Ploetzliche Gehverweigerung - Kinderkliniken

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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Plötzliche Gehverweigerung –
was kann dahinter stecken?
Dr. med. Sarah Bürki
Abteilung für Neuropädiatrie, Entwicklung und Rehabilitation
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Komplette Gehverweigerung
↔
oder neu auffälliges Gangbild
Anamnese → differentialdiagnostische Überlegungen:
• Zeitlicher Aspekt: seit wann?
zunehmend?
andauernd oder fluktuierend?
• Schmerzen?
• Co-Morbidität resp. Vorgeschichte, Infekt?
• Alter / Geschlecht
• Medikamente / andere mögliche Substanzen
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Klinik
• Sorgfältige neurologische Untersuchung inklusive:
– Gehen, Rennen, Strichgang…
– Aufstehen vom Boden / Stuhl…
– Einbeinstand, Halteversuch Arme und Beine…
– Muskeleigenreflexe, Babinski
– Sensibles Niveau – sensible Ausfälle
– oder Video…
• Schmerzen – allgemein? wo?
• Schwäche – proximal versus distal?
• Koordinationsstörung – Ataxie ↔ Dystonie?
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Erworbene neurologische Defizite - Einblick
• „Stroke“
– Arteriell ischämischer Schlaganfall
– Sinusvenenthrombose
– Nicht-traumatische intrakranielle oder spinale Blutung
• „Stroke-like“ Episode
– Hemiplegische Migräne
– MELAS
–…
• Entzündliche ZNS- oder spinale Erkrankungen
– ADEM / MS
– Postinfekiöse Cerebellitis
– Transverse Myelitis
– Akute Polyneuropathie
• Neoplasie
– Hirntumor
– Spinaler Tumor
• Traumatisch
• Psychogen
• …
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Zum Beispiel spinale Syndrome
• Querschnittsyndrom:
– sofortig versus schleichend
– kompletter versus inkompletter
Funktionsverlust von motorischen und
sensiblen Funktionen unterhalb der Läsion
• Cervicomedulläres Syndrom:
– Hohe cervikale spinale Läsionen
– Tetraparese und Hyperästhesie
– Bulbäre Symptome ( z.B. Hypoventilation,
Hypotension, periorales Taubheitsgefühl)
Bern, 21.06.2012
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Regula, 15 jährig
• 5 Tage vor Erstvorstellung zunehmende Torticollis.
• Am Eintrittstag:
Anamnese auf dem Notfall:
- Übelkeit und Erbrechen
- zunehmende Kribbelparästhesien in beiden
Beinen und Gangschwäche
• Notfallstation: rasch progrediente Symptomatik
-> praktisch vollständige Tetraparese mit lediglich
Motorik und Sensibilität der Schultern
…innerhalb weniger Stunden!
• PA: Keine Vorerkrankungen
Beurteilung: Vd.a. spinale Läsion bei akuter schlaffer Tetraparese
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
MRI spinal am Eintrittstag
• 6,5 cm grosse spinale
Raumforderung Höhe HWK 2 – 5,
den Spinalkanal komplett
okkludierend
• Interdisziplinärer Besprechung
pädiatrischen Onkologie,
Neuropädiatrie und
Neurochirurgie
• Am selben Tag EntlastungsLaminektomie der HWK 2 – 5,
subtotale Resektion des Tumors
und Duraplastik aus Kunststoff
• 4 Tage später 2. Eingriff mit
Tumordebulking (makroskopisch
80-90% Entfernung)
Bern, 21.06.2012
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Gespräch mit R., Eltern, OA Neurologie, Onkologie
und Psychologin:
• Gesprächsinhalt:
• 3 Therapiesäulen:
• Therapieschema:
• Prognose:
- bösartiger Tumor, anaplastisches Astrozytom
Grad III, intensive Behandlung notwendig
- seltener Tumor, Ursache unklar, "niemand ist
schuld", "keiner hat was falsch gemacht"
- Ziele: Tumor bekämpfen, Neuro-Rehabilitation,
Lebensqualität/Wünsche
Chirurgie, Bestrahlung, Chemotherapie (Benefit
möglicherweise gering)
initialer OP (bereits geschehen)
6 Wochen Strahentherapie & Temozolamid p.o.
dann ca. 1 Jahr Temozolamid
„es gibt Kinder die spinales Astrozytom Grad III
langfristig überlebt haben…“
…man kann an diesem Tumor versterben.
Neurorehabilitation, Neuro-Prognose unklar, für
obere Extremitäten besser als für untere
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Lara, 15jährig
• Anamnese:
– Vor 3 Tagen Schmerzen im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule mit im
Verlauf Ausstrahlung in die rechte Flanke und in das rechte Bein.
– Subjektiv Kraftverlust und Sensibilitätsstörungen im rechten Fuss
– Miktion und Defäkation problemlos.
• Status bei Eintritt:
• leicht reduzierter AZ.
