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Der pädagogische Griff nach dem Fremden : zur
Haltung lokaler Initiativen gegenüber Flüchtlingen
in der Bundesrepublik Deutschland
Dünnwald, Stephan
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Monographie / monograph
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Dünnwald, Stephan : Der pädagogische Griff nach dem Fremden : zur Haltung lokaler Initiativen gegenüber
Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main : IKO-Verl. f. Interkulturelle Kommunikation, 2006.
- ISBN 978-3-88939-822-2. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-106865
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822-7 P d. Griff n. d. Fremden 19.07.2006 14:59 Uhr Seite 1
Stephan Dünnwald
Flüchtlinge haben in der deutschen Gesellschaft - als Folge des
Umgangs der Politik mit dem Thema Einwanderung - eine
Position, die gekennzeichnet ist durch die Gleichzeitigkeit von
Inklusion und Exklusion.
Der Autor analysiert den Umgang einer Nachbarschaftsinitiative
zur Hilfe für Asylsuchende mit den Bewohnern einer
Flüchtlingsunterkunft. Im Rahmen seiner Untersuchung arbeitet
er einen spezifisch deutschen Umgang mit Fremdheit heraus,
der Integration in einem pädagogischen Sinne vor allem als
Einübung eines hierarchischen Verhältnisses begreift.
Die Fallstudie bietet einen praktischen Zugriff auf das Thema
und veranschaulicht so die im wissenschaftlichen Diskurs
beschriebenen Problemkreise.
Der pädagogische Griff nach dem Fremden
C
IKO - Verlag für Interkulturelle Kommunikation
ISBN 3-88939-822-7 (978-3-88939-822-2)
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Stephan Dünnwald
Der pädagogische Griff
nach dem Fremden
Zur Haltung lokaler
Initiativen gegenüber
Flüchtlingen in der
Bundesrepublik
Deutschland
Stephan Dünnwald
Der pädagogische Griff
nach dem Fremden
Stephan Dünnwald
Der pädagogische Griff
nach dem Fremden
Zur Haltung lokaler Initiativen
gegenüber Flüchtlingen
in der Bundesrepublik Deutschland
IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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„The concern with good works will certainly
remain a part of urban anthropology“
Ulf Hannerz, Exploring the City
1
2
Danksagung
An erster Stelle möchte ich der Nachbarschaftsinitiative danken, die mir
diese Forschung gestattete und mit meist augenzwinkerndem Wohlwollen
begleitete. Ohne dieses Entgegenkommen, das die Bereitschaft einschloss,
sich auch kritischen Fragen zu stellen, wäre aus der Arbeit nichts geworden.
Dem Münchner und dem Bayerischen Flüchtlingsrat möchte ich danken für
die Möglichkeit, mit ihren Archiven arbeiten zu können, und für viele informative Gespräche über den für Laien kaum zu durchdringenden
Dschungel an Gesetzen, Verordnungen und behördlichen Regelungen, denen Asylsuchende und Flüchtlinge unterworfen sind.
Auch den Flüchtlingen, denen ich im Laufe der Forschung begegnet bin,
möchte ich danken. Sie sind zwar nicht explizit in die Arbeit eingegangen,
das Wissen jedoch, das mir in vielen Gesprächen mit Flüchtlingen vermittelt wurde, bildet den impliziten Bezugspunkt dieser Arbeit.
Meiner Frau Viola danke ich für die stetige Unterstützung und die geduldige und kritische Begleitung bei der Entstehung dieser Arbeit.
Petra Heinen und Birgit Poppert haben dankenswerter Weise das Korrekturlesen übernommen und mich sicher über die Klippen der Rechtschreibreform geführt.
St.D.
3
4
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1. Migration und Asyl in den 90er Jahren
2. Die Macht der Wohnbevölkerung
3. Warum die Untersuchung einer Initiative?
4. Hineingestolpert
5. Warum die Untersuchung einer Gruppe?
6. Zur Vorgehensweise
7. Zur Begrifflichkeit
8. Und die Flüchtlinge?
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23
24
2. Annäherung an den Fremden
1. Die Republik und die Fremden
2. Fremde
3. Kultur-Nation Deutschland
4. Ein pädagogischer Habitus bei den Deutschen
5. Zur Forschungsmethode
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27
29
46
59
63
3. Einwanderungen in die Bundesrepublik – der Umgang mit
Arbeitsmigration und Asyl
1. Flüchtlinge und Arbeiter
2. Die Entdeckung des Sozialen
3. Die Pädagogisierung des „Ausländers“
4. Asyl in der Bundesrepublik Deutschland
5. Asylpolitik nach dem Mauerfall
6. Arbeit oder Asyl
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79
87
93
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121
133
4. Die Anfänge der Initiative
1. Die Entstehung der Initiative „Miteinander Leben in Sabing“
2. Die Gründung
3. Zusammensetzung der Initiative
4. Erste Aktivitäten
5. Das Haus und die Nachbarschaft
6. Die Bewohner der Unterkunft Birkenstraße
7. Der Kontakt zu den Bewohnern
8. Soziales Engagement ohne soziale Bewegung
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139
142
144
148
151
155
160
163
5
5. Der Sozial Raum
1. Zugänge zum Haus
2. Kampf um den Sozialraum
3. Fremde im sozialen Raum
167
168
183
210
6. Kleider machen Leute
1. Schadensbegrenzung
2. Feste und Vorträge
3. Die Kleidersammlung
4. Die Kleidersammlung als symbolischer Tausch
5. Die Initiative als Mittler zwischen Flüchtlingen
und Nachbarschaft
6. Integration durch Distinktion
227
227
230
237
248
268
279
7. Die Kakerlakenaktion
1. Vermittler
2. Der Konflikt
3. Die Kakerlakenaktion
4. Engagement und Kontrolle
285
287
300
308
325
8. Pädagogik der Anpassung
1. Der pädagogische Habitus 1
2. Kontexte
3. Der pädagogische Habitus 2
4. Ausblick
337
338
346
351
365
Literatur
371
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1 Asylanträge 1969-1975
Abb. 2 Entwicklung der Asylantragszahlen 1960 bis 1999
Abb. 3 Plakat zur Kleidersammlung
Abb. 4 Plakat zur Kakerlakenaktion
111
120
274
320
6
1. Einleitung
Wer sich die Asyldiskussion im wiedervereinigten Deutschland der frühen
neunziger Jahre vergegenwärtigt, kann den Eindruck einer zutiefst zuwanderungsfeindlichen Gesellschaft bekommen: eine politische Klasse, die nur
darum streitet, ob das Asylrecht gerettet werden kann, die sich aber in ihrer
Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen weitgehend einig ist, mörderische
Anschläge auf Flüchtlinge und Migranten, denen Teile der Bevölkerung
zustimmend, die Behörden vielfach untätig oder hilflos zusehen, eine
Flüchtlingslobby, deren Appelle für eine menschenwürdige Behandlung
von Flüchtlingen als realitätsfern und nicht zeitgemäß beiseite geschoben
werden. Die radikale Einschränkung des Grundrechts auf Asyl mittels eines
‚Allparteienkompromisses’ und die Orte Hoyerswerda, Solingen, RostockLichtenhagen oder Mölln stehen für den Migrationsdiskurs der frühen
neunziger Jahre. Ein solcher Eindruck ist nicht grundlegend falsch – zu
Recht warnten einige Reiseführer Nicht-Deutsche vor dem Besuch bestimmter Gegenden in der Bundesrepublik – doch die aufgeführten Aspekte
ergeben nicht das ganze Bild. Ein großer Teil der Bevölkerung war nicht
einverstanden mit dem fremdenfeindlichen Grundzug, der sich durch diese
Zeit zog. Viele Gruppen und Initiativen entstanden, die sich für das Asylrecht und für eine menschliche Behandlung von Flüchtlingen einsetzten.
Nach einem Bild Klaus Bades1 glich die deutsche Diskussion um Einwanderung in den neunziger Jahren einem altmodischen Ritterspiel. Auf der
Bühne rennen feindliche Ritter in antiquierten Rüstungen gegeneinander
an, zur gleichen Zeit findet jedoch hinter der Bühne eine alltägliche und
durchaus erfolgreiche Integrationsarbeit statt. In dieser Arbeit soll gewissermaßen ein Blick hinter die Kulissen geworfen werden. Am Beispiel einer Initiative, die sich um eine Flüchtlingsunterkunft in einem Stadtviertel
1
Klaus Bade auf einem Vortrag, ISKA Tagung, Nürnberg 2000. Bade setzt politische
Bühne (mit dem Credo: ‚die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland’) und faktische soziale, administrative und juristische Integration von Eingewanderten einander
entgegen. Ich verwende dieses Bild mit einer leichten Verschiebung, indem ich hier die
Integrationsleistung durch Teile der Bevölkerung im Gegensatz zur defensiven politischen Diskussion hervorhebe (vgl. auch Bade und Bommes 2000: 165).
7
Münchens kümmert, sollen Praxis und Erfahrungen im Bemühen um eine
lokale Integration der Flüchtlinge untersucht werden. Abseits medialer, politischer und auch wissenschaftlicher Publizität bieten diese Initiativen, wie
sie in den achtziger und neunziger Jahren zahlreich entstanden sind, ein
Beispiel lokalen und laienhaften Engagements und auch der Schwierigkeiten und Grenzen, auf die dieses Engagement gestoßen ist.
Das Bild vom Schauspiel auf und der Arbeit hinter der Bühne muss allerdings ergänzt werden, will man insbesondere das Geschehen hinter der
Bühne deuten. Bühne und Kulisse sind nicht strikt voneinander getrennt.
Zwar bleiben die Akteure beider Bereiche meist auf den ihnen zugewiesenen Plätzen – kaum jemals gelang es, aus den Kulissen auf die Bühne zu
springen, kaum ein Mime des Ritterspiels verirrte sich in die staubige Profanität der Kulisse – gleichwohl bilden beide Bereiche des Zuwanderungstheaters eine funktionale Einheit. Ein Zusammenhang zwischen dem öffentlichen und politischen Diskurs (auf der Bühne) und der alltäglichen Integrationsarbeit (in der Kulisse) ist zunächst an der Oberfläche festzustellen, wo die Entstehung und Arbeit der Initiativen in einem teils unmittelbar
reaktiven Verhältnis zum politischen und öffentlichen Geschehen stand. In
dieser Arbeit möchte ich jedoch zeigen, dass der Zusammenhang auch
grundsätzlicher Natur ist. Wesentliche Aspekte des deutschen Verhältnisses
zum Fremden, dessen Bild in den neunziger Jahren vorrangig vom Asyl
heischenden Flüchtling bestimmt war (die übliche Diskussion um die Integration von ehemaligen Arbeitsmigranten, die Frage der nicht-deutschen
Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR, die Ankunft und Integration
deutschstämmiger und jüdischer Osteuropäer bilden Randgebiete der Zuwanderungsdiskussion der 90er Jahre), kann, so die zentrale These dieser
Arbeit, als eine Haltung beschrieben werden, die durch Anpassungsforderungen und Anpassungshilfen an die Adresse der Fremden gekennzeichnet
ist. Da diese Attitüde nicht nur bei den Nachbarschaftsgruppen der 90er
Jahre, sondern auch in den 70er und 80er Jahren gegenüber Arbeitsmigranten zur Geltung kam, scheint es plausibel, diese Haltung unter dem Begriff
des Habitus zu fassen.
8
1. Migration und Asyl in den 90er Jahren
Der Gegenstand dieser Arbeit – Nachbarschaftsgruppen, die Asylsuchende
betreuen – ist auf den Umgang mit dem Fremden als Flüchtling begrenzt.
Die Aussagen, die in dieser Arbeit getroffen werden, sollten sich deshalb
auf das gesellschaftliche Verhältnis zu Flüchtlingen beschränken. Einige
Gründe sprechen jedoch dafür, dass dieser enge Fokus ausgeweitet werden
kann.
Die gesellschaftliche Diskussion über eingewanderte Asylsuchende erwies
sich in den neunziger Jahren als dominant hinsichtlich des gesellschaftlichen Verhältnisses zu Einwanderung und Eingewanderten. Dieser Diskurs
über Asylsuchende hatte sich schon seit einiger Zeit unter dem Zeichen einer Abwehr von Zuwanderern entwickelt, deren Zuzugsberechtigung in
Zweifel gezogen wurde und deren Anwesenheit als soziale und ökonomische Belastung betrachtet wurde. In den neunziger Jahren verdichtete sich
diese Diskussion zu dem Paradox, dass man das Asylrecht gerne behalten
wollte, diejenigen, die sich auf dieses Recht beriefen, jedoch ablehnte.
Wenn wir davon ausgehen, dass sich das gesellschaftliche Verhältnis zum
Fremden im öffentlichen Diskurs über Zuwanderer und Zugewanderte als
immer wieder neu zu ziehende Grenze manifestiert, so wurde diese Grenze
in den 90er Jahren in Deutschland vor allem an Asylsuchenden und Asylmigration festgelegt2. Dieser primär auf Flüchtlinge ausgerichtete Diskurs
strahlte jedoch auch auf andere zugewanderte Minderheiten aus. Die im
engeren Sinne an der Asylzuwanderung orientierte Auseinandersetzung
war reich an Äußerungen, die sich generell auf Zuwanderung und das Verhältnis zwischen Deutschen und Zugewanderten bezogen. Aussprüche wie
„Das Boot ist voll“ unterschieden nicht zwischen schon vor Jahrzehnten
Eingewanderten und aktueller Zuwanderung. Dies kennzeichnete auch
manche Reaktionen der Vertretungen von Minderheiten. Bei Ausländerbeiräten trat neben die offizielle Solidaritätsbekundung für Flüchtlinge die Befürchtung, dass durch die Asylzuwanderung erreichte Integrationserfolge
2
Ab Mitte der 90er Jahre wurde das Thema Asyl zunehmend vom Thema der „Illegalität“ überlagert, bevor die Debatte in der Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz wieder
zunahm und sich auf verschiedenste Kategorien der Migration bezog.
9
im Sinne einer Akzeptanz der Eingewanderten durch die Mehrheitsbevölkerung gefährdet würden.
Auch im Alltag ließ sich eine strikte Trennung zwischen eingewanderten
Arbeitsmigranten und ‚neuen’ Fluchtmigranten nicht so durchsetzen, wie es
politisch intendiert war. Die politische Behandlung der Asylsuchenden unterschied sich deutlich von der Haltung gegenüber eingewanderten Arbeitsmigranten. Seit den siebziger Jahren hat sich diese unterschiedliche
politische Haltung schrittweise dahin gehend entwickelt, dass die rechtliche
und politische Situation von Arbeitsmigranten und Asylsuchenden als
Fluchtmigranten in der Bundesrepublik inzwischen in direktem Gegensatz
zueinander stehen. Während bis in die späten achtziger Jahre hinein die Berechtigung der Anwesenheit auch von Arbeitsmigranten häufig in Zweifel
gezogen wurde, so ist seitdem hinsichtlich der Arbeitsmigranten eine gewisse Anerkennung der Integration sichtbar, während die politische Haltung gegenüber Asylsuchenden durch Ausgrenzung und Abschreckung bestimmt ist. Diese scharfe Unterscheidung setzt sich im gesellschaftlichen
Alltag allerdings nur bedingt durch. Zwar unterliegen Flüchtlinge harten
Restriktionen, was ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stark behindert, trotzdem sind auch sie im Straßenbild, im Wohnumfeld, in Einrichtungen wie Kindergarten und Schule und in beschränktem Umfang auch
am Arbeitsplatz ähnlich präsent wie Arbeitsmigranten und lassen sich nicht
auf Anhieb von diesen unterscheiden. Im Alltag verwischten sich die
Trennlinien zwischen Arbeits- und Fluchtmigranten und lösen sich in der
Sammelkategorie des „Ausländers“ auf3. Der Umstand, dass ein Teil der
Migranten als Flüchtlinge in die Bundesrepublik kam, ist deshalb im Alltag
oft als sekundär anzusehen.
3
Dies gilt auch für rassistische Angriffe, die sich Anfang der 90er zunächst massiv gegen Asylbewerber und ihre Unterkünfte, schon bald aber auch gegen als Arbeitkräfte
angeworbene Migranten (v.a. Türken, Vietnamesen, Angolaner) richteten. Dass nicht
wenige Arbeitsmigranten auch aus politischen Gründen ihr Herkunftsland verlassen
haben, wird zumeist nicht bedacht. Desto deutlicher wird darauf verwiesen, dass unter
der Kategorie des Asylsuchenden auch Personen einwandern, die primär ökonomische
Migrationsgründe haben. Zur Rolle von Flüchtlingen für zum Beispiel türkische Communities vgl. Blaschke 1988.
10
Das legt es nahe – und die Fallbeispiele unterstützen dies – die in dieser
Arbeit untersuchten Einstellungen gegenüber Asylsuchenden nicht ausschließlich auf die durch ihren politischen Status, die soziale Lage oder die
spezifischen Migrationsursachen abgehobenen Flüchtlinge zu beziehen,
sondern den Diskurs über Asylzuwanderung als das zentrale Feld zu betrachten, auf dem in den 90er Jahren auch ein generelles Verhältnis zu eingewanderten Minderheiten artikuliert wurde.
2. Die Macht der Wohnbevölkerung
Die Zunahme von Fluchtmigration in die Bundesrepublik und die Verschärfung der Asyldiskussion, die Flüchtlinge als Bedrohung für die deutsche Identität und den ‚Inneren Frieden’ darstellte, zeitigte in den neunziger
Jahren teils fatale Folgen. Zugleich brachten die Ereignisse dieser Zeit eine
Reihe von Aspekten im Umgang mit Einwanderern ans Licht, die in dieser
Arbeit aufgegriffen werden sollen.
Ein besonderes Merkmal der neunziger Jahre war die Handlungsschwäche
der Politik, die sich durch die Perpetuierung der überholten Rhetorik vom
„Wirtschaftsflüchtling“ Handlungschancen verbaute und Gestaltungsmöglichkeiten nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte (vgl. Bade und
Bommes 2000: 186f). Damit entstanden deutlich erkennbare Defizite des
politischen Handelns, die in der Bevölkerung unterschiedliche Reaktionen
hervorbrachten. Rassistische Angriffe und dezidiert bürgerlicher Protest
gegen diesen Rassismus traten als markante Praktiken hervor, deutlich weniger spektakulär waren die breit gefächerten Ansätze, Flüchtlinge lokal zu
unterstützen. Sowohl bei den rassistischen Angriffen als auch bei den
Netzwerken zur Unterstützung von Asylsuchenden wird etwas deutlich,
was man als die ‚Macht der Wohnbevölkerung’ bezeichnen könnte. Die
Auseinandersetzungen um Flüchtlinge waren in den frühen neunziger Jahren kein Phänomen der Metropolen und Ballungsräume, sondern eines, das
sich in wesentlichen Teilen abseits, ‚irgendwo’ in Deutschland zeigte. So
ließ sich nicht vorhersagen, wo der nächste Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft stattfinden würde, was zur Folge hatte, dass die Bedrohung sich
verallgemeinerte und allgegenwärtig wurde. Ähnlich wie bei Katastrophen
11
oder Unfällen kamen Orte in die Schlagzeilen, die sich vorher durch nichts
aus der Masse hervorgehoben hatten: Hoyerswerda, Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen. Auf der anderen Seite konzentrierte sich die Unterstützung für Flüchtlinge auf die lokale Unterkunft im Dorf oder im Stadtviertel. Zwar bemühten sich auch linke Gruppen um den Aufbau einer politisch
organisierten Unterstützung von Flüchtlingen, ihre Aktivitäten reproduzierten jedoch stärker die Opposition gegen staatliches Handeln als dass sie
konkrete Unterstützung für Flüchtlinge leisteten. Beistand erfuhren Flüchtlinge aus dem lokalen Umfeld der Unterkünfte. Nicht die skandierte ‚Internationale Solidarität’, sondern praktizierte lokale Solidarität war kennzeichnend für die frühen neunziger Jahre4. Sowohl Angriffe als auch Unterstützung erfuhren Flüchtlinge seitens der Nachbarn. Institutionalisierte politische Organisationen wie Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen auf
der einen, rechte Parteien und Gruppierungen auf der anderen Seite, konnten sich nur bemühen, diese neuen lokalen Akteure zu integrieren (wobei
sich die konservativen Parteien besonders schwer taten, Gewalt zu verurteilen und gleichzeitig ihr Verständnis für die Motive der Gewalttäter zu signalisieren), es gelang ihnen jedoch nicht, das von Selbstjustiz und Selbsthilfe bestimmte Handeln zu kontrollieren.
3. Warum die Untersuchung einer Initiative?
Das Interesse dieser Arbeit richtet sich nicht auf die spektakulären Formen
des Umgangs mit Flüchtlingen. Während rechte Überfälle auf Flüchtlinge
phasenweise ein großes Medienecho auf sich zogen, Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen den rechtsradikalen und den behördlichen Umgang mit
Flüchtlingen skandalisierten, arbeiteten auf lokaler Ebene viele kleine
4
Das heißt nicht, dass es keine Überschneidungen oder Zusammenarbeit gegeben hat.
Im Laufe der neunziger Jahre hat sich jedoch eine Struktur herausgebildet, nach der
linke Organisationen und Netzwerke (vor allem der auf der Dokumenta X entstandene
Zusammenschluss ‚Kein Mensch Ist Illegal’) mit Flüchtlingsräten zusammenarbeiten
und weniger direkte Kontakte zu Flüchtlingen aufweisen. Die Kontaktschwierigkeiten
zwischen Linken und Flüchtlingen zeigten sich deutlich im Netzwerk ‚Karawane für die
Rechte von Flüchtlingen und Migrantinnen’, das im Vorfeld der Bundestagswahl 1998
entstand und den hochfliegenden Erwartungen ‚internationaler Solidarität’ nicht entsprechen konnte.
12
Gruppen an der Integration der Asylsuchenden und Flüchtlinge in die
Nachbarschaft des Dorfes oder Stadtviertels. Nur gelegentlich wurde diesen
Gruppen Öffentlichkeit zuteil, in den meisten Fällen arbeiteten sie jedoch
unbeachtet ausschließlich bezogen auf die Unterkunft, die von ihnen betreut wurde, und in engem räumlichen Rahmen. Zudem war ihre Arbeit
nicht in erster Linie die symbolische Aktion, sondern die praktische
Betreuung und Unterstützung von Flüchtlingen.
Ziel dieser Arbeit ist es, etwas über die eigene Gesellschaft herauszufinden,
und zwar über den Teil der Bevölkerung, der Zuwanderern grundsätzlich
offen und wohlgesonnen gegenübersteht und Kontakten mit ihnen nicht aus
dem Weg geht. Die meisten Studien über das deutsche Verhältnis zu Zugewanderten thematisieren Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus. Dies ist
nicht unbegründet, erweckt jedoch den Anschein, dass die Auswahl wissenschaftlicher Themen im Bereich Migrationsforschung dem journalistischen Motto folgt, nach dem nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten
sind. Gegenstand dieser Arbeit ist die Ausländerfreundlichkeit.
Die zahlreichen Nachbarschaftsgruppen, die sich in den neunziger Jahren
zur Unterstützung von lokal untergebrachten Flüchtlingen in Deutschland
gebildet haben, sind bislang kaum Gegenstand sozialwissenschaftlichen
Interesses gewesen.5 Dies allein würde schon rechtfertigen, diesen Gruppen, die abseits der großen Diskussionen einen wesentlichen Beitrag zur
Integration von Asylsuchenden und Flüchtlingen leisten, eine Untersuchung zu widmen. Es stellt sich weiter die Frage, warum diesen Initiativen
so wenig wissenschaftliches wie öffentliches Interesse entgegengebracht
worden ist. Dies gilt nicht allein für die Initiativen der 90er Jahre, sondern
auch für viele Gruppen und Vereine, die seit Anfang der 70er Jahre in
Deutschland im Bereich der Integration von Migrantinnen und Migranten
entstanden und in privater Initiative durchgeführt wurden. Es gibt vermutlich viele Gründe: nicht spektakulär genug, allgemeinen Trends gegenläufig, zu klein und zu verstreut, zu wenig einheitlich etc. Vor allem aber: zu
5
Mit Ausnahme von Nestvogel 1996 ist mir keine Untersuchung bekannt, die sich direkt auf diese Initiativen bezieht, einige wenige Arbeiten thematisieren die Situierung
von Asylbewerberunterkünften in der Nachbarschaft (vgl. Fokus 1994).
13
gewöhnlich, zu bekannt in den möglichen Handlungsweisen und Einstellungen. Die Arbeit dieser Initiativen erscheint, so vermute ich, einem einheimischen Sozialforscher dermaßen plausibel, dass sie nicht verspricht,
auch nur einen neuen Gedanken, eine neue Erkenntnis bereitzuhalten.
Dem ist entgegenzuhalten, dass gerade die Untersuchung des ‚gemäßigten’
Umgangs Deutscher mit Eingewanderten für das Verständnis eines deutschen Verhältnisses zur Zuwanderung interessant ist. Forschungen, die sich
vor allem mit rassistischer Gewalt gegenüber Zuwanderern befassen, sind
zum einen wenig aussagekräftig hinsichtlich eines gesellschaftlichen Verhältnisses zu Eingewanderten, und können zum anderen den Eindruck unterstützen, bei rassistischen oder fremdenfeindlichen Haltungen handle es
sich ‚nur’ um ein Problem bestimmter Milieus oder Randgruppen.
