheidenen GASPHaushalt gedeckt werden, zu übernehmen. Betrachtet
man die Entwicklung der europäischen Außenpolitik in
den zurückliegenden drei Jahrzehnten, so lässt sich
feststellen dass es häufig Anstöße von außen (Balkankriege, Kosovo) waren, die Impulse für eine Weiterent95
wicklung der Außenpolitik gaben.
Vgl. Schmidt, Helmut/Stern, Fritz: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch, München
2010
95 Vgl. Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen
Integration 2009, Baden-Baden 2010, S. 241 ff.
94
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Die Sparmaßnahmen der EU-Staaten werden auch
Auswirkungen auf die Rolle der Europäischen Union
als globaler Akteur haben. Das Glaubwürdigkeitsdilemma der EU bezüglich ihrer außenpolitischen Rolle in
der Welt – sprich die Lücke zwischen ihrem Anspruch
auf globale Mitgestaltung und der politischen Wirklichkeit der seit zwei Jahrzehnten rückläufigen Verteidigungsetats – ist hinlänglich bekannt. Vor dem Hintergrund der augenblicklichen Krisenlage in Europa und
allseits angekündigten Sparmaßnahmen durch die
Mitgliedsländer erscheint die von der Hohen Repräsentantin für die Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine
Ashton, geforderte Stärkung des außenpolitischen Profils der EU gerade zum jetzigen Zeitpunkt eher als Euphemismus für ein beträchtliches Wahrnehmungsproblem der Europäer. Oder will man gar, was durchaus
möglich ist, die Krise als Chance für den Aufbruch der
Union zu neuen Ufern, also mehr Effizienz und Synergien in der Außen- und Sicherheitspolitik, sehen?
quellen und der Ausbeutung seltener Metalle in Afri96
ka.
Festzustellen bleibt eine strukturelle Schwäche der
Europäischen Union, die mehr und mehr ins politische
Hintertreffen gerät. Während China und andere wirtschaftlich aufstrebende Länder wie Russland, Brasilien
und selbst Indien ihre wirtschaftliche Dynamik mit einem selbstbewussten Auftreten in internationalen Konferenzen und Tagungen ergänzen, schleppt sich der
wirtschaftliche Riese EU außenpolitisch führungslos
dahin. Somit ist Europas Gewicht in der Weltpolitik
leichter geworden. Wir sind Zeitzeugen einer geopolitischen Machtverschiebung vom euro-atlantischen
Raum in die asiatisch-pazifische Region mit China als
neuem Machtzentrum.
China wird zu einer der beherrschenden globalen Mächte des 21. Jahrhunderts.
Vielleicht sogar zu der Weltmacht. China versorgt die Welt mit wertvollen Bodenschätzen, so genannte Seltene Erden. Sie werden zu 95% in China abgebaut und
sind unentbehrlich für die Lasertechnologie, bei Festplatten, Hybridantrieben,
Windturbinen und in der Rüstungsindustrie. China setzt sie immer mehr als Druckmittel für seine außen- und wirtschaftspolitischen Interessen ein und versetzt die
Welt damit in einen neuen unangenehmen Zustand der Verwundbarkeit. Einem
internen Bericht der Europäischen Kommission zufolge, ist die Versorgungslage bei
14 von 41 überprüften Mineralien kritisch. Zu den knappen Rohstoffen gehören
Magnesium und Graphit, aber auch Kobalt, das für die Herstellung von Akkus und
synthetischen Kraftstoffen genutzt wird, Gallium, das unter anderem für dünne
Sonnenkollektoren benötigt wird, Germanium, aus dem Fiberglaskabel hergestellt
werden, Platin, das für Katalysatoren benötigt wird, oder Neodym, mit dem unter
anderem Magnete für Kernspintomographen produziert werden.
