91 Manualmedizinische Befunderhebung Funktionsuntersuchung Im Bereich der Lendenwirbelsäule erfolgt die reine Funktionsuntersuchung als erster Schritt der Dreischrittdiagnostik. Zunächst werden Stellung und Haltung der Lendenwirbelsäule inspektorisch beurteilt. Abflachung und Verstärkung der Lendenlordose werden ebenso vermerkt wie ein hyperlordotischer Knick am lumbosakralen Übergang oder eine dorsolumbale Kyphose, eine Skoliose oder eine antalgische Fehlhaltung. Eine nur gering ausgeprägte Skoliose zeigt sich oft nur am einseitig stärker ausgeprägten Lendenwulst, der sich wiederum beim Vorneigen stärker ausprägt. Anschließend wird der Verlauf der Dornfortsatzreihe abgetastet und auf seitliche Abweichungen oder Stufenbildungen hin überprüft. Bei Letzteren ist radiologisch abzuklären, ob es sich um eine echte oder eine Pseudospondylolisthesis handelt. Bei der echten Spondylolisthesis findet sich die Stufenbildung in der Dornfortsatzreihe oberhalb des Gleitwirbels, bei der Pseudospondylolisthesis unterhalb des Gleitwirbels (durch die Spaltbildung in der Interartikularportion bleibt bei der Spondylolisthesis vera der Dornfortsatz des Gleitwirbels stehen). Prüfung des Schober-Zeichens Die eigentliche Funktionsprüfung umfasst sowohl grob orientierende als auch segmentbezogene Prüfungen. Bei der Vorneigung werden zunächst das Schober-Zeichen und der Fingerbodenabstand geprüft. Bei Letzterem ist zu beachten, dass dafür neben der LWS-Beweglichkeit auch die Funktion der Hüftgelenke (diese ganz besonders) und eine Verkürzung der ischiokruralen Muskulatur von Bedeutung sind. Auch die Messung der Mittelstrecke um L1 kann einbezogen werden. Bei der Prüfung des lumbalen und thorakalen Schober-Zeichens (Abb. 79) ist zu beachten, dass vor allem im Bereich der Brustwirbelsäule mit einer Längenzunahme um 10% (Normalmaß: 30/33 cm) eine Bewegungsstörung in einem einzelnen Segment sich durch die kompensatorische Hypermobilität der Nachbarsegmente dem Nachweis entzieht. Das kann aber auch bei nicht sehr ausgeprägten Blockierungen im Bereich der LWS (Normalmaß 10/15cm) der Fall sein. Prüfung des Gangbildes Die Prüfung des Gangbildes zeigt nicht nur die gleichmäßige Ausgleichsbewegung der Wirbelsäule bzw. deren Störungen. Hierzu gehört auch die Prüfung des Zehen- und Hackenganges, und zwar nicht nur zur Beurteilung einer eventuellen motorischen Störung in den Segmenten L5 und S1, sondern auch, um unter Umständen einen Hinweis auf den Einfluss eines engen Spinalkanals auf die geklagten LWS Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule 92 Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule LWS Beschwerden zu bekommen. Beim Zehengang verstärkt der Patient seine Lendenlordose und damit die Auswirkung einer spinalen Enge (Abb. 80). Der Hackengang dagegen führt zum Ausgleich bzw. zur Verringerung der Lendenlordose und verringert damit die Beschwerden vonseiten eines engen Spinalkanals (gelenkentlastende Haltung, Abb. 81). Prüfung der Lateralflexion Abb. 79 Prüfung des dorsalen und lumbalen Schober-Zeichens Am stehenden Patienten wird anschließend die Seitneigungsfähigkeit der LWS beurteilt. Dieser Test gibt bei korrekter Ausführung nicht nur eine Aussage über die globale Rumpfseitneigung (Normalwert: 30–35°), sondern damit ist auch eine Aussage über Höhe und Ausmaß seg- Abb. 80 Abb. 81 Zehengang (Lordoseverstärkung) Hackengang (Lordoseabflachung) Manualmedizinische Befunderhebung 93 LWS mentaler Störungen möglich. Dazu ist es aber erforderlich, mögliche Fehlerquellen auszuschalten. Bei dieser Prüfung steht der Patient aufrecht und hüftbreit vor dem Untersucher. Beide Beine werden bei möglichst maximaler Streckung in den Kniegelenken gleich belastet. Während der anschließenden Seitneigung darf der Patient kein Bein entlasten und auch nicht in einem Knie einknicken. Das Becken darf nicht zur Gegenseite der Neigung ausweichen, und es ist durch einen Gegenhalt an