Inzwischen gibt es jedoch auch verschiedene Arbeiten, die sich mit dem
‚breiteren’ deutschen Verhältnis zu Eingewanderten befassen (vgl. Hoffman und Even 1984; Dettmar 1989; Weiß 2001). Insbesondere Anja Weiß
ist hervorzuheben, die sich explizit antirassistischen Gruppen zuwendet,
mit denen sie rassistische Haltungen innerhalb der Gruppe thematisiert.
Hier wird deutlich, dass Rassismus kein Phänomen gesellschaftlicher
Randgruppen ist, sondern strukturell verankert die ganze Gesellschaft
durchzieht. Wenn die Zielrichtung auch eine ähnliche ist – auch die vorliegende Arbeit versucht, die Grenzen des Kontaktes zwischen Einheimischen
und Zuwanderern dort zu untersuchen, wo Kontakte stattfinden – richtet
sich hier das Interesse nicht auf individuelle rassistische Stereotypisierungen und deren strukturelle Bedingtheiten. Auch bei der hier untersuchten
Initiative waren Rassismen Teil des Handlungs- und Wahrnehmungsrepertoires, das Interesse dieser Arbeit ist jedoch sowohl eingeschränkter als
auch weiter angelegt. Beschränkter, weil die Aktivitäten einer Nachbarschaftsgruppe in Fallbeispielen in den Mittelpunkt gestellt werden sollen,
die als Form einer vor allem lokal orientierten Solidarität bislang übersehen
worden ist; weiter, weil die Handlungsweisen dieser lokalen Hinwendung
zu Flüchtlingen breiter angelegt sind, als dass Rassismustheorien einen zufriedenstellenden Erklärungsrahmen bieten würden. Auch ist der antirassistische Diskurs, wo er sich am normativen Ziel der Gleichberechtigung
14
und der Kritik rassistischer Diskriminierung orientiert (eine Ausrichtung,
deren Notwendigkeit hier keineswegs angezweifelt werden soll), tendenziell eher Teil des Geschehens auf der eingangs beschriebenen Bühne und
deshalb weniger geeignet für das Halbdunkel der Kulisse.
Die Tatsache, dass die von Initiativen gegenüber Flüchtlingen geübte Solidarität lokalen Bezug hat, bedeutet nicht, dass ihre Aktivitäten in einen ausschließlich lokalen Kontext gestellt werden könnten. Im begrifflichen Bezugsrahmen der Globalisierungsdiskussion bieten Nachbarschaftsgruppen,
die sich um die Gestrandeten einer weltweiten Fluchtmigration kümmern,
ein Beispiel lokaler Reaktion auf globale Prozesse und nationale Politiken,
wobei die supralokalen Dimensionen (wenn auch meist implizit) ebenso im
Handeln der Nachbarschaftsgruppe gegenwärtig sind.
4. Hineingestolpert
Wäre ich nicht selbst in eine dieser Nachbarschaftsgruppen hineingeraten,
so wäre auch ich wohl kaum auf den Gedanken verfallen, gerade diese Initiative zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. Erst durch die
Teilnahme an den Aktivitäten der Initiative erschloss sich mir der Kontext,
in den diese Gruppen ihr Handeln stellten, entwickelte ich ein Gespür für
die Zwänge, die mit der Unterbringung von Asylsuchenden in der Bundesrepublik einhergehen und für die Interessenlagen und Herangehensweisen
der Initiativen. Im Sommer 1992 war ich, aufgestört durch die zunehmende
Anzahl und Brutalität von Überfällen auf Flüchtlinge, daran interessiert,
mich selbst in sinnvoller Weise für Flüchtlinge zu engagieren. Eher zufällig
las ich dann auf der Straße ein Plakat, mit dem die Initiative „Miteinander
Leben in Sabing“ auf ihre Gründung hinwies und Interessierte einlud, zum
nächsten Treffen zu erscheinen. Anlass war die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft, die sich nur einige Straßen von meiner Wohnung entfernt
befand. Dies schien mir Gelegenheit zu bieten, Flüchtlinge zu unterstützen,
und so fand ich mich zum Treffen der Initiative ein. Die Versammlung war
für mich eine neue Erfahrung. Vorher hatte ich – abgesehen von einigen
direkten Nachbarn im Haus und in der Straße – keinen Kontakt zu anderen
Bewohnern des Stadtviertels gehabt. Das sollte sich mit meiner Mitglied15
schaft in der Nachbarschaftsgruppe ändern, da ich ein Teil verschiedener
Netzwerke wurde, die von anderen Mitgliedern über die Ortsverbände von
Parteien, die Kirche, soziale Einrichtungen oder lange Bekanntschaften
hergestellt worden waren. Teile dieser Netzwerke wurden immer wieder
aktiviert, um die Situation der Flüchtlinge bekannt zu machen, um Flüchtlingskinder in Schulen und Kindergärten unterzubringen oder etwa Ressourcen für die Arbeit der Initiative zu erschließen. Die Asylsuchenden
wurden dadurch direkt, oder vermittelt über die Initiative, zu Klienten lokaler Institutionen und zum Gegenstand der Fürsorge im Stadtviertel.
Niemand in der Nachbarschaftsgruppe dieser Studie hatte zuvor mit Flüchtlingen zu tun. Zwei Personen hatten eine eigene Fluchterfahrung als Vertriebene, die sich nach dem Krieg in München ansiedelten. Die übrigen
Mitglieder der Initiative waren erst durch die Asyldiskussion und die Errichtung einer Unterkunft im Viertel auf das Thema Flüchtlinge aufmerksam geworden, hatten aber zum Teil eigene Erfahrungen als Migranten
(zwei Spanier und eine Niederländerin) bzw. mit Migranten (drei Frauen
aus der Gruppe waren mit Migranten verheiratet). Auch wenn die erbitterte
Asyldebatte Anfang der neunziger Jahre Einfluss vor allem auf die Gründung der Initiativen hatte, ist es also kein spezifisches, ausschließlich auf
Asylsuchende zugeschnittenes Verhältnis, das sich im Umgang der Nachbarn mit Flüchtlingen ausdrückt.
Schon nach wenigen Monaten der Teilnahme an der Nachbarschaftsinitiative konnte ich feststellen, dass das Engagement der Initiative gegenüber
den Flüchtlingen in aller Selbstverständlichkeit eine Prägung bekam, die
ich im folgenden als ‚pädagogisch’ bezeichnen möchte. Den Begriff des
Pädagogischen fasse ich dabei bewusst weit. Er bezeichnet den erzieherischen Gestus, mit dem Initiativen den Bewohnerinnen und Bewohnern der
Flüchtlingsunterkunft begegnen, eine Legierung aus sozialem Engagement
und sozialer Kontrolle, und einen gewissen Paternalismus der Besitzenden
gegenüber den Besitzlosen, derjenigen, die wissen, ‚wie der Hase läuft’ gegenüber denen, die dies erst lernen müssen. Die Haltung von Einheimischen gegenüber den Fremden, der immer auch ein Moment der Herrschaft
16
innewohnt6. Das Pädagogische umfasst damit die Spannung zwischen den
beiden Polen einer ‚Hilfe zur Selbsthilfe’, die Individuen zur eigenständigen Teilhabe an der Gesellschaft anleiten will, und einer auch normativen
‚Integration’, die vorab schon weiß, wie eine solche Teilhabe auszusehen
hat.
Diese zunehmend sicher und bei allen gruppeninternen und persönlichen
Unterschieden deutlicher hervortretende Haltung der Initiative besaß ein
hohes Maß an Selbstverständlichkeit, und der praktische Sinn der dargebrachten Angebote an die Flüchtlinge sowie der Aktionen gegenüber Unterkunft und Verwaltung erschließt sich spontan und evident. Die in diesen
Aktivitäten zum Ausdruck kommende Haltung wurde, obwohl die Nachbarschaftsgruppe sich sehr heterogen zusammensetzte, kaum hinterfragt.
Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass das Verhältnis zu Flüchtlingen, das
diesem Handeln zugrunde lag, sich allgemeiner Akzeptanz erfreute.
Wie lässt sich diese selbstverständlich eingenommene Haltung erklären?
Wie verhält es sich bei dieser pädagogischen Haltung mit der Relation zu
anderen, zum Beispiel politischen Umgangsweisen mit Flüchtlingen und
Migranten? Diese Fragen stellten sich mir im Lauf der ersten Monate in der
Nachbarschaftsgruppe, und entlang dieser Fragen entwickelte ich den Entschluss, die Haltung der Nachbarschaftsgruppe zum Gegenstand dieser
Forschung zu machen.
Die Untersuchung der Initiative ist auch Produkt einer Distanzierung, die
ich jenseits methodischer Überlegungen selbst gegenüber der Ausrichtung
der Gruppe und ihrer Aktivitäten verspürte. Die konsequente, oft demonstrative Ignoranz gegenüber den politischen Ursachen der Defizite der
Flüchtlingsunterbringung, die frühe und beinahe ausschließliche Fokussierung der Aktivitäten auf die ausschließlich sozial-fürsorgliche Unterstützung, mit der viele Mitglieder der Initiative den Flüchtlingen begegneten,
all dies fand ich befremdlich und ließ bei mir die Frage aufkommen, ob die
6
Ebenso gut könnte das Verhältnis als Beziehung zwischen Etablierten und Außenseitern bezeichnet werden. Die gleichnamige Studie von Elias und Scotson, die das lokale
Machtverhältnis zwischen Alteingesessenen und Zuzüglern thematisiert, findet allerdings nur implizit Eingang in diese Arbeit (vgl. Elias und Scotson 1993).
17
Initiative der richtige Ort meines eigenen Engagements für eine Verbesserung der Situation der Flüchtlinge sei. Mir erschien die Fürsorge für Flüchtlinge zwar wichtig, doch brachten meine Kontakte zu Flüchtlingen schnell
die Erkenntnis über die Begrenztheit dieser Versuche. Vor allem aber erschien mir ein politisches Engagement, das die Ausgrenzung der Flüchtlinge in Lagern publik machte und für eine Verbesserung der Situation eintrat,
als ebenso notwendig wie die Betreuung der Bewohner von Unterkünften.
Erst die direkte Konfrontation mit den Lebensbedingungen der Flüchtlinge
und den zahlreichen administrativ verfügten Beschränkungen macht einem
den Grad der Ausgrenzung von Flüchtlingen deutlich. Warum sich die Mitglieder der Initiative, die ja Zugang zu diesem Wissen hatten, von dieser
Ungerechtigkeit nicht zu Protesten motiviert fühlten, war mir ein Rätsel.
Auf der anderen Seite bemerkte ich die Schwäche, welche die flüchtlingsund menschenrechtlich orientierten Gruppen und Vereine kennzeichnete.
Die proklamierte Bedrohung der Gesellschaft und ihres Wohlstandes durch
Migration und Asyl entkräftete Argumentationen, die Gerechtigkeit und
Gleichbehandlung auch für Flüchtlinge einforderten, und schob sie an den
Rand des Geschehens. Im kleinteiligen sozialen Raum eines Stadtviertels
oder einer Gemeinde konnten diese Forderungen nur selten Fuß fassen. So
standen sozial-integrative Initiativen und Asyl- und Menschenrechtsorganisationen kaum verbunden nebeneinander.
Aus dieser Spannung heraus speiste sich der kritische Blick, mit dem ich
die Aktivitäten der Initiative begleitete. Sympathisierte ich eher mit der Arbeit der Flüchtlingsräte, so musste ich nicht nur der Leistung der Initiativen, sondern auch ihrer Suche nach direktem Kontakt zu Flüchtlingen und
ihrer lokal sehr effektiven Integrationsstrategie zunehmend Respekt zollen.
Der Preis der Etablierung einer deutlichen Hierarchie zwischen Einheimischen und Fremden erscheint mir dennoch sehr hoch, gerade weil die Geschichte der Einwanderung in die Bundesrepublik zeigt, wie zäh solche
Hierarchien sind und wie lange sie die Eingewanderten belastet.
Das Ergebnis ist eine ambivalente Bewertung der Arbeit der Nachbarschaftsgruppe. Aus einer gleichsam emischen Sichtweise, welche die selbst
gesetzten Grenzen des Initiativenhandelns berücksichtigt, sind die Leistun18
gen der Initiative hoch zu bewerten. Betrachtet man die Arbeit der Initiativen im Kontext der bundesweiten politischen und sozialen Auseinandersetzung um Asylsuchende in Deutschland, so steht den Leistungen die Frage
gegenüber, ob sich die Aktivitäten der Initiativen, die es in den meisten
Städten und Gemeinden in ähnlicher Weise gab, nicht durch eine stärkere
politische Ausrichtung in ein wirksameres Engagement für Flüchtlinge hätte wandeln können, das auch die Politik zu einer liberaleren Gesetzgebung
motiviert hätte.
5. Warum die Untersuchung einer Gruppe?
Aller staatlich forcierten Exklusion von Asylsuchenden zum Trotz gab es
verschiedenste private Kontakte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen.
Geteilte Nachbarschaften, Kindergärten, Schulen oder Arbeitsplätze boten
immer wieder Möglichkeiten des Kennenlernens und der Kommunikation.
Die Untersuchung einer Initiative, die sich die Unterstützung von Asylsuchenden zum Ziel gesetzt hatte, bietet gegenüber solch meist singulären
Kontakten einige Vorteile:
Zunächst waren in der Nachbarschaftsgruppe verschiedenste Haltungen zu
eingewanderten Flüchtlingen versammelt. Die Untersuchung einer solchen
Initiative versprach also den Zugang zu einer verhältnismäßig breiten Palette gesellschaftlich vertretener Auffassungen gegenüber Asylsuchenden. Für
die Herangehensweise an das Thema waren jedoch die Gruppenprozesse
wesentlicher als die ursprüngliche Diversität der Positionen. Anders als
privat agierende Einzelpersonen wurde aus der Nachbarschaftsinitiative
eine lokale Institution, die mit einem öffentlichen Anspruch auftrat und
gemeinsame Anliegen formulierte. Das heißt: nicht die privaten Kontakte
zu Flüchtlingen, über die eine ganze Reihe Mitglieder verfügten, standen
im Vordergrund, sondern die Arbeit der Initiative musste weitgehend kollektiv abgestimmt werden und sich an den formulierten Zielen messen lassen. Damit orientierten sich die Einstellungen und Handlungsweisen der
Initiative weit mehr an einer allgemeinen Diskussion des Themas in der
Öffentlichkeit als bei lediglich privaten Kontakten. Sie mussten sich innerhalb des politischen Diskurses positionieren, auch wenn das in vielen Fäl19
len zu der Entscheidung führte, sich explizit nicht politisch für Asylsuchende zu engagieren. Die Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe waren in
unterschiedlichem Maße in die soziale Struktur des Stadtteils integriert und
es entsprach ihrem Selbstbild, gegenüber den Flüchtlingen die Nachbarschaft, zumindest die wohlmeinende, zu repräsentieren. Damit ging einher,
dass die gegenüber den Flüchtlingen aufgenommenen Aktivitäten stets auf
ihre Angemessenheit in diesem sozialen Umfeld hinterfragt wurden. Die
Gruppe handelte nicht isoliert, sondern immer wieder wurde der Rückbezug deutlich, den ihre Aktivitäten zur Einstellung einer (imaginierten oder
verallgemeinerten) Nachbarschaft hatten.
Die Einrichtung von Unterkünften für Asylsuchende im Stadtviertel stellte
die lokale Nachbarschaft vielerorts vor ein für sie neues Thema und forderte sie heraus, adäquate Umgangsweisen mit diesem „Problem“ zu finden.
Solche Umgangsweisen werden nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern
meist dem Fundus tradierter Handlungsweisen mit ähnlichen „Problemen“
entlehnt, ausprobiert, verworfen, weiterentwickelt. Die Untersuchung der
Nachbarschaftsgruppe kann nun zeigen, welche tradierten Handlungsweisen auf diese neue Situation bezogen wurden, nach welchen Kriterien sie
ausgewählt, angewendet oder wieder aussortiert wurden. Die heterogene
Struktur der Initiative brachte es mit sich, dass eine Vielzahl von Vorschlägen existierte, aus denen eine bestimmte Auswahl getroffen wurde, die der
Auffassung der Initiative von einem adäquaten Vorgehen in dieser Situation entsprach, und die nach bestimmten, nicht immer nur erfolgsorientierten
Kriterien adaptiert und manipuliert wurden. Damit eröffnet die Untersuchung der Nachbarschaftsinitiative die Möglichkeit, in einem überschaubaren lokalen Setting zu zeigen, welche Einstellungen und Handlungsweisen
einem wenn nicht repräsentativen, so doch breiten Querschnitt der Bevölkerung angemessen schienen, mit der Anwesenheit von Flüchtlingen umzugehen.
6. Zur Vorgehensweise
Im Kapitel 2 wird der gesellschaftliche Umgang mit Zuwanderern in einen
theoretischen Kontext gestellt, der insbesondere das Verhältnis zwischen
20
nationaler bzw. ethnischer Inklusion und funktionaler Differenzierung umfasst. Zunächst wird eine allgemeine Zusammenführung und Erörterung
relevanter Ansätze unternommen, die nicht nur auf den gleichen Ursprung
nationaler Inklusion und funktionaler Differenzierung, sondern auch auf
das fortwährende Zusammenspiel beider Prozesse hinweist. Anschließend
wird die Situation in der Bundesrepublik bezüglich Einwanderung als
Fremdheitsverhältnis dargestellt, das durch spezifische Formen gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion von Einwanderern bestimmt wird.
Ausgehend von den oben skizzierten Aspekten eines gesellschaftlichen
Fremdheitsverhältnisses gegenüber Zuwanderern wird im Kapitel 3 die
Einwanderung in die Bundesrepublik umrissen. Markant sind in diesem
Zusammenhang die siebziger Jahre, in denen begonnen wird, die Nachkommen der Arbeitsmigranten unter integrativen Aspekten anzusehen. Zur
gleichen Zeit beginnt gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden ein zunehmend rigider werdender Ausgrenzungsprozess. Die politische, rechtliche und gesellschaftliche Entwicklung dieses Prozesses wird nachgezeichnet, wobei ein Schwerpunkt auf den Untersuchungszeitraum, die Phase der
frühen 90er Jahre, gelegt wird.
Nachdem so die wesentlichen Kontexte der Untersuchungssituation umrissen sind, wird in drei Fallstudien, die nach situationsanalytischen Gesichtspunkten aufgebaut sind, das Verhältnis untersucht, das die Initiative ‚Miteinander Leben in Sabing’ zu den Bewohnern der Sabinger Flüchtlingsunterkunft entwickelt hat. Vorangestellt ist diesen Fallstudien in Kapitel 4
eine Einleitung, in welcher die Einrichtung der Asylbewerberunterkunft im
Stadtviertel, die ersten Reaktionen unter den Anwohnern und die Gründung
der Nachbarschaftsinitiative beschrieben werden. Auch die ersten Kontakte, die sich zwischen der Initiative und den Bewohnern der Unterkunft entwickelten, sind Gegenstand dieses einführenden Kapitels.
Die drei Fallstudien orientieren sich an Situationen bzw. Ereignissen im
Umgang der Initiative mit den Flüchtlingen. An eine Beschreibung der jeweiligen Situation fügt sich eine Interpretation der Geschehnisse an. Ausgehend vom Grundsatz der Situationsanalyse werden die Ereignisse als
Brennpunkt gesehen, der bestimmende Aspekte im Verhältnis der Inter21
agierenden zutage treten lässt. Die Situationen sind so ausgewählt, dass jeweils unterschiedliche Beziehungen der beteiligten Akteure beleuchtet
werden. Die Studie zum „Sozialraum“ analysiert in Kapitel 5 Beziehungen
und Bestimmungsfaktoren, die das Verhältnis zwischen der Nachbarschaftsinitiative und den Bewohnern der Unterkunft im direkten Kontakt
prägten. Gegenstand dieses Kapitels ist insbesondere der Versuch der Institutionalisierung eines hierarchischen Verhältnisses durch die Initiative, die
bei der Etablierung im Sozialraum jedoch scheitert.
Kapitel 6, „Kleider machen Leute“, nimmt schließlich anhand der von der
Initiative durchgeführten Kleider- und Sachspenden für die Flüchtlinge der
Unterkunft das Verhältnis auf, das die Initiative zu Flüchtlingen im Kontext
der weiteren Nachbarschaft im Stadtviertel anstrebt. Hier soll insbesondere
das Bild der Flüchtlinge präzisiert werden, das die Initiative durch ihr Engagement vermittelt. Die Präsentation und Durchführung der Sammlungen
sowie die Reaktionen der Nachbarschaftsinitiative auf die ganz unterschiedliche Resonanz, welche die Spendenaktionen seitens der Flüchtlinge
erfahren, werden daraufhin interpretiert, welcher soziale Ort den Flüchtlingen im Gefüge des Viertels zugewiesen wird.
Thema von Kapitel 7, „Kakerlakenaktion“, ist die Position, welche die
Nachbarschaftsinitiative im Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Verwaltung einnimmt. Anhand einer Aktion, bei der in der Unterkunft mit Insektiziden gegen Kakerlaken vorgegangen wird, und eines sich in der gleichen
Zeit entwickelnden Konflikts zwischen der Initiative und der Verwaltungsangestellten der Unterkunft wird die Haltung untersucht, mit welcher die
Initiative der staatlichen Verwaltungskraft begegnet und ferner, was sich
daraus über das Verhältnis zu den Bewohnern ableiten lässt.
Im abschließenden Kapitel 8 werden die Interpretationen der einzelnen
Fallstudien zusammengeführt und in den Kontext eines zivilgesellschaftlichen Umgangs mit Flüchtlingen und Zuwanderern gestellt. Hier werden die
Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel wieder aufgegriffen, um Kontinuitäten und Brüche zwischen der Haltung der Nachbarschaftsinitiative und
vorhergehenden Positionen gegenüber Eingewanderten herauszuarbeiten.
22
7. Zur Begrifflichkeit
Die Begriffe Asylsuchende und Flüchtlinge werden in der Regel synonym
verwendet. Die Bewohner der untersuchten Unterkunft hatten einen Asylantrag gestellt, was sie umgangssprachlich zu „Asylbewerbern“ macht, ein
Begriff, der sich im Sprachgebrauch eingebürgert hat, der mir aber im Zusammenhang mit einem Recht unsinnig erscheint. Die Bezeichnung „Asylanten“ wird wegen ihres pejorativen Gehalts nicht verwendet. Im innerdeutschen Gebrauch ist der Terminus „Flüchtling“ lange Zeit deutschen
bzw. deutschstämmigen Flüchtlingen vorbehalten gewesen. Obwohl das
Bundesamt für Anerkennung noch den Titel „für ausländische Flüchtlinge“
führt, scheint sich in der letzten Zeit doch der Gebrauch des Wortes
„Flüchtling“ durchzusetzen. Zwischen Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen wird nur an den Stellen der Arbeit unterschieden, wenn es hinsichtlich des rechtlichen Status relevant erscheint.
Mit „Flüchtlinge aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien“ sind Personen gemeint, die infolge der den Zerfall der ehemaligen Bundesrepublik
Jugoslawien begleitenden Bürgerkriege in den neunziger Jahren die Flucht
ergriffen haben. Genauere Unterscheidungen (zum Beispiel bosnische
Flüchtlinge) sind nur dort gemacht worden, wo sie etwa für den aufenthaltsrechtlichen Status oder die Wahrnehmung durch die Initiative relevant
sind. Synonym werden die weniger präzisen Umschreibungen „Flüchtlinge
aus Ex-Jugoslawien“ oder „Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien“
verwendet.
Das Wort Betreuung wird in dieser Arbeit mit Absicht verwendet. Im Wörterbuch des Unmenschen steht dazu treffend:
„Man betreut jemanden und damit basta. Dieses Verhältnis ist ein totales.
Die Betreuung ist diejenige Art von Terror, für die der Jemand – der Betreute – Dank schuldet“ (Sternberger u.a. 1962: 21).
Im Wort Betreuung drückt sich ein Machtverhältnis zwischen Betreuer und
Betreutem aus. Mit gutem Grund wird Betreuung in den programmatischen
Texten von Wohlfahrtseinrichtungen heute weitgehend vermieden. Das
heißt jedoch nicht, dass es, auch im Verhältnis mancher dieser Einrichtungen zu den von ihnen unterstützten oder beratenen Migranten, nicht mehr
23
zutreffen würde. Die Arbeit der Nachbarschaftsgruppen mit Flüchtlingen
läuft bei bester Absicht auf ein Betreuungsverhältnis hinaus, in dem aktive
und passive Rollen ungleich verteilt sind. Das Verhältnis ist allerdings kein
totales.