96
Europas Anteil an der Weltbevölkerung beträgt heute
7% (im Vergleich zu 25% zu Beginn des 20. Jahrhunderts). In den letzten 60 Jahren ist sein Anteil am globalen Bruttoinlandprodukt von 28 auf etwa 21% gesunken; gleichzeitig wachsen Chinas, Indiens oder Brasiliens Ökonomien jährlich um bis zu 10% (einschließlich
ihres Verteidigungsbudgets) und stärken spürbar deren
politischen Einfluss und Selbstbewusstsein – ob bei
den Klimaverhandlungen, in der Iran-Frage oder aber
im Zusammenhang mit der Erschließung von Energie-
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dass die Truppen bis zum Jahr 2016 in Afghanistan
stationiert bleiben. Kosten, die nicht im Haushalt enthalten sind, stellen somit einen weiteren wichtigen Aspekt bei der Beurteilung der Gesamtkosten für die
deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan dar.
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat erheblichen Einfluss auf das, was die Vereinigten Staaten und
ihre europäischen Partner in den kommenden Jahren
für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik auszugeben bereit sind und wie ambitioniert sie sein können. Angesichts hoher Staatsverschuldung und großer
Haushaltsdefizite rückt die Frage: „Können wir uns das
97
leisten?“ in das Zentrum der politischen Debatte.
Auch die vier Großen – Frankreich, Großbritannien,
Deutschland und Italien –, also jene Staaten, die als
einzige nennenswerte Beiträge zu den Auslandseinsätzen der NATO und der EU beisteuern können, haben
angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise kräftige
Einsparungen angekündigt. Das heißt, Europa wird
sich auf Aufgaben des Konfliktmanagements auf dem
Balkan, kleinere Stabilisierungsoperationen am Horn
von Afrika im Kampf gegen Piraterie (inklusive Ausbildungsprogramme in fragilen Staaten wie Jemen oder
Somalia) und auf Vermittlungsaktionen im Rahmen der
Europäischen Nachbarschaftspolitik (wie etwa in Geor99
gien) konzentrieren müssen. Dies alles ist zwar nicht
zu unterschätzen, ebenso die Tatsache, dass die EU
mittlerweile insgesamt 23 Missionen und Operationen
(16 davon waren zivile Missionen) auf drei Kontinenten
durchgeführt hat (mit insgesamt bisher ca. 70.000 Soldaten und Polizisten, Stand Mitte 2010). Zu anspruchsvollen, material- und personalintensiven Operationen
wie im Kosovo, Afghanistan oder Bosnien aber sind die
Europäer ohne die USA bis heute nicht in der Lage.
Sie spielt auch bei der Bundesehr-Reform von Verteidigungsminister zu Guttenberg eine wesentliche Rolle.
Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich seit 2001
an dem von den USA geführten Krieg in Afghanistan.
Die wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung
sind schwer zu berechnen. Erste realistische Schätzungen wurden vom Deutschen Institut für Wirtschafts98
forschung (DIW) in Berlin vorgelegt. Demnach werden sich die Staatsausgaben der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan auf 18 bis 31 Milliarden
Euro belaufen, wobei im Mittel Kosten von rund 24,5
Milliarden Euro erwartet werden. Die jährlichen Kosten
(ohne Einbeziehung der beachtlichen Zinskosten) dürften fast zwei Milliarden Euro betragen. Dies liegt weit
über dem, was die in der Vergangenheit von der Regierung veröffentlichten Zahlen aufzeigen. Außerdem belaufen sich die sonstigen wirtschaftlichen Kosten des
realistischen Szenarios auf 6 bis 15 Milliarden Euro.
Dieser Betrag umfasst die Kosten für die Finanzierung
des Einsatzes sowie allgemeine gesellschaftliche Kosten. Als realistisches Szenario wurde angenommen,
Allerdings birgt die Geldknappheit auch Chancen, indem sie notwendige Anpassungs-, Rationalisierungsund Kooperationsmöglichkeiten in den Mitgliedstaaten
wieder in den Fokus rückt. Erstens müssen die Europäer ein außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept auf Basis klar definierter Eigeninteressen im multilateralen Kontext entwickeln: Deutschland wird endlich
den Weg in Richtung einer Freiwilligenarmee gehen
müssen. Dazu müsste eine Konzeption für gemeinsame europäische Streitkräfte erstellt werden. Zweitens
sollte die Rüstungs- und Strukturplanung der Europäer
alle Möglichkeiten einer Kooperation ausloten und über
spontan vereinbarte zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinaus Synergien eines europäischen Verbunds
nutzen. Drittens sollten die Mitgliedstaaten sich der
verfügbaren Instrumente wie der Europäischen Verteidigungsagentur oder der mit dem Vertrag von Lissabon
geschaffenen „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ aktiv bedienen. Noch bleibt die Finalität der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in weiter Ferne,
denn es herrscht immer noch Uneinigkeit über den
100
europäischen Einigungsprozess.