Becken und Schulter des Patienten eine Rotation des Becken- und/oder des Schultergürtels zu verhindern. Eine hypomobile Störung in Höhe L5/S1 oder L4/L5 zeigt sich durch einen späteren (je nach Befund ein- oder doppelseitig) Beginn der Seitneigung, eine weiter kranial gelegenen Störung im Sinne der Hypomobilität durch eine Vergradung des entsprechenden Abschnittes (Abb. 82). Prüfung des Vorlaufphänomens Abb. 82 xion Inspektorische Prüfung der Lateralfle- Zur schnellen Feststellung einer segmentalen Störung dient auch an der Lendenwirbelsäule die Prüfung des Vorlaufphänomens. Sie erfolgt analog der Prüfung des Vorlaufphänomens an den Sakroiliakalgelenken. Neuere eigene Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die Aussage des Vorlaufphänomens an der LWS nicht so eindeutig ist, wie es Maigne ursprünglich angegeben hat. Das Vorlaufphänomen an der LWS beruht darauf, dass die Muskulatur den Bewegungen der Wirbel bzw. ihrer Querfortsätze zunächst folgt. Erst wenn die Vorneigung länger eingehalten wird, kommen die Verschiebeschichten zwischen den einzelnen Gewebelagen zum Tragen, und es erfolgt nach 15–20 Sekunden der Ausgleich. Erfolgt er dann nicht, handelt es sich nicht um die Folge funktioneller Störungen, sondern struktureller Veränderungen. Bisher wurde die Meinung vertreten, dass bei einer funktionellen hypomobilen Störung der untere Partnerwirbel des gestörten Segmentes und damit die über ihm liegende Muskulatur zunächst auf der Seite der Störung nach kranial »vorläuft«. Eigene Untersuchungen haben aber gezeigt, dass sich in einer Reihe von Fällen zusätzlich oder allein ein Vorlauf auf der Gegenseite in Höhe des oberen Partnerwirbels einstellt. Diesen Vorlauf deuten wir (bei Ausschluss einer weiteren hypomobilen Störung im kranial liegenden Nachbarsegment) so, dass die relative Mehrbewegung auf der nichtblockierten Seite in diesen Fällen zum Vorlauf führt. Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule LWS 94 Abb. 83 a Prüfung des Vorlaufphänomens an der LWS (Handlage) Abb. 83 b Prüfung des Vorlaufphänomens an der LWS (Vorlauf L4 rechts) Zur technischen Durchführung dieser Prüfung steht der Patient hüftbreit mit gleich belasteten Beinen vor dem Untersucher. Dieser legt seine Daumen beidseits ca. 1 Querfinger paraspinös in Höhe der einzelnen Wirbel an und fordert den Patienten dann auf, sich jeweils ohne einseitige Belastungsänderung nach vorn zu beugen. Er drückt seine Daumen so fest ein (aber auch nicht fester), dass sie bei der anschließenden Vorneigung nicht der Haut, sondern der Muskulatur folgen (Abb. 83). Ein leichtes seitengleiches Anbeugen der Kniegelenke beeinflusst den Untersuchungsgang nicht. Bei einem positiven Vorlaufphänomen ist zur genauen Lokalisation der Störung die Kombination mit der Seitneigungsprüfung (siehe oben) anzuraten. Nach der Durchführung einer manuellen Therapie eignet sich dieser Test besonders gut zur Erfolgskontrolle. Prüfung der Dorsalgleitmöglichkeit der Wirbel Zum Ausschluss einer segmentalen Hypermobilität dient die Prüfung der Dorsalgleitmöglichkeit der Wirbel am Patienten in Seitenlage. Der Patient liegt dazu in Seitenlage auf dem Flachtisch. Seine Hüftgelenke werden etwas über 90° flektiert (Hüftflexion unter 90° führt zur Lordoseverstärkung und damit zum Gelenkschluss). Der Untersucher steht vor dem Patienten und fixiert mit dem Daumenballen Abb. 84 Ausschluss einer segmentalen Hypermobilität (z. B. degenerative Instabilität) an der LWS durch Prüfung des Dorsalgleitens seiner kopfnahen Hand den oberen Partnerwirbel des zu beurteilenden Segmentes. Der Zeigefinger seiner fußnahen Hand liegt im interspinösen Raum dieses Segmentes. Mit seinen an den Patientenknien angelegten Beinen führt er einen Dorsalschub unter Vermeidung einer Lordose- oder Kyphoseverstärkung aus. Mit seinen palpierenden Fingern prüft er, ob und gegebenenfalls wie weit sich eine Dorsalverschiebung des kaudalen gegenüber dem kranialen Partnerwirbel feststellen lässt (Abb. 84). Prüfung der segmentalen Beweglichkeit Die genauere Prüfung der segmentalen Beweglichkeit an der Lendenwirbelsäule wird über die Prüfung des Bewegungsverhaltens der Dornfortsätze gegeneinander durchgeführt. Hierzu werden zwei Möglichkeiten empfohlen: • Einmal kann man mit den tastenden Fingern der Bewegung dreier benachbarter Dornfortsätze folgen (technisch schwieriger, erfordert mehr Übung, ist aber genauer!). Das führt zu einer exakten Aussage über den Bewegungsweg. 