8. Und die Flüchtlinge?
Das ursprüngliche Ziel, das sich etablierende Verhältnis zwischen Initiative
und Flüchtlingen von beiden Seiten aus zu betrachten, ließ ich nach einiger
Zeit wieder fallen. In der Unterkunft waren Flüchtlinge aus rund zwanzig
Nationen versammelt, und jenseits der für alle gleichen Unterbringungssituation gab es wenig, worin sich die Flüchtlinge ähnelten. Die Umgangsweisen mit der Situation, die jeweils verfügbaren Ressourcen, mal mehr
individuelle, mal mehr Gewicht aufs Kollektive legende Sichtweisen der
Flüchtlinge zeichneten sich durch große Heterogenität aus. Eine Forschung,
die sich nur dem Hiersein der Flüchtlinge und nicht den verschieden starken Einflüssen der Herkunftsgesellschaft und -kultur gewidmet hätte, wäre
obendrein von wenig Aussagekraft gewesen. Doch noch ein anderer Grund
spielte in die Entscheidung hinein, sich ausschließlich der Seite der Nachbarschaftsgruppe und eigenen Gesellschaft zuzuwenden. Die Flüchtlinge
sind auch im Verhältnis zwischen Nachbarschaftsgruppe und Flüchtlingen
nicht die Akteure. Nur wenig verallgemeinert lässt sich behaupten, dass die
Flüchtlinge Gegenstand des Handelns der Initiative waren, nicht MitAkteure. Das soll nicht heißen, dass die Flüchtlinge sich ausnahmslos passiv verhalten hätten. Während Migranten allgemein ein (meist ökonomisch
interpretiertes) Migrationsinteresse und eine gewisse Handlungsfreiheit zugesprochen wird, werden Fluchtmigranten über Gebühr als passive, ihr
Schicksal von Verfolgung und Flucht Erleidende dargestellt7. Demgegenüber sei hier festgestellt, dass Flüchtlinge, so sehr die ihnen aufgezwungene
Passivität sie auch einschränkt, durchaus aktiv ihre Möglichkeiten zur Ver7
Dies ist auch z.B. in der seit den neunziger Jahren sehr verbreiteten Darstellung der
Fluchtmigration als (kriminalisierte) Tätigkeit von Schleppern und Schleusern evident.
Flüchtlinge sind in dieser Sichtweise weniger Opfer von Vertreibung und Verfolgung
als vielmehr (weitgehend passive) Opfer von ‚Schlepperbanden’.
24
besserung ihrer Lage nutzen, eigene Netzwerke bilden und ihr Leben im
Exil gestalten. Im Verhältnis der Nachbarschaftsgruppe war dies jedoch
insofern ohne Belang, als sich die Aktivitäten der Flüchtlinge häufig dem
Blick und dem Interesse der Nachbarschaftsgruppe entzogen, u.a., weil die
Netzwerke der Flüchtlinge nicht im Viertel, sondern im weiteren Umfeld
der Stadt, des Landes oder auch international gespannt waren. Infolgedessen liefen die Aktivitäten der Nachbarschaftsgruppe und diejenigen der
Flüchtlinge oft weit aneinander vorbei. Insbesondere das Handeln der
Flüchtlinge blieb weitgehend ohne Relevanz für das Verhältnis, das die Initiative zu den Flüchtlingen etablierte.
Aus diesen Gründen ist es möglich, das Verhältnis der Initiative zu Flüchtlingen einseitig zu beschreiben, nicht als Verhältnis, sondern als Haltung,
welche die Initiative gegenüber Flüchtlingen entwickelt. Das heißt nicht,
dass ich mich in der dieser Arbeit zugrundeliegenden Forschung nicht auch
mit den Flüchtlingen beschäftigt hätte. Recht schnell konnte ich jedoch
feststellen, dass die Nachbarschaftsgruppe in den Augen der Flüchtlinge
weitgehend irrelevant war. Den meisten Flüchtlingen war nicht einmal bekannt, dass die Einheimischen, die sie hier und da in der Unterkunft besuchten, eine Gruppe bildeten, geschweige denn, welche Ziele und Interessen diese Gruppe verfolgte. Für die Flüchtlinge, die Kontakten aufgeschlossen waren, waren vor allem individuelle persönliche Beziehungen zu
Einheimischen von Interesse. Was jenseits dieser Beziehungen lag, wurde
lediglich als Ressource und Hintergrund des individuellen Einheimischen
wahrgenommen. Die Forschungsarbeit mit Flüchtlingen führte mich so
nicht zurück zur Nachbarschaftsinitiative, sondern von ihr weg in die verwandtschaftlichen, politischen und religiösen Netzwerke von Flüchtlingsgruppen, eine andere Welt, ein anderes Thema. Gegenstand dieser Arbeit
sind die Einheimischen.
Wenn sich im Handeln der Initiative eine bestimmte Haltung der Einheimischen gegenüber eingewanderten Fremden bemerkbar macht, die als Ausdruck eines Fremdheitsverhältnisses analysiert werden kann; was wird in
dieser Arbeit unter einem Fremdheitsverhältnis verstanden, und in welcher
Weise lässt sich der als Fremdheitsverhältnis charakterisierte Umgang mit
25
Eingewanderten in soziologische Vorstellungen moderner Gesellschaften
einfügen?
26
2. Annäherung an den Fremden
1. Die Republik und die Fremden
Einer Annäherung an das Thema des ‚Fremden’ steht eine breite Palette
unterschiedlicher Ansätze zur Verfügung. Kaum eine Sozial- oder Kulturwissenschaft, die nicht ihre Methoden und Theorien am Thema des ‚Fremden’ oder des ‚Anderen’ erprobt hätte. Die Ethnologie hat, hierin Rousseau
folgend, die Erforschung des Fremden zum Prinzip und zur Bedingung erhoben, um Aussagen sowohl über das allgemein Menschliche als auch über
das je Eigene zu treffen8. Auf dem Umweg über die fremde, die andere und
ferne Kultur sucht sie zugleich prinzipiell relativistisch und universalistisch
den Menschen und die spezifischen Qualitäten des Eigenen.
Damit hat die Ethnologie nicht allein Erfahrung in der Begegnung mit dem
Anderen, Erkenntnisse über die Kultur fremder Gesellschaften gewonnen,
sondern war maßgeblich auch am Entwurf des Fremden als wie immer geartetem Gegenbild zum Eigenen beteiligt. Eine Beteiligung, die nicht nur
für die Zeit des Kolonialismus die Situierung in und häufig die Legitimation von Herrschaftsverhältnissen einschließt. In diesem Sinne nimmt die
Ethnologie wie alle anderen Wissenschaften nicht nur an der Beschreibung,
sondern mit der Bereitstellung von Konzepten auch an der Gestaltung der
Wirklichkeit teil.
Die Rede von ‚dem Fremden’ läuft wie alle seine Synonyme schnell Gefahr, als eine essentielle oder ontologische Differenz verstanden zu werden.
Andererseits bedarf es nicht der Ethnologie zu der Feststellung, dass uns
unser gewohntes soziales oder kulturelles Umfeld vertrauter ist als manch
andere, eben fremde Umgangsweisen oder Orte, die uns verwirren, abstoßen oder ob ihrer Fremdheit auch anziehen mögen. Im Kontext dieser Arbeit geht es jedoch nicht um die Fremde, sondern um den ‚Fremden’ als
Teil der eigenen Gesellschaft. Deshalb sei hier explizit darauf verwiesen,
dass ich den ‚Fremden’ als eine sozialwissenschaftliche Sammelkategorie
begreife, mittels derer sich gesellschaftliche, im wesentlichen askriptive
8
Vgl. Lévi-Strauss 1975: 46f.; Koepping 1987: 26ff.; Honneth 1987
27
Distinktionen zusammenfassen lassen, die in der Regel ein existierendes
gesellschaftliches Machtverhältnis abstützen und legitimieren.
Diese Arbeit versucht sich den ethnologischen Hang zum Umweg zunutze
zu machen. Das Interesse ist jedoch weitaus begrenzter: es richtet sich auf
den Umgang mit Fremden in nur einer Gesellschaft, darüber hinaus nicht,
wie in der Ethnologie bevorzugt, einer fremden bzw. anderen Gesellschaft,
sondern der Umgang mit Fremden in der eigenen. Wir können davon ausgehen (und dies wird durch einige ethnologische Forschungen gestützt),
dass verschiedene allgemeine Umgangsweisen mit Fremden in allen Gesellschaften vorzufinden sind. Für westliche Gesellschaften scheinen darüber hinaus zwei geschichtliche Entwicklungen für das aktuelle Verhältnis
zum Fremden maßgeblich gewesen zu sein: Nationalismus und die Entstehung von Nationalstaaten einerseits, Modernisierung und Moderne andererseits. Beide Entwicklungen trugen nicht nur zu einem gesteigerten Interesse am Fremden bei, sondern führten auch zu spezifischen Fremdheitsverhältnissen innerhalb der Gesellschaft.
Im Folgenden soll die These entwickelt und präzisiert werden, dass Gesellschaften spezifische Umgangsweisen mit ‚ihren’ Fremden entwickeln, und
dass diese Umgangsweisen in enger Relation sowohl zu den Vorstellungen
stehen, welche sich die Mitglieder von ihrer Gesellschaft machen, als auch
zu den sozialen Strukturen, in denen die Fremdheitsverhältnisse eingebettet
sind. Dies geschieht entlang einer Diskussion der Rolle und Funktion des
Fremden im Nationalstaat sowie entlang der Frage, wie Fremdheitsverhältnisse mit Modernisierungstheorien in Einklang zu bringen sind. Insbesondere soll dabei die These gestützt und am Beispiel der Bundesrepublik exemplarisch ausgeführt werden, dass sich in Fremdheitsverhältnissen der
Moderne spezifische Formen der Integration und Diskriminierung ausdrücken.
Das Kapitel soll damit den theoretischen Rahmen für die Interpretation des
Handelns der Nachbarschaftsgruppe im größeren Zusammenhang gesellschaftlich geteilter Vorstellungen gegenüber dem Fremden liefern. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird unter Bezugnahme auf das Habitus-
28
Konzept Pierre Bourdieus und die Situationsanalyse nach Clyde Mitchell
der methodische Aufbau der Arbeit vorgestellt.
2. Fremde
‚Der Fremde’ ist eine Abstraktion, die in der Wissenschaft und im Feuilleton, nicht aber im alltäglichen gesellschaftlichen Diskurs vorkommt. Auf
der Straße sind es die ‚Türken’ oder ‚Jugos’, die ‚boeurs’ oder die ‚pakis’,
die aus der Sicht der je Einheimischen die Fremden bezeichnen. Auch
‚Ausländer’ oder wahlweise ‚unsere ausländischen Mitbürger’ sind Verallgemeinerungen, die der/die Einzelne mit konkreten Vorstellungen füllt.
Macht es da Sinn, von dem Fremden zu reden (vgl. Wong 1992: 405)?
Ein Fremder ist nach der Beschreibung Georg Simmels (1992: 764) einer,
„... der heute kommt und morgen bleibt“. Mehr Aphorismus als Definition
bietet dieser Satz doch einen grundsätzlichen Aspekt all der Diskussionen
um Fremdheit: das Moment der Veränderung. Wo Fremde auftauchen, da
kommt Bewegung ins Spiel, stößt Unvertrautes, Unbekanntes aufeinander.
Fremdheit reibt sich deshalb auch an der Gewohnheit, bringt die eingespielten Abläufe der Einwohner in Bewegung. Hans Magnus Enzensberger veranschaulicht dies plausibel am Beispiel eines Eisenbahnabteils:
„Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen
nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel.
Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien
Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die
Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht
sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu
räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten,
den neu Hinzugekommenen gegenüber, als Gruppe auf. Es
ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu
29
zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen“ (Enzensberger 1993: 11f.).
Fremdheit ist also zunächst bestimmbar als ein Verhältnis von Personen im
sozialen Raum: ein Zuziehender trifft auf einen oder mehrere schon Anwesende und wird von diesen als Fremder wahrgenommen. Ganz ähnlich formuliert es Georg Simmel, und nicht zufällig ist der Exkurs über den Fremden bei Simmel dem Kapitel über den „Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ (1992: 12) zugeordnet9. Den Einheimischen, der dem
Fremden gegenübersteht, zeichnet vor allem aus, dass er schon da ist, dass
er das Territorium, Haus oder Eisenbahnabteil zumindest vorher betreten,
wenn nicht bewohnt hat, und als sein Eigen betrachtet.
Fremde in der Gesellschaft
Auch für Zygmunt Bauman ist der Fremde jemand, der später kommt. Den
Fremden kennzeichnet
„... die unvergessbare und daher unverzeihbare grundlegende Sünde des späten Eintritts: die Tatsache, dass er die Lebenswelt in einem bestimmten Zeitabschnitt betreten hat. Er
gehörte nicht ‚ursprünglich’, ‚von Anfang an’, seit ‚undenkbaren Zeiten’ dazu. Die Erinnerung an das Ereignis seines
Kommens macht seine Gegenwart zu einem geschichtlichen
Ereignis, nicht zu einem ‚natürlichen’ Faktum“ (Bauman
1992: 28).
Die Anwesenheit der Einheimischen ist ‚natürlich’ und selbstverständlich,
im Gegensatz zum Erscheinen des Fremden wird sie nicht hinterfragt und
9
Im Unterschied zu Enzensbergers Eisenbahnabteil, wo sich eine stabile Trennung zwischen Fremden und Einheimischen verflüssigt (wie in der Tat in modernen Gesellschaften der Passant zunehmend die Regel zu sein scheint), ist diese Unterscheidung bei
Simmel noch deutlich: „Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wanderer, der heute kommt und morgen geht, sondern als der,
der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz
überwunden hat“ (Simmel 1992: 764).
30
unterliegt nicht dem Zwang zur Legitimation. Einheimische brauchten keinen Pass, Ausweispapiere wurden zunächst für Fremde eingeführt (vgl.
Noiriel 1994: 140ff).
Bauman unterscheidet jedoch diejenigen, die später kommen. Aus der Sicht
eines Einheimischen sind die grundlegenden Kategorien, nach denen ein
Anderer beurteilt wird, ob er als Freund oder als Feind kommt. Nach Bauman bestimmt zunächst dieser Gegensatz darüber, welches Verhalten man
gegenüber einer anderen Person zeigt. Der Fremde lässt sich jedoch nicht
in diese Kategorien einordnen. Der Fremde ist bedrohlich, weil er sich
nicht als Freund oder Feind zu erkennen gibt. Fremde müssen deshalb – in
der diskursiven wie in der politischen Praxis – in einen bestimmten Bezug
zur Gesellschaft gesetzt werden, sie müssen eine möglichst eindeutige Rolle zugewiesen bekommen, damit ihnen diese Bedrohlichkeit genommen
wird. Fremdheitsverhältnisse etablieren sich immer in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten, entlang von tradierten Selbst- und Fremdbildern
vor allem der aufnehmenden Gesellschaft.
Zygmunt Bauman hat die Bedrohlichkeit des Fremden daraus abgeleitet,
dass der ‚Fremde’ eine Kategorie ist, die sich der Einordnung entzieht.
Freund und Feind sind klare, eindeutige Klassifikationen, die ihre Eindeutigkeit daraus beziehen, dass sie einander gegenüberstehen und sich gegenseitig ausschließen. Unser Denken ist in solche Gegensatzpaare wie
heiß/kalt, roh/gekocht, gut/böse geordnet, und dies ermöglicht uns das
Handeln. Nun gibt es daneben Kategorien, die sich nicht in diese Schemata
fügen lassen; „Unentscheidbare“, wie Bauman sie mit Derrida bezeichnet.
Unentscheidbare sind Begriffe, die sich nicht nur in kein klares EntwederOder-Schema einfügen lassen, sondern diese Dichotomie in Frage stellen
und unterminieren. Zu diesen Begriffen gehört der Fremde. Weder eindeutig Freund noch klarer Feind, greift die Kategorie „Fremder“ die Unterscheidbarkeit selbst an:
„Er kommt ungebeten und erwischt einen darum auf der anderen Seite der Initiative, macht einen zum Objekt der
Handlung, deren Subjekt er ist – lauter deutliche Merkmale
31
des Feindes. Aber anders als ‚gradlinige‘ Feinde wird er
nicht auf Abstand gehalten, nicht auf die andere Seite der
Schlachtlinie gestellt. Noch schlimmer, er beansprucht das
Recht, Objekt von Verantwortung zu sein – das bekannte
Attribut des Freundes“ (Bauman 1992: 29).
Damit ist der Fremde nicht nur ein Drittes, sondern er greift die bekannte
und Sicherheit verheißende Dichotomie von Freund und Feind an: wenn es
jemand gibt, der sich zugleich wie ein Freund und wie ein Feind verhält,
dann wird die Brauchbarkeit der Unterscheidung durchlöchert. Da der
Fremde sich dem bekannten Freund-Feind-Schema verweigert, lähmt er
spontane Handlung und erzeugt Verhaltensunsicherheit. Er zwingt zu einem hermeneutischen Vorgehen, zu einem Vortasten, das Missverständnisse unvermeidlich macht. Deshalb ist es das Bestreben jeder Gesellschaft,
„ihre Fremden“ zu definieren, zu organisieren, zu integrieren oder sie territorial auf Distanz zu halten. Territorialisierung ist eine der wirksamen
Möglichkeiten, dem Fremden in der Gesellschaft einen Ort zuzuweisen.
Moderne Gesellschaften weisen viele Formen der Territorialisierung von
Fremden auf. Die Varianten solcher Enklaven reichen vom Touristendorf
bis zum Ghetto. In der Bundesrepublik knüpft die zwangsweise Unterbringung von Flüchtlingen in Sammellagern an eine lange Tradition des territorialen Ausschlusses an.
Die weniger auffällige, aber gebräuchlichste Weise der Integration ist die
Funktionalisierung: Die Anwesenheit der „Fremden“ wird durch einen engen funktionalen Bezug zur Gesellschaft begründet und gerechtfertigt.
Vom Sklaven bis zur Schweizer Garde des Vatikanstaats finden sich in der
Geschichte alle erdenklichen Formen einer funktionalen Reduktion des
Fremden. Der Terminus „Gastarbeiter“, mit dem die Zuwanderer aus Südeuropa häufig heute noch bezeichnet werden, ist als eine solche Form der
Funktionalisierung anzusehen. Die Bedeutung, die diese begriffliche Funktionalisierung des Fremden hat, ist gerade an der Haltbarkeit der Parole ersichtlich. Gegenüber Gastarbeitern kann man sich verhalten, man kann ihnen bedeuten, dass sie sich wie Gäste zu benehmen haben, man kann in ih32
nen eine vorübergehende Erscheinung sehen, man kann sie auf die Rolle
reduzieren, die sie für die heimische Ökonomie spielen etc10. All diese Zuweisungen binden die „Fremden“ an einen spezifischen Ort in der Gesellschaft, legitimieren bestimmte Formen der Exklusion und Diskriminierung.
Territoriale und funktionale Separation zielen dabei auf die Eingrenzung
des bzw. der Fremden auf einen bestimmten Bereich, sie, mit Bauman zu
sprechen, „... beschützen und bestärken tatsächlich die Unvertrautheit der
Unbekannten ebenso wie deren alltägliche Irrelevanz“ (Bauman 1992: 28),
indem sie den Umgang mit den Fremden auf bestimmte, vom Alltag abgesonderte Zonen oder Funktionen einschränken.
Ebenso gibt es in den meisten Gesellschaften mehrere Begriffe, die auf unterschiedliche „Fremde“ verweisen. Fritz Kramer kommt in Anlehnung an
die griechischen Bezeichnungen xenos und barbaros zu dem Schluss, dass
auch die meisten afrikanischen Gesellschaften ihre „Fremden“ nach zwei
grundlegenden Kategorien trennten:
„Bei allen Verschiebungen im einzelnen (...) steht dem
Fremden als jemandem, mit dem man, mit Georg Simmel zu
sprechen, keine besonderen, sondern nur sehr allgemeine
Eigenschaften der Kultur, der Sprache oder des
Menschseins teilt, eine andere Art von Fremdheit gegenüber, bei der ‚dem Anderen gerade die generellen Eigenschaften, die man als eigentlich und bloß menschlich empfindet, abgesprochen werden’“ (Kramer 1987: 18).
10
Eindrucksvoll belegt wird die Wirkung des Begriffs Gastarbeiter als funktionale Eingrenzung durch von Hoffmann und Even gesammelte Leserzuschriften (1984: 40ff.).
Hier wird die Anwesenheit von Arbeitsmigranten als rein funktionale und ‚geschäftsmäßige’ Angelegenheit betrachtet, die keine darüber hinausgehenden Ansprüche zulässt: „Kein Deutscher ist bislang auf die Idee gekommen, am Gewinn eines Fahrradhändlers oder des Elektrizitätswerks beteiligt zu werden, wenn er ein Fahrrad gekauft
oder Strom bezogen hat. Mit dem Leistungsaustausch sind die gegenseitigen Ansprüche
erledigt. So ist es auch bei einem Gastarbeiter. Sie sind freiwillig – und nur zu gern –
gekommen. Sie haben ihre Arbeitskraft verkauft und sind dafür entlohnt worden. Damit
ist die Sache erledigt“ (Die Welt, 30.4.1981, zit. n. Hoffmann und Even 1984: 42).
33
Die jeweilige Einordnung der Fremden entscheidet mit darüber, ob und auf
welche Weise sie in eine Gesellschaft integriert werden können. Die kulturelle Nähe oder Ferne respektive die Ähnlichkeit bestimmt also häufig den
Charakter eines Fremdheitsverhältnisses, erlaubt Eheschließung, Handel
oder Versklavung. Relevant ist darüber hinaus jedoch auch die Frage, in
welchem Verhältnis man zur Herkunftsgesellschaft der Fremden steht.
Wenn Fremde unter dem Schutz einer starken Herkunftsgesellschaft stehen,
dann hat dies deutliche Auswirkungen auf den Status, der ihnen im Aufnahmeland zugestanden wird. Kramer stellt in Anlehnung an Fortes und
Evans-Pritchard insbesondere einen Zusammenhang zwischen der politischen Formation der jeweiligen Gesellschaft und dem praktizierten Verhältnis zu Fremden fest:
„In akephalen, egalitären Gesellschaften herrscht Gleichheit
der Personen und Segmente, die keine Ungleichheit der Sitten und Bräuche zulässt. Wo sich dagegen Gruppen unterschiedlicher Kultur vergesellschaften, bedarf es in der Regel
einer politischen und ökonomischen Macht, einer militärischen und administrativen Organisation, die Gewalttätigkeiten verhindert, ohne die Untertanen zu wechselseitiger Assimilation zu zwingen. Minderheiten genießen den Schutz
des Staates, und der Staat vermag sich möglichen Attentaten
auf seine Autorität umso besser zu widersetzen, als die Untertanen durch keine gemeinsame Kultur zu gemeinsamem
Handeln gegen die herrschende Schicht befähigt werden“
(Kramer 1987: 25).
Dies führt Kramer zu der Schlussfolgerung, dass ‚egalitäre’ Gesellschaften
zu einer starken Homogenisierung ihrer Mitglieder tendieren, während
zentralisierte und geschichtete Gesellschaften sich offener gegenüber einer
kulturellen Heterogenität verhalten, ja diese sogar fördern können.
34
Fremd in der Moderne
Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen politischer Struktur einer Gesellschaft und ihrem Umgang mit Fremden stellt Bauman hinsichtlich des
Nationalstaats westlicher Prägung fest. Wenn auch sein Diktum, dass der
Nationalstaat in deutlichem Unterschied zu allen anderen Gesellschaftsformen den Umgang mit den Fremden zum Problem erhebt – „Die vorrangige Aufgabe des Nationalstaats besteht darin, das Problem des Fremden,
nicht das der Feinde, anzugehen“ (Bauman 1992: 33, kursiv im Original) –
vielleicht im Hinblick auf den vorhergehenden Abschnitt relativiert werden
muss, so verbinden sich doch gerade mit der Gründung von Nationalstaaten
Prozesse, welche die Problematik der Zugehörigkeit und Integration akzentuieren.
Neben territoriale und funktionale Integration des Fremden stellt Bauman
die Assimilation als erst mit dem Nationalstaat bedeutsamste Form des
Umgangs mit Einwanderern. Bevor die Assimilation jedoch auf Eingewanderte ausgerichtet wird, ist sie Bedingung für die Integration der Einheimischen in das territorial definierte Gebilde des Nationalstaats. Die nationalstaatliche Mobilisierung von „Solidarität mit einer ‚imaginierten Gemeinschaft’ (...) und die Universalisierung von kognitiven sowie praktischen
Verhaltensmustern, die für Freundschaft innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft gelten,“ (Bauman 1991: 34) erforderte im Gegenzug die Entmachtung konkurrierender lokaler und kommunaler Selbstverwaltungen,
was die Schwächung traditioneller Lebensformen und Verhaltensmuster
zur Folge hatte. An die Stelle eingespielter und als natürlich wahrgenommener Verhaltensweisen trat die künstliche Ordnung des Nationalstaats:
„Der moderne Staat verbreitete einige Muster und eliminierte alle anderen. Alles in allem erzeugte er Ähnlichkeit und
Uniformität. Das Prinzip gleichen Rechts für alle, die in
demselben Gebiet leben, die Identität des Bürgerstatus, besagte, dass Mitglieder der Gesellschaft, als Gegenstand
staatlicher Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, ununterscheidbar voneinander waren oder zumindest so behandelt
35
wurden. In diesem Prozess wurden mögliche gruppenspezifische Merkmale delegitimiert“ (Bauman 1991: 38).
Nationalstaatliche Assimilation gelingt daher nur, wenn heterogenen Lebensweisen die Legitimation entzogen wird: „... es war der Versuch eines
Teils der Gesellschaft, einen monopolistischen Anspruch auf das Recht zu
erheben, bestimmte andere Teile und deren Qualitäten als fremd, überholt
und nicht dazugehörig und daher radikal reformbedürftig zu definieren“
(Bauman 1991: 38). Das Projekt nationalstaatlicher Assimilation setzt also
einen Prozess der Hierarchisierung von Lebensformen und Solidaritäten in
Gang, in dem alles Fremde das Stigma der Abweichung und Rückständigkeit bekommt. Mit der Durchsetzung nationalstaatlicher Ordnung war es
nun
„... Sache der einzelnen Mitglieder, sich durch Übernahme
der Bedingungen, die von den Wächtern der herrschenden
Gruppe bestimmt wurden, des kollektiven Stigmas der
Fremdheit zu entledigen“ (Bauman 1991: 39).