Am 19. März 2003 griffen die USA und ihre Koalition der Willigen den Irak an. Vor
dem Krieg wurde von Präsident Bush und seinen Beratern ein schneller Krieg
vorhergesagt, der noch dazu mit geschätzten Kriegskosten von lediglich 69-200
Milliarden US-Dollar als „preiswert“ dargestellt wurde. Stattdessen erleben die USAmerikaner einen Krieg, bei dem bisher über 4.000 US-Soldaten gefallen und über
60.000 verwundet, verstümmelt oder ernsthaft erkrankt sind. Einen Krieg, der mehr
kostet, als es sich irgendjemand in seinen schlimmsten Träumen ausgedacht hätte.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gemeinsam mit Linda Bilmes
nicht nur die ökonomischen Kosten für die USA und die Welt berechnet, sondern
auch erstmals die langfristigen politischen, sozialen und humanitären Auswirkungen
dieses Konflikts dargestellt. Die Autoren kommen mit ihren Berechnungen auf
2,7 Billionen US-Dollar an direkten Haushaltskosten und 5 Billionen US-Dollar an
sonstigen Kosten. Vgl. Stiglitz, Joseph/Bilmes, Linda: Die wahren Kosten des
Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts, München 2008
98 Vgl. Wochenbericht Nr. 21/2010 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
Berlin: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung
am Krieg in Afghanistan
Vgl. Böttger, Katrin: Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Akteure und Koalitionen, Baden-Baden 2010
100 Die Europäische Union ist ein politisches Projekt zwischen Staatenbund und
Bundesstaat, in dem Konfrontationen von Ideen, Interessen und Identitäten in
zivilisierter Form ausgetragen werden. Dabei lassen sich supranationale Vernunft
und nationale Leidenschaft nicht gegeneinander ausspielen. Objekte eines europäischen Verfassungspatriotismus müssten die Prinzipien und Praktiken der Toleranz
sein, die in der EU-Tagespolitik eine wichtige Rolle spielen – und das von diesen
getragene pluralistische, liberale Friedens- und Freiheitsprojekt Europa, welches
eben keine neue „Nation Europa“ konstituieren will, sondern mit existierenden
Nationalgefühlen und fortdauernder kultureller Vielfalt weitgehend kompatibel ist.
Gefordert wird von den Bürgern in einer solchen Verhandlungsdemokratie nicht
Toleranz im Sinne von Nachsicht gegenüber Missständen in Brüssel, sondern
liberale Aufmerksamkeit, kritisches Wohlwollen für ein einzigartiges – und einzigartig
erfolgreiches – politisches Experiment. Vgl. Müller, Jan-Werner: Verfassungspatriotismus, Berlin 2010
97
99
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Denn zum einen müsste die EU die gesamteuropäischen Interessen identifizieren. Diese sind aber
nicht eine Summierung nationaler Interessen bzw. der
– wohl kleinste – gemeinsame Nenner derselben. Vielmehr stellten sie eine eigene Ebene dar, die auch einzelnen nationalen Interessen entgegen stehen kann.
Und zum anderen will man derzeit in Europa einfach
nicht verstehen, dass es übergeordnete Gesamtinteressen geben kann und gibt. Auch wenn die Diskussionen im EU-Parlament gelegentlich Anlass zur Hoffnung
geben.
