Die klinische Relevanz von Temperament

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Temperamente
Die klinische Relevanz von
Temperament
P. Brieger
Bezirkskliniken Schwaben,Bezirkskrankenhaus Kempten, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Ulm
Schlüsselwörter
Keywords
Temperament, bipolare Störung
Temperament, bipolar disorder
Zusammenfassung
Summary
Nach Akiskal gibt es fünf Temperamente: hyperthym, zyklothym, reizbar, depressiv und
ängstlich. Mittels TEMPS-A-Skala können
diese bestimmt werden. Anhand eines Fallbeispiels wird die Komplexität dieses Ansatzes dargestellt. Methodische Grenzen dieses
Temperamentsbegriffs werden erklärt sowie
Ergebnisse aus Genetik, Verlaufsforschung
und Forschung zu Komorbidität, die das Konzept unterstützen. Temperament hilft, affektive Störungen besser zu verstehen.
Akiskal outlined five temperaments: hypterthymic, cyclothymic, irritable, depressive and
anxious. With the TEMPS-A questionnaire
these temperaments can be assessed. Based
on a case-report this paper reflects the complexities of the concept “temperament”. Methodological limitations are discussed. Furthermore results from genetic, longitudinal
and comorbidity studies are presented. Overall temperament helps the clinician to better
understand affective disorders.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Peter Brieger
Bezirkskliniken Schwaben, Bezirkskrankenhaus Kempten, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität
Ulm, Robert-Weixler-Str. 46, 87439 Kempten
Tel. 0831/540262620, Fax 0831/540262624
[email protected]
The clinical relevance of temperament
Nervenheilkunde 2016; 35: 309–312
eingegangen am: 10. Februar 2016
angenommen am: 29. Februar 2016
Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage
der klinischen Relevanz von Temperament:
Sind wir bessere Psychiater und Psychotherapeuten, wenn wir den Temperamentsbegriff kennen und ihm folgen? In anderen
Beiträgen dieses Hefts werden Grundlagen
und Definitionen des Temperamentbegriffs präsentiert (4, 12, 23). Die Monografie von R. J. Börner (5) fasst die deutschsprachige und internationale Literatur umfassend zusammen. Darauf wird Bezug genommen.
Fall
Frau Z. war immer schon lebendig, schnell in
den Antworten, flink, „eine Stimmungskanone“ und sehr aktiv. Deswegen überraschte
es ihre Umgebung und sie selbst im Jahr
2009 – sie war damals 29 Jahr alt – als sie eine depressive Episode entwickelte. Auslöser
war der Krebstod ihres Ehemannes gewesen.
Sie ging zum Nervenarzt, der ihr Venlafaxin
verschrieb. Daraufhin entwickelte sie in wenigen Wochen eine manische Episode mit
Größenideen, Antriebssteigerung, Schlafstörung, euphorisch-reizbarem Affekt und völlig fehlendem Krankheitsgefühl. Sie entführte einen Hund aus dem Tierheim, drohte mit
einem Samuraischwert und wurde dann wegen Ruhestörung, nachdem sie nachts sehr
laut Musik hörte, von der Polizei daheim
aufgesucht. Die Polizisten beschimpfte sie
aufs heftigste und äußerte dem Polizisten gegenüber sexuelle Angebote. Ihre Kleidung
war dabei sehr spärlich. Nachdem sie die Ruhestörung trotz Verwarnung fortführte, attackierte sie die erneut gerufenen Polizisten
mit einem Plastikdreizack, leistete Wider-
stand gegen eine eventuelle Einweisung zur
Krankenhausbehandlung und wurde
schließlich unfreiwillig in die zuständige psychiatrische Klinik gebracht. Dort war sie
weitschweifig, logorrhoisch und ideenflüchtig. Sie schlief kaum. Venlafaxin wurde abgesetzt, sie wurde unter dem Bild einer manischen Episode mit Lithium und Quetiapin
behandelt. Sie stabilisierte sich rasch und begab sich in ambulante Behandlung der Psychiatrischen Institutsambulanz.