Dies gilt für die Einheimischen11, aber in erhöhtem Maße für Zugewanderte, die als Neuankömmlinge verstärkt dem Verdacht der Fremdheit, der defizitären Anpassung, unterliegen. Gegenüber Zuwanderern können die Einheimischen nun für sich das Privileg in Anspruch nehmen, früher da gewesen zu sein, den Beweis ihrer Loyalität damit schon gegeben zu haben,
mithin Teil der herrschenden Ordnung zu sein. Dies ist ein Privileg, das
sich Zuwanderer erst verdienen müssen. Assimilation, um sich des Stigmas
des Fremden und Abweichlers zu entledigen, bedeutet damit zugleich Anpassung und Unterordnung unter die nationalstaatliche Herrschaft.
Funktionale Differenzierung und Separation
Der Begriff des Fremdheitsverhältnisses, wie Bauman ihn aus dem Aufbau
des Nationalstaats ableitet, hat einige problematische Bereiche. Einer davon ist seine doppelte Verwendung als kollektives Distinktionsmerkmal
11
Seine These der Assimilation legt Bauman ausführlich am Beispiel der Juden in
Deutschland dar (vgl. Bauman 1995: 133-198).
36
(eine bestimmte Gruppe definiert nach Bedarf ihre Fremden) und als Strukturmerkmal (Prozesse der Assimilation, der Funktionalisierung und territorialen Separierung). Als Distinktionsmerkmal kann der Begriff des Fremden (in fast beliebiger, wenn auch nicht zufälliger Weise12) auf andere Personen oder Gruppen angewendet werden, als Strukturmerkmal kann er jedoch auch den modernen Verkehr von Individuen oder Gruppen bezeichnen. So ist beispielsweise von Radtke die funktionale Ausdifferenzierung
individueller Beziehungen in der Öffentlichkeit mit einiger Berechtigung
als ein Fremdheitsverhältnis bezeichnet worden:
„Funktional differenzierte Gesellschaften haben sich in
Sphären aufgeteilt, in denen je unterschiedliche Prinzipien
herrschen (...), die auch den Umgang mit den Fremden
betreffen. Die Spaltung von Innen und Außen kehrt in der
modernen Gesellschaft als die Unterscheidung von ‚Öffentlich’ und ‚Privat’ wieder. Die Bedingung für das Funktionieren der öffentlichen Sphäre ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚neutralen Fremden’, der Passant ist wie man
selber. (...) In der öffentlichen Sphäre der Straße und des
Marktplatzes macht man Geschäfte, nimmt Dienstleistungen
in Anspruch und genügt den Anforderungen der Verwaltung; hier begegnen einem die Anderen in spezifischen
Funktionsrollen, die es möglich machen, von dem sonst an
ihren Trägern wahrnehmbaren Eigenschaften abzusehen.
(...) Die Berechtigung der Erwartung, dass sich der Kellner
wie ein Kellner und der Arzt wie ein Arzt verhält, ist so
groß, dass die Tatsache, dass er Merkmale eines anderen
Geschlechts, einer anderen Religion oder Region oder einer
12
Die mit Frederic Barth (1969) verbundene These in der Ethnizitätsdiskussion ist, dass
nicht die Kultur, die konkreten Merkmale, anhand derer Fremde von den Eigenen unterschieden werden, für ethnische Differenzierungsprozesse entscheidend sind, sondern
dass es auf die Grenzen und den Prozess der Grenzziehungen zwischen verschiedenen
Gruppen ankomme. Welche kulturellen Merkmale dazu verwendet werden, ist demgegenüber zweitrangig (vgl. auch Eriksen 1993: 36ff; Vermeulen und Govers 1994).
37
anderen ethnischen Gruppe hat, im Regelfall übersehen
werden kann. Die Gefahr einer möglicherweise nicht funktionierenden Reziprozität, die der Anlass für Unsicherheit
und Bedrohung sein könnte, besteht nach aller Erfahrung
nicht, weil die Ausfüllung von Funktionsrollen von diesen
Merkmalen gerade nicht abhängt“ (Radtke 1991: 91f).
Während in der Privatsphäre die Interaktion in der Regel mit der ganzen
Person stattfindet, ist also der Umgang einander fremder Personen in der
Öffentlichkeit von der Ausübung der jeweiligen Funktionsrollen bestimmt.
Differenzkriterien wie zum Beispiel ethnische Zugehörigkeit, so Radtke,
haben im öffentlichen Umgang keine Funktion. Die Funktionalisierung der
öffentlichen Sphäre der Gesellschaft führt mithin dazu, dass sich in der Öffentlichkeit alle Personen wie Fremde zueinander verhalten. Wo Funktionalität der bestimmende Modus des gesellschaftlichen Umgangs ist, da verliert sie als Ein- und Ausgrenzungsmechanismus für bestimmte Gruppen an
Gewicht. Hier ist ganz offensichtlich ein Widerspruch zu Bauman festzustellen: während Bauman die Bildung von Nationalstaaten essentiell mit
der Unterscheidung in Eigene und Fremde verknüpft sieht, bestimmt Radtke unter Betonung des Modernisierungsprozesses die zunehmende Irrelevanz von unter anderem ethnischen Differenzkriterien. Je nach Gewichtung
des historisch zeitgleich verlaufenden Prozesses von Nationalstaatsgründung und funktionaler Differenzierung der Gesellschaft der Moderne stehen wir vor gegensätzlichen Schlussfolgerungen.
Die Modernisierungstheoretiker, die den Prozess der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche in den Vordergrund stellen, haben dabei jedoch offenkundig das Problem, die gesellschaftlich noch immer relevante Rolle ethnischer Zuschreibungen zu erklären. So deutet zum
Beispiel Esser ethnische Differenzierungen als Modernisierungslücken, die
auf eine unvollständige Modernisierung verweisen und im Zuge weiterer
funktionaler Differenzierung also an Relevanz verlieren werden.
„Bis in die jüngsten Versionen [von Modernisierungstheorien, St.D.] hinein bedeutet Modernisierung immer funktio38
nale Differenzierung. Funktionale Differenzierung bedeutet
dann ferner die Überwindung, das Verschwinden, die Irrelevanz ständischer und damit auch ethnischer Vergemeinschaftungen (Esser 1990: 288; Hervorhebung im Original).
Ethnische Differenzierung und funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Beziehungen fasst Esser nicht als Gegensätze, komplementäre
oder gar funktional miteinander zusammenhängende Prozesse, sondern im
fortschreitenden Prozess der Modernisierung verliert ethnische Differenzierung jede Bedeutung. Daran knüpft Radtke an, indem er sich für eine
gleich-gültige Haltung statt für eine positiv bewertete multikulturelle (ethnische) Differenzierung innerhalb der Gesellschaft ausspricht. Der Multikulturalismus führt nach Radtke
„... in die öffentliche und soziale Sphäre der modernen funktional differenzierten Gesellschaft ein Moment von Unspezifität wieder ein, das dort seine objektive Bedeutung bereits
verloren hat. An dieser Feststellung ändert auch die unbestrittene Beobachtung nichts, dass Individuen und soziale
Institutionen so deuten. Sie hinken mit ihren Deutungen hinter der realen Entwicklung her“ (Radtke 1991: 93).
Auch Radtke sieht also in ethnischen Differenzierungen ein überholtes Requisit ohne funktionalen Bezug. Statt, wie es der Multikulturalismus will,
Ethnizität und kulturelle Differenz als wirkungsvolle Identifikationsmöglichkeit positiv anzuerkennen, zugleich aber für die Gleichberechtigung der
ethnisch unterschiedenen Gruppen zu plädieren, setzt Radtke auf die funktionale Irrelevanz ethnischer Zugehörigkeiten und plädiert dafür, ethnische
Differenzen so weit als möglich aus der Sphäre des öffentlichen Lebens
herauszuhalten. Radtke erkennt zwar an, dass das Kriterium der ethnischen
Zugehörigkeit im gesellschaftlichen Leben eine Rolle spielt, hält aber dazu
an, sie durch Gleichgültigkeit, allerdings ergänzt durch eine auch rechtliche
Gleich-Gültigkeit, zu ersetzen (Radtke 1991: 94).
Entgegen Essers Meinung, dass zunehmende Modernisierung der Gesellschaft die Relevanz ethnischer Unterscheidungen abnehmen lässt, stellt
39
Armin Nassehi fest, dass Modernisierungstheoretiker wie Luhmann zwar
eine funktionale Differenzierung als primäre, jedoch beileibe nicht ausschließliche Form der Differenzierung in einer modernen Gesellschaft dargestellt haben (Nassehi 1990: 263f). Die Differenzierung der Gesellschaft
in funktionale Teilbereiche kann insbesondere keine gesamtgesellschaftliche Inklusion leisten, sondern nur den Zugang zu den einzelnen Teilbereichen eröffnen. Die allgemeine Inklusion wird auf der Basis universell gesetzter Werte wie Freiheit und Gleichheit formuliert, faktisch jedoch als
nationale Inklusion durchgesetzt:
„Gemeinsam ist allen europäischen Staaten jedoch, dass das
ethnische bzw. nationale Selbstbewusstsein den entscheidenden Motor für kollektive Identität darstellt, unabhängig
davon, ob sich diese kollektive Identität nun in einem politisch verfassten Staat niederschlägt oder nicht. Betrachtet
man die Funktion solcher Ideen, so wird man feststellen,
dass Nationalbewusstsein und Ethnizität als wesentliche Kategorien kollektiver Identifikation eine genuin moderne Erscheinung sind, mithin also mit funktionaler Differenzierung
ursächlich verknüpft sind“ (Nassehi 1990: 264).
Die Frage, in welchem Verhältnis nun ethnische zur funktionalen Differenzierung anzusiedeln ist, beantwortet Nassehi mit einem Rückgriff auf die
Entstehung europäischer Nationalstaaten: dass die Modernisierung der Gesellschaft im Sinne einer Ausdifferenzierung funktionaler gesellschaftlicher
Teilsysteme mit der Bildung von Nationalstaaten einherging und der Gemeinsamkeit stiftenden Idee der Nation bedurfte, um insbesondere die
Leerstelle zu schließen, die in früheren, stratifizierten Gesellschaften die
Religion als übergreifendes und Konsens stiftendes Wertesystem eingenommen hatte. Nicht nur die Moral tritt an die Stelle der Religion als alle
Teilbereiche einschließende und durchdringende Kommunikation, sondern
auch
„... ethnische und nationale Semantiken lassen sich exakt
auf dieser Ebene des Wertkonsenses wiederfinden. Ihre spe40
zifische Funktion ist es, dem Einzelnen eine Inklusion in gesellschaftliche Kommunikation zu ermöglichen, weil er seine Identität kaum noch durch einfache Zugehörigkeit zu sozialen Aggregaten bestimmen kann“ (Nassehi 1990: 265).
Folgen wir soweit Nassehi, dann ist nationale bzw. ethnische Inklusion
(und Exklusion) also nicht als historischer Vorläufer, sondern im Gleichklang mit funktionaler Differenzierung im Modernisierungsprozess zu verstehen. Das lässt den Schluss zu, dass bei gleichzeitigem Schwinden der
Inklusionsfähigkeit funktional differenzierter Gesellschaften deshalb besonders in Zeiten ökonomischer Krisen die Gefahr besteht, das ethnische
Inklusion durch Exklusion von Minderheiten stattfindet (Nassehi 1990:
274). Zugleich stellt Nassehi jedoch auch einen Funktionswandel von
Ethnizität in modernen Gesellschaften fest, den er an der veränderten Bildung individueller Identität illustriert. Im Übergang von einer stabilen kollektiven Identität der frühen Moderne zur heutigen, zunehmend selbstreferentiellen individuellen Identität verlieren ethnische Identitätsmerkmale
ihre Priorität:
„War damals die Zugehörigkeit zur Nation und Ethnie exklusive, obligatorische Bedingung für die Ausbildung einer
stabilen Identität und überhöhte sie die individualisierende
Multiinklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme zu einer kollektiven Identität, so sind demgegenüber in der späten Moderne Ethnizität und Nationalität nicht nur keine obligaten Identitätsmerkmale mehr, sondern nur noch zwei unter vielen“ (Nassehi 1990: 274).
Ethnizität ist also mit anderen Worten nicht mehr ein notwendiges, sondern
kontingentes Mittel zur gesellschaftlichen Inklusion (und Exklusion). Tendenziell lässt sich feststellen, dass die nationale Inklusion durch zunehmende gesellschaftliche Differenzierung abnimmt. Gegenüber der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche tritt die ethnische oder nationale Zugehörigkeit zurück.
41
Im Kontext von Ethnizität und Modernisierung wird die eingangs als spezifische Umgangsweise mit dem Fremden eingeführte Funktionalisierung
nun als ein doppelter Prozess erkennbar: Wir können Funktionalisierung
zugleich als eine Integration von Fremden in funktional differenzierte Teilsysteme der Gesellschaft, und als eine zunehmende Entfremdung der Einheimischen betrachten, die dadurch gekennzeichnet ist, dass weder Gesellschaft noch gesellschaftliche Teilsysteme als solche prinzipiell exklusiv
sind. Wir können also von einer gleichzeitigen Integration der Fremden und
einer Entfremdung der Integrierten sprechen. Zugleich ist diese Entwicklung dadurch gekennzeichnet, dass eine Exklusion von Fremden durch Beschränkung auf begrenzte Segmente der gesellschaftlichen Teilsysteme
(wie z.B. den Arbeitsmarkt) immer schwieriger durchzusetzen ist.
Die nachlassende Bedeutung ethnischer oder nationaler Unterschiede
schließt jedoch nicht aus, dass die latent vorhandenen Zugehörigkeiten insbesondere in Phasen gesellschaftlicher Krisen mobilisiert werden können
(Nassehi 1990: 275f.). Bezieht man wie Nassehi die Frage von nationaler
bzw. ethnischer Identität auf die Wahrscheinlichkeit ethnischer sozialer
Bewegungen in modernen Gesellschaften, dann ist diese Einschätzung
durchaus berechtigt. Allerdings gerät in dieser Perspektive der Alltag und
damit die Frage aus dem Blick, welche Rolle und möglicherweise Funktion
ethnisch-nationale Inklusion und Exklusion im Prozess der Modernisierung
übernehmen. Auch in weniger kritischen Zeiten, so ist besonders im Hinblick auf Migration festzustellen, spielen nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit durchaus eine Rolle als Kriterium für Exklusion oder Inklusion, Integration oder Diskriminierung.
Grenzziehungen
Die westliche civil society im Blick, bestimmt Werner Schiffauer die Auswirkungen dieses Prozesses für die Einheimischen als eine Zumutung
(1993: 185-199). Für vier westliche Einwanderungsländer – Großbritannien, Frankreich, USA und Deutschland – stellt Schiffauer fest, dass die
civil society auf den allgemeinen Prinzipien des freien Tausches sowie des
gleichberechtigten Zugangs zu Märkten, Foren und Bühnen beruhen:
42
„Der Markt steht für den freien und rationalen Tausch von
Waren; das Forum für all die Institutionen der politischen
Öffentlichkeit, in denen sich im freien Austausch von Überzeugungen die volonté générale bildet und man sich auf ein
bien commun verständigt; die Bühne schließlich soll (pars
pro toto) für die Orte kultureller Öffentlichkeit stehen, an
denen sich eine Kultur des symbolischen Tauschs entfaltet –
und sich darüber (oft auf einer wenig expliziten Ebene)
Klassifikationen durchsetzen und Werte herauskristallisieren“ (Schiffauer 1993: 185; Hervorhebung im Original).
Damit hat sich, so Schiffauer, eine spezifische Form der Vergesellschaftung behauptet. Nicht persönliche Loyalitätsbeziehungen oder Zugehörigkeiten bestimmten über die Chancen des Einzelnen, sondern in Europa hat
sich
„... das Ideal durchgesetzt, dass das Allgemeine wichtiger ist
als das Besondere, dass das Allgemeininteresse das Partikularinteresse überwiegt. In einem Konfliktfall hat das Allgemeine (formal die Regel, substanziell das bien commun) den
Vorrang vor dem einzelnen“ (Schiffauer 1993: 186).
Diese Priorität des Allgemeinen und der Regel betont die Gleichheit von
Chancen, hält aber für die Individuen eine Zumutung bereit: sie müssen im
Einzelfall erleben, dass bestehende Loyalitätsbeziehungen entwertet werden und sie mit gänzlich „Fremden“ um Positionen und Ressourcen konkurrieren. Obwohl von ihrem Anspruch her auf Universalität (oder Globalisierung) ausgelegt, wird der Geltungsbereich des Primats des Allgemeinen
nach außen hin begrenzt, um diese „Zumutung der Moderne“ (Schiffauer
1993: 186) nicht zu stark werden zu lassen. Die Tendenz zur Öffnung wird
dadurch von immer neuen Grenzziehungen begleitet; die interne Offenheit
wird von Zugangsbarrieren nach außen umstellt.
„Von ihrer Konstruktion her ist die civil society die Gesellschaftsform, die (aufgrund ihrer Betonung des Allgemeinen)
43
den Fremden zum gesellschaftlichen Spiel prinzipiell zulässt; von der damit verbundenen Zumutung her ist sie aber
auch eine Gesellschaftsform, die den Fremden immer wieder ausschließt. Der Fremde wird integriert und diskriminiert“ (Schiffauer 1993: 187).
Schiffauer stellt also durchaus einen Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Öffnung moderner Gesellschaften und gleichzeitiger Grenzziehungen gegenüber Fremden fest. Stephen Vertovec präzisiert mit Blick auf
den Nationalstaat diesen Zusammenhang. Er konstatiert eine schwindende
Relevanz des Nationalen und des Nationalstaats. Durch die zunehmende
funktionale Differenzierung gerät der Nationalstaat zugleich von oben und
von unten unter Druck. Von oben, wo zahlreiche internationale Zusammenschlüsse und Vereinbarungen, eine zunehmend transnational agierende Ökonomie und Kultur den Nationalstaat als Handlungs- und Steuerungseinheit an Bedeutung verlieren lassen; von unten, wo die zunehmende Heterogenität von Interessensgruppen die nationalstaatlichen sozialen Bindungskräfte schwächt (Vertovec 1997: 9f). Solcherart in die Defensive geraten,
wird die insgesamt schwindende gesellschaftliche Integration den Einwanderern zur Last gelegt13.
„Currently immigration is being read by many as a threat –
some right-wing and nationalist leaders will say, the threat –
to the cohesion of the nation-state” (Vertovec 1997: 11).
Vertovec nennt einige unterschiedliche Argumentationsstränge, die an bestehende Vorstellungen der eigenen Gesellschaft anknüpfen und mittels
derer die besondere Bedrohung der sozialen Bindungskräfte durch Migranten begründet wird:
13
Diese Argumentationsweise war Anfang der 90er Jahre in der Bundesrepublik deutlich zu studieren, als die Zuwanderer selbst für die grassierenden Übergriffe gegen Zuwanderer verantwortlich gemacht wurden. Sie ist jedoch nicht auf diesen Zeitraum beschränkt. Insbesondere kommt sie in den regelmäßig ausgegebenen Parolen zum Ausdruck‚ die ‚Belastungsfähigkeit’ oder ‚Integrationsfähigkeit’ der Gesellschaft sei erreicht bzw. überschritten. Vgl. hierzu Kap. 3.4.
44
•
Unter Rückgriff auf soziologische Konzepte wird gesellschaftliche Integration an Vorstellungen von Gemeinschaft und mechanischer Solidarität gebunden, an gemeinsame Werte, Traditionen und Praktiken. Die kulturelle und
sprachliche Pluralisierung der Gesellschaft durch Einwanderung wird als Bedrohung einer Illusion von gesellschaftlicher Homogenität betrachtet;
•
die kulturelle Verschiedenheit von Einwanderern
wird ihnen als Unfähigkeit ausgelegt, Normen und Werten
der Gesellschaft hinreichend zu entsprechen;
•
Migranten werden als nicht legitime Konkurrenz um
knappe Arbeitsplätze und reduzierte Sozialleistungen gesehen;
•
die gesellschaftliche Differenzierung und die damit
einhergehende Steigerung individueller Risiken der Lebensplanung werden nicht als Folge der Modernisierung, sondern als Konsequenz von Einwanderung angesehen;
•
Einwanderung wird als einer der unausweichlichen
Prozesse der Globalisierung und damit als Teil einer Bedrohung des National- bzw. Wohlfahrtsstaats von oben dargestellt (Vertovec 1997: 11).
Die zunehmende existenzielle Unsicherheit und die schwindenden sozialen
Bindungen, die mit Modernisierungsprozessen einhergehen, sowie der Bedeutungsverlust des Nationalstaats können also gerade dazu führen, dass
eine verstärkte Fokussierung auf Zuwanderer stattfindet, die sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch an den Außengrenzen des Staates zu erhöhter
Ausgrenzung führt. In Vertovecs Zusammenstellung verschiedener Argumentationslinien, die Einwanderung und Einwanderer als Bedrohung gesellschaftlicher Homogenität, Prosperität und Sicherheit darstellen, wird
deutlich, dass nationalistische Züge nicht dominant sind. Explizit nationalistische Rhetorik ist zwar Bestandteil der öffentlichen Diskurse über Gesellschaft und Zuwanderung, bildet jedoch, besonders deutlich in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Staaten, nicht das Zentrum
der Diskurse. Für die Bundesrepublik stellen Bade und Bommes fest, dass
45
der nationale Diskurs durch die nationalsozialistische Herrschaft regelrecht
entwertet worden ist (Bade und Bommes 2000: 178). Stattdessen werden
andere Themen betont, die um den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Integrationsfähigkeit kreisen und je nach eingenommener Perspektive primär
kulturelle, ökonomische, politische und insbesondere wohlfahrtsstaatliche
Positionen in den Vordergrund rücken.
Soziale Integration stellt sich also als Versuch dar, die Eigendynamik divergierender Tendenzen gesellschaftlicher Teilbereiche zu integrieren. Als
Frage von Zugehörigkeit und Zugangsberechtigung ist Integration immer
zugleich auch Diskriminierung derjenigen, deren Zugangsberechtigung
aufgrund ihrer Zugehörigkeit in Zweifel gezogen wird. Am Beispiel der
Bundesrepublik soll nun weiter präzisiert werden, wie Integration und Diskriminierung entlang der Begriffe Nation und Kultur stattfinden.
3. Kultur-Nation Deutschland
Auch wenn sich der nationale Diskurs mit dem schwindenden Einfluss des
Nationalstaats selbst auf dem Rückzug befindet und Schmidtkes Einschätzung zuzustimmen ist, dass er als
„... das grundlegende Prinzip, auf dem europäische Nationalstaaten das Verhältnis von und die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremden regulieren, (...) in eine Phase
der reflexiven Selbstvergewisserung getreten [ist]“
(Schmidtke 2001: 139),
so spielt gerade im Bereich der Politik und des Ausländerrechts die nationale Zugehörigkeit weiterhin eine deutliche Rolle, die insbesondere an die
Staatsangehörigkeit gekoppelt ist14. Dieter Oberndörfer charakterisiert die
politische Haltung gegenüber Zuwanderung als zweigespalten zwischen
den Prinzipien einer Verfassungsdemokratie, welche eine breite Palette verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten gewährt, die nur zum Teil an den
14
Dies führte die Diskussion um die Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts in der
Bundesrepublik 1999 deutlich vor Augen.
46
Staatsbürgerstatus gebunden sind, und einem die Integration von Zuwanderern hemmenden ‚völkischen’ Staatsbegriff:
„’Völkisches’ Staatsverständnis, das die deutsche politische
Kultur zutiefst geprägt hat, schließt Ausländer von der Nation aus oder verlangt ihre vollständige Assimilation in die
‚nationale’ Kultur. Die ‚völkische’ Nation geht von der
Vorstellung einer ‚homogenen’, für alle verbindlich definierbaren und vor ‚Verunreinigungen’ durch fremde Elemente zu bewahrenden ‚Nationalkultur’ aus“ (Oberndörfer
2000: 217).
Ganz ähnlich charakterisiert Friedrich Heckmann das Selbstbild der Bundesrepublik als ethnisch homogen fundierten Nationalstaat, im Gegensatz
zu einem ethnisch-pluralen Nationalstaat oder einem demotischunitarischen Nationsbegriff (Heckmann 1991: 66ff). Da Staatsangehörigkeit als ethnisch-nationale Zugehörigkeit bestimmt wird, „Deutscher“ zu
sein also gleichgesetzt wird mit „Deutsch“-Sein nach dem Abstammungsprinzip, haben es eingewanderte Minderheiten schwer, über Einbürgerung
gleiche Rechte und Partizipationsmöglichkeiten zu erlangen15.
