18 Von der Hegemonie zum Gleichgewicht Außenminister Philipp Stadion, der nach der Niederlage gegen Napoleon 1809 seinen Stuhl für Metternich hatte räumen müssen, scharte sich eine entschlossene Oppositionspartei. „Herr von Raab von der Hofkammer sagt: ‚Herr v. Stadion und Graf Wallis sprechen ganz öffentlich und äußerst schimpflich von Fürst Metternich. Sie heißen den Fürsten geradezu einen Buben‘“, hielt Anfang November ein Polizeibericht fest. Die Intrigen gegen ihn gingen so weit, dass Metternich aufgeben wollte, wie Mitte Dezember aus höheren Kreisen verlautbart wurde: „Baron Wessenberg ist auch gar nicht zufrieden mit Fürst Metternich. Dieser hatte neulich um seine Entlassung gebeten. Kaiser Franz hat sie abgeschlagen, sagend: ‚So machen es alle meine Minister; wenn sie die Sache verderben, wenn sie sich nicht zu helfen wissen, dann nehmen sie ihre Entlassung.‘“23 Die Diplomaten trennten bei den Verhandlungen keine ideologischen Gegensätze, wie es in der Auseinandersetzung des Ancien Régime mit der Französischen Revolution der Fall gewesen war. Sie entstammten weitgehend derselben Generation und demselben Milieu, vornehmlich dem Adel oder dem zunehmend den Staatsdienst tragenden sogenannten Bildungsbürgertum. Sven Externbrink spricht in diesem Zusammenhang von einer „Generation Metternich“. Die Hauptakteure am Wiener Kongress wären demnach als „Angehörige einer durch gemeinsame kollektive Erfahrungen geprägten Generation“24 zu betrachten, zudem kannten sich viele bereits. Zum Zeitpunkt der Revolution standen Männer wie Talleyrand (geb. 1754), Castlereagh (geb. 1769), Karl August Fürst von Hardenberg (geb. 1750) und Gentz (geb. 1764) bereits am Beginn ihrer Karriere, Metternich (geb. 1773) erlebte die revolutionären Erschütterungen als Student in Straßburg mit. Die Französische Revolution, der Zusammenbruch des „Alten Europas“ und die Koalitionskriege waren die einschneidenden historischen Ereignisse dieser Zeit. Die Machtverhältnisse auf dem Kongress „Der eigentliche Congreß ist zwar noch nicht im Gange, aber seit dem 16. finden täglich Conferenzen zwischen den vier Hauptministern statt, denen bisher niemand als Humboldt beigewohnt hat“25, schrieb Gentz am 22. September 1814 an Adam Müller. An diesem Tag fand eine Konferenz der Siegermächte statt; im Protokoll derselben argumentierten die vier, dass sie als oberster Aus- Gleichgewicht, Restauration und Legitimität 19 schuss des Kongresses die Neuordnung Europas übernehmen wollten, da „unmöglich so viele zum Kongreß versammelte Vertreter die zu beratenden Gegenstände ordnen und Entwürfe zu Vereinbarungen abfassen können“.26 Im Separatprotokoll kommt zum Ausdruck, warum sich die Alliierten dazu berechtigt fühlten: „Die Bestimmung über die eroberten Provinzen gehört der Natur der Sache nach denjenigen Mächten, durch deren Anstrengungen die Eroberung vollzogen ist.“27 Talleyrand, der am 23. September in Wien eintraf, wurde zusammen mit dem spanischen Gesandten, dem Marquis Pedro Gómez de Labrador, eingeladen, am 30. September einer vertraulichen Sitzung der Siegermächte beizuwohnen. Als Verlierermacht sollte Frankreich kein Mitspracherecht besitzen. Doch Talleyrand wäre nicht Talleyrand – „ein wurmstichiges Herz, aber ein trefflicher Kopf“28, so Erzherzog Johann – gewesen, wenn er aus dieser ungünstigen Ausgangssituation nicht das Beste gemacht hätte. Unmissverständlich machte Talleyrand den Vertretern der Quadrupelallianz klar, was er von ihrem Protokoll vom 22. September hielt. Unter Hinweis auf den Friedensvertrag protestierte er gegen die Bezeichnung „Verbündete“ und beanstandete, dass nicht die Vertreter aller acht Signatarmächte (neben den großen Vier hatten auch Frankreich, Spanien, Portugal und Schweden den Friedensvertrag unterzeichnet) eingeladen worden waren. Talleyrand erreichte die Zurücknahme des Protokolls. Mit seiner Forderung nach einem Gesamtkongress konnte er sich indes nicht durchsetzen: Dieser trat