95 • Zum anderen wird empfohlen, mit den zwischen den Dornfortsätzen angelegten Fingerkuppen zu versuchen, diesen Bewegungsweg zu erfassen. Das ist technisch wesentlich einfacher, erfordert aber viel Erfahrung und führt nicht immer zu nachvollziehbaren Ergebnissen. Meist wird der Bewegungsweg dabei deutlich zu groß eingeschätzt. Zudem wird mit den dafür empfohlenen Techniken in aller Regel die Rotation und Seitneigung als gekoppelte Bewegung und nicht isoliert geprüft. Bei all diesen Untersuchungen ist auch die physiologische Bandbreite der Bewegung und der Umstand zu beachten, dass auch geringe Seitenunterschiede durchaus in diese hineinfallen. Hauptsächlich dient die segmentale Bewegungsprüfung dem Ausschluss einer Hypermobilität als Kontraindikation. Die segmentale Bewegungsprüfung an der LWS kann grundsätzlich am stehenden, sitzenden oder liegenden Patienten durchgeführt werden. Wenn die Prüfung am sitzenden Patienten mit gleichmäßig belasteten Beckenhälften und unter Vermeidung einer Mitrotation des Beckens erfolgt, ist sie nach unseren Erfahrungen am aussagekräftigsten. Die Prüfung wird an LWS und BWS in allen sechs Bewegungsrichtungen (Kyphosierung, Lordosierung, Rechtslateralflexion, Linkslateralflexion, Rechtsrotation, Linksrotation) durchgeführt (Abb. 85, 86 a–c, 87 a–c). Dazu legt der Untersucher die Kuppen seiner Langfinger auf drei benachbarte Dornfortsätze und prüft deren Bewegungsverhalten gegeneinander jeweils im Vergleich zur Gegenbewegung, d.h. bei Linkslateralflexion im Vergleich zur Rechtslateralflexion, bei Linksrotation im Vergleich zur Rechtsrotation, bei Kyphosierung im Vergleich zur Lordosierung. Es wird auch immer im Vergleich zu den Nachbarseg- LWS Manualmedizinische Befunderhebung Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule LWS 96 Abb. 85 Anlage zur segmentalen Bewegungsprüfung an der LWS Abb. 86 a Segmentale Bewegungsprüfung an der LWS (Flexion) Abb. 86 b Segmentale Bewegungsprüfung an der LWS (Rotation) Abb. 86 c Segmentale Bewegungsprüfung an der LWS (Lateralflexion) 97 LWS Manualmedizinische Befunderhebung Abb. 87 a Segmentale Bewegungsprüfung an der Brustwirbelsäule (Flexion) Abb. 87 b Segmentale Bewegungsprüfung an der Brustwirbelsäule (Lateralflexion) menten geprüft. Der Untersucher muss dabei sehr darauf achten, dass seine Finger nicht durch die Weichteile von den Dornfortsätzen wegbewegt werden. Es muss allerdings auch das geringe Bewegungsausmaß bei isolierter Prüfung der Einzelbewegung beachtet werden. Bei einer isolierten Rotation von z.B. 1,5° im Segment L4/L5 ist die rein palpatorische Feststellung einer nur gering ausgeprägten Rotationseinschränkung praktisch nicht möglich. Aufsuchen des segmentalen Irritationspunktes Abb. 87 c Segmentale Bewegungsprüfung an der Brustwirbelsäule (Rotation) Der zweite Schritt der Dreischrittdiagnostik besteht an der Lendenwirbelsäule aus dem Aufsuchen des paraspinös – ca. 1 Querfinger lateral der Dornfortsatzreihe – gelegenen segmentalen Irritationspunktes, der durch das Abschieben der oberflächlichen Rückenstrecker erreicht wird und sich durch Konsistenz-(Tonus-)Ver- LWS 98 mehrung und Druckdolenz auszeichnet. Das Substrat des Irritationspunktes an der Wirbelsäule wurde bereits erläutert. Beim Aufsuchen des segmentalen Irritationspunktes ist streng darauf zu achten, dass der Patient völlig entspannt in Bauchlage auf dem Flachtisch liegt. Diese