Praktisch ist von der Staatsbürgerschaft in erster Linie die politische Partizipation abhängig, auf die anderen gesellschaftlichen Teilbereiche hat die
Staatsangehörigkeit nur geringen Einfluss. Hier steht dem ethnischen oder,
wie Oberndörfer es bezeichnet, ‚völkischen’ Nationalismus der Verfassungsstaat entgegen, der umfassende religiöse und kulturelle Freiheiten garantiert und aus diesem Grund ethnisch-nationale Semantiken zunehmend
15
Dies scheint nach wie vor zu gelten. Seit 1999 ist zwar das Staatsangehörigkeitsrecht
in der Bundesrepublik reformiert worden und insbesondere in Deutschland geborene
Kinder von Eingewanderten haben Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Die
Novellierung zog jedoch keine breite Einbürgerungswelle nach sich. Von der Wirkungsmächtigkeit des über die Staatsangehörigkeit vermittelten nationalen Identitätsgefühls zeugt auch die weitgehende Ablehnung der Doppelten Staatsbürgerschaft. Gewichtige Argumente der Diskussion waren, dass Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit gegenüber den ‚nur’ Deutschen privilegiert seien, und dass der Wunsch nach
Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit mangelnde Loyalität zur bundesrepublikanischen Gesellschaft ausdrücke.
47
entkräftet. Besonders deutlich wurde dies an der deutschen Diskussion um
eine ‚Leitkultur’, die als Richtschnur für die Integration von eingewanderten Minderheiten dienen sollte. Die Schwierigkeiten der von den Konservativen in den letzten Jahren angestoßenen Debatte liegen auf der Hand: zum
einen fehlt es in der Bundesrepublik an einer inhaltlichen Füllung der Vorstellung eines „integrierten Deutschen“, zum anderen verhindern die im
Grundgesetz festgehaltenen Freiheiten eine im weiten Sinne kulturelle
Homogenisierung:
„Wer die Integration der Ausländer in die deutsche Kultur
fordert, müsste die Frage beantworten können: Was ist ein
integrierter Deutscher? Sind Süd- oder Norddeutsche, Katholiken, Protestanten, säkularisierte kirchlich-konfessionell
nicht gebundene Bürger, zum Islam oder Buddhismus übergetretene Deutsche, Akademiker oder Bauern, Mitglieder
der SPD oder der CSU jeweils das Modell für Integration
und den integrierten Deutschen? Die Frage nach dem gut integrierten Deutschen und nach den Kriterien für Integration
ist gerade im Hinblick auf unsere, sich in ihren kulturellen
Lebensformen und -stilen ständig weiter pluralisierende Gesellschaft kaum zu beantworten“ (Oberndörfer 2000: 217).
Die Unmöglichkeit einer nationalen und kulturellen gesellschaftlichen Homogenität verhindert jedoch keineswegs, von den Zuwanderern Anpassungsleistungen einzufordern. Selbst wenn die rhetorische Figur der Leitkultur nicht mit konkreten Inhalten ausgefüllt werden kann, so wird doch
eine Richtung vorgegeben, in welche Anpassungsprozesse verlaufen sollen,
wird unterschieden in mehr und weniger Integrierte. Neben ethnischnationaler Zugehörigkeit ist in der Bundesrepublik vor allem die Kultur das
Feld, auf dem durch permanente Grenzziehungen zwischen Integrierten
und Außenseitern Assimilationsdruck erzeugt wird.
48
Kultur und Pädagogik
Über das Verhältnis von Inklusion und Exklusion, Abgrenzung und Öffnung von Zugangschancen entscheidet nach der Auffassung Schiffauers die
je kulturspezifische Formierung des Verhältnisses von Individuellem zu
Allgemeinem. Im Vergleich französischer, britischer, US-amerikanischer
und deutscher Behandlung des Fremden charakterisiert Schiffauer das
deutsche Verhältnis zwischen Individuellem und Allgemeinen durch einen
besonderen Begriff von Freiheit:
„Während Freiheit in Frankreich mit Gleichheit und in
Großbritannien mit Unantastbarkeit assoziiert wird, wird
Freiheit in Deutschland auffallend oft in einem Atemzug mit
dem Begriff ‚Verantwortung’ genannt: In den freiheitlichen
Austausch, in dem sich die volonté generale herauskristallisiert, sollte nur derjenige eintreten, der zur Verantwortung
fähig ist“ (Schiffauer 1993: 195).
In Frankreich und in Großbritannien wird die gesellschaftliche Partizipation von der Beachtung und richtigen Handhabung von Regeln abhängig
gemacht. Verantwortlichkeit jedoch heißt mehr als bloße Regelbeachtung.
Der Bezug zum Allgemeinen und zum Allgemeinwohl wird nicht allein
durch Regeln abgesichert, sondern muss in besonderem Maße vom Individuum internalisiert werden. Das zu garantieren ist in Deutschland ganz
vorzüglich die Aufgabe der Bildung, der Pädagogik:
„Pädagogik vermittelt das Allgemeine und das Individuelle
im Individuum. Vor nicht zu langer Zeit kursierte das Wort,
dass der Mensch mit dem Abitur beginne. Die Haltung, die
darin zum Ausdruck kommt, ist, dass eigentlich nur der innerlich geformte Mensch eine ‚Person’ im vollen Sinne ist,
das heißt als Mitspieler in der Gesellschaft Rechte und
Pflichten übernehmen könne“ (Schiffauer 1993: 197).
Dies lässt sich laut Schiffauer (wenigstens teilweise) darauf zurückführen,
dass die Staatsbildung in Deutschland nach dem Modell des Vereinigungs49
nationalismus stattfand. Das Zugehörigkeitskriterium zur Nation war innerlich gefasst; eine Kultur, deren Aneignung durch Bildung stattfand. Ein hoher Grad an internalisierter Identifikation mit dem Ganzen ist also kennzeichnend für die Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem in der
deutschen civil society. Daraus lässt sich zweierlei ableiten: einerseits das
sich manifestierende Misstrauen gegenüber dem Fremden:
„Kann man demjenigen, der in einer anderen Kultur aufgewachsen ist, diese innere (und deshalb unsichtbare) Bejahung abnehmen? Identifiziert sich ‚der Fremde’ vielleicht
doch nur äußerlich, fühlt er sich wirklich dem Gemeinwesen
verpflichtet?“ (Schiffauer 1993: 197f.)
Andererseits ist diese deutsche Innerlichkeit, die sich nicht mit sozial verhandelbaren Regeln zufrieden gibt, sondern eine Art kultureller Sozialisation und Resozialisation qua Bildung einfordert, auch der Anstoß für einen
problematisierenden und pädagogisierenden Umgang mit den Fremden.
Die Fremden werden mit der Forderung nach Assimilation konfrontiert,
und wer sie wohlwollend bei der Überwindung ihres Defizits unterstützen
will, greift nach pädagogischen Mitteln.
Pädagogik statt Politik - Reaktionen auf Einwanderung in den 70er und
80er Jahren
Das Primat der Pädagogik hat im bundesdeutschen Umgang mit Einwanderern Tradition. So waren es die Erziehungswissenschaften, die sich in den
siebziger Jahren zunächst praktisch, dann auch zunehmend theoretisch der
Eingliederung von Zuwanderern in die Gesellschaft der Bundesrepublik
annahmen. Wenn sich inzwischen auch eine Reihe anderer Wissenschaften
mit dem Thema Migration beschäftigt, so kann allein aus der Menge und
Vielfalt erziehungswissenschaftlicher Studien zu Migration auch weiterhin
ein Primat der Pädagogik im Umgang mit Zuwanderung abgeleitet werden.
In den achtziger Jahren hat der pädagogische Griff nach den Zuwanderern
teils heftige Kritik geerntet, vorwiegend wiederum aus den Reihen der Pädagogik selbst, aber auch von der Warte der Sozial- und Politikwissen50
schaften16. Einer der zentralen Punkte der Kritik bestand in dem Vorwurf,
dass die Politik eine Gestaltung von Integration verweigert und das ‚Problem’ an die Pädagogik weitergereicht habe, dass diese wiederum allzu eilfertig das Thema für sich reklamiert und damit die Politik aus der Pflicht
entlassen habe. Auslöser dieser Kritik scheint die Wahrnehmung gewesen
zu sein, dass Ausländerpolitik und -pädagogik zunehmend entgegengesetzte Richtungen einschlugen. Während die entstehende Ausländerpädagogik
nach Konzepten für eine Integration der Eingewanderten in die Gesellschaft rang, beharrten die politisch Verantwortlichen auf der Auffassung,
dass in der Anwesenheit der Arbeitsmigranten eine nur vorübergehende
Erscheinung zu sehen sei. Dies verstärkte sich 1982 mit dem Wechsel von
sozial-liberaler zur christlich-liberalen Bundesregierung, deren Innenminister Zimmermann gleich einen seitens der Ausländerpädagogik heftig kritisierten Entwurf zur Ausländerpolitik vorlegte17.
Durch diesen gegenläufigen Trend entstand eine Schieflage, die seitdem
symptomatisch ist für das bundesdeutsche Verhältnis zu Einwanderern:
Während Ausländer- und Sozialpädagogik ihre Bemühungen auf die soziale und schulische Integration von Migranten und ihre Nachkommen richten, gibt sich die Politik abweisend und betont abwechselnd die ‚Grenzen
der Integrationsfähigkeit’ der Einheimischen und die Unfähigkeit bzw. den
Unwillen zur Integration bei den Eingewanderten18.
Radtke bezeichnet die Haltung, die zu dieser Schieflage führte, als „pädagogisch induzierten Kulturalismus“ (Radtke 1991a: 24ff). Für den Wandel
von einer vorwiegend ökonomischen Betrachtungsweise der Zuwanderung
zu kulturalistischen Deutungsansätzen macht Radtke mehrere Ursachen
geltend: die sozialwissenschaftliche Wende zur Alltagskultur und die Auf16
Vgl. zum Beispiel die Aufsätze in Griese 1984, sowie Radtke 1991, 1991a, Hamburger 1991.
17
Vgl. zur empörten Kritik Hamburger u.a, 1983a.
18
Dies blieb, wie Bade und Bommes im Jahr 2000 feststellen, weitgehend ohne faktische Konsequenzen. Die politisch inszenierte Abwehrhaltung konnte in vielen Fällen
rechtlich und administrativ nicht umgesetzt werden (Bade und Bommes 2000: 178). Das
im Sommer 2004 verabschiedete Zuwanderungsgesetz zeigt dagegen die Kontinuität
eines tendenziell ablehnenden Geistes gegenüber Einwanderern.
51
wertung qualitativer und ethnographischer Methoden. Wichtig ist jedoch
vor allem der Bedeutungszuwachs, den die Pädagogik im Bereich der
Migrationsforschung und -arbeit erfährt. Dies ist laut Radtke nicht auf Einwanderung und Einwanderer begrenzt, sondern Resultat einer allgemeinen
Tendenz zur Pädagogisierung sozialer Probleme:
„Ob es der Frieden, die Umwelt- oder die Migrationsprobleme sind, die Tendenz zur Transformation von
Strukturfragen der Gesellschaft in Erziehungsfragen ist allgegenwärtig. Durch Pädagogisierung werden alle Probleme
lösbar, wenn man sie als Bildungs- und / oder Beziehungsprobleme definiert und behandelt (...). Pädagogisierung setzt
immer dann ein, wenn Interventionen auf der Strukturebene
politisch nicht möglich, nicht gewollt oder nicht durchsetzbar sind. Pädagogik wird dann zum Ersatzhandeln, mit dem
die politisch Handelnden den fälligen Aktivitätsnachweis
liefern (...)“ (Radtke 1991a: 42).
Gerade die Ausländerpädagogik ist gekennzeichnet von „administrativer
Aufgabenzuweisung“ einerseits und einer von der Pädagogik selbst übertrieben dargestellten Lösungskompetenz, die zudem befördert wurde durch
das zeitliche Zusammentreffen mit dem „... Ende der Bildungsreform und
dem drohenden Abbau von hypertroph angewachsenen pädagogischen Institutionen“ (Radtke 1991a: 43). In den siebziger Jahren entdeckte die Pädagogik somit die Integration als neues Betätigungsfeld, was gemeinsam
mit einem bestehenden Überschuss an Studierenden und Absolventen der
Erziehungswissenschaften zu einer raschen Ausdehnung der Ausländerpädagogik führte. Nicht allein der Rückzug der Politik, sondern auch das
schnelle Vordrängen der Pädagogik macht Radtke verantwortlich für die
starke Betonung des Pädagogischen im gesellschaftlichen Umgang mit
Einwanderern.
Radtke verortet die Wende zu einer pädagogisch geleiteten Integration im
Wesentlichen innerhalb der Pädagogik als Disziplin. Bei aller vordergründigen Opposition zwischen Politik und Pädagogik harmonieren politische
52
Handlungsverweigerung und Integrationsbemühungen. Radtkes Interpretation stimme ich zu, jedoch greift sie dort zu kurz, wo sie diesen Prozess auf
die Interaktion zwischen Pädagogik und Politik beschränkt. Tatsächlich
geht die vorrangig pädagogische Haltung weit über diese beiden gesellschaftlichen Teilbereiche hinaus. Als Paradebeispiel kann die von Bundeskanzler Willy Brandt angeführte Kampagne zur ehrenamtlichen Hausaufgabenhilfe für die zweite Generation der Eingewanderten gelten. Statt dass
die Regierung selbst die Weichen für eine bessere schulische Integration
der zweiten Generation stellte, übertrug sie diese Aufgabe in weiten Teilen
an ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Auch hier wird ein Problem nicht
politisch, sondern pädagogisch angegangen. Dieser Prozess, der dem Aufschwung der Pädagogik vorausging, lässt den Erklärungsansatz von Radtke
erweiterungsbedürftig erscheinen. Eine Fokussierung auf das Zusammenspiel zwischen Politik und Pädagogik als wissenschaftlicher Disziplin erscheint zu eng, um das überall hervortretende Pädagogische im bundesdeutschen Umgang mit Migranten zu erklären. Das pädagogisch dominierte
Verhältnis zu Einwanderern scheint vielmehr gesellschaftlicher Grundkonsens zu sein. Tatsächlich deutet auch Radtke an, dass das diesbezügliche
gesellschaftliche Selbstverständnis über die Bereiche Politik und Pädagogik
hinaus wirksam sei, wo er das Zusammenspiel zwischen beiden Bereichen
zu erklären versucht:
„Die Homologie der Deutungen in den Bereichen Politik
und Wissenschaft muss nicht als Ergebnis einseitiger Funktionalisierung oder selektiver Verwendung interpretiert
werden. In beiden Teilbereichen beruht sie in einer nicht linearen Lesart auf der Gleichzeitigkeit von Deutungen unter
Rückgriff auf den gleichen Deutungshaushalt. (...) Insofern
ist die Gleichgerichtetheit wissenschaftlicher und politischer
Deutungen und Problembearbeitungen nicht als kausales
Wechselverhältnis zu beschreiben, sondern zutreffender als
Osmose zu charakterisieren. Durch eine Vielzahl feinster
Kanäle durchdringen sich die Deutungshaushalte der ver53
schiedenen Teilbereiche der Gesellschaft und erzeugen einen zeitweiligen Grundkonsens, der zu intersubjektiven
Verständigungsmöglichkeiten und damit zu gleichartigen
Lösungen führt“ (Radtke1991a: 45).
Das Zusammenspiel von Politik und Pädagogik sieht Radtke also als Ergebnis eines gesellschaftlichen Interpretationsprozesses, der auf bestimmte
Deutungshaushalte zurückgreift. Radtke bezieht sich damit auf gesellschaftlich geteilte Normen und Werte, die zumindest zeitweilig zu korrespondierenden Ereignissen oder Entscheidungen führen können.
Gesellschaftsbild und Zuwanderung
Gestützt wird diese Vermutung auch durch die Ergebnisse einer Studie von
Hoffmann und Even, die Mitte der achtziger Jahre eine ‚Soziologie der
Ausländerfeindlichkeit’ entwarfen (Hoffmann und Even 1984). Ausgehend
von einer Analyse von Leserbriefen in Zeitungen und Zeitschriften unternahmen die Autoren den Versuch, Eigenschaften des deutschen Verhältnisses zu eingewanderten Arbeitsmigranten und ihren Nachkommen herauszuarbeiten. Präziser als die „Osmose“ Radtkes identifizieren Hoffmann und
Even aufbauend auf die phänomenologische Soziologie von Schütz, Berger
und Luckmann Grundzüge eines „Gesellschaftsbildes“ gegenüber Eingewanderten. Unter Gesellschaftsbild verstehen die Autoren
„... diejenigen Vorstellungen, von denen die Handelnden als
selbstverständlich unterstellen, dass sie von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft anerkannt werden oder anerkannt
werden müssen. Das Gesellschaftsbild dient daher auch zur
Abgrenzung dieser Gesellschaft. Es konstituiert ein WirBewusstsein, das klare Vorstellungen enthält, wer es als Zugehörender teilen muss und wer es als Fremder nicht teilen
darf“ (Hoffmann und Even 1984: 35)19.
19
Ausgesprochen ähnlich ist das Modell, dass Clifford Geertz als Verhältnis von Kultur
– hier zu übersetzen mit tradiertem Gesellschaftsbild – und sozialem System entwirft.
Ein kulturelles System ist bei Geertz ein bestimmtes Set von Handlungs- bzw. Verhal-
54
Ausländerfeindlichkeit ist nach Hoffmann und Even ein latentes Element
des Gesellschaftsbildes, das sich solange nicht in manifeste Ausländerfeindlichkeit umwandelt, wie dieses Gesellschaftsbild eine schlüssige
Grundlage zur Deutung der erfahrenen Wirklichkeit bietet:
„Sie bleibt als latente Ausländerfeindlichkeit unthematisch,
unformulierbar und unbeschreibbar, solange sie nicht durch
widersprechende Erfahrungen herausgefordert wird. Geschieht diese Herausforderung durch eine gesellschaftliche
Krisensituation, wie sie die kollektive Erfahrung der Anwesenheit der Ausländer in unserer Gesellschaft darstellt, so
kann sich in der Bearbeitung dieser Erfahrung eine manifeste Ausländerfeindlichkeit herausbilden, wenn dabei der Widerspruch zwischen dem tradierten Gesellschaftsbild und
der neuen Erfahrung zugunsten des ersteren entschieden
wird“ (Hoffmann und Even 1984: 61).
Unter manifester Ausländerfeindlichkeit verstehen die Autoren schließlich
die Versuche, durch Theorien und Handlungen eine Wirklichkeit wiederherzustellen, die dem Gesellschaftsbild entspricht. Ausländerfeindlichkeit
bezieht sich also nicht primär auf „Ausländer“, sondern leitet sich ab aus
Vorstellungen darüber, wie die eigene Gesellschaft ist oder sein sollte.
Anhand der Interpretation von Leserbriefreaktionen zur Einwanderungssituation stellen Hoffmann und Even fest, dass das deutsche Verhältnis zu
Zuwanderern von der Erwartung bestimmt ist, dass die Eingewanderten,
wenn ihnen schon der Aufenthalt gestattet werden sollte, zunächst eine Identitätspassage, d.h. eine Assimilation, vollenden. Erst bei absolvierter
Identitätspassage, so das Fazit aus der Meinungsanalyse, wird Eingewanderten auch eine Statuspassage, d.h. eine gleichwertige Partizipation an
Rechten und Märkten zugestanden. Umgekehrt wird das Ausbleiben der
Identitätspassage als legitimer Grund angeführt, Migranten die gleichberechtigte Anerkennung zu verweigern:
tensanleitungen, das bei sozialem Wandel immer wieder an die neuen Gegebenheiten
angepasst werden muss (Geertz 1987: 98ff).
55
„Die hochgeschraubte Erwartung, dass jemand zuerst im
Gewand des Inländers daherkommen müsse, bevor er sich
an deren Tisch setzen dürfe, übersieht, dass niemand sich
ein solches Gewand kauft, wenn er nicht eingeladen wird“
(Hoffmann und Even 1984: 138).
Bildung als Emanzipation und Diskriminierung
Übersetzt in die Terminologie von Politik und Pädagogik heißt das, dass
Zugewanderten ein Anpassungsprozess abverlangt wird, bevor sie in den
Genuss einer sozialen und politischen Partizipation gelangen dürfen. Dies
begründet – auch wenn Hoffmann und Even in ihrer Soziologie der Ausländerfeindlichkeit diesen Aspekt betonen – nicht allein seine Relevanz als
Legitimierung eines Abwehrverhaltens, das danach trachtet, Einwanderungsprozesse zu verhindern oder rückgängig zu machen. Vielmehr ist die
Assimilationsforderung als Bedingung für Anerkennung auch der Einstieg
in einen vielfältig abgestuften und pädagogisch unterfütterten Eingliederungsprozess, der für mehr Rechte ein Mehr an Anpassung fordert und am
Ende eine vollständige Anerkennung in Aussicht stellt. Die Reaktion auf
die bedrohliche, weil ambivalente Figur des Fremden ist also im Gesellschaftsbild zwischen den Polen Abwehr und Anerkennung angesiedelt,
wobei die Zugewanderten sich Anerkennung durch Assimilationsleistungen
erst ‚verdienen’ müssen.
Hoffmann und Even belegen ihre Untersuchung mit Leserbriefen aus Zeitungen und Zeitschriften der frühen Achtziger. Radtke verortet die gemeinsamen Deutungshaushalte, die seiner Ansicht nach das Zusammenspiel von
Politik und Pädagogik stützten, analog zur Phase des Aufschwungs der
Ausländerpädagogik in der zeitlich eng umrissenen Periode der siebziger
und achtziger Jahre. Sicherlich sind die siebziger Jahre ausschlaggebend
dafür gewesen, wie sich im Umgang mit der 2. Generation der Eingewanderten aus Mittelmeeranrainerstaaten ein bestimmtes Gesellschaftsbild vom
Migranten, vom Fremden, in der Praxis konkretisierte. Wenn sich nun die
Beobachtung als haltbar erweist, dass auch in den frühen neunziger Jahren
wohlwollende Teile der deutschen Bevölkerung noch eine ähnlich pädago56
gische Haltung gegenüber Eingewanderten an den Tag legen, dann lässt
sich hier die These formulieren, dass die Ursprünge für diese pädagogische
Haltung in einer weiteren und grundlegenderen Disposition zu suchen sind,
deren Zusammenhänge ich skizziert habe.
Eine pädagogische Haltung als gesellschaftlich verbreitete Disposition lässt
sich kaum spezifischer bestimmen. Die Maßnahmen, Konzepte und Ziele
der ‚Ausländerpädagogik’ und ihrer Nachfolger wechselten, und ihre genauere Untersuchung ist für das Ziel dieser Arbeit nicht relevant. Zwei Aspekte, die seit den siebziger Jahren stattfindende Pädagogisierung sozialer
Probleme und die Diskussion von in der Pädagogik entwickelten, aber gesamtgesellschaftlich diskutierten Konzepten wie die ‚interkulturelle Erziehung’ und ‚multikulturelle Gesellschaft’ lenken dennoch den Blick auf die
Institutionen einer pädagogischen Bearbeitung des Fremden.
Erziehungsziele und pädagogische Konzepte gibt es so viele, dass Erziehung kaum festgelegt werden kann zwischen eher autoritären oder antiautoritären, individuellen oder kollektiven Lehr- und Lernformen. Auch die
Frage, ob am Ende der Erziehung ein mündiger und emanzipierter Schüler
oder einer, der die bestehenden Herrschaftsverhältnisse besonders gut verinnerlicht hat und erhöhte Anpassungsbereitschaft zeigt, stehen soll, kann
als umstritten gelten.20 Mit dem Fokus auf Erziehung wird jedoch in allen
Spielarten der Pädagogik festgestellt, dass der Erziehungsbedürftige eben
noch nicht mündig, noch nicht eigenverantwortlich zu handeln in der Lage
ist. Selbst wenn wir ein grundsätzliches Wohlwollen unterstellen, werden
Migranten und ihre Nachkommen mit der Formel ‚Integration als Erziehung’ von einer Warte aus betrachtet, die mit Bernhard Streck als Ausdruck eines „... allen imperialen Kulturen eigenen ‚Kindchenschemas’, das
den Blick über die eigene Wir-Gruppe hinaus zu prägen pflegt: Draußen
20
Hamburger stellt für die schulische Pädagogik eine „... Fokussierung der Wahrnehmung auf die ‚Defizite’ der ausländischen Kinder aus der Sicht des ‚reibungslosen
Schulbetriebs’“ fest, die „... außerschulische Pädagogik dagegen enthält sehr viel deutlichere Argumente des ‚Benachteiligungsdiskurses’ und leitet daraus eine Förderpädagogik ab, die auf autonome Handlungskompetenzen abzielt“ (Hamburger 1991: 92f).
57
vor der Tür sind die Geringeren“ (Streck 1997: 24) bezeichnet werden
kann:
„Diese Haltung hat sich im abendländischen Imperialismus
insbesondere durch die Entdeckungsreisen verfestigt, die,
nach einer treffenden Formulierung Friedrich Schillers, überall auf Völkerschaften stieß, ‚die auf den mannigfachsten
Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder
verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum’“
(Streck 1997: 24).
Aus diesem Grundgedanken lassen sich einige, die pädagogische Haltung
verdeutlichende Schlussfolgerungen ableiten, wobei ich hier wieder auf das
Modell der schulischen Erziehung zurückgreife. Zum Ersten ist die Rolle
von Lehrer und Schüler eindeutig verteilt. Dies ist eine Frage der Autorität,
respektive Herrschaft, zunächst aber eine Gewichtung der Wertigkeiten.