nämlich nur ein einziges Mal zusammen, zur feierlichen Unterzeichnung der Kongressakte am 9. Juni 1815. Auf Drängen Talleyrands fand am 8. Oktober die erste Konferenz der acht Signatarmächte statt, auf der die Entscheidung getroffen wurde, die offizielle Kongresseröffnung auf Anfang November zu verschieben. Bis dahin fanden keine weiteren offiziellen Konferenzen statt. Wie Gentz am 11. Oktober an Caradja schrieb, war „dieses sogenannte Achterkomitee im Grunde bloß eine Form ohne tatsächlichen Inhalt, denn man weiß recht gut, daß die wichtigsten Angelegenheiten nur zwischen den vier Mächten verhandelt werden, die an der Spitze der einstigen Koalition standen“.29 Die großen Vier versuchten die Zeit zu nutzen, um intern zu einer Einigung zu gelangen: „Die geheimen Unterhandlungen 20 Von der Hegemonie zum Gleichgewicht zwischen den Ministern von Rußland, Österreich, Preußen und England sind seit einigen Tagen im Gange. Die Hauptgegenstände dieser Unterhandlungen sind die Angelegenheiten Polens und die Gebietsverteilung in Deutschland […] Bis jetzt ist es noch sehr zweifelhaft, ob die drei ersteren Mächte sich auch nur untereinander einigen können.“30 Für die praktische Arbeit entwickelte der Wiener Kongress moderne Verfahren mit Ausschüssen und Expertengruppen, die von den Vertretern der Großmächte dominiert wurden und selten mehr als acht Teilnehmer hatten. Während sich das „Deutsche Komitee“ der Organisation und Verfassung des künftigen Bundes widmete, ließ Metternich kein „italienisches“ Komitee zu – die Neuordnung Italiens wollte er nicht aus der Hand geben. Für die Schweiz und die Niederlande wurden eigene Kommissionen eingerichtet; die „Statistische Kommission“ erstellte auf der Basis von „Seelen“, also der Bevölkerungszahl, die Grundlagen für Grenzverschiebungen, wobei auch Wirtschaftsleben und Steuereinkünfte in Betracht gezogen wurden. Die Mitglieder der Komitees standen unter dem Druck diverser Interessenvertreter. Denn neben den konfliktträchtigen Fragen der territorialen Neuordnung Europas sollten weitere Punkte auf die Tagesordnung des Kongresses gebracht werden. Die Diplomaten waren nicht die Einzigen, die mit Wünschen und Forderungen nach Wien anreisten. „Wo man nur hinsieht, Widerspruch und Verwirrung, ohne Aussicht, daß es anders werden könne. […] Täglich häufen sich die Forderungen, wie immer mehr und mehr böse Geister aufsteigen, sobald ein Zauberer die Hölle beschwört und das Lösungswort vergessen hat. Wer verlangt und nichts erhält, ist unzufrieden und hetzt. – Sogar die von Napoleon Dotierten haben ihren Abgesandten, und die Marschälle fordern frech ihre Güter in Deutschland zurück“31, hielt Karl von Nostitz im Dezember 1814 in seinem Tagebuch fest. Verleger wie Johann Friedrich von Cotta und Carl Bertuch kamen als „Deputierte teutscher Buchhändler“, um sich für ein Verbot von Nachdrucken und die Aufhebung der Zensur einzusetzen. Der Johanniterorden bemühte sich um Restitution; die Kölner Schiffer schickten eine Abordnung; die Juden von Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt entsandten Delegierte, um über ihre bürgerlichen Rechte zu diskutieren. Als Vertreter des Heiligen Stuhls setzte Kardinal Ercole Consalvi die Wiederherstellung des Kirchen- Gleichgewicht, Restauration und Legitimität 21 staates durch, ein Konkordat erreichte er jedoch nicht. Ein Vertreter des Malteserordens zeigte sich unzufrieden mit den Ergebnissen, woraufhin ihm Talleyrand antwortete: „Recht so, jeder muß ein wenig unzufrieden von hier fortgehen, jeder irgend ein Opfer bringen. Aus diesen Opfern erwächst der Zusammenhang aller, das allgemeine Wohl.