Entspannung wird durch ein leichtes Absenken des Kopfteiles zur Vermeidung einer stärkeren Halslordose gefördert. Die Halswirbelsäule sollte auch beim Aufsuchen des segmentalen Irritationspunktes an der Brust- und Lendenwirbelsäule nicht rotiert sein und das Gesicht des Patienten in der Aussparung des Kopfteils liegen. Zur Optimierung der Entspannung soll der Patient seine Arme in Höhe der Achselaussparung seitlich vom Tisch herabhängen lassen. Seit 1975 anstelle der von Sell gelehrten »Fächerdiagnostik« durch Bischoff die zunächst parallel, seit 1980 ausschließlich gelehrte paraspinöse Irritationspunktdiagnostik eingeführt wurde, wird technisch folgendermaßen vorgegangen: Der Therapeut steht seitlich am Tisch auf der Gegenseite der zu prüfenden Irritationspunkte. Die Mittelfingerkuppe der untersuchenden Hand wird paraspinös zwischen Dornfortsatzreihe und oberflächlicher Schicht des M. erector spinae senkrecht in die Tiefe geschoben. Dabei ist die Beugeseite der Fingerendphalanx der Dornfortsatzreihe zugewandt und hält den Kontakt mit dem Dornfortsatz, ohne Druck auf ihn auszuüben. Es ist darauf zu achten, dass der Finger nicht schräg in den M. erector spinae drückt, sondern möglichst genau senkrecht in die Tiefe geführt wird (Abb. 88, 89). Im Fall einer zum nozireaktiven Hypertonus der auf Seite 38 genannten Muskeln führenden Nozizeptorenaktivität findet sich eine druckdolente umschriebene Konsistenzvermehrung dicht kaudal des Unterrandes des Querfortsatzes des zugehörigen Wirbels. Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule Abb. 88 Lage der segmentalen Irritationspunkte an der LWS Prüfung der Rotations- und Flexionsempfindlichkeit Beim Nachweis eines solchen segmentalen Irritationspunktes erfolgt als dritter und letzter Schritt der Dreischrittdiagnostik die funktionelle Zuordnung durch die Prüfung der Reaktion auf Flexion und Rotation. Die nachfolgende Dokumentation des Befundes umfasst zunächst die rein topographische Angabe der Höhen- und Seitenlokalisation des gefundenen segmentalen Irritationspunktes, wobei ein Pluszeichen vor der Zahl einen linksseitig und ein Pluszeichen hinter der Zahl einen rechtsseitig gelegenen Irritationspunkt kennzeichnet. Daraus ergeben sich das zu behandelnde Segment Manualmedizinische Befunderhebung 99 Befunddokumentaion (Sell) topographisch L +3 funktionell li, l Gesetz der freien Richtung L3+, re., l daraus folgt therapeutisch: L3+, li., k Abb. 89 Aufsuchen eines segmentalen Irritationspunktes an der LWS Abb. 91 und der Ort der Befundkontrolle nach erfolgter Behandlung. Die Rotationsempfindlichkeit, die als nächstes in der Dokumentation erscheint, wird mit »li« für linksrotationsempfindlich und mit »re« für rechtsrotationsempfindlich abgekürzt. Die Flexionsempfindlichkeit, mit der die Dokumentation abschließt, wird mit »k« für kyphosierungsempfindlich und mit »l« für lordosierungsempfindlich bezeichnet. Die Dokumentation des chirodiagnostischen Befundes besteht also aus einem topographischen und einem funktionellen Teil (Abb. 90). Der funktionelle Teil gibt die gesperrte Richtung (Blockierung) und damit auch die sog. freie Richtung (= Richtung, in der die nozireaktiven Zeichen abnehmen = Behandlungsrichtung bei Wirbelsäulenmanipulation) an. Da sich – wie bereits berichtet – der dritte und letztendlich entscheidende Schritt der Chirodiagnostik an der Nozireaktion der tiefen Rückenmuskulatur (tiefe kurze Anteile des M. multifidus, Mm. rotatores) orientiert und die gezielte Manipulation an der Wirbelsäule der Regel von der Behandlung in die freie Richtung folgt, ergibt sich aus diesem Befund ganz klar die Behandlungsrichtung für die gezielte Mani- pulation. Eine Mobilisation kann im Gegensatz dazu unter Beachtung der Schmerzgrenze – wie bereits dargestellt – bei Vorhandensein einer freien Wegstrecke bis zum Bewegungshindernis sofort in die blockierte Richtung versucht werden. Sie erfordert aber sowohl