Zwischen Angehörigen der eigenen und anderer Kulturen wird, indem letztere als erziehungsbedürftig verstanden werden, ein Gefälle eingeführt, das
die Einheimischen und ihre Kultur an die erste Stelle setzt. Appelle, eine
multikulturelle Gesellschaft alternativ als ‚Bereicherung’ und als Möglichkeit des ‚Lernens von anderen Kulturen’ zu sehen, unterstreichen dies.
Zweitens ist Erziehung eine verhältnismäßig milde Form der Autorität, die
erheblich von der Anerkennung seitens der Schüler abhängig ist. Auch
Lernerfolge bedürfen eines Verhältnisses, das von beiden Seiten anerkannt
wird. Zum Dritten: Die Autorität des Lehrenden gegenüber den Schülern
entfaltet sich vor allem funktional abgegrenzt in bestimmten Räumen, im
Klassenzimmer oder auch noch auf dem Schulhof, während sie hinter dem
Schultor auf der Straße kaum mehr Geltung hat. Auf der Straße, so lässt
sich daraus folgern, sind deshalb explizite Belehrungen seltener und wesentlich schlechter legitimiert, so dass die pädagogische Haltung bei den
meisten latent bleiben wird.
Das Pädagogische ist damit zugleich eine Diskriminierung und eine
Dethematisierung der Diskriminierung. Mit dem Pädagogischen wird eine
Vermittlung zwischen den republikanischen Werten der Gleichberechti58
gung und der nationalstaatlich-kulturell begründeten Diskriminierung des
Fremden eingeführt. So müssen die gesellschaftlichen Ideale der Gleichbehandlung nicht aufgegeben werden, sondern können mit der Praxis der Privilegierung des Bürgers gegenüber den Nicht-Bürgern, der Deutschen gegenüber den Nicht-Deutschen auf eine Art verbunden werden, die den Diskriminierten auch die Ursachen der Diskriminierung sowie deren Überwindung qua Anpassung zuschiebt.
4. Ein pädagogischer Habitus bei den Deutschen
Angesichts der Kontinuität einer pädagogischen Haltung gegenüber den
Fremden – die, das hat gerade Simmel deutlich gesehen, immer Teil der
Gesellschaft sind21 – stellt sich eine Verengung der spezifisch pädagogischen Herangehensweise auf die siebziger und achtziger Jahre, wie Radtke
es versucht, als schwierig heraus. Die Homologie der Deutungen in Ausländerpolitik und -pädagogik, die Radtke hinsichtlich einer adäquaten Behandlung der Zuwanderer für diesen Zeitraum feststellt, scheint mir nicht
allein auf eine damals zeitweilig dominierende Rolle der Bildungseinrichtungen als Instanzen zur Bewältigung der Probleme sozialen Wandels zurückführbar. Eine Interpretation, die das hervortretende Primat der Pädagogik auf die gesellschaftlichen Teilbereiche Politik und Erziehung beschränkt, hat schon Radtke zurückgewiesen. Er identifizierte in beiden Bereichen lediglich die relevanten Akteure, deren Handeln auf der Basis gesellschaftlich geteilter Deutungshaushalte harmonierte.
Dies legt den Schluss nahe, dass – einmal abgesehen von allen Problemen
eines konkreten Vergleichs – im Primat der Pädagogik tatsächlich ein spezifisch deutscher gesellschaftlicher Umgang mit Fremden anzunehmen ist,
wie Schiffauer (1993: 196) dies feststellt. Die bedeutende Rolle der Erziehung, von Bauman (1991: 35) auf die Bildung eines nationalen WirGefühls im Allgemeinen bezogen, scheint sich besonders bei den Deut-
21
„Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die
mannigfachen ‚inneren Feinde’ – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung
zugleich ein Außerhalb und ein Gegenüber einschließt“ (Simmel 1992: 764).
59
schen in ihrer integrativen Funktion erhalten zu haben, bzw. bei neu zu integrierenden Fremden wieder entdeckt worden zu sein22.
Um diese spezifische Haltung begrifflich zu fassen, bietet sich Bourdieus
Konzept des Habitus an. Dieser steht vermittelnd zwischen Kontinuität und
historischem Ereignis sowie zwischen sozial strukturierter Umgebung und
individuellen Praktiken und eignet sich damit besser zur Erklärung von
aufeinander abgestimmtem Handeln als der Rückgriff auf geteilte Deutungshaushalte.
Unter Habitus-Formen versteht Bourdieu
„... Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu
wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die
objektiv ‚geregelt’ und ‚regelmäßig’ sein können, ohne im
geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von
Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein
können, ohne das bewusste Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen
notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, dies alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das
Werk der planenden Tätigkeit eines ‚Dirigenten’ zu sein
(Bourdieu 1976: 165).
Bestimmte soziale und materielle Bedingungen (Bourdieu verwendet das
Beispiel von Klassenlagen) bringen spezifische Umgangs- und Vorstellungsweisen hervor, die sich als Dispositionen, Denk- und Handlungsschemata verfestigen und die individuellen wie kollektiven Umgangsweisen in bestimmten Situationen prägen. Dabei begreift Bourdieu das Ver22
Dies auf verschiedene Einwanderungsphasen in Deutschland oder im europäischen
Vergleich anzuwenden, wäre ein gewiss lohnendes Thema, das jedoch hier nicht weiter
verfolgt werden kann. Die Problematik der ‚Integration’ (als Spielart von Assimilation)
scheint just dann einzusetzen, wenn sich eine umfassende funktionale Distinktion nicht
mehr halten lässt, wenn man entdeckt, um Max Frisch zu paraphrasieren, dass die Arbeiter auch Menschen sind.
60
hältnis zwischen Habitus und dem Handeln in immer neuen historischen
Situationen als Wechselwirkung oder Dialektik: Die Dispositionen strukturieren die Wahrnehmung und das Handeln in der jeweiligen Situation, die
Resultate des je aktuellen Handelns haben zugleich Rückwirkungen auf die
handlungsleitenden Dispositionen.
„Gegenüber einer in ihrer punktuellen Unmittelbarkeit betrachteten Situation ist die Praxis notwendig und relativautonom in einem, insoweit sie das Produkt der dialektischen Beziehung zwischen einer Situation und einem als
System dauerhafter und versetzbarer Dispositionen begriffenen Habitus darstellt, der, alle vergangenen Erfahrungen
integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und
Denkmatrix funktioniert (Bourdieu 1976: 169).
Diese Matrix, die der Habitus darstellt, kann so vom Individuum auf wechselnde Situationen angewendet und an immer wieder veränderte Bedingungen angepasst werden. Dabei ist der Habitus als Summe der Dispositionen,
die im Handeln zum Ausdruck kommen, nicht notwendig bewusster und
reflektierter Teil der Erwägungen, mittels derer ein Individuum Handlungsziele formuliert und die Erfolgschancen seines Handelns abschätzt. Vielmehr bringt der Habitus
„... ein ganzes Corpus halb-formalisierter Weisheiten ins
Spiel, z.B. sprichwörtliche Redewendungen, Gemeinplätze,
ethische Vorschriften (‚das ist nichts für uns’) und, tiefer,
die unbewussten Prinzipien des Ethos, dieser allgemeinen
und versetzbaren Disposition, die, als Ergebnis einer umfassenden, von einem bestimmten Typ von Regelmäßigkeiten
beherrschten Lehrzeit, die ‚vernünftigen’ wie ‚unvernünftigen (die ‚Verrücktheiten’) Verhaltensweisen eines jeden
diesen Regelmäßigkeiten unterworfenen Individuums bestimmt (Bourdieu 1976: 167).
61
Das heißt: individuelles Handeln in spezifischen Situationen ist nicht allein
auf bewusstes, zweckrationales und die je aktuellen Handlungschancen reflektierendes Handeln des Individuums zurückzuführen. Ohne dass die
Zweckrationalität geleugnet wird, bringt die habituelle Vermitteltheit des
Handelns mehr ins Spiel, als es die aktuelle Situation erfordert, und
schränkt zugleich den Handlungsspielraum ein, indem Wahrnehmung und
Handeln der Akteure präfiguriert werden. Dadurch verengt der Habitus das
Feld des Möglichen implizit auf einen Bereich, der um das Erreichbare
kreist, das von den Akteuren als vernünftig, notwendig oder realistisch eingeschätzt wird (allerdings auch ‚Verrücktheiten’ gestattet). Die konkrete
Praxis ist damit nicht von den objektiven Erfordernissen einer Situation
oder dem subjektiven Interesse eines Individuums allein geleitet, sondern
sowohl die Wahrnehmung der Handlungschancen als auch die zu verfolgenden Ziele sind habituell vorstrukturiert.
Mit einem so verstandenen Habitus-Begriff lässt sich nicht nur an die „gemeinsamen Deutungshaushalte“ Radtkes anknüpfen, sondern darüber hinaus lassen sich damit auch Kontinuitäten des gesellschaftlichen Umgangs
mit Fremden als Ausdruck spezifischer Dispositionen auslegen. Schließlich
erlaubt dieses Habitus-Konzept die Hinterfragung der vordergründigen
Plausibilität individueller wie kollektiver Entscheidungen sowie der Evidenz einer scheinbar selbstverständlichen Praxis, wie sie das Verhältnis
zum Fremden auszeichnen.
Kann man nun von einem gesellschaftlichen, pädagogischen Habitus der
Deutschen gegenüber Fremden sprechen? Dies scheint möglich, wenn man
verschiedene Einschränkungen gelten lässt: Auf die zentrale Rolle, die der
Pädagogik in der Bildung eines nationalen Wir-Gefühls zukommt, wurde
schon verwiesen. Auch heute noch scheint der schulische Unterricht nationalstaatlich geprägt (vgl. Gogolin 1994: 7ff)23. Insofern kommt der Päda23
Haller (1991: 83) stellt fest: „Die marginale Rolle eines ‚muttersprachlichen Ergänzungsunterrichts’ in der Schule, die im übrigen Sprachen und Kulturen nicht-deutscher
Schüler nicht zur Kenntnis nahm, kam der alten kolonialen Herrschaftsstrategie von
Sprache und Kultur der kolonisierten Völker sehr nahe. Integrationspolitik erlaubte eine
Fortschreibung der deutschen Schule als deutsche Schule.“
62
gogik als Institution eine tragende Rolle bei der Integration in nationalstaatlich verfasste Gesellschaften zu, die insbesondere bei ethnischen Minderheiten deutlich wird. Eine pädagogische Haltung gegenüber Fremden ist
deshalb auch in anderen Ländern nicht auszuschließen. Inwieweit diese auf
die staatlichen Institutionen der Pädagogik begrenzt ist oder Teil eines allgemeinen Habitus gegenüber Eingewanderten ist, lässt sich hier nicht klären. Dies entkräftet jedoch nicht die Annahme, dass ein pädagogischer Habitus ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Umgangs mit zu integrierenden Fremden ist.
Das Pädagogische ist, so mag man einwenden, nicht die einzige Fremden
entgegengebrachte Haltung, betrachtet man das Verhältnis zum innergesellschaftlichen Fremden in seiner Gesamtheit. Es bestimmt primär die Situationen oder Phasen, in denen dem Fremden seitens der Einheimischen
ein Integrationsinteresse erwiesen wird. Insofern ist die Einsicht oder Forderung, dass sich die Fremden zu integrieren haben, auch Bedingung dafür,
dass diese Integration pädagogisch unterstützt wird. Eine solche Integrationsabsicht ist in der Geschichte der Bundesrepublik nicht durchgängig vorhanden, auch ist die soziale Verbreitung eines solchen Integrationsinteresses sicherlich nicht homogen. Seit sich in den siebziger Jahren jedoch die
Einsicht verbreitet hatte, dass die angeworbenen Arbeitsmigranten und ihre
Nachkommen zumindest längerfristig im Land bleiben würden und als
‚ausländische Mitbürger’ in die Gesellschaft zu integrieren seien, ist die
pädagogisch unterfütterte Integration zur verbreiteten Norm geraten. Diese
Haltung steht nicht im Widerspruch zu einer politischen Haltung, die sich
Migranten oder Zuwanderung gegenüber latent ablehnend verhält. Integrationsofferten und Exklusionsdrohungen stehen vielmehr in einem sich ergänzenden Verhältnis.
5. Zur Forschungsmethode
Teilnehmende Beobachtung und Situationsanalyse
Die Arbeit basiert auf einer Forschung, die in den Jahren 1992 bis 1998 die
Entstehung und Entwicklung der Nachbarschaftsgruppe ‚Miteinanderleben
63
in Sabing’ begleitet hat. Die teilnehmende Beobachtung, wie die ethnographische Forschung noch immer einigermaßen treffend bezeichnet wird,
schien aufgrund der Thematik und der Zugangsmöglichkeiten die brauchbarste Methode zu sein. Mit dieser teilnehmenden Beobachtung ist eine
Reihe von Schwierigkeiten verbunden, die seit den siebziger Jahren Gegenstand einer kritischen Diskussion innerhalb der Ethnologie geworden
sind. Deshalb seien hier einige für diese Forschung besonders relevante
Aspekte angerissen.
Seit den Forschungen Bronislaw Malinowskis in den 20er Jahren hat sich
die teilnehmende Beobachtung als die führende Methode ethnologischer
Forschung, der Ethnographie, etabliert. Die Teilnahme des Forschenden am
alltäglichen Leben der Erforschten wurde als prominenter Weg erachtet,
sich den fremden Sicht- und Handlungsweisen der Erforschten so weit als
möglich anzunähern und sie dadurch zu verstehen. Die gleichzeitige Beobachtung hatte als Reflexion – zumindest im ethnologischen Diskurs – die
Aufgabe, eine wissenschaftliche Distanz zu den Erforschten aufzubauen
und einzuhalten. Die Kombination von emphatischer Teilnahme und distanzierter Beobachtung ist häufig problematisiert worden. Besonders der
Aspekt der Teilnahme stand schon frühzeitig in dem Ruf, ein „going native“ des Forschenden zu unterstützen und damit den Anspruch der Ethnologie auf Anerkennung als wissenschaftlicher Disziplin zu untergraben. Der
notwendig auch subjektive Zugang zu den Erforschten schien den Anforderungen objektiver Erkenntnis entgegenzustehen. Auf der anderen Seite
wurde seit den siebziger Jahren der postulierten ‚Beobachtung’ entgegengehalten, dass hier die wesentliche Quelle ethnographischen Wissens, das
Gespräch, der Dialog unterschlagen werde, weil dem Visuellen wesentlich
mehr ‚Wissenschaftlichkeit’ und ‚Objektivität’ zugeschrieben wird als dem
bloßen ‚Hören-Sagen’. Im Zuge dieser Diskussion sind die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der teilnehmenden Beobachtung verfeinert worden, die Rolle der teilnehmenden Beobachtung als der primären Methode
der Ethnographie wurde dabei eher gestärkt als geschwächt (vgl. z.B. Clifford und Marcus 1986; Tedlock 1985; Tyler 1991).
64
Der methodologische Vorteil einer „teilnehmenden Beobachtung“ liegt unzweifelhaft im direkten Zugang zu einer komplexen Forschungssituation
und der damit einhergehenden Möglichkeit zur Methodenpluralität. Die
längerfristige Präsenz des Forschers bei den Erforschten erlaubt es, sich in
der Datengewinnung auf mehrere Erhebungsverfahren zu stützen. Die teilnehmende Beobachtung ist selten nur Beobachtung, sondern zugleich teilnehmende Diskussion über das, was gerade geschieht. Sie verbindet damit
den Zugang zu einer bestimmten Praxis mit dem Diskurs über diese Praxis.
Sie kann darüber hinaus noch um Folgeinterviews ergänzt werden, die sich
auf die Ereignisse beziehen. Interviews, Netzwerkanalysen, Audio- sowie
Videomaterialien und weiteres mehr gehören mittlerweile neben dem Forschungstagebuch zum üblichen Repertoire.
Damit ermöglicht es die teilnehmende Beobachtung, das praktische Handeln und die begleitenden Diskurse zum Gegenstand der Untersuchung zu
machen. Dieser Vorteil kann insbesondere in Untersuchungsfeldern ausgespielt werden, deren Diskurse stark normativ überformt sind und wo sich
deshalb von Äußerungen kaum differenzierte Rückschlüsse auf eine mögliche Praxis ableiten lassen. Hier zeigt sich die teilnehmende Beobachtung
als Ergänzung von Umfragedaten, die sich zur Dokumentation von Einstellungen gegenüber Zuwanderern in Deutschland eingebürgert haben.
Neben dem direkten Zugang zum Forschungsgegenstand, den die teilnehmende Beobachtung gestattet, fand die Arbeit mit Interviews und Textmaterialien als wichtige Bestandteile der Forschung Eingang in diese Untersuchung. Mit den Interviews, die zum größten Teil zeitnah, teilweise aber
auch deutlich nach den beschriebenen Situationen geführt wurden, ist eine
doppelte Intention verbunden: zum einen dienen sie dazu, in strittigen
Punkten klare Aussagen verschiedener Gruppenmitglieder zu bekommen,
zum anderen, um in aufgezeichneter und transkribierter Form zusätzlich zu
meinen Notizen weiteres Datenmaterial zu gewinnen. Die Interviews werden in dieser Arbeit eher extensiv interpretiert. Zwar böten einige der längeren Interviews ertragreiches Material für eine intensivere Untersuchung
nach text- und diskursanalytischem Muster, doch ließe sich dies nicht sinnvoll mit dem situationsanalytischen Aufbau der Fallstudien verbinden.
65
Auch die Transkription nimmt daher wenig Rücksicht auf die Gesprächssituation, bedeutungsvolle Gesten, Pausen und Betonungen, sondern begnügt
sich mit den mageren Worten. Verschieden starke Dialektfärbungen wurden ähnlich geglättet wie die grammatikalischen Eigenwilligkeiten der gesprochenen Rede. Dennoch behalten einige der zitierten Passagen eine individuelle Prägung, welche die jeweiligen Ansichten deutlicher hervortreten lässt. Eine weitere wichtige Quelle für die Fallstudien stellen die Protokolle der Initiativentreffen dar. In teils elliptischer Form spiegeln sie die
zum jeweiligen Zeitpunkt anstehenden Probleme und ihre Gewichtung, und
geben darüber hinaus Auskunft über manche Kontroversen innerhalb der
Gruppe.
Feldforschung unter urbanen Bedingungen
Der klassische Gegenstand der Ethnographie hat sich ebenso gewandelt wie
die ethnologische Sichtweise darauf. Mit der Ausdifferenzierung des Faches sind auch die klassischen Monographien abgelöst bzw. ergänzt worden durch thematisch enger gefasste Studien. Mit dem sozialen Wandel in
den traditionellen Forschungsgebieten Afrikas, Ozeaniens, Asiens oder
Amerikas ist das Zentrum der Forschung nicht mehr nur das Dorf, sondern
umfasst ebenso häufig verschiedenste Bereiche urbanen Lebens. Ethnographie im eigenen Land und Ethnographie der Migration sind schließlich Forschungsfelder, durch welche die übliche und epistemologisch grundsätzliche Trennwand zwischen dem Eigenen und dem Fremden durchlöchert
worden ist. Die Forschung zur vorliegenden Arbeit unterscheidet sich in
vier Punkten von einer klassischen ethnographischen Monographie: Sie
fand im eigenen Land statt, im Gebiet einer Großstadt, und sie untersucht
nicht die dominierte, sondern eine relativ dominierende Gruppe sowie einen spezifischen Ausschnitt des Lebens der Erforschten. Wichtigste Ähnlichkeit: Die Untersuchung widmet sich den Einheimischen und ihrem
Handeln im Wohnumfeld.
Die vorliegende Forschung ist deutlich vom städtischen Umfeld geprägt, in
dem sie stattfand. Die Bemühungen der Nachbarschaftsgruppe, an eine Art
örtliche Solidargemeinschaft zu appellieren und lokale Netzwerke aufzu66
bauen, machte aus dem Stadtviertel noch lange kein Dorf. Auch die Nachbarschaftsgruppe war eine urbane Erfindung, und sei es, weil erst das städtische Umfeld es ermöglichte, entsprechend viele Gleichgesinnte zu mobilisieren.
Nach Ulf Hannerz ist urbane Kultur am besten als Netzwerk zu begreifen,
genauer: als Netzwerk von Netzwerken, in welche die Beteiligten eingebunden sind. Diese Netzwerke in der Stadt sind im Gegensatz zu ländlichen
Gebieten verhältnismäßig offen angelegt (Hannerz 1980: 200f).24 Besonders Gruppen, die sich zur Verfolgung eines allgemeinen Anliegens zusammenschließen, bilden offene Netzwerke. Für die Teilnahme an der
Nachbarschaftsinitiative war nicht einmal der Wohnsitz im Viertel Bedingung, sondern lediglich das bekundete Interesse, sich für die Bewohner der
lokalen Flüchtlingsunterkunft und das Zusammenleben mit den Einheimischen im Stadtviertel Sabing einsetzen zu wollen. Es ist typisch für urbane
Netzwerke, dass sich die Teilnehmenden über ein konkretes Thema zusammenfanden, während sich in den übrigen Lebensbereichen kaum Überschneidungen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern ergaben, die
Initiative also hinsichtlich des Einkommens, der Lebensstile, des Bildungsstands und der Arbeitsplätze ausgesprochen heterogen zusammengesetzt
war. In der Anfangsphase, die von einer starken Polarisierung in Pro und
Contra Asyl in der Bevölkerung geprägt war, herrschte in diesem Punkt ein
gewisses Misstrauen gegenüber neuen Gruppenmitgliedern. Hier erwies
sich die teilnehmende Beobachtung von Vorteil, um einen Zugang zur Initiative und ihrer Arbeit zu gewinnen. Über die praktische Teilnahme an den
gemeinsamen Aktivitäten stellte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen
mir, den anderen Mitgliedern der Initiative und den Flüchtlingen her, ohne
welches diese Forschung so nicht möglich gewesen wäre. Dies war nicht
24
Hannerz begreift die Netzwerk-Perspektive (weniger die Methode) als zentral, um
sich dem Leben in der Stadt anzunähern: „One of these [networks], or a few of them,
can make up an urban way of life. Together, they constitute the city as a social order
(1980: 201). Das städtische Leben ist für Hannerz gekennzeichnet als „accessability in
diversity“, als zugängliche Vielfalt (1980: 99), die einem Individuum sowohl Zugänge
zu verschiedensten Kreisen eröffnet als auch das leichtere Auffinden von Gleichgesinnten gestattet.
67
gänzlich unproblematisch: die Nähe zu den Personen, mit denen die Forschung durchgeführt wurde, birgt den Einschluss verschiedenster Interessen, die sich auf die Forschung auswirkten.
Die Verschiedenheit der Lebensbereiche der Initiativenmitglieder (Wohnen, Arbeit, Freizeit etc.) bildeten je eigene, miteinander und mit dem Engagement in der Initiative mehr oder minder verknüpfte Beziehungsnetze.
Dies brachte es bei der Forschung mit sich, dass sich meine Kontakte zu
den übrigen Mitgliedern der Initiative in der ersten Zeit auf die gemeinsamen Treffen und Aktivitäten im Bereich Asyl beschränkten. Erst schrittweise war es mir möglich, über diesen Ausschnitt alltäglichen Lebens der
einzelnen Mitglieder hinaus in Erfahrung zu bringen, wer wo und wie lebte,
arbeitete und welchen weiteren Interessen und Beschäftigungen folgte, und
wie diese Bereiche miteinander verknüpft wurden. Für die Forschung ergab
sich daraus, dass sie von zwei gegenläufigen Trends bestimmt wurde. In
der Anfangsphase, als allen Mitgliedern der Initiative das Thema Asyl ein
gewichtiges Anliegen war, das intensives Engagement erforderte, blieb die
Forschung relativ extensiv und zeitlich auf gemeinsame Aktionen beschränkt. Je länger und alltäglicher das Engagement wurde und sich der
anfänglich strikt funktionale Bezug durch individuelle Beziehungen erweiterte, desto intensiver und breiter konnten auch die Forschungskontakte angelegt werden.
Die teilnehmende Beobachtung in einem Feld sozialer Arbeit wirft für den
Forschenden das Problem auf, sich den gemeinsamen Aktivitäten nicht entziehen zu können. Damit ist der Forschende nicht nur Teil des Netzwerkes,
das er interpretiert, sondern auch in gelegentlich zeitraubende Aktivitäten
verwickelt, die nur mittelbar im Forschungsinteresse liegen. Die Forschung
in Bereichen, die durch soziales ehrenamtliches Engagement getragen werden, bringen besondere Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen sozialer Arbeit und Forschungsaufgaben mit sich. Das andere Problem, nämlich Teil
dessen zu sein, was man zu erforschen trachtet, ist ein graduelles. In kaum
einem Bereich der Sozialforschung wird plausibel behauptet werden können, dass die Forschenden so distanziert, desinteressiert und apathisch zu
ihren Ergebnissen kommen, dass diese a priori als objektiv gelten können.
68
Objektivität muss jedoch hergestellt werden. In der teilnehmenden Beobachtung gilt dies in erhöhtem Maße, da sie persönliches Engagement erfordert und damit den Forschenden notwendig in den Forschungsgegenstand involviert. Teilnehmende Beobachtung verlangt als minimale Bedingung die gleichzeitige Anwesenheit von Forschendem und Erforschten und
setzt in den meisten Fällen voraus, dass diese auch ins Gespräch kommen.
In ethnographischen Texten wurde im Bemühen, die damit implizierte Subjektivität der ethnographischen Forschung auszublenden, der Forscher häufig wegretuschiert und die Erforschten wurden in eine zeitliche Distanz
versetzt. Objektivität, sofern darunter mehr zu verstehen ist als ein bestimmter Stil in der Repräsentation, wurde damit nicht erreicht.