Ohne Gesamtinteressen kann es letztlich aber keine
gemeinsame Außenpolitik und keine europäische Verteidigungspolitik geben, die über symbolische Aktionen
hinausgeht. Zum anderen müsste sich die Union, die ja
mit Frankreich und Großbritannien zwei Atommächte
hat, auf eine gemeinsame Nuklearordnung verständigen. Will sie ein global wirksamer sicherheitspolitischer
Faktor werden, so kann sie an der Frage der Kriterien
für den möglichen Einsatz von europäischen Atomwaffen auf Dauer nicht vorbeigehen. Oder aber sie unterstützt endlich die Initiative des amerikanischen Präsidenten Obama für eine atomwaffenfreie Welt, die er in
101
einer Rede in Prag am 5. April 2009 formuliert hat.
Will die EU tatsächlich ein globaler Akteur werden, so
muss sie sich Gedanken machen über eine Weltnuklearordnung. Sie muss Strategien gegenüber neuen
Nuklearmächten oder Staaten, die andere Massenvernichtungswaffen einsetzen können, entwickeln und
eine über die bisherigen, hoffnungsorientierten Vorhaben hinausgehende Politik zur Nichtweiterverbreitung
von Massenvernichtungswaffen artikulieren. Und
schließlich auch die Frage erörtern, ob und wieweit die
nationalen Nukleararsenale von EU-Ländern in die
gemeinsame Verteidigungspolitik eingebracht werden
sollen.
Festzustellen bleibt, dass die EU in den letzten zehn
Jahren mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik einen
gewaltigen Sprung in Richtung Supranationalität vollzogen hat. Sie ist heute ein Faktor, der aus der globalen Krisenbewältigung nicht mehr wegzudenken ist.
Gemessen aber an den Krisen, die die Welt gegenwärtig erschüttern und an denen, die noch kommen werden, haben die Europäer noch einen weiten Weg vor
sich. Eine Union, in der alles in allem fast zwei Millio102
nen Menschen unter Waffen stehen, sollte militärisch
nicht schon die Luft ausgehen, wenn sie 70.000 von
ihnen im Einsatz hat. Und dass in der EU mit über 500
Millionen Einwohnern nur 240 Polizisten für den Aufbaueinsatz in Afghanistan aufgetrieben werden konnten, obwohl 400 versprochen waren, ist auch nicht hinnehmbar. Jenseits der Behebung dieser Mängel gilt es
nun, die europäische Sicherheitspolitik politisch zu
festigen und zu verstetigen.
Von denen allerdings nur 10-15% für Auslandeinsätze als verlegefähig einzuschätzen sind. Die Gründe liegen vor allem in den internen EU-Duplizierungen, der
übergroßen Anzahl von nichtverlegbaren Wehrdienstleistenden, Defiziten in den
militärischen Fähigkeiten wie strategischer Transport, C3 (Command, Control,
Computers) sowie die langsam vor sich gehende Transformation von einer Territorialverteidigung hin zu Auslandseinsätzen.
102
Vgl. auch die Resolution 1887 des UN-Sicherheitsrates vom 24. September 2009
für eine Welt ohne Nuklearwaffen. Frankreich stemmt sich derzeit grundsätzlich
gegen nukleare Abrüstungsvisionen. Schon die Erwähnung des Ziels einer atomwaffenfreien Welt im zukünftigen NATO-Konzept geht Frankreich zu weit. Paris sieht
dadurch seine nationale Souveränität in Frage gestellt.
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Fazit
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einheit der
westeuropäischen Länder auf institutionellem, nicht
aber auf politischem Wege hergestellt. Niemand hat die
französischen, deutschen oder italienischen Wähler
gefragt, ob sie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Europäische Gemeinschaft oder irgendeine
der im Umfeld dieser Bündnisse entstehenden Institutionen wünschten: den Europäischen Gerichtshof, die
gemeinsame Agrarpolitik, den Europäischen Wechselkursverbund der siebziger Jahre und alle weiteren Einrichtungen. Das war auch klug, denn vor den siebziger
Jahren wären diese auf den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Heimat abzielenden Projekte mit
ziemlicher Sicherheit abgelehnt worden.