längere Behandlungssitzungen als auch Behandlungsserien und ist genauso wie die neuromuskulären Techniken stärker rezidivgefährdet. Für die gezielte Manipulation an der Wirbelsäule heißt das, dass sich bei einer Irritationssituation, die sich als rechtsrotationsempfindlich und lordosierungsempfindlich erweist, die Behandlung in Richtung der Linksrotation und der Kyphosierung erfolgen muss (Abb. 91). Beim Fehlen einer freien Richtung (Richtung der abnehmenden Nozireaktion) ist eine Manipulation an der Wirbelsäule mit unvertretbar großen Risiken verbunden und deshalb abzulehnen. Fehlt dann auch noch eine freie Wegstrecke bis zum Hindernis auf dem Weg zur Erreichung des Bewegungszieles (Blockierung), so liegt auch eine Kontraindikation für eine Mobilisationstherapie vor. Als Ansatzpunkte für die therapeutischen Techniken bieten sich der Dornfortsatz und die Querfortsätze an. Am Dornfortsatz kann mittels LWS Abb. 90 LWS 100 Schub oder Zug gearbeitet werden. Am Querfortsatz kann auf der Seite der Rotationsempfindlichkeit mittels Schub manipuliert oder mobilisiert werden. Beim Vorhandensein einer freien Wegstrecke bis zur Blockierung kann auch am Querfortsatz der Gegenseite (Versetzungsseite) mobilisiert werden. Da nur der Querfortsatz auf der Seite der Rotationsempfindlichkeit zur Manipulation genutzt werden kann, wird er auch als therapeutischer Querfortsatz bezeichnet. Das Segment wird, wie in Abbildung 92 dargestellt, in vier Quadranten eingeteilt. Es werden Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule die vorderen und hinteren Rotationsquadranten auf der Seite der Rotationsempfindlichkeit sowie die vorderen und hinteren Versetzungsquadranten auf der Gegenseite unterschieden. Bei der echten Rotation eines Wirbels wandert der Dornfortsatz eines Wirbels zur Gegenseite (wird zur Gegenseite versetzt). Deshalb wird der Dornfortsatz eines Wirbels bei der Rotationsempfindlichkeit eines Wirbels als nach der Gegenseite versetzungsempfindlich betrachtet. Zur Prüfung der Rotations- und Flexionsempfindlichkeit wird die Kuppe des palpierenden Mittelfingers unter gleich bleibendem Druck Abb. 92 Therapeutische Angriffspunkte bei Wirbelsäulenmanipulationen (für die Überlassung der Abbildung danke ich Herrn Dr. Peissel, Bad Iburg) 101 LWS Manualmedizinische Befunderhebung Abb. 93 Funktionelle segmentale Irritationspunktprüfung an der LWS (Prüfung auf Rotationsempfindlichkeit) Abb. 94 Funktionelle segmentale Irritationspunktprüfung an der LWS (Prüfung auf Kyphosierungs- und Lordosierungsempfindlichkeit durch Atmung) im Irritationspunkt belassen. Bei der Prüfung der Rotationsempfindlichkeit umfasst der Untersucher den Oberarm des Patienten und führt diesen so weit nach dorsal, bis der betreffende Wirbel mitrotiert (Abb. 93). Hierbei zeigt sich dann entweder als Zeichen einer vermehrten Nozireaktion eine Zunahme (blockierte Richtung) oder als Zeichen einer verminderten Nozireaktion eine Abnahme (freie Richtung) von Schmerz und Konsistenz. Die Flexionsprüfung erfolgt mithilfe der Atembewegung des Patienten. Der Untersucher lässt seinen Mittelfinger mit gleich bleibendem Druck im Irritationspunkt und fordert den Patienten auf, tief ein- und auszuatmen. Bei der tiefen Inspiration bewegt sich die Lendenwirbelsäule in Richtung Kyphosierung und bei tiefer Exspiration in Richtung Lordosierung (Abb. 94). Die Prüfung auf Lordosierungsempfindlichkeit kann zusätzlich noch durch ein Anheben des Patientenbeins auf der untersuchten Seite erfolgen (Abb. 95). Abb. 95 Funktionelle segmentale Irritationsprüfung an der LWS (Prüfung auf Lordosierungsempfindlichkeit) Einsatz der Manualtherapie an der Lendenwirbelsäule Einer Manualtherapie zugängliche lokale, pseudoradikuläre oder sehr selten auch radikuläre Schmerzsyndrome finden sich vor allen bei spondylogenen (arthrogenen) oder myogenen Wirbelgelenkblockierungen oder auch bei als LWS 102 Verformungssperre der Bandscheibe