Wie lässt sich nun Objektivität herstellen? In der Ethnologie wird die Frage
der Subjektivität ethnographischer Forschung unterschiedlich gehandhabt,
einheitliche Lösungen sind nicht in Sicht. Ich möchte mich in dieser Frage
an Johannes Fabian orientieren, der das Problem aus der Sicht der Lesenden angeht und aus diesem Grund fordert, der Forschende solle die Karten
auf den Tisch legen. Statt alle auf den Forschenden verweisenden Spuren
aus der Ethnographie zu tilgen, sollten die Umstände und Bedingungen der
Forschung dargelegt werden, damit sie in die Beurteilung der Forschungsergebnisse durch die Gemeinde der Lesenden einfließen können. Auch in
der Ethnographie ist es mittlerweile so, dass nicht nur andere Wissenschaftler, sondern auch die Erforschten durchaus zum Kreis derjenigen gehören,
die das über sie Geschriebene lesen, kommentieren und kritisieren. Sowohl
gegenüber den Erforschten als auch gegenüber der ‚scientific community’
müssen sich die Darstellungen und Interpretationen als stichhaltig und
plausibel erweisen. Dies zwingt den Verfasser einer Studie, seine Schlussfolgerungen nachvollziehbar zu gestalten und seine Quellen offen zu legen.
Dies heißt nicht, dass das gesamte Material einer Forschung in der Arbeit
präsentiert werden muss. Ebenso folgt daraus nicht, dass der Forscher im
Mittelpunkt der Arbeit stehen sollte. Der Gegenstand einer Ethnographie ist
nicht der Forscher und auch nicht sein Verhältnis zu den Erforschten. Aus
diesem Grund konzentriert sich die Arbeit auf die Ansichten, die mir von
den anderen Mitgliedern der Initiative mitgeteilt wurden. In der Regel habe
69
ich darauf verzichtet, in den jeweiligen Fällen meine Meinung oder Aktivitäten darzustellen.
Feldforschung zu Hause
Grundsätzlich unterscheidet sich das ethnographische Vorgehen in der
Fremde und „zu Hause“ nicht. In beiden Fällen wird versucht, aus Vorgängen und Ereignissen „Sinn zu machen“, von Episoden und Beziehungen auf
gesellschaftliche Zusammenhänge zu schließen. In beiden Fällen ist das
Ergebnis der Forschung eine interpretative oder analytische Abstraktion
von Erfahrungen, erlebten und erzählten Geschichten und Beobachtungen.
Der Ausgangspunkt für Forschungen in der eigenen oder in einer fremden
Gesellschaft könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während die ethnographische Feldforschung sich typisch einer fremden Gesellschaft zuwendet und Forscherin oder Forscher auf ein unvertrautes, lediglich durch
Lektüre vorstrukturiertes Gelände bringt, ist eine Forschung in der eigenen
Gesellschaft im Wesentlichen die Arbeit mit oft nur allzu vertrauten Prozessen und Ereignissen. Dies ist vordergründig von Vorteil und in der Regel weitaus bequemer, besitzt aber auch einige spezifische Tücken. Während die ethnographische Arbeit in der Fremde den fortwährenden Versuch
darstellt, aus der Differenz zwischen dem eigenen, hergebrachten Erfahrungshorizont und als befremdlich wahrgenommenen Ereignissen oder Reaktionen auf plausible Zusammenhänge einer fremden Gesellschaft zu
schließen, muss in einer Forschung über die eigene Gesellschaft eine Distanz erst hergestellt werden, weil alles nur allzu vertraut und plausibel erscheint. In der eigenen Gesellschaft gilt es nicht, mühselige Zugänge zu
unvertrauten Denk- und Handlungsmustern zu gewinnen, sondern die Mühsal besteht darin, die geläufigen und aufdringlichen Denkweisen der Alltagswelt mit den ihnen innewohnenden Verboten und Vorschriften unentwegt auszuklammern. Nicht die Unvertrautheit, sondern gerade die Teilhabe an den gesellschaftlichen Sinnstrukturen trübt die Sicht auf die größeren
Zusammenhänge, in die eine gesellschaftliche Praxis eingebettet ist. Die
sozialen und politischen Kontexte, in denen sich eine gesellschaftliche Praxis ereignet, sind Sozialwissenschaftlern ja nicht nur bekannt, sondern an70
geeignet, in langen Jahren internalisiert, so dass ihre Hinterfragung das Ergebnis einer bewussten Anstrengung ist, die auch die eigenen Positionen
auf den Prüfstand stellt.
Daraus folgt eine direkte Umkehrung der Rolle, die der Wissenschaft und
Theorie im Forschungsprozess zukommt. Jede Forscherin, jeder Forscher
steuert nicht nur mit eigenem Erfahrungswissen das Forschungsgebiet an,
sondern auch mit einem Korpus an theoretischem Vorwissen ihrer oder
seiner ‚Disziplin’. Während theoretische Ansätze bei der Ethnographie in
der Fremde einen Kontext für die Interpretation von Unvertrautem bereitstellen können, dienen sie der Forschung im eigenen Land gerade dazu,
Unvertrautheit herzustellen, eine kritische Distanz zur Alltagswelt aufzubauen. Methode und Theorie sind deshalb nicht allein dazu da, von der Fülle der Beobachtungen zu sinnvoll geordneten Interpretationen zu gelangen,
sondern umgekehrt auch, den Sinn gewohnter Interpretationspfade zu hinterfragen.
Auf die hier versammelten Fallstudien werden deshalb verschiedene theoretische Ansätze angewandt, die im je spezifischen Fall brauchbar erscheinen, die Haltungen der Nachbarschaftsgruppe deutlich werden zu lassen
und in den richtigen Kontext zu stellen. In der Präsentation der Fallstudien
wiederum orientiere ich mich an einem allgemeinen Modell, dem der Situationsanalyse.
Situationsanalyse
Um die Haltung der Nachbarschaftsgruppen gegenüber Flüchtlingen herauszuarbeiten, habe ich das Bourdieusche Konzept des Habitus eingeführt.
Das Habitus-Konzept ist nur ein, wenn auch zentrales Instrument dieser
Forschung. Für Bourdieu stellte der Habitus das Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungen, zwischen einer
deterministischen Auffassung gesellschaftlicher Praxis und einem Ansatz
dar, der die Autonomie individuellen Handelns hervorhebt. Mit dem Habitus werden gesellschaftliche Strukturen als Einflussgrößen sozialer Praxis
nicht obsolet. Vielmehr erlaubt das Habitus-Konzept, die Positionierung
der Akteure innerhalb eines sozialen Gefüges zu bestimmen.
71
Um das individuelle Handeln und das Wirken gesellschaftlicher Strukturen
in einem konkreten Handlungskontext, wie es eine Asylunterkunft im
Stadtviertel darstellt, angemessen interpretieren zu können, bietet sich das
Konzept der Situationsanalyse an. Zum einen, weil es entworfen wurde, um
gerade gesellschaftlichen Wandel untersuchen und interpretieren zu können, zum anderen, weil es ermöglicht, diesen Wandel als symbolisch vermittelte Praxis darzustellen. Die klassische Studie der Situationsanalyse ist
noch immer Clyde Mitchells „The Kalela Dance“ (Mitchell 1956). Mitchell
untersuchte anhand eines populären Tanzes die komplexe interethnische
Neuformierung afrikanischer Wanderarbeiter in Minenstädten des Copperbelts. In Abgrenzung von traditioneller Ethnographie, die sich – grob verallgemeinert – der Rekonstruktion der vorkolonialen Kulturen Afrikas verschrieben hatte, stellte die Studie Mitchells den durch Industrialisierung
und Arbeitsmigration eingetretenen sozialen Wandel ins Zentrum der Untersuchung, eingebettet in die koloniale bürokratische Herrschaft.
Mitchells Ansatz der „situational analysis“ wurde in den neunziger Jahren
wieder aufgegriffen, weil er verschiedene innovative Aspekte vereint
(Ethnizität, Netzwerkanalyse und Situationsanalyse), die für die Untersuchung der Praxis von Minderheiten in einem urbanen Umfeld von großem
Vorteil sind (vgl. Rogers und Vertovec 1995). Ihre Attraktion (und Nützlichkeit für diese Arbeit) entfaltet Mitchells Arbeit unter anderem durch das
Beispiel, wie aus einem spezifischen Ereignis, einem Fest, einer Parade oder einem Tanz der symbolische Umgang der Akteure mit den ‚herrschenden Verhältnissen’ herausgearbeitet werden kann. Eine gesellschaftliche
Praxis wie die Gründung von Stadtteilinitiativen zur Unterstützung von
Flüchtlingen ist ein lokales Phänomen, das jedoch zugleich als Reaktion
auf bestimmte gesellschaftliche und, wo es die Fluchtmigration betrifft,
auch internationale Prozesse gelesen werden kann. Dies impliziert, dass das
Stadtviertel keinen hinreichenden Kontext zur Einordnung der Nachbarschaftsgruppen liefert, sondern dass die Aktivitäten der Gruppen in die gesellschaftlichen Zusammenhänge von Asyldiskurs und Asylpolitik eingebettet sind. Mitchells Situationsanalyse gibt eine Vorlage, wie einzelne Ereignisse in verschieden weite Kontexte eingegliedert werden können.
72
Nach Rogers und Vertovec (1995: 7) unterscheidet Mitchell drei für die
Situationsanalyse relevante Ebenen: Die Situation selbst als Ereignis oder
Ensemble von Ereignissen, die Bedeutung, welche die Akteure dieser Situation geben, und das allgemeine Setting als struktureller Kontext des Ereignisses. Wesentlich für die Situationsanalyse ist, dass diese Ebenen nicht
auf eine reduziert, sondern zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die
Situationsanalyse bietet damit die Gelegenheit, aus der Interpretation einer
bestimmten und abgegrenzten Situation heraus auf einen allgemeine Strukturen umfassenden Kontext zu schließen.
Ähnlich der Hermeneutik beschreibt das Vorgehen bei einer Situationsanalyse einen Zirkel, indem aus einem breiten sozialen Prozess eine einzelne
Episode herausgehoben wird. Ausgehend von dieser Situation wird die
Frage zu untersuchen sein, wie allgemeine strukturelle Kontexte, situative
Momente und die Haltungen der Akteure gemeinsam den Ablauf der Situation bestimmen. Aus den so gewonnenen Einsichten über die Situation
können wiederum Rückschlüsse auf die Gesellschaft als Ganzes gewonnen
werden, wie Mitchell dies selbst beschreibt:
„I start with a description of the kalela dance and then relate
the dominant features of the dance to the system of relationships among Africans on the Copperbelt. In order to do this
I must take into account, to some extent, the general system
of Black-White relationships in Northern Rhodesia. By
working outwards from a specific social situation on the
Copperbelt the whole social fabric of the Territory is therefore taken in. It is only when this process has been followed
to a conclusion that we can return to the dance and fully appreciate its significance (Mitchell 1956: 1).
Auch diese Interpretationslinien, die Mitchell in „The Kalela Dance“ entwirft, können für meine Arbeit fruchtbar gemacht werden. Bruce Kapferer
stellt in einer Neu-Lektüre des Mitchell Textes heraus, dass Mitchell den
Kalela Dance als Ausdruck des Widerstandes gegen die bürokratische Ordnung des Kolonialregimes in den Minenstädten interpretiert. Sowohl die
73
Kolonialverwaltung als auch die umfassende Kontrolle und Regelung des
Arbeitsalltags, die von den Bergbaugesellschaften gegenüber den Minenarbeitern ausgeübt wird, werden im Kalela Dance Gegenstand spöttischer
Parodie. Der Widerstand, der im Kalela Dance zum Ausdruck kommt, findet abseits der durch Bürokratie und Industrie geordneten Räume statt:
„Mitchell’s analysis of The Kalela Dance indicates resistance. This is a resistance not of an overtly political kind (of
the expressly anti-colonial sort) but a resistance to certain
determinations of the urban system of which Africans are a
part. To put it another way, the kalela is the anti-structural,
in a Turnerian sense, thrown up by the structural process of
urban formation” (Kapferer 1995: 64).
Der Kalela Dance nimmt damit nicht Stellung gegen das koloniale System
als solches, sondern drückt eher den Widerstand gegen die konkreten Auswirkungen des urbanen Lebens unter kolonialer und industrieller Kontrolle
aus. Die Nachbarschaftsgruppen, die sich in Flüchtlingsunterkünfte begeben, um die Bewohner zu unterstützen, üben gleichfalls keine offene Kritik
oder manifesten Widerstand gegen die strikte staatliche Kontrolle der Unterkunft. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Aktivitäten der Initiative implizit gegen die bürokratische Verwaltung der Flüchtlinge opponieren oder darauf angelegt sind, die staatliche Ausgrenzung der Flüchtlinge
vom gesellschaftlichen Leben zu unterlaufen. Auch hinsichtlich der Nachbarschaftsgruppen ist also die Frage von Interesse, in welchem Verhältnis
die Aktivitäten der Gruppe zur staatlichen Kontrollinstanz stehen.
Ein weiteres, von Mitchell im Kalela Dance hervorgehobenes Moment ist
der spöttische Umgang der Tänzer mit den Stammesidentitäten der Anwesenden. Eines der zentralen Themen des Tanzes ist die Parodie anderer
Ethnien und traditioneller Identitäten. In den Minenstädten des Copperbelts
lebten Angehörige der verschiedensten Ethnien des Landes, in Wohnvierteln zusammengewürfelt durch die Unterbringungspolitik der Bergbauunternehmen:
74
„A system of tied housing existed in the towns – Africans
received their housing from employers. They did not have a
choice over accommodation which might have facilitated
the recreation of social ties in accordance with principles
not directly linked to the administrative and industrial order
of towns. There was relatively little opportunity for persons
of similar ethnic or linguistic backgrounds to live together.
Most of those who came to the towns were already strangers, drawn as they were from diverse cultural backgrounds
and from a large geographical region” (Kapferer 1995: 60).
In der Freizeit, also außerhalb der disziplinierenden Ordnung kolonialer
Bürokratie und industrieller Arbeitsorganisation, führte dieses Zusammenleben verschiedener Ethnien zu einer ‚unstrukturierten’ Situation, die nicht
auf tradierte soziale Beziehungen aufbauen konnte. In dieser Lage griffen
die Minenarbeiter ethnische Kategorien auf, die allerdings nicht unbedingt
der tatsächlichen ethnischen Herkunft entsprachen, sondern als Neuordnungen anhand festgestellter kultureller Ähnlichkeiten und Unterschiede
anzusehen sind.
Mitchell interpretiert die Entstehung dieser ‚tribalen’ Kategorien und die
Etablierung von ‚joking relationships’ zwischen den Angehörigen verschiedener Gruppen als den Aufbau von sozialen Beziehungsmustern vor
allem dort, wo der Umgang nicht durch die äußerliche Ordnung der Arbeit
strukturiert war:
„Mitchell argued that the structuring of social relations
along tribal category lines was most apparent in what he
called ‚unstructured situations’. By and large he meant by
this non-work situations where there was not a determinant
organisational structure which defined and provided the
terms for social interaction. In other words, where Africans
had the greatest autonomy or freedom to direct their own action then the distinctly modern urban/industrial character of
75
ethnicity or tribalism became a major form for the organisation of social relations” (Kapferer 1995: 61).
In einer relativ offenen, unstrukturierten Situation greifen die Minenarbeiter also auf ethnische Kategorien zurück, um den sozialen Beziehungen eine Form zu geben. Dabei werden nicht einfach bestehende ethnische Kategorien aktiviert, sondern diese Kategorien und Identitäten werden entsprechend dem urbanen Kontext neu eingerichtet und ‚erfunden’. Diese Ethnisierung sozialer Beziehungen ist, darauf weist auch Kapferer nochmals hin,
ein Spezifikum des städtischen Umfeldes, in dem die Unterbringungspolitik
der Minengesellschaften eine spezielle Situation für die Arbeiter schufen.
Auch diese Interpretation lässt sich als Fragestellung auf die Nachbarschaftsgruppen übertragen: Die Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften in
der Nachbarschaft war offenkundig eine Störung der eingespielten sozialen
Ordnung. Unruhe und steigende Kriminalität wurden befürchtet. Das Engagement der Nachbarschaftsgruppen ist eine Reaktion auf diese Störung,
und ihr Bemühen – „Miteinander Leben in Sabing“ – richtet sich auf die
Etablierung von stabilen Beziehungen und Verhältnissen. Auf welche Muster die Initiative dabei zurückgreift, welches ihr die adäquate Form für die
eigene Identität erscheint, ist eine der grundlegenden Fragestellungen dieser Arbeit.
Sowohl die prinzipielle Herangehensweise als auch die Anstöße, die sich
aus den hier angerissenen Fragestellungen ergeben, lassen die Situationsanalyse für diese Arbeit als brauchbares Werkzeug erscheinen, mit dem die
Haltung und Praxis der Nachbarschaftsgruppe in einen methodologischen
Kontext gestellt werden kann. Das Ziel dieser Forschung liegt nicht in einer
umfassenden Beschreibung der Nachbarschaftsgruppen als Stadtviertelinitiative, als Teil einer im Ansatz stecken gebliebenen sozialen Bewegung
oder ähnlichem. Vielmehr soll von Praxis und Meinungen der Nachbarschaftsgruppe auf eine allgemeinere Haltung geschlossen werden, die den
Flüchtlingen als neuen Zuwanderern entgegengebracht wird.
76
Zur Auswahl der Fallbeispiele
Die in dieser Arbeit präsentierten Fallstudien sind nicht wegen ihrer Repräsentativität für die Arbeit der Initiative ausgewählt worden, sondern vielmehr wegen ihrer Aussagekraft. Auch wenn diese Beispiele typisch in dem
Sinne sind, als sie Situationen und Verläufe schildern, die in ähnlicher
Weise in verschiedenen dieser Gruppen stattgefunden haben (mal mehr,
mal weniger erfolgreich), so lag der Auswahl das Ziel zugrunde, aussagekräftige Situationen zu schildern und zu interpretieren. Daraus ergab sich,
dass alle drei Fallstudien sich nicht mit ‚geglückten’ Aktionen beschäftigen, sondern mit solchen, deren Erfolg zumindest zweifelhaft ist. Insofern
hat das Bild, das ich von der Arbeit der Initiative zeichne, eine gewisse
Schieflage und ist dazu angetan, die Aktivitäten der Gruppe kritischer und
negativer darzustellen, als es der Realität entspricht. Bei den ausgewählten
Fallbeispielen treten, gerade weil sie problematische Aktionen der Gruppe
aufgreifen, spezifische Entscheidungsmuster schärfer zu Tage als bei rundherum geglückten Aktivitäten, wo es für die Handelnden nicht nötig ist,
explizit Stellung zu beziehen. Ein weiterer Grund, vor allem ent-täuschende
Aktionen der Initiative heranzuziehen, ist die Möglichkeit, damit Erfahrungs- und Lernprozesse der Initiative in die Arbeit einzubeziehen.
Daten- und Informantenschutz
Den Mitgliedern der Initiative, mit denen ich zusammengearbeitet habe,
habe ich von Anfang an Anonymität ihrer Aussagen und Aktivitäten zugesagt. Dies war zumindest einem Teil der Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe wichtig, hat meines Erachtens jedoch weder Tenor noch Inhalte der
Interviews verändert. Die Namen der in den Fallbeispielen genannten oder
interviewten Personen sind aus diesem Grund geändert, und entsprechend
gibt es in München auch keinen Stadtteil namens Sabing. Darüber hinaus
sah ich keine Notwendigkeiten, Personen oder Episoden zu anonymisieren,
da ich mich zur Darstellung des Kontextes vor allem auf öffentlich zugängliche Quellen beziehe.
77
3. Einwanderungen in die Bundesrepublik – der Umgang mit
Arbeitsmigration und Asyl
1. Flüchtlinge und Arbeiter
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist auch eine Geschichte
der Einwanderung (vgl. Motte u.a. 1999: 15ff ). Flüchtlinge und Vertriebene, Arbeitsmigranten, Asylsuchende und Aussiedler bestimmen die großen
Themen der bundesdeutschen Einwanderungsgeschichte. Die Titel, die den
einzelnen Einwandererpopulationen gegeben wurden, sind angelehnt an
Rechtstitel, die vom politischen Bemühen zeugen, den Einwanderungsprozess der einzelnen Gruppen durch je unterschiedliche Formen der In- bzw.
Exklusion sowie Möglichkeiten der Integration zu steuern und zu gestalten.
Geschichte und Grundzüge der Einwanderung in die Bundesrepublik
Deutschland sind gut dokumentiert25. Hier sollen nur einige Aspekte rekapituliert werden, die für das besondere bundesdeutsche Verhältnis zu Einwanderung prägend gewesen sind und somit Einfluss auch auf die Arbeit
der hier untersuchten Nachbarschaftsgruppen haben. Parallelen wie auch
Unterschiede zwischen der Entwicklung eines gesellschaftlichen Verhältnisses zu Arbeitsmigranten und ihren Nachkommen sowie Asylsuchenden
soll im folgenden Kapitel skizziert werden. Beides gemeinsam bildet das
Fundament, auf dem die Aktivitäten der Nachbarschaftsgruppe gegenüber
Asylsuchenden wie hinsichtlich der breiteren Nachbarschaft verständlich
gemacht werden sollen.
Flüchtlinge, Vertriebene und Arbeitsmigranten
Die Bundesrepublik wurde gegründet in einer nach heutigen deutschen
Maßstäben kaum fassbaren Wanderungssituation. Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft fanden in ganz Europa Wanderungsbewegungen von Flüchtlingen, ehemaligen Kriegsgefangenen,
Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen statt. Zusätzlich zu zwölf Millionen
Flüchtlingen und Vertriebenen der Nachkriegsjahre sind auch fast vier Millionen deutschstämmiger Aussiedler, die zwischen 1950 und 1999 in die
25
Vgl. Bade 1993; Bade 2000; Motte u.a. 1999.
79
Bundesrepublik kamen, als Einwanderer aufzuführen (Motte u.a. 1999: 17).
Charakteristikum fast aller dieser Einwanderer im Nachkriegs-Deutschland
ist die deutsche Abstammung. So fand in den ersten Jahren der Bundesrepublik eine in der deutschen Geschichte beispiellose ethnische Homogenisierung der Bevölkerung unter Beibehaltung kultureller Diversität statt26.
Bis Mitte der fünfziger Jahre hatte die Gesellschaft der Bundesrepublik also eine außerordentlich hohe Immigration vorwiegend deutschstämmiger
Einwanderer zu verarbeiten. Wenn auch die Integration nicht ohne Probleme verlief, so war sie politisch doch gewollt und wurde maßgeblich gestützt durch die Inklusion dieser Einwanderer in die Wohnbevölkerung und
in das politische Gemeinwesen, so dass Motte u.a. bei Vertriebenen und
Aussiedlern von ‚privilegierten’ Migranten sprechen (Motte u.a. 1999: 18).
Ganz anders verhält es sich mit der Haltung gegenüber den ab 1955 angeworbenen Arbeitsmigranten aus verschiedenen Mittelmeeranrainerstaaten.
Zunächst 1955 mit Italien, ab 1960 dann auch mit Griechenland, Spanien,
der Türkei und Jugoslawien sowie anderen Staaten geschlossene Anwerbeverträge sollten dringend benötigte Arbeitskräfte in die Bundesrepublik
bringen. Wirtschaftlicher Aufschwung Mitte der fünfziger Jahre, aber auch
die zunehmend erschwerte deutsche Ost-West Binnenmigration trugen wesentlich dazu bei27. Geplant war die Beschäftigung von Arbeitsmigranten
als befristete Maßnahme zur Regulierung des Arbeitsmarktes. Das Rotationsprinzip, nach dem Arbeitsmigranten nach spätestens fünf Jahren in ihr
26
Motte u.a. 1999: 17. Den Hinweis auf die Bedeutsamkeit der nationalen Homogenität
in der Nachkriegszeit verdanke ich Anja Weiß. Die Beibehaltung der kulturellen Diversität steht vermutlich auch im Zusammenhang mit der Betonung der kulturellen Autonomie der Bundesländer und spielt nicht nur für die Ansprüche von Vertriebenenverbänden eine Rolle, sondern auch für die Integration von Arbeitsmigranten aus dem südlichen Europa und die Diskussion über Multikulturalität.
27
Zu nennen ist hier vor allem der Bau der Berliner Mauer 1961. Eine Reihe weiterer
Faktoren wie verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten, Aufbau der Bundeswehr, geburtenschwache Nachkriegsjahrgänge und Verkürzung der Arbeitszeit waren ebenfalls
für die Arbeitskräfteknappheit bedeutsam. Relevant war wohl auch, dass die Anwerbung von billigen Arbeitskräften die Möglichkeit schuf, kostenintensive Rationalisierung und Modernisierung sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu umgehen
bzw. zu verschieben (vgl. Osiander und Zerger 1988: 8f).