• proximale, beinbetonte Schwäche (M4)
• Areflexie
• ausgeprägte Empfindlichkeit auf Berührung am gesamten Körper
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MRI Wirbelsäule auf der Notfallstation
• Kontrastmittel aufnehmende Läsion des
rechts lateralen Myelons auf Höhe BWK7/8
von 13 x 5 x 5 mm ohne eindeutig
raumfordernden Effekt und Oedem des
thorakalen Myelons.
• Differenzialdiagnostisch am ehesten akute
transverse Myelitis z. B: bei Lyme disease,
Lupus oder idiopathisch, DD: Ependymom,
DD: Gliom.
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Erweiterte Diagnostik und Therapie
• MRI-Schädel:
• normal, keine entzündlichen Läsionen
• Serum:
• Borrelien Serologie negativ
• Vaskulitis Screening: ANA, ANCA, Rheumafaktor neg., Phospholipid-AK, ACE
negativ
• Aquaporin-AK (NMO-AK = Neuromyelitis optica AK) negativ
• Liquor:
• 17 mononukleäre Zellen 17, Protein 0.30 g/l, Glucose Ratio: 0.72, OKB negativ
• Therapie und Verlauf:
• Solu-Medrol i.v. 500mg/ 1x Tag für 5d
• neurologische Symptomatik innerhalb Tagen regredient
• …aber: Varizellen 2 Wochen später
• Diagnose:
Transiente Myelitis, am ehesten parainfektiös
i.R. Varizellen
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Management akute Paraparese schlaffe Parese
• MRI spinal (der gesamten Wirbelsäule, genug hoch!) mit
Kontrastmittel
– zum Ausschluss einer externen Kompression des Rückenmarks
(zum Beispiel raumfordernde Masse, Blutung, Knochenfragmente nach
Trauma)
– Potentiell notfallmässig behandelbar mittels chirurgischer NF
Dekompression
• Stabilisation nach Trauma
• Hochdosierte Steroidtherapie?
• Schutz der Atemwege bei hohen Läsionen
• Blasenkatheter, Miktions und Stuhlregulation
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Olivia, 23 Monate
• Vor 3 Wochen viraler Infekt mit Fieber und Konjunktivitis.
• Vor 5 Tagen Notfallstation externes Spital wegen Erbrechen ohne
Durchfall
• -> Vd.a. Gastroenteritis, Gewichtsverlust von 1 kg / 4 Tagen, schlapp, energielos
• im Verlauf Gehverweigerung, „Mutter denkt, dass sie Schmerzen habe“
• 4. Hospitalisationstag: Areflexie der unteren Extremität und Hyporeflexie obere
Extremität.
• Verschiedenen Abklärungen (CT und MRI Schädel, Sono Hüfte, Thx .
Rx, div. Laborabklärungen) und
Lumbalpunktion:
• mononukleäre Liquorpleozytose (10 Zellen)
• Proteinerhöhung (Protein 2.2 g/l)
• Status bei Eintritt bei uns:
• leicht reduzierter AZ. Proximale, beinbetonte Schwäche (M4), Areflexie,
ausgeprägte Empfindlichkeit auf Berührung am gesamten Körper
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Verdachtsdiagnose: Guillain - Barré – Syndrom
Elektrophysiologische
Untersuchung:
Typische
Befundkonstellation für
demyelisierende
Polyneuropathie:
T1w axial nach KM
- deutlich verlängerte distale
motorische Latenzen und
verlangsamte NLG (N. ulnaris 11
m/s und N. peronaeus links
22 m/s)
- F-Wellen-Persistenz
- MEPs mit pathologischer
temporaler Dispersion
- Kein Nervenleitungsblock
T1w axial nach KM
T1w sag nach KM
MRI: Polyradikulitis lumbal / zervikal, Enhancement sämtl. Hirnnerven
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
– Retrospektive Kohortenstudie, Kinder mit GBS
von erfasst von 1987-2009
– Daten betreffend klinischer Präsentation,
Verzögerung der Diagnose (Patient und Ärzte)
• Vergleich von Vorschulkindern <6jährig und
Schulkindern 6-18 jährig
– 15/23 Vorschulkinder (68%) und 6/32
Schulkinder (21%) wurden zu Beginn falsch
diagnostiziert (p 0.001).
• z.B. Myopathie, Tonsillitis, Meningitis,
Coxitis oder Discitis
– Mittlere Verzögerung Eltern = 5 Tage,
Verzögerung Ärzte bei Vorschulkindern 3 Tage,
Schulkindern 0 Tage.
• 25% der Vorschulkinder betrug die
Verzögerung 1 Woche – 22 Tage.
– Klinik
• Vorschulkinder: 65% mit Gehverweigerung
und Schmerzen
• Schulkinder: Schwäche und Parästhesien
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Universitätsklinik für Kinderheilkunde
Franz, 2 ½ jährig
• Seit 4 Tagen wackeliges Gangbild mit eher Unsicherheit auf dem
linken Bein.