bezeichneten intradiskalen Blockierungen. Auch bei einer lumbalen Bandscheibenprotrusion wird der Einsatz der manuellen Therapie in Form von kyphosierenden Traktionen mit einer geringen Rotationskomponente diskutiert. Das geschieht unter der Vorstellung, dass durch den dabei entstehenden Unterdruck im Intervertebralraum und die Lösung einer eventuell gleichzeitig bestehenden intradiskalen Blockierung der Nucleus pulposus wieder in seine Normallage zurückfinden kann. Sinnvoll kann das aber nur sein, wenn anschließend durch eine aufrichtende Entlastungshaltung oder die Anwendung eines delordosierend wirkenden Mieders (z.B. Lumboflex-Mieder oder elastischer G. u. H.-Rückenstützgürtel) die Entlastung von Bandscheibe und Wirbelgelenk noch für längere Zeit gesichert wird. Unspezifische Techniken Diese werden teils als Mobilisationen, teils als Manipulationen durchgeführt. Kyphosierende Traktionsmobilisation aus der Rückenlage Diese sehr bewährte einführende Mobilisation kann auch bei akuter Lumbago mit Erfolg angewendet werden (Abb. 96). Dazu werden die Beine des in Rückenlage auf dem Behandlungstisch liegenden Patienten in Hüfte und Knie gebeugt. Der Therapeut steht am Fußende oder kniet auf dem Fußende der Behandlungsliege und unterfasst die Kniekehlen des Patienten mit seinen Unterarmen. Bei gehaltener Hüft- und Kniebeugung richtet sich der Therapeut zunächst auf und erreicht damit eine rein kyphosierende Traktion. Anschließend erfolgt dazu noch eine Traktion in Rich- Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule Abb. 96 Traktionsmobilisation an der Lendenwirbelsäule tung der Körperlängsachse des Patienten, wodurch die kyphosierende Traktion mit einer Traktion in Längsrichtung kombiniert wird. Rotationsmobilisation am Patienten in Bauchlage Eine weitere sehr gut dosierbare, nur mobilisierend anzuwendende Technik ist die Rotationsmobilisation am Patienten in Bauchlage (Abb. 97). Der Patient liegt in Bauchlage auf dem Flachtisch. Der Therapeut steht in Höhe der LWS neben der Liege mit Blickrichtung zum Patienten. Seine fußnahe Hand legt er unter der Spina iliaca anterior auf der Gegenseite des Patienten an. Die kopfnahe Hand legt er für die Rotationsmobilisation der ganzen LWS dicht paraspinös in Höhe D12 auf der Gegenseite an, bei Behandlung in einem einzelnen Segment entsprechend am oberen Partnerwirbel dieses Segmentes. Zur Mobilisation wird mit der fußnahen Hand das Becken bis zur ersten Barriere angehoben und mit der kopfnahen Hand ein dosierter Gegendruck nach lateroventral ausgeübt. Auch bei dieser Mobilisation bewährt sich der Einsatz der postisometrischen Relaxation. 103 LWS Einsatz der Manualtherapie an der Lendenwirbelsäule Abb. 97 Rotationsmobilisation der LWS am Patienten in Bauchlage Abb. 98 Unspezifische Rotationstraktion der Lendenwirbelsäule über das Os illium Diese wird dadurch erreicht, dass der Patient sein Becken gegen den dosierten Gegenhalt der fußnahen Therapeutenhand in Richtung der Tischebene drückt. Diese Spannung wird ca. 10 Sekunden gehalten und während einer Exspirationsphase gelöst. In diese Lösungsphase hinein erfolgt dann eine postisometrische mobilisierende Nachdehnung. Bei den unspezifischen Rotationstraktionen liegt der Patient in der bereits beschriebenen labilen Seitenlagerung auf dem Flachtisch mit hochgestelltem Kopfteil. Der Therapeut steht in Höhe des Patientenbeckens vor der Behandlungsliege. Sein kopfnahes Bein wird mit dem Ligamentum patellae an den Tischrand angestellt und sichert damit den Patienten, der sich sonst aus Angst vor dem Hinunterfallen verspannt. Die kopfnahe Hand fasst den distalen Oberarm des Patienten, der Unterarm liegt seitlich auf dem Thorax auf. Das fußnahe Therapeutenbein nimmt mit dem Ligamentum patellae Kontakt am oben liegenden Knie des Patienten auf. Es wird eine Vorspannung zwischen der haltenden Hand und dem jetzt Druck nach seitlich unten ausübenden Knie des Therapeuten