Im weiteren Verlauf gab es bis heute – bis
auf eine leichte depressive Episode im Rahmen eines familiären Konfliktes – keine weiteren manischen oder depressiven Episoden
mehr. Sie entwickelte eine sehr gute Behandlungscompliance und Krankheitseinsicht. Lithium wurde weiter gegeben, Quetiapin abgesetzt. (Ein Absetzversuch vom Lithium
führte dazu, dass sie sich selbst als instabil
erlebte und um Weiterverordnung bat.) Frau
Z. wies aber weiterhin eine Primärpersönlichkeit mit Überschwänglichkeit, Redefreude, Herzlichkeit, „Geschäftigkeit“ und einer
positiven Grundstimmung auf. Auch kam
sie mit fünf bis sechs Stunden Schlaf gut zurecht. All das war aber gut in ihre Persönlichkeit integriert, sie konnte dies reflektieren. Angesprochen darauf, dass sie in ihrem
Verhalten und in ihrer Interaktion von vielen anderen Menschen unterscheidet, äußerte sie „So bin ich halt, auch als Kind war ich
schon so.“
Der ▶Kasten stellt einige Aspekte des
hypterhymen Termperaments dar. Fritze et
al. (9) haben den Unterschied zwischen hyperthymem Temperament und Hypomanie
herausgearbeitet: Hyperthymie ist die
„überdauernde, die Affektivität betreffende
Abweichung vom Normaltyp der Persönlichkeit“, eine „Trait-Eigenschaft“, während
Hypomanie eine affektive Episode („state“)
bezeichnet. Der Fall von Frau Z. spiegelt
die Problematik der Temperamentkonzeption bei Menschen mit bipolar affektiven
Störungen wider. War Frau Z. immer
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schon hyperthym und hatte dementsprechend ein hyperthymes Temperament?
Sind die bei ihr zu beobachtenden Persönlichkeitsauffälligkeiten Teil eines hyperthymen Temperaments oder sind sie eventuell
ein chronischer Zustand im Sinne einer
dauerhaften Persönlichkeitsveränderung
(„persistierenden Alterationen“) bei bipolar affektiver Störung (16)? Oder handelt es
sich um eine teilremittierte Symptomatik?
Der US-amerikanische Psychiater Hagop S. Akiskal hat postuliert, dass es fünf
Temperamente gibt: hyperthym, zyklothym, reizbar, depressiv und ängstlich. Der
von ihm entwickelte TEMPS-A-Fragebogen zielt darauf, diese Temperamente zu
bestimmen (2). Dass die retrospektive Bestimmung der prämorbiden Persönlichkeit
grundsätzlich ein schwieriges Unterfangen
ist, ist seit vielen Jahrzehnten bekannt (21).
Untersuchungen, die den TEMPS-A-Fragebogen eingesetzt haben, haben beispielsweise gezeigt, dass dieser durch die jeweilige affektive Psychopathologie (Depression
Manie, Mischzustand) beeinflusst wird (3).
Konzepte eines breiten bipolaren Spektrums (17) beinhalten diese affektiven
Temperamente (depressiv, reizbar, zyklothym, hyperthym und ängstlich), die primär ohne Krankheitswert sind, sondern
„Normvarianten“ beschreiben. Das bipolare Spektrum umfasst eine Kaskade von
Temperamenten über Bipolar-II- und Bipolar-I-Störungen zu bipolar schizoaffektiven Störungen. Auf Basis solcher Temperamente kann sich aber ein erhöhtes Risiko
späterer bipolar affektiver Störungen entwickeln. Zeschel et al. (25) beobachteten in
einer unkontrollierten retrospektiven Stu-
Das hyperthyme
Temperament (nach 9)
• fröhlich, überoptimistisch, ausgelassen
• warm, menschliche Kontakte pflegend,
•
•
•
•
•
extrovertiert
redselig und immer zu Scherzen aufgegeelgt
benötigt gewohnheitsmäßig wenig
Schlaf
immer hoch aktiviert, voller Pläne und
ständige Neigung zur Improvisation
überengagiert, mischt ständig mit
ungehemmte Risikosucht, Neigung zur
Promiskuität
die einen engen Zusammenhang zwischen
prodromaler bipolar affektiver Symptomatik und einem vorausgegangenen Temperament. Sie berichteten, dass vor allem zyklothyme und reizbare Temperamentszüge bei
später manifest bipolar affektiv erkrankten
Patienten zu beobachten waren. Mit dem
korrespondierende Daten zeigten Walsh et
al. (22) in einer prospektiven Studie an Psychologiestudenten: Sie benutzten die Hypomanic Personality Scale (HPS) und zeigten, dass Studenten ohne manifeste affektvie Erkrankung, die auf dieser Skala initial
hohe Werte hatten (im Sinne eines hyperthymen Temperaments), drei Jahre später
ein deutlich höheres Risiko aufwiesen, eine
manifeste bipolar affektive Störung zu entwickeln (Odds Ratio 3,25). Erhöht waren
bei diesen Studenten auch das Risiko für
eine spätere unterschwellige Bipolar-Spektrum-Störungen außerhalb der üblichen
Abb.