Doch der Aufbau Europas von oben – durch bürokratische Eliten, die institutionelle Schutzwälle gegen Konflikte zwischen den Nationen errichteten – forderte einen weitaus höheren Preis, als irgendwer erwartet hatte. Erst 1979 wurden EU-weite Wahlen eingeführt. Die
sind noch nie auf besonderes Interesse gestoßen und
haben bestenfalls als Ersatzterrain zum Austragen
innenpolitischer Auseinandersetzungen gedient; die
Wahlbeteiligung hat sich durchgehend rückläufig entwickelt. Derweil ist es gerade der bürokratische und elitäre Charakter der europäischen Verwaltungskaste, der
heute auf stärkste Ablehnung stößt – was sich allerorten vor allem Nationalisten zunutze machen.
Seit einigen Jahren unterzieht sich die EU sozusagen
einer zweiten Gründung und damit wandelt sich
zugleich die Begründung für die europäische Integration. Nach der ersten Gründung 1957 erfolgt seit Ende
der achtziger/Anfang der neunziger Jahre eine stärkere
Politisierung der Integration, verbunden mit einem gesteigertem Interesse der europäischen Bürger (aber
auch stärkerer Kritik) an der Integration. Zugleich wandelt sich seit dem Ende des Kalten Krieges und der
Überwindung der Teilung Europas die Begründung:
War die europäische Integration in den ersten Jahrzehnten vorrangig eine Angelegenheit der inneren
Aussöhnung unter den Staaten und Völkern Europas,
so richtet sie sich seit einigen Jahren immer deutlicher
aus an der Suche nach einer neuen globalen Rolle
Europas im Zeitalter der Globalisierung und des Managements globaler Fragestellungen.
Die Weichenstellungen zur Militarisierung der EUAußenpolitik seit Mitte der neunziger Jahre sind bislang
ohne nennenswerten Widerspruch und ohne die eigentlich dringend nötige Diskussion in den Parlamenten
und in der Öffentlichkeit der inzwischen 27 Mitgliedsländer erfolgt. Das mag damit zu tun haben, dass allgemein die Vorstellung von einer „Friedensmacht Europa“ vorherrscht. Und dies umso stärker, als sich die
USA offen unfriedlich verhalten und gegen das Völkerrecht verstoßen.
Bis weit in ehemals friedensbewegte grüne und auch
linke Kreise hinein ist der Glaube verbreitet, die – tatsächlich sehr notwendige und wünschenswerte – außenpolitische Emanzipation Europas von den USA und
der Zugewinn eigenständiger europäischer Handlungsmöglichkeiten (zum Beispiel im Nahostkonflikt)
seien nur möglich, wenn sich die EU auch gemeinsame
militärische Instrument zulegt. In der gemeinsamen
Sicherheitsstrategie der EU (ESS) wird die Notwendigkeit einer militärischen Rolle der EU nicht mehr nur mit
Konflikten in Europa begründet, sondern mit globalen
Herausforderungen und Bedrohungen. Folglich wird
eine weltweite militärische Handlungs- und Interventionsmöglichkeit der EU angestrebt.
Doch die Militarisierung der EU-Außenpolitik mit dem
Ziel der politischen Emanzipation von den USA ist ein
kostspieliger und kontraproduktiver Irrweg. Es gibt bisher über die Gesamtkosten der Aufrüstungsmaßnahmen, die die EU seit dem Kosovo-Krieg von 1999 beschlossen hat, keine offizielle Übersicht. Denn die Finanzierung dieser Maßnahmen erfolgt anteilig über die
nationalen Haushalte der Mitgliedstaaten und nicht
über den EU-Haushalt und unterliegt somit keiner Kontrolle durch das Europäische Parlament. Aber auch die
nationalen Parlamente haben keine Übersicht über die
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Gesamtkosten.
Der Aufbau weiterer herkömmlicher militärischer Strukturen verschlingt Ressourcen, welche die EU dringend
zur zivilpräventiven Konfliktbearbeitung benötigt. Die
schon jetzt vorhandene Tendenz, Mittel aus dem Europäischen Entwicklungsfonds (EEF) für militärische Aktivitäten zur Friedenssicherung zu verwenden, schwächt
den Ansatz der Armutsbekämpfung ebenso wie die
Umsetzung einer nachhaltig und langfristig orientierten
Entwicklungspolitik, die der Herausbildung von Krisen
vorbeugt.