hergestellt. Das Therapeutenbein soll dabei fest auf dem Fußboden aufgestellt bleiben. Bei der Rotationstraktion über das Os ilium wird dann der fußnahe Unterarm des Therapeuten mit seiner ellenbogennahen Muskulatur in Supinationsstellung auf dem Os ilium des Patienten aufgelegt (Abb. 98). Dann wird der Tiefenkontakt auf dem Os ilium des Patienten hergestellt und unter Übergang des Therapeutenarmes in Mittelstellung eine Vorspannung Unspezifische Rotationstraktion über das Os ilium bzw. Os sacrum Als unspezifische Rotationstraktion an der Lendenwirbelsäule bietet sich von den ungezielten Mobilisationstechniken vor allem die unspezifische Rotationstraktion der Lendenwirbelsäule über das Os ilium bzw. das Os sacrum an. Auch bei diesen unspezifischen Techniken ist zu beachten, dass bei ihrer Anwendung als Manipulation die Unterlassung der diagnostischen Probemobilisation eindeutig als Behandlungsfehler anzusehen ist. Ein klinisch stummer Bandscheibenvorfall z.B. kann bei einem solchen Probezug in Nervenwurzelkontakt kommen und durch einen dabei im radikulären Versorgungsbereich ausstrahlenden Schmerz auf die Gefahr für die betreffende Nervenwurzel hinweisen. Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule LWS 104 Abb. 99 Unspezifische Rotationstraktion der Lendenwirbelsäule über das Os sacrum Abb. 100 Verkürzung der Vorspannungsstrecke durch Gegenhalt am dorsolumbalen Übergang in laterokaudaler Richtung aufgenommen. Danach wird ein mobilisierender Probezug über das Os ilium in dieser Richtung durchgeführt. Eine lokale Schmerzäußerung weist dabei entweder auf eine zu starke Vorspannung oder auf eine übersehene Kontraindikation bei Spondylarthrose, fortgeschrittener Osteoporose oder destruierenden Prozessen hin, eine radikuläre oder pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung entweder auf eine absolute Kontraindikation für die manuelle Therapie oder eine falsche Diagnose der Blockierungsrichtung hin. Eine radikuläre Schmerzausstrahlung ist, wie schon erwähnt, oft ein Zeichen für einen bis dahin klinisch stummen Bandscheibenvorfall, der durch die mit der Lagerung und Vorspannung verbundene Stellungsänderung auf eine Nervenwurzel drückt. Gibt der Patient bei der Durchführung der diagnostischen Probemobilisation keine Schmerzen an, wird in die Ausgangsvorspannung zurückgegangen und mit einer aus dem Becken kommenden sichelförmigen Bewegung unter Verstärkung der Vorspannung durch das Therapeutenknie ein manipulativer Impuls in laterokaudaler Richtung durchgeführt. Die Haltehand des Therapeuten am Oberarm des Patienten bleibt völlig passiv und soll keinerlei aktiven Gegenschub ausüben. Auch bei diesem Griff ist Wert darauf zu legen, dass der zeit- und wegemäßig kurze Impuls aus voll gehaltenem Tiefenkontakt und voll gehaltener Vorspannung ausgeführt wird. Die Rotationstraktion an der unteren Lendenwirbelsäule über das Os sacrum wird in der gleichen Lagerung und nach denselben Prinzipien durchgeführt (Abb. 99). Nur werden dabei der Tiefenkontakt und die Vorspannung auf dem Os sacrum des Patienten aufgenommen. Dadurch wird die Rotationskomponente abgeschwächt, und die aufdehnende Wirkung auf das Sakroiliakalgelenk ist geringer als bei der Rotationstraktion über das Os ilium. Aber auch bei dieser Variante ist unbedingt die diagnostische Probemobilisation durchzuführen. Verkürzung der Vorspannungsstrecke Bei Patienten mit Lendenwirbelsäulenblockierungen in einer insgesamt hypermobilen Wirbelsäule kommt die Verkürzung der Vorspannungsstrecke in der Weise zum Einsatz, wie sie bereits beim SIG genannt wurde (s. Abb. 65). Eine zweite Möglichkeit für diese Fälle ist dadurch gegeben, dass der Therapeut seine Hal- Abb. 101 Druckpunkttherapie an der LWS bei sitzender Patientin tehand an den dorsolumbalen Übergang des Patienten mit einem kräftigen ventralisierenden Druck auflegt. Anschließend umfasst der Patient den Therapeutenunterarm mit seinem