Überlappung zwischen
Temperamenten
(n = 153; Konsekutive
Patienten mit bipolar
affektiver Störung mit
TEMPS-A-Skala). Die
Pfeile zeigen alle Korrelationen > 0,5.
DSM-IV-Kriterien sowie für spätere Suchterkrankungen. Nicht erhöht, sondern numerisch sogar erniedrigt, waren die Risiken für spätere depressive Episoden.
Es gibt Hinweise, dass hyperthymes,
reizbares und zyklothymes Temperament,
so wie es von Akiskal (1) operationalisiert
wurde, das Risiko, später eine bipolar affektive Störung zu entwickeln, erhöht. Die
prädiktive Spezifität ist aber nicht sehr
hoch: Die Mehrzahl der Menschen mit entsprechenden Temperamentsauffälligkeiten
wird im Lauf ihres Lebens nicht eine manifeste affektive Störung entwickeln. Wenn
die Spezifität gering ist, ist die Gefahr von
falsch positiven Ergebnissen im Screening
hoch. Anders gesagt: Das Risiko, eine bipolar affektive Störung zu entwickeln, ist bei
Menschen mit ausgeprägten hyperthymen,
reizbaren oder zyklothymen Temperamenten zwar erhöht, die Mehrzahl der Menschen mit solchen Temperamenten entwickeln aber keine manifeste bipolar affektive
Störung.
Genetische Studien, die auf dem Temperamentskonzept von Akiskal basieren
(10), berichteten, dass ein relevanter genetischer Faktor bei allen Temperamenten zu
beobachten war. Zwischen 21% (hyperthymes Termperament) und 46% (zyklothymes Termperament) bzw. 52% (reizbares
Termperament) der Varianz waren in diesen Stichproben durch genetische Faktoren
zu erklären (10).
Methodische Kritik an
Temperamentskonzepten
Problematisch ist, dass die fünf Temperamente depressiv, reizbar, zyklothym, hyperthym und ängstlich wie sie Akiskal postuliert hat, statistisch keinesfalls unabhängig
voneinander sind: Das reizbare und das zyklothyme sowie das ängstliche und depressive Temperament korrelieren jeweils hoch
miteinander. Das hyperthyme Temperament scheint davon weitgehend unabhängig zu sein. In einer Analyse eigener unpublizierter Daten wird dies deutlich
(▶Abb.). Damit lässt sich die Temperamentskonzeption von Akiskal empirisch
auf zwei oder drei Faktoren zurückführen.
Perugi et al. (18) fanden, dass die Temperamente nach Akiskal den zwei Achsen ent-
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sprechen, die bereits Kraepelins Lehrer
Wilhelm Wundt (24) im späten 19. Jahrhundert beschrieben hatte: Rascher Wechsel bzw. emotionale Instabilität versus Intensität bzw. Hyperaktivität.
TEMPS-A und vergleichbare Instrumente haben methodische und konzeptionelle Schwächen: Ihre teststatistischen Güterwerte sind allenfalls mäßig. Die Skalen
korrelieren teilweise hoch miteinander und
unklar ist, ob es Cut-off-Werte gibt, ob es
also Grenzwerte gibt, ab der ein Temperament „relevant“ wird. Ungeklärt scheint
auch die Frage, was es eigentlich bedeutet,
wenn Personen auf mehreren Temperamenten gleichzeitig hoch laden.