Jeder Euro zusätzlich, den die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten für militärische Zwecke ausgeben, fehlt bei der
Finanzierung von zivilen Instrumenten, Programmen
und Personal für die Prävention und Beilegung internationaler Konflikte sowie sozialen und anderen wichtigen
innerstaatlichen Aufgaben. Dazu kommt, dass die USA
bei den militärischen Kapazitäten und bei der militärtechnologischen Forschung einen gewaltigen Vorsprung vor allen anderen Staaten der Erde haben. Und
sie werden ihre militärischen Fähigkeiten in den nächsten Jahren weiter ausbauen und modernisieren – mit
einem Finanzeinsatz, der nach dem Stand von 2010
bei rund 640 Milliarden US-Dollar jährlich liegt. Das
heißt: Die EU würde bei einem Militarisierungswettlauf
mit den USA das militärische Machtgefälle nicht verringern, zugleich aber enorme Ressourcen verschleudern
und dadurch ihre nichtmilitärischen außenpolitischen
Handlungsmöglichkeiten einschränken.
Seit es Staaten gibt, sind darunter mächtigere und weniger mächtige. Die Mächtigeren lassen es die weniger
Mächtigen fühlen, dass sie die Stärkeren sind. Wo sich,
wie in Europa, so etwas wie ein Staatensystem ausbildet, schälen sich immer wieder Hegemonialmächte
heraus. Dies können in jedem Jahrhundert andere sein.
Erste Schätzungen von unabhängigen Friedens- und Konfliktforschern kamen auf
rund 150 Milliarden Euro bis zum Jahr 2012.
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Im Europa des sechzehnten Jahrhunderts war es Spanien, im siebzehnten Frankreich, im achtzehnten und
vor allem im neunzehnten Großbritannien. Aber keine
dieser Mächte hatte eine so unangefochtene Führungsposition wie heute die USA. Hegemonialmacht
hat ihre Versuchungen. Sie kann sich manches ungestraft erlauben, was andere Staaten besser nicht wagen. Vieles, was heute den USA vorgeworfen wird, ist
nicht „typisch amerikanisch“, sondern das übliche Gebaren einer Hegemonialmacht. Dagegen hilft kein Moralisieren, sondern allenfalls der Aufbau einer anderen
Macht, deren Wort man auch in Washington nicht
überhören kann. Das wäre eine Europäische Union mit
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Was Europa heute braucht ist eine klare und eindeutige
Definition von europäischen Zielen. Während der ganzen Ära Bush hat sich Europa weitgehend an den amerikanischen Zielen orientiert; teils wurden sie abgelehnt,
wie der Irak-Krieg, teils wurde widerstrebend mitgewirkt, wie beim Wiederaufbau und dem Schuldenerlass
für den Irak; teils wurden sie umgedeutet, wie der
„Krieg gegen den Terror“, den wir Europäer als Krieg
gegen Al Qaida bejahten, aber nicht als weltweiten
„Kreuzzug“.
Ein europäischer Zielkatalog könnte so aussehen:
•
Neue internationale Regeln für das globale Finanzsystem;
•
Stärkung der Vereinten Nationen und striktes Einhalten der im Jahre 2000 beim UN-Gipfel beschlos104
senen Milleniumsziele;
•
Erhaltung des Freihandels bei Berücksichtigung der
Interessen der Entwicklungsländer;
•
Klimaschutz und regenerative Energieformen;
•
Nukleare Abrüstung und regionale konventionelle
Rüstungskontrolle;
•
Menschenrechte, humanitäre Interventionen, Internationaler Strafgerichtshof;
•
Hineinwachsen der großen Schwellenländer in die
internationalen Regeln. Zusammenarbeit mit ihnen
statt Konfrontation und Misstrauen (das gilt auch
und gerade für den Nachbarn Russland).