“32 Legitimität, Gleichgewicht, Restauration Wie weit sind diese Schlagwörter zutreffend? Der Begriff der „Restauration“ bezeichnet die Epoche zwischen Wiener Kongress und den Julirevolutionen 1830 und bezieht sich auf den Versuch, die Umwälzungen der Französischen Revolution und der Koalitionskriege zu revidieren. Grad und Ausprägung der Wiederherstellung der alten Zustände waren von Land zu Land verschieden. Wie der Kurfürst von Hessen, der die Jahre seiner Vertreibung aus dem Kalender und dem kollektiven Gedächtnis seines Landes zu streichen versuchte, kehrte auch Ferdinand VII. in Spanien zu einem absolutistischen Regierungsstil zurück und hatte daher, wie Varnhagen von Ense berichtete, keine Zeit, zum Kongress zu kommen: „Der König Ferdinand VII. von Spanien hatte in seinem Lande vollauf zu thun, das edle Volk zu knechten und zu strafen, das in dem heldenmüthigen Kampfe der Treue auch nothgedrungen zur Freiheit sich erhoben hatte.“33 Andere Länder setzten den reformorientierten Kurs der napoleonischen Ära fort und entwickelten sich zu Verfassungsstaaten. Auf europäischer Ebene versuchten die Diplomaten auf dem Wiener Kongress gar nicht erst, die Staatenwelt des Ancien Régime wiederherzustellen, sondern berücksichtigten die Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Ihre Leistung bestand „in der gelungenen Mischung von Alt und Neu, in der ‚métissage‘ [Verschmelzung] von Methoden, Ideen und Handlungsweisen“.34 Die Neuordnung und Restauration von Monarchien beruhte auf Macht, gegenseitigen Ansprüchen und Zugeständnissen. Legitim war, auf was sich die Großmächte verständigten. Es nützte dem König von Sachsen wenig, auf die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft zu pochen, auch wenn Kaiser Franz feststellte: „’s ist halt ein hartes Ding, einen Regenten vom Thron zu stoßen.“35 Als Argument wurde Legitimität vor allem benutzt, um die revolutionäre Ideologie, die Idee der Volkssouveränität sowie nationale und liberale Strömungen, die sich in den Befrei- 22 Von der Hegemonie zum Gleichgewicht ungskriegen verstärkt hatten, zurückzudrängen. Die Souveräne und ihre Minister wollten das Kapitel Französische Revolution und politische Umwälzung von unten ein für allemal abschließen und das monarchische Prinzip als Basis für ein stabiles Europa stärken. Von einem Gleichgewicht der Großmächte kann ebenfalls nur bedingt die Rede sein. Russland war die militärisch stärkste Kontinentalmacht, England die Finanz-, Wirtschafts- und Seemacht; von Preußen heißt es sogar, dass es eigentlich gar keine Großmacht war. Politisches Gleichgewicht sei, so erklärte Gentz in seiner 1806 publizierten Schrift Fragmente aus der neusten Geschichte des Politischen Gleichgewichts in Europa, die Verfassung nebeneinander bestehender, mehr oder weniger verbundener Staaten, wobei keiner ohne Gefahr für sich selbst die Unabhängigkeit oder Rechte des anderen beschädigen könne. Wichtig war, dass keine Macht wie zuletzt Frankreich unter Napoleon so mächtig wurde, dass sie nicht durch die Gesamtheit der übrigen Mächte bezwungen werden konnte.36 Republikanische Grundsätze wie in den USA konnte man sich in Wien schwer vorstellen. Varnhagen von Ense berichtete, wie ein gewisser Bollmann in einer Gesellschaft von den Vereinigten Staaten Nordamerikas und ihrer Verfassung erzählte – und damit für Irritationen sorgte: „Das ganze Land war uns durch den langen Seekrieg fremd geworden, noch fremder die Vorstellung eines solchen Freistaats, dessen Entwicklung das fabelhafte, ja schreckbare Beispiel zeigte, daß gemeine Bürger eine Macht und Größe aufzustellen vermögen, die wir in Europa immer nur mit Adel und Königen zu verknüpfen pflegen. Durch die Naivität der Fragen eines anwesenden Diplomaten, dessen unermüdliche Wißbegier nie befriedigt werden konnte, wurde der Vortrag nach und nach ein vollständiger, mit schlagenden Beispielen ausgestatteter Kursus republikanischer Grundlehren und Vorbilder, wie man grade hier bei dem Monarchenkongresse am wenigsten für möglich gehalten hätte. Gentz fühlte sich durch das Gewicht der Sache wie zerschmettert, und beunruhigt wie bei einem Attentat, das in seiner Gegenwart versucht worden. Der gute Bollmann aber hatte keine Arg dabei.“ Varnhagen von Ense, Ausgewählte Schriften 4, 253.