• Vor 3 Tagen Vorstellung bei der Kinderärztin -> Vd.a. Coxitis fugax
-> Ibuprofen 8stdl.
• Seit 2 Tagen vermehrt über Nacken- und Bauchschmerzen geklagt.
• Am Vortag erstmalig Fieber.
• Bei zunehmender Unsicherheit erneute Vorstellung beim Kinderarzt
-> Zuweisung bei klinisch V.a. Ataxie zur neurologischen Beurteilung.
…
• PA:
– Unauffällige Entwicklung, gemäss Eltern eher "vifer" als Schwester.
– Sitzen mit ca. 6 Monaten, Laufen mit 13 Monaten, bevorzugt rechte Hand
sei aber beidhändig geschickt
– Retrospektiv seit ca. 4 Wochen "komisches" Gangbild mit im Urlaub
vor einer Woche vermehrtem Stolpern.
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Befunde bei Erstvorstellung
Gangbild:
•
•
•
•
- unsicherer Schritt mit linkem Bein
- weniger Mitschwingen der linken Hand / Arm
Greift bevorzugt mit der rechten Hand, mit links fahrig, dysmetrisch.
Linksseitig leicht abgeschwächte Reflexe, normale Trophik.
Links motorische Kraft etwas reduziert.
Normale Funktion der Hirnnerven
Beurteilung:
Vd.a. zerebrale Raumforderung bei
motorischer Hemiparese links
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MRI Schädel am Folgetag
• Grosse Raumforderung parietal
rechts mit gemischt soliden und
zystischen Anteilen mit
Impression des Seitenventrikels
und Mittellinienverlagerung.
• Zysteninhalt aus
proteinhaltiger Flüssigkeit (DD:
St.n. Einblutung).
• Duraler Durchbruch des soliden
Anteils hoch parietal angrenzend
an die Sutur mit ossärer Infiltration
und vermehrtem Enhancement
der Diploe.
Biopsie:
Primitiv neuroektodermaler Tumor (PNET) WHO IV
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Liv, 2jährig
• Vor 4 Std. Eintritt Mittagschlaf, neurologisch unauffällig
• Vor 2 Std. erwacht, gehunfähig bei Fallneigung nach
links und hängendem Mundwinkel, undeutliche Sprache
• Transport mit Privatauto nach ext. Spital, schläft ein ->
REGA ins Inselspital, während Transport GCS 11,
kardiopulmonal stabil bei SpO2 85% unter RL
• Bekanntes Herzvitium (Trikuspidalatresie, St. n. Glenn
02/2011, geplante Fallot-Korrektur 09/2012), Aspirin bis
11/2011
• Kein Infekt (keine Varizellen), kein Trauma
• Laut Eltern letzte 2 Wochen nachts schlechter geschlafen
und sich zeitweise den Kopf gehalten
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→ Vd.a. Stroke
Status bei Eintritt
– GCS 15, Blutdruck rechts 120/48 mmHg, HF 78/min., AF
32/min; sO2 83% unter Raumluft
– AZ gut, spielt, lacht. Keine Dysarthrie. Intermittierend
Kopfschiefhaltung nach links, horizontale Blickfolge normal,
nach links laterae nicht vollständig (GF-Ausfall, Neglekt?),
hängender Mundwinkel links. Armvorhalteversuch normal,
kann Stehen und Gehen, seitengl. MER, keine Dysmetrie,
kein Babinski, Sensibilität: reagiert an allen Extremitäten auf
Berührung.
– Ped NIHSS 2
MRI Schädel mit MRA und Diffusion
– Rechter medialer Thalamus auf DWI eine Hyperintensität von
10 x 5 mm Ausdehnung mit Signalabsenkung in ADC
– Keine Gefässverschlüsse oder Stenosen in der TOF
Diagnose: Akuter ischämischer Thalamusinfarkt rechts.
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Weitere häufige neurologische Gründe für eine
plötzliche Gehverweigerung
• Ataxie
– Post-/ parainfektiös
– Episodische Ataxie
– Opsoklonus-Myoklonus Ataxie Syndrom
• Paroxysmale Erkrankungen
– z.B. benigne paroxysmale Torticollis
• Myositis / Dermatomyositis
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• Definition invasive Meningokokken:
• Positive Blut- und Liquorkulturen für Neisseria meningitidis
• 274 Patienten
– davon 45 (16%) mit Extremitätenschmerzen
– 14 (5%) mit Gehverweigerung ohne anderes Symptom
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Zusammenfassend
• Genaue Anamnese und neurologische Untersuchung
• Syndromale Einordnung der Gehverweigerung
– i.R. einer generellen AZ-Verschlechterung?
– schmerzbedingt?
– Fokal neurologischer Ausfall – wo?
• zentral versus peripher
• Insb. Sphinkterstörung, sensibles Niveau?
• Bei Vd.a. auf akute Hemiparese / Paraparese
– zeitnahe Bildgebung!
– → therapeutische Konsequenzen
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit
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