Die Herausforderung, der sich die Europäische Union
heute gegenübersieht, besteht nicht in der Frage, ob
oder wie die griechische Wirtschaft zu retten ist, auch
Wie schwer das ist, zeigt sich daran, dass die EU-Führung gerade gescheitert ist,
bei den Vereinten Nationen in New York vom Beobachter zum Quasi-Mitglied
hochgestuft zu werden. Der angestrebte Status hätte es dem europäischen Ratspräsidenten, Herman Van Rompuy, unter anderem erlaubt, in der UN-Vollversammlung
zu reden und eigene Vorschläge einzubringen. Ein Beobachterstatus wird vielen
Organisationen zugestanden, von der Arabischen Liga bis zum Roten Kreuz. Der
Brüsseler Wunsch nach Höherstufung wurde mit der Mehrheit vieler Drittweltstaaten
aus Afrika, dem karibischen und pazifischen Raum – den so genannten AKPStaaten – abgelehnt. Aber auch Großbritannien und Frankreich stehen unter Sabotageverdacht. Die einstigen Kolonialmächte sind heute quasi zu Schutzpatronen
ihrer ehemaligen Übersee-Besitzungen geworden. Sie stimmen sich deshalb bei
solchen Themen gerne mit ihnen ab. Womöglich war das auch hier der Fall, und
London und Paris haben, so ein Brüsseler Diplomat, „über die afrikanisch-karibische
Bande gespielt“. Denn die beiden ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wären
wenig begeistert gewesen von einer zusätzlichen EU-Stimme.
104
nicht in der Neuausrichtung der Währungspolitik oder
der Wahl zwischen Sparen und Wachstumspolitik
105
(auch wenn tagespolitisch alles wichtig ist). Die EUAußenpolitik muss sich endlich auf ihre Stärken konzentrieren: wirtschaftliche Integration, Diplomatie, zivile
Krisenprävention und Konfliktbearbeitung.
Die Bundesregierung sollte das ursprüngliche Ziel der
UN, dass jeder Industriestaat 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung
stellen solle, binnen zehn Jahren realisieren. Auf der
Grundlage der von den Generalsekretären der UN entwickelten Agenden für Frieden und Entwicklung könnte
gerade die EU andere, zivilmächtige, Strategien entwickeln, die eine friedensorientierte Außenpolitik Realität
werden lassen könnten. Diese wäre eine nachhaltigere
Sicherheitspolitik, als sie über das Militär als Bedrohungsinstrument erreichbar ist. Nur eine im Umfang zu
steigernde und qualitativ zu verbessernde, als Prävention im Sinne des Abbaus struktureller Gewaltverhältnisse verstandene Entwicklungspolitik, kann Grundlage
einer wirklich friedensorientierten Außenpolitik sein.
Als US-Präsident George W. Bush 2002 für seinen
Irakkrieg eine „Koalition der Willigen“ konstruierte, wurde er auf einer Pressekonferenz gefragt, ob die Deutschen mit dabei wären. Mit einer knappen Handbewegung erledigte er seine Antwort: „The Germans are
pacifists“, – auf Deutsch: Auf die ist kein militärischer
Verlass. Wir brauchen uns des Pazifismus unseres
Volkes nicht zu schämen. Deutschland ist 65 Jahre
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weltweit geachtet, nicht mehr geächtet. Der Pazifismus entspricht
nicht nur unserer historischen Erfahrung, sondern auch
modernen Einsichten. Jede postmoderne, das heißt
kinderarme und risikoscheue Gesellschaft, teilt sie in
Wirklichkeit. Nirgends mehr gibt es „heroisch“ geführte
Volkskriege. Soweit westliche Staaten Kriege führen,
tun sie dies durch disziplinierte und bestausgerüstete
Berufssoldaten, ergänzt durch ein Heer hochbezahlter
Privatangestellter (Söldner) mit Risikozuschlag. Aber
trotzdem bedeuten diese Kriege keine Spaziergänge,
sondern enden meist in asymmetrischen Kriegen, mit
anschließender Gefahr von staatsfreien Räumen. Unter
diesen Umständen müssen wir uns wegen der Ablehnung von „Kampfaufträgen“ nicht schämen und können
der Kritik anderer Partner ins Auge sehen.