Letztlich ist Akiskals Idee, unterschwellige Auffälligkeiten, die mit dem Vollbild
einer Störung verbunden sind, als Temperament zu bezeichnen, methodisch nicht
unproblematisch: Boerner hat dies entsprechend begründet (4, 5). Er hat eine Konzeption des Temperamentsbegriffs entwickelt, die darüber hinausgeht, Temperament als „forme fruste“ manifester psychischer Störung zu sehen. Er wies darauf
hin, dass das Akiskalsche Temperamentskonzept wissenschaftlichen Ansprüchen
nur teilweise genügt. Die Verdünnung affektiver Zustände als Temperament zu definieren und sie als überdauernd zu beobachten sieht er kritisch.
Interessant erscheint das Akiskalsche
Konzept dennoch, da die meisten von ihm
beschriebenen Temperamentstypen eine
lange Tradition haben und beispielsweise
bereits in der griechischen Antike dargestellt waren (8). Es handelt sich also nicht
um ein neues idiosynkratrische Konzept,
sondern eines, das auf kulturhistorischen
Quellen, Beobachtungen und Erfahrungen
basiert.
Verschiedene Autoren haben basierend
auf solchen Überlegungen komplexe dimensionale Konzepte entwickelt, um die
Akiskalsche Temperamentstheorie zu integrieren oder weiter zu entwickeln: Lara (13,
14) hat Kategorien wie Stimmung, Affekt,
Psychomotorik, Aktivität, Charakter, Intentionalität, Wahrnehmung und Kognition zu integrieren versucht und letztlich ein
umfassendes Modell entwickelt, dass die
Temperamentskonzepte von Akiskal, Eysenck und Cloninger zu verbinden versucht. Dadurch entsteht ein umfassendes
Modell von Persönlichkeit und Charakter,
das ein hohes Maß an Geschlossenheit und
Komplexität aufweist und das auch Erklärungen und Erkenntnisse für psychische
Störungen beinhaltet. Die Anwendbarkeit
für den im Alltag tätigen Psychiater und
Psychotherapeuten wird mit solchen Modellen aber aufgrund ihrer Komplexität
eher geringer. Der Charme der Akiskalschen Temperamentskonzeption liegt auch
darin, dass die dahinter liegenden fünf
Temperamente in ihrer Typologie einsichtig sind, dass sie seit Jahrhunderten tradiert
werden und dass sie eine gewisse klinische
Relevanz haben. Komplexe Modelle verlieren hier an Klarheit und Handhabbarkeit
für den Alltag.
Temperament als modifizierender Faktor einer
affektiven Störung
Temperament hat relevanten Einfluss darauf, wie eine affektive Störung verläuft –
wenn dem Temperamentskonzept von
Akiskal gefolgt wird. So wird das Auftreten
komorbider Störungen (z. B. Suchterkrankung oder Persönlichkeitsstörung) vom
Temperament bestimmt (19): Menschen
mit bipolarer Störung und reizbarem oder
zyclothymen Temperament zeigen mehr
Angststörungen als bipolar affektive Patienten mit einem hyperthymen Temperament. Auch Einflüsse auf komorbide Persönlichkeitsstörungen (z. B. BorderlinePersönlichkeitsstörung) stellen sich dar, so
gibt es einen Zusammenhang zwischen
emotional-instabilen Persönlichkeitszügen
und dem zyklothymen Temperament (1).
Hieraus kann ein komplexes Modell bipolar affektiver Störungen entwickelt, dass
letztlich dimensional ist (18).
Brieger und Marneros (7, 20) hatten gezeigt, dass gemischte Episoden bei bipolar
affektiven Störungen dann vermehrt auftreten, wenn ein Patient mit einem ausgeprägten Temperament eine Episode der
entgegengesetzten Polarität entwickelt:
Wenn also ein hyperthymer Patient depressiv wird oder ein Patient mit depressivem
Temperament manisch, dann „vermischt“
sich dies zu einem bipolaren Mischzustand
(16), während Persönlichkeitsauffälligkei-
ten nach Fünf-Faktoren-Inventar solche
Effekte nicht erklären (6): Mischzustände
sind also so durch Temperament, nicht
durch Persönlichkeit erklärbar.
Welche Alltagsrelevanz hat
Temperament für klinisch
Tätige?