Ellenbogen von dorsal her und übt einen starken ventralisierenden Zug aus (Abb. 100). Dadurch ist er gezwungen, seine Schultergürtelmuskulatur auf dieser Seite anzuspannen, und es kommt in der Regel reflektorisch zu einer Entspannung der Muskulatur im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule und des Beckens auf der Behandlungsseite, was für diesen Griff durchaus von Vorteil ist. Druckpunkttechniken Zu den unspezifischen Techniken zählen wie auch am SIG und an den anderen Wirbelsäu- 105 lenabschnitten an der Lendenwirbelsäule die Druckpunkttechniken (Abb. 101). Diese werden über die paraspinösen Irritationspunkte an der Lendenwirbelsäule am besten am sitzenden Patienten oder – wenn das wegen Schmerzauslösung nicht möglich ist – am Patienten in Bauchlage durchgeführt. Der neben dem Patienten stehende Therapeut legt dazu die Kuppe eines Mittelfingers mit einem Druck von 1–2 kp in den Irritationspunkt ein und sucht durch vorsichtiges passives Bewegen des Patientenrumpfes die Einstellung mit dem geringsten nozireaktiven Hypertonus. In dieser Stellung wird der Druck ca. 1–2 Minuten gehalten. Bewährt hat sich dabei nicht nur das Beobachten der Gewebespannung mit Korrektur der Einstellung des Patientenkörpers, sondern auch eine geringe Änderung des Druckes in Intervallen von ca. 15 Sekunden. Wie bereits beim SIG erwähnt, kann die Druckpunkttherapie mit annähernd gleichem Erfolg auch an Chapman-Punkten, CounterstrainPunkten, Akupunkturpunkten und Triggerpunkten durchgeführt werden. Auch an der LWS wird sie im Rahmen der Schmerztherapie und als Manipulationsvorbereitung bei starker Verspannung eingesetzt. Aufdehnen des dorsolumbalen Überganges Eine weitere, bei Störungen im Bereich des dorsolumbalen Überganges meist erfolgreiche Grifftechnik ist die Mobilisation nach lateral mit einseitigem Aufdehnen des dorsolumbalen Überganges und Dehnung des M. quadratus lumborum (Abb. 102). Der Patient wird dazu in Seitenlage nahe am Rand der als Kyphosierungstisch eingestellten Liege gelagert. Bei der Arbeit im dorsolumbalen Übergangssegment werden die Kuppen bei- LWS Einsatz der Manualtherapie an der Lendenwirbelsäule LWS 106 Abb. 102 Aufdehnen des dorsolumbalen Überganges mit Dehnung des M. quadratus lumborum Diagnostik und Therapie an der Lendenwirbelsäule der Mittelfinger von der Tischebene her kommend an die Dornfortsätze des 12. Brust- und des 1. Lendenwirbels angelegt. Die Mittelfinger werden dabei durch den Zeige- und Ringfinger geschient. Beide Hände werden möglichst maximal volarflektiert und die Unterarme flächig auf dem Thorax bzw. das Os ilium aufgelegt. Die »Brücke« zwischen Mittelfingern und Unterarmen muss für eine gute Mobilisation absolut stabil bleiben, d.h., der Abstand zwischen beiden darf sich während der Behandlung nicht ändern. Die Mobilisation erfolgt durch ein weiches repetitives Kranialschieben des Unterarmes am Brustkorb bzw. Kaudalschieben des Unterarmes am Os ilium bei gleichzeitiger Verstärkung des Druckes mit den Fingerkuppen an den Dornfortsätzen. Spezifische Techniken Abb. 103 a Rotationsmanipulation an der Lendenwirbelsäule mittels »Hakelzuggriff« Da auch im Lumbalbereich Blockierungen mit einer Rotationskomponente deutlich in der Mehrzahl sind, wird bei den gezielten Techniken besonderer Wert auf die mit einer dosierten Rotation verbundenen Techniken gelegt. Rotationsmanipulation mittels »Hakelzugtechnik« (homonyme Technik) Abb. 103 b Anlage des sog. hohen Brückenschlages bei der Rotationsmanipulation an der Lendenwirbelsäule Diese bewährte Technik ist sowohl zur Manipulation als auch zur Mobilisation geeignet (Abb. 103 a und b). Hierzu wird der Patient in labiler Seitenlagerung auf den Flachtisch mit angehobenem Kopfteil gelegt. Er liegt wie bei den anderen homonymen Techniken an der Lendenwirbelsäule auf der Versetzungsseite. Der Therapeut muss sich vergegenwärtigen, dass bei Grifftechniken mit einer Rotationskomponente