Es ist daher sicher sinnvoll, daran zu erinnern, wie
eindrucksvoll sich Europa von außen darstellt. Es gibt
noch immer keinen wohlhabenderen Kontinent. Die
EU-Mitgliedstaaten erfreuen sich besserer Beziehungen zu ihren Nachbarn als irgendwer sonst, was die
Wahrscheinlichkeit kriegerischer Konflikte verringert.
Die Brüsseler Union ist noch immer das beste und am
meisten bewunderte Vorbild für einen Zusammenschluss souveräner Staaten in transnationalen Institutionen, der die nationale Identität und Autonomie nicht
gefährdet. Die Menschen in Lateinamerika, im Nahen
Osten und in Südostasien würden viel dafür geben,
auch nur annähernd so erfolgreich zu sein wie die EU.
Für Deutschland ist der Euro eine Schicksalsfrage. Es gibt kein anderes Land,
das vom gemeinsamen Binnenmarkt und von der Währungsunion so profitiert wie
die Bundesrepublik.
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Europa könnte der Kontinent werden, an dem sich die Welle der Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt
bricht. Denn was am 11. September 2001 auf so tragische Weise sichtbar wurde, ist das Ergebnis einer schon
länger zu beobachtenden Entwicklung, die sich nach dem Zerfall der alten bipolaren Weltordnung drastisch beschleunigte: der Verfall der Staatlichkeit und des staatlichen Gewaltmonopols. Die berüchtigten Todesschwadronen in mittel- und südamerikanischen Ländern, die von Warlords angeführten Rebellenarmeen in Teilen Afrikas,
die Drogenbarone in Afghanistan, aggressive und korrupte Eliten, die Unversöhnlichkeit fundamentalistischer
Strömungen in Form von Terrororganisationen, die Taliban in Afghanistan und Pakistan, aber auch das Wiederaufleben der Piraterie in Südostasien und am Horn von Afrika, sind die sichtbarsten Anzeichen für den Zerfall des
staatlichen Gewaltmonopols und die Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt.
Privatisierte und kommerzialisierte Gewalt ist aber mit den Kategorien Krieg und Frieden nicht zu fassen. Wir haben es vielmehr zunehmend mit einem Zustand jenseits von Krieg und Frieden zu tun. Im Kern handelt es sich so
gut wie immer um Kriminalität, für die eigentlich Polizei und die Gerichte zuständig sind. Diese aber sind – vor allem dort, wo ein Staat gar nicht mehr existiert – zunehmend überfordert. Da aber die Welt nicht einfach zusehen
kann, wie Hunderttausende von Menschen hingeschlachtet werden, sind militärische Interventionen aus Menschenrechtserwägungen manchmal unvermeidlich. Das Militär wird dann immer mehr zur Hilfspolizei einer erzwungenen Welt-Innenpolitik. Aber eben nur als Teil einer Strategie, in der die militärischen Aktionen ihre genau
abgegrenzte und vor allem begrenzte Funktion haben. Wo die Gefahr besteht, dass die militärischen Mittel im Sinne der politischen Gesamtstrategie mehr schaden als nützen, dürfen sie nicht eingesetzt werden. Dadurch wird
auch der alte Pazifismus, der im Kern ein Antimilitarismus war, fragwürdig. Denn kein Pazifist kann gegen polizeiliche Gewalt zum Schutze unschuldiger Menschen sein, nur weil diese mit militärischen Mitteln ausgeübt werden
muss.
In diesem Sinne sollte die Europäische Union nicht versuchen, eine neue, militärisch definierte multipolare Machtbalance zu errichten, sondern einen alternativen Weg einschlagen, der in einer entschlossenen Stärkung der UNO,
einer drastischen Erhöhung der Entwicklungshilfe und einer sehr viel stärkeren Gewichtung des zivilen Elements
bei Friedensinterventionen besteht. Gleichzeitig können die Europäer auf ein internationales Gewaltmonopol und
eine Weltpolizei im Rahmen der UNO hinarbeiten. Dazu müssten sie aber vor allem ihre eigene, die europäische
Einigung voranbringen. Wie heißt es so schön bei Max Weber in seinem Werk „Politik als Beruf“:
„Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte,
wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre.“
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