In diesem Artikel wird der Temperamentsbegriff bewusst auf das Konzept von Akiskal begrenzt, auch wenn dessen inhaltliche
und methodische Grenzen offenkundig
sind. Dieser Temperamentsbegriff beschreibt eine Konstellation in der Persönlichkeit eines potenziellen Patienten (oder
einer „gesunden“ Person), deren Relevanz
letztlich offen bleibt: Handelt es sich hierbei um etwas Krankmachendes? Ist es ein
Risikofaktor? Ist es eine komplizierende
Gegebenheit, die den eventuellen Verlauf
einer psychischen Erkrankung modifiziert?
Ist es vielleicht eine Disposition im Sinne
von Aristoteles, die auch im Sinne der Salutogenese positive Aspekte hat – immerhin
hatte Aristoteles gefragt, warum große
Männer immer Melancholiker sind (8)?
Konzepte der Persönlichkeitspsychologie haben sich in den letzten Jahren dahingehend verändert, dimensionale Modelle
zu sehen, denen klare Grenzen für Entitäten fehlen. Das kann auch auf das Temperament übertragen werden. Temperament
ist per se nichts Krankhaftes oder Störendes. Es macht deswegen keinen Sinn, Temperamente zu therapieren. Temperament
wird aber eine eventuelle Behandlung beeinflussen. Die Interaktion mit der Umwelt,
die Ausprägung einer psychopathologischen Symptomatik aber auch die Beziehung zu einem behandelnden Arzt und
oder Psychotherapeuten wird vom Temperament mit geprägt sein. Frau Z. aus dem
Fallbericht wird von ihrem Therapeuten
erwarten, dass er sie in ihrer Hyperthymie
akzeptiert, sich davon nicht abschrecken
lässt und dennoch vermag, eine tragende
Beziehung aufrechtzuerhalten. Menschen
mit zyklothymen oder reizbaren Temperamenten können für den Behandler „anstrengend“ sein. Personen mit depressiven
oder ängstlichen Temperamenten benöti-
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Fazit
Der lange historisch gewachsene Temperamentsbegriff bereichert unser Herangehensweise Verständnis für Menschen mit psychischen Störungen. Der in diesem Artikel
dargestellte Temperamentsbegriff ist auf
den begrenzt, der in der Tradition von Akiskal steht. Dies ist sicherlich eine ausgesprochene Verkürzung und insbesondere eine
Begrenzung auf einen Temperamentsbegriff, der unbestreitbare konzeptionelle
Schwächen hat. Dennoch ist die dahinter
liegende Typologie interessant und für den
therapeutisch tätigen Arzt und oder Psychotherapeuten relevant.
gen von ihm besondere Unterstützung und
Aktivierung.
Damit stellt sich die Frage der Veränderbarkeit solcher „traits“. Es ist Teil der
Grundkonzeption von Temperament, dieses als wenig veränderbar zu sehen. Vielmehr geht es um das Konzept der „Passung“. Die Idee, Temperamente könnten
medikamentös beeinflusst werden, erscheint dagegen fragwürdig: Hierfür gibt es
keine Hinweise und es erscheint auch
ethisch zweifelhaft, etwas zu beeinflussen,
was keinen Krankheitswert hat.
Ist Temperament also ein überflüssiges
Konzept? Sollten wir uns von diesem Ballast
befreien? Hier ein ganz klares Nein: Den
Verlauf – vor allem affektiver – Störungen zu
verstehen, erleichtert Temperament. Warum
der eine Patient eine gemischte Episode entwickelt, warum der andere Patient in seiner
Psychopathologie eher ängstlich getönt ist,
warum sich soziale und therapeutische Beziehung so gestalten wie sie sich gestalten,
warum bestimmt komorbide Störungen auftreten, ist auch durch Temperamentskonzepte zu erklären. Dabei sind wir in diesem Be-
reich gehalten, mit einer gewissen Demut
den Vorgaben „der Natur“ zu folgen und die
Behandlung an den Gegebenheiten des Temperaments zu orientieren. Auch kann es dem
Patienten erleichtern, seine Störung zu verstehen, wenn auch er weiß, welche Temperamentskonzepte es heute gibt.
Interessenkonflikt
Es bestehen keine Interessenkonflikte.
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