80
Herkunftsland zurückkehren und ihren Platz für neu Angeworbene frei machen sollten, wurde aufgrund von Protesten seitens der Arbeitgeber in der
Praxis schnell fallen gelassen. Dennoch erfüllte es bis Anfang der siebziger
Jahre seinen Zweck. Von den zwischen 1962 und 1972 fünf Millionen angeworbenen Arbeitskräften verließen drei Millionen die Bundesrepublik
wieder (Bade und Bommes 2000: 169). Ölkrise und erneute wirtschaftliche
Rezession veranlassten Ende 1973 die Bundesregierung, einen Anwerbestop zu erlassen und die Einreise von Arbeitsmigranten zu stoppen. Dies
führte in den Folgejahren zu einem leichten Rückgang ausländischer Arbeitnehmer, doch ab 1979 stiegen die Beschäftigungszahlen wieder deutlich an. Zugleich stieg ab 1978 der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung stark an, bedingt vor allem durch den Nachzug von Familienangehörigen. Der Anwerbestopp und gleichzeitig errichtete Hürden bei der Wiedereinreise hatten dazu geführt, dass sich der Aufenthalt vieler Arbeitsmigranten ungewollt verfestigte und der Familiennachzug deutlich anstieg.
Das Paradigma des Gastarbeiters
Der Aufenthalt der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik war von Beginn an als betriebs- und volkswirtschaftliche Maßnahme konzipiert worden. Die Arbeitskräfteknappheit ließ die Anwerbung
von Arbeitskräften in Südeuropa als die naheliegendste Lösung erscheinen.
Der Anwerbeentschluss scheint auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens gestoßen zu sein (vgl. Informationen 1984: 5). Die Frage einer gesellschaftlichen Integration stellte sich in den ersten Jahren der Einwanderung
von Arbeitsmigranten aus Südeuropa nicht. Auch als das Rotationsprinzip
fallen gelassen wurde, weil die Arbeitgeber die höheren Kosten und geringere Produktivität von Anlernphasen scheuten, wurde die Präsenz der
Migranten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nahezu ausschließlich ökonomisch begründet. Ausländerpolitik wurde als Arbeitsmarktpolitik
verstanden, der Aufenthalt wurde von der Arbeitserlaubnis abhängig gemacht und Einwanderung als zusätzliche Regulierungsmöglichkeit des Arbeitsmarktes verstanden:
81
„In der Anwerbephase wurden der Konzeption nach aus allen Anwerbeländern Erwachsene, d.h. ausgebildete weibliche und männliche Arbeitskräfte importiert, die, ohne den
Ballast von Familien, räumlich und in bezug auf ihren Arbeitsplatz flexibel, individuell einer Nutzung auf dem bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen
sollten. Die sozialen Kosten für das Aufwachsen, die Ausbildung sowie den langfristigen Lebensunterhalt dieser Individualarbeitskraft selbst waren ebenso wenig in diesem
Bild des ‚Gastarbeiters’ vorgesehen wie ihre Familien, längerfristiger Verbleib, Krankheit, Alter oder nachwachsende
Kinder“ (Hamburger u.a. 1983: 9).
Die angeworbenen Migrantinnen und Migranten waren in den Anfangsjahren wenig in der Öffentlichkeit präsent28. Dem ökonomischen Zweck entsprechend wurden viele Arbeitskräfte auf Firmengeländen oder in Firmenunterkünften untergebracht. Bis in die siebziger Jahre hinein bestimmten
Barackenlager die Lebensbedingungen vieler Arbeitsmigranten. Kontakte
zwischen Migranten und Einheimischen waren deshalb primär am Arbeitsplatz möglich. Erst mit steigender Aufenthaltsdauer traten Migranten Anfang der siebziger Jahre auch auf dem freien Wohnungsmarkt in Erscheinung, verlagerte sich ihr Lebensmittelpunkt zunehmend in das Aufnahmeland, wurden Männer, Frauen und Kinder nachgeholt. Der Anwerbestopp
im Jahr 1973 verstärkte diese Entwicklung, weil ein Pendeln zwischen
Herkunfts- und Aufnahmeland schwieriger wurde. Der ökonomisch oft riskanten definitiven Rückkehr wurde häufig die Niederlassung im Aufnahmeland vorgezogen29. Dennoch sahen viele Migrantinnen und Migranten
ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik lange als vorübergehend an. Die
28
Dies gilt zum Beispiel auch für die Kommunalpolitik, wo das Thema Ausländer erst
Anfang der siebziger Jahre angesprochen wird (vgl. Filsinger u. a. 1983: 45).
29
Neben ökonomischen Risiken spielte auch die Entfremdung von der Kultur des Herkunftslandes eine Rolle. Zu den Risiken der Rückkehrersituation für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vgl. z.B. Osiander und Zerger 1988: 113ff; Unger und
Unger 1983: 182ff.
82
baldige Rückkehr in das Herkunftsland wurde von Jahr zu Jahr hinausgeschoben, bis daraus bei steigender Aufenthaltsdauer ein „Rückkehrmythos“
wurde30.
Bis 1973 wurde seitens der Bundesregierung offiziell am Rotationsmodell
festgehalten. Die Vorstellung, dass zumindest ein großer Teil ausländischer
Arbeitnehmer über kurz oder lang die Bundesrepublik wieder verlassen
würde, hielt sich noch wesentlich länger. Bemerkenswert ist die Kontinuität, die parteiübergreifend das politische Verhältnis zur Zuwanderung bestimmte: Begrenzung der Zuwanderung, Förderung der Rückkehrbereitschaft und restriktive Bestimmungen zum Aufenthaltsrecht prägten die
Programme von sozial-liberalen wie auch christlich-liberalen Regierungen
bis in die achtziger Jahre (vgl. Hamburger u.a. 1983: 4ff). Politisch blieb
das Paradigma vom Gastarbeiter weiterhin bestimmend. Aufenthaltserlaubnis und Erlaubnis zum Familiennachzug blieben vom Arbeitsplatz des Zuwanderers abhängig.
Während schon in den siebziger Jahren deutlich wurde, dass eine faktische
Einwanderungssituation in der Bundesrepublik bestand, wurde dieser Umstand von der Politik noch lange Zeit, z.T. bis in die jüngste Gegenwart ignoriert. Maßnahmen zur Integration waren spärlich und mit dem Zusatz
versehen, dass dadurch die Rückkehrbereitschaft nicht vermindert werden
dürfe und die Rückkehr der Migrantinnen und Migranten in die Herkunftsländer das Ziel der Ausländerpolitik bleibe. Die politischen Möglichkeiten,
die Migranten zur Rückkehr zu veranlassen, waren jedoch von Beginn an
gering und wurden insbesondere durch die zunehmend wichtigere Rolle
von EWG- bzw. EG-Verträgen immer weiter eingeschränkt. Innerhalb der
Bundesrepublik genossen Arbeitsmigranten abgesehen vom Arbeitserlaubnis- und Aufenthaltsrecht sowie den eingeschränkten Möglichkeiten zur
30
Auch wenn die Rückkehrwünsche sich nicht realisieren lassen, ist es für viele türkische Migrantinnen und Migranten der ersten Generation wichtig, an ihrem Herkunftsort
oder zumindest im Herkunftsland bestattet zu werden. So wurden von 1989 bis 1993
von 385 türkischen Sterbefällen in München nur 38 in München bestattet, die übrigen
(rund 90 %) wurden in die Türkei überführt (Blach 1996: 56; vgl. auch Bielefeld 1988:
158).
83
politischen Partizipation mit zunehmender Aufenthaltsdauer auch annähernd die gleichen Rechte wie Bundesbürger, systematische Diskriminierungen in der Verwaltungspraxis wurden immer weiter abgebaut. Die politische Rede vom lediglich vorübergehenden Aufenthalt der Arbeitsmigranten wurde so immer mehr zur leeren rhetorischen Formel, verhinderte jedoch über lange Jahre eine der Realität angepasste Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Eingewanderten (vgl. Bade und Bommes
2000: 165, Bielefeld 1988: 113f).
Widersprüchliche Signale
Dass sich seit Anfang der achtziger Jahre federführend nicht mehr das Arbeits-, sondern das Innenministerium mit den Eingewanderten befasste, ist
Indiz dafür, dass auch die Politik die längerfristige Anwesenheit der
Migranten als Ausgangslage künftiger Entwicklungen annahm. Migranten
wurden als Teil der gesellschaftlichen Realität wahrgenommen, zugleich
wurde jedoch öffentlich immer wieder darauf hingewiesen, dass eine vollständige Integration weder für möglich noch für wünschenswert erachtet
wurde (vgl. Hamburger u.a. 1983: 3ff). Der Mythos von der baldigen
Rückkehr der Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer wurde von der Politik ebenso gepflegt wie von den Migranten selbst. Die kulturelle Differenz
zwischen Deutschen und Zuwanderern besonders aus der Türkei wurde
hervorgehoben und als wesentliches Hindernis einer als Assimilation verstandenen Eingliederung dargestellt. Zugleich wurde regelmäßig auf die
Gefährdung der Gesellschaft durch die Präsenz der Eingewanderten gedeutet. Extra ausgewiesene Kriminalitätsstatistiken unterstützten diese Vorstellung. Besonders in Wahlkampfzeiten wurden Arbeitsmigranten zum Sündenbock für wirtschaftliche Rezession und Arbeitslosigkeit gemacht; „die
Ausländer“ wurden zum innergesellschaftlichen Feindbild stilisiert, zur Ursache von wirtschaftlichem Schaden und innergesellschaftlicher Bedrohung
durch angeblich hohe Kriminalitätsraten. Das ‚Problem des nicht integrierbaren Ausländers’ wurde geschaffen. Ab Mitte der siebziger Jahre wurde
dieses Bild noch um die Facette des „Wirtschaftsflüchtlings“ bzw. „Asylanten“ erweitert.
84
Im deutlichen Gegensatz zum Inklusionsdiskurs und zu den Integrationsangeboten gegenüber deutschstämmigen Zuwanderern signalisierte die Politik
gegenüber Arbeitsmigranten, dass ihre Anwesenheit nur geduldet und als
vorübergehend aufgefasst wurde. Toleranz gegenüber Ausländern war deshalb die gängige Formel, auf die sich Staat, Kirchen, Gewerkschaften und
andere gesellschaftliche Institutionen und Gruppen besonders in wiederkehrenden Phasen von Ausländerfeindlichkeit einigen konnten. Statt von
einer gesellschaftlichen und politischen Inklusion und Integration wurde
das Verhältnis zu Arbeitsmigranten und ihren Familienangehörigen durch
widersprüchliche Praktiken und Signale der Inklusion wie auch der Exklusion bestimmt. Grundlegend für die Diskussion in der Öffentlichkeit und in
der Politik ist das Paradigma des „Gastarbeiters“, das auf eine funktionale,
zeitliche und schichtspezifische Beschränkung der Inklusion hinweist. Die
Bedeutung, die diese begriffliche Funktionalisierung des Fremden hat, ist
gerade an der Haltbarkeit der Parole ersichtlich31. Gegenüber Gastarbeitern
kann man sich verhalten, man kann ihnen bedeuten, dass sie sich wie Gäste
zu benehmen haben, man kann in ihnen eine vorübergehende Erscheinung
sehen, man kann sie auf die Rolle reduzieren, die sie für die heimische Ökonomie spielen etc. All diese Zuweisungen binden die „Fremden“ an einen bestimmten Ort in der Gesellschaft, legitimieren bestimmte Formen der
Exklusion und Diskriminierung. Diese funktionale Separierung durch die
Kategorie des „Gastarbeiters“, der den bundesrepublikanischen Wirtschaftsinteressen und Sicherheitsbedenken unterworfen wird, erfährt ihre
Legitimation in der Trennung zwischen „Deutschen“ und Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit:
„Die amtliche Begründung des Ausländergesetzes von
1965, das die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 ablöste, geht davon aus, dass fremde Staatsangehörige in keinem
Treu- und Rechtsverhältnis mit eigenen Rechten und Pflich31
Gastarbeiter war nie eine amtliche Bezeichnung der Einwanderer, die von Behörden
„ausländische Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern“ genannt
wurden (Bade 1994a: 16).
85
ten zum Aufnahmeland stehen können, und dass deshalb die
staatlichen Organe ihr Handeln nach Zweckmäßigkeitserwägungen, die an politischen Zielen orientiert sind, ‚legitimer Weise’ ausrichten können (BT-Drucksache IV/868).
Diese grundsätzliche Festlegung zieht sich bis heute durch
die ausländerrechtlichen Verfügungen“ (Stüwe und Peters1984: 5).
Weil die Ausländer also Fremde ohne ‚Treu- und Rechtsverhältnis zum
Aufnahmeland’ sind, ist auch das Aufnahmeland nicht verpflichtet, andere
als die eigenen Interessen wahrzunehmen. Gerade im öffentlichen Diskurs
resultiert die Kraft und Dauerhaftigkeit des Begriffs „Gast“-Arbeiter wesentlich aus der Hierarchisierung, die aus der Gegenübersetzung des Eigenen und des Fremden resultiert:
„Zum Landesgast, den man die Filter eines Territoriums
passieren lässt, wird der Fremde gewöhnlich nur, wenn er
sich als Angehöriger eines anderen Staates ausweisen kann,
wodurch man ‚legitimiert’, warum er von zahllosen Rechten
ausgeschlossen wird. Darin vor allem liegt der Grund, warum man dazu neigt, den Gastgeber überhaupt mit dem
Herrn eines (privaten oder öffentlichen) Eigentums gleichzusetzen, im Unterschied zum Nomaden, der dem Nomaden
in einem ‚Niemandsland’ zum Gast werden konnte, im Unterschied auch zu den Mitgästen, die einander gastlich begegnen“ (Bahr 1994: 14f).
Unterhalb dieser politisch proklamierten funktionalen Separierung der Arbeitsmigranten vollzog sich jedoch ein Integrationsprozess, der durch die
weitgehende rechtliche Gleichstellung der „Gastarbeiter“ abgestützt wurde.
Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände vertraten auf Bundesebene die Integration der Arbeitsmigranten in die Gesellschaft, die Integrationsprozesse fanden jedoch vor allem auf kommunaler Ebene statt. Aus
den Signalen und Aussagen gegenüber den Eingewanderten ergibt sich ein
widersprüchliches Bild, das Klaus Bade treffend als „Integrationstheater“
86
bezeichnet32. Während auf der politischen Bühne wieder und wieder ein
altertümliches Ritterspiel namens „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ aufgeführt werde, habe sich hinter den Kulissen längst eine weitgehend erfolgreiche Eingliederung der Eingewanderten vollzogen. Die funktionale Separierung des bloßen „Gast-Arbeiters“ von der einheimischen
Bevölkerung, wie sie auf der politischen Bühne vertreten wird, finde in der
Gesellschaft kaum mehr ihre Entsprechung.
Der Übergang von der Kategorisierung der Eingewanderten als ökonomische Ressource zur Feststellung, dass sie bleibender Teil der Gesellschaft
geworden waren, vollzog sich schrittweise seit Beginn der siebziger Jahre
und ist noch nicht als abgeschlossen zu betrachten. In den siebziger Jahren
konnten sich verschiedene gesellschaftliche Institutionen erfolgreich als
Vermittlungsinstanzen zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft installieren. Insbesondere die Wohlfahrtsverbände und die sogenannte ‚Ausländerpädagogik’ bestimmten über die Versuche einer positiven Gestaltung
des Verhältnisses zwischen Eingewanderten und Einheimischen.
2. Die Entdeckung des Sozialen
Zum gesellschaftlichen Verständnis eines bloß befristeten und vorübergehenden Aufenthalts von Einwanderern aus Mittelmeeranrainerstaaten steht
es nicht in Widerspruch, dass die deutschen Wohlfahrtsverbände schon
frühzeitig eine Betreuung der Migranten organisierten. Die Caritas machte
den Anfang, indem sie zunächst für eingewanderte Arbeiter aus Italien ein
muttersprachliches Seelsorge- und Beratungsangebot einrichtete (1960),
das auf Spanier (1961), Portugiesen und katholische Jugoslawen ausgeweitet wurde (Stratmann: 1984: 9). Gemäß einer internen Absprache zwischen
den drei großen Wohlfahrtsverbänden übernahm die Caritas die Betreuung
der Migranten aus den mehrheitlich katholischen Ländern, das Diakonische
Werk die Betreuung griechischer Arbeitsmigranten, die Arbeiterwohlfahrt
schloss mit der Betreuung von Türken, nicht-katholischen Jugoslawen so-
32
Vortrag auf der ISKA Tagung in Nürnberg im September 2000.
87
wie Tunesiern und Marokkanern auf. Die anfängliche Motivation der
Wohlfahrtsverbände, sich in der Beratung von Arbeitsmigranten zu engagieren, lässt sich nach Stratmann nicht eindeutig bestimmen. Fest steht,
dass dem keine Initiative des Staates vorausgegangen war (Stratmann 1984:
10). Die Aufteilung der Arbeitsmigranten nach Herkunft auf die drei Wohlfahrtsverbände wurde allerdings von der Bundesregierung gebilligt. Auch
bei der strukturellen und konzeptionellen Gestaltung der Betreuung ließ der
Staat den Verbänden weitgehend freie Hand33. Bundes- und Länderregierungen beschränkten sich auf Zuschüsse zur Finanzierung der Beratungstätigkeit durch die Wohlfahrtsverbände, deren Höhe jeweils zwischen Regierung und Verband ausgehandelt wurde. Umgekehrt ließen sich die Regierungen von den Wohlfahrtsverbänden auch nicht in die Ausgestaltung der
jeweiligen Ausländerpolitik hineinreden. Zwar formulierten (und formulieren) Wohlfahrtsverbände allgemeine integrationsorientierte Ziele, die seit
Beginn der achtziger Jahre zunehmend gegen die praktizierte „Ausländerpolitik“ gerichtet waren, „... ihre Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten
auf die Ausländerpolitik sind jedoch nach fremder wie auch nach eigener
Einschätzung gering“ (Stratmann 1984: 17). Dies führte zu einem spezifischen Zweck-Verhältnis zwischen Politik, Wohlfahrtsverbänden und betreuten Migranten, auf das im Folgenden eingegangen werden soll.
Aufgaben und Arbeitsfelder der Wohlfahrtsverbände
War die Arbeit der Wohlfahrtsverbände in den ersten Jahren auf die Arbeitssituation und die Verbesserung besonders der Wohnverhältnisse ausländischer Arbeitnehmer in Firmenunterkünften geprägt, so wuchsen den
Beratungsstellen durch den sich verfestigenden Aufenthalt der Migranten
mit der Zeit immer mehr Aufgaben zu. Sozialberatungsstellen für Migranten auf lokaler und kommunaler Ebene leisteten vor allem Einzelfallhilfe.
Die Sozialberater bildeten Bindeglied und Puffer insbesondere zwischen
33
„Eine gesetzliche Grundlage gibt es weder für die Aufgabenverteilung, noch für die
Zuteilung finanzieller Ressourcen und die Beteiligung der Verbände an der politischen
Willensbildung bei der staatlichen Ausländerpolitik. Diese Prozesse laufen eher ‚informell’ ab“ (Stratmann 1984: 11).
88
Behörden, Verwaltungen und Migranten, da ein großer Teil ihrer Tätigkeit
in der Ausübung „bürokratischer Hilfsfunktionen“ (Stratmann 1984: 19)
wie Übersetzen von Amtsschreiben, Kontaktaufnahme oder Intervention
bei Behörden bestand34. Weitergehende Aufgaben konnten kaum erfüllt
werden, da die Wohlfahrtsverbände im Verhältnis zu den Migrantenzahlen
nur vereinzelte Sozialberatungsstellen einrichteten35. Für die Stellen suchten die Wohlfahrtsverbände vor allem muttersprachliche Berater, die
zugleich als Übersetzer, Berater und Vermittler gegenüber Behörden auftraten. Höhere Stellen wurden fast durchgehend mit Deutschen besetzt.
Als wichtigste von den Wohlfahrtsverbänden artikulierte Zielsetzungen
nennt Stratmann (1984: 12):
• „Verbesserung der Wohnverhältnisse für Ausländer;
• gleichwertige Bildungschancen für die zweite und dritte Generation;
• Verbesserung des Rechtsstatus der Ausländer im Aufenthaltsrecht,
bei der Familienzusammenführung, in der Ausbildungsförderung und
bei der Sozialhilfe;
• Förderung des kommunalen Wahlrechts als Ausdruck politischer
Partizipation der Ausländer (zumindest auf lokaler Ebene);
• Förderung des Beratungswesens, aber auch der Eigeninitiative und
Selbsthilfe von Ausländern“
Damit sind eine ganze Reihe von Zielen genannt, die auf eine rechtliche
und soziale Angleichung der Arbeitsmigranten mit Bürgern der Bundesrepublik ausgerichtet sind. Die ersten vier der aufgeführten Zielsetzungen
bezeichnen dabei Themen, die von den Wohlfahrtsverbänden gegenüber
staatlichen Institutionen vertreten werden sollen. Hier nehmen die Verbände die Position der Interessenvertretung der Migranten gegenüber dem
Staat ein, der zur Umsetzung der formulierten Integrationsziele bewegt
34
Dies hat sich bis heute kaum geändert. Nach Auskunft des Referats Migration des
AWO Landesverbands Bayern im Juni 2000 besteht ein großer Teil der dort geleisteten
Arbeit in Einzelfallhilfe und Beratung.
35
So beschäftigte die AWO 1982 300 Sozialberater für rund 1,5 Millionen Arbeitnehmer aus der Türkei und ihre Angehörigen. Auf einen Sozialberater kamen also rein
rechnerisch 5000 Migranten. Auch war das Netz der Sozialberatungsstellen so dünn,
dass besonders in ländlichen Gegenden eine Beratung für Migranten praktisch kaum
wahrnehmbar war (vgl. Stratmann 1984: 18 und Thränhardt 1983: 62).
89
werden soll. Lediglich der letzte Punkt bezeichnet das von den Wohlfahrtsverbänden selbst umgesetzte Ziel einer Beratung und Betreuung von
Migranten. Mit der gleichzeitigen Förderung des ‚Beratungswesens’ einerseits und der ‚Selbsthilfe’ andererseits verbirgt sich in dieser Zielsetzung
zugleich ein großes Problem und der gewichtigste Kritikpunkt an der Praxis der Wohlfahrtsverbände.
Seit Anfang der achtziger Jahre wurden Diskrepanzen zwischen der Selbstbeschreibung der Wohlfahrtsverbände als Interessensvertreter von Migrantinnen und Migranten und der geübten Praxis mit aller Deutlichkeit kritisiert. Die Kritik, die von Sozialwissenschaftlern und Politologen formuliert
wurde, richtete sich besonders auf die folgenden Punkte:
• Priorität des verbandlichen Eigeninteresses vor dem Engagement für
die Interessen der Migranten,
• Korporatismus und Kartell statt Strukturen der Mitbestimmung,
• Klientelisierung statt Förderung der Selbsthilfe und Selbstbestimmung,
• Aufteilung entlang nationaler Kriterien fördert Ethnisierung und
blendet Interessen von Minderheiten aus (vgl. Thränhardt 1983 und
1984).
Wohlfahrtsverbände waren über ihre Beratungseinrichtungen diejenigen
Institutionen der Bundesrepublik, die dank ihrer direkten Kontakte zu
Migrantinnen und Migranten Erfahrungen über die Lebenssituation und
Einstellungen der Eingewanderten gesammelt hatten. Dadurch konnten sie
eine wichtige Rolle als Zwischenglied zwischen Migranten und ihren Belangen einerseits, öffentlichen Einrichtungen, Politik und Verwaltung andererseits besetzen. Diese Position der Wohlfahrtsverbände wurde mit der
Zeit immer stärker, da die Behörden immer mehr Aufgaben von kommunalen Stellen an die Sozialberatung delegierten. Die Wohlfahrtsverbände kamen dadurch in die Lage, sich als Kenner und Vertreter der Interessen und
Belange der von ihnen betreuten Migranten zu profilieren. Gerade die Vertretung der Migranteninteressen, so die Kritik, wurde von den Wohlfahrtsverbänden jedoch nicht hinreichend geleistet. Zum einen konnten die Verbände, wie oben schon angeführt, kaum Einfluss auf die Formulierung der
Politik gegenüber Eingewanderten geltend machen. Zum anderen hatten die
90
Eigeninteressen gewichtigen Einfluss auf die Haltung der Verbände. So
unterstützten die Verbände zwar die Gründung von Migranten-Vereinen
und –Organisationen und stellten häufig Räume zur Verfügung. Diese Unterstützung von Migranten hörte jedoch dort auf, wo das eigene Interesse
des Monopols der politischen Interessenvertretung tangiert wurde.
Deutlich wird die Verteidigung von Verbandsinteressen auch bei der Gründung kommunaler Ausländerbeiräte, die den Alleinvertretungsanspruch der
Verbände in Frage stellten. Obwohl sich die Verbände in ihren Zielen der
Stärkung der Hilfe zur Selbsthilfe und Eigeninitiative wie auch dem Kampf
für ein kommunales Wahlrecht verschrieben haben, stieß die Einrichtung
lokaler Ausländerbeiräte in vielen Städten und Kommunen auf den Widerstand der Wohlfahrtsverbände. Stattdessen besetzten die Wohlfahrtsverbände selbst die Stelle des ‚zuständigen’ Ansprechpartners und Vertreters
der Migranten gegenüber den kommunalen Behörden. Die Versuche, eigenständige Politikformulierung durch Migranten zu verhindern, lassen die
Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände nicht nur positiv als Vermittler von
Migranten-Interessen, sondern auch negativ als „... Barriere zwischen Betroffenen und Kommune“ (Thränhardt 1984: 59) erscheinen.
Vielfach kritisiert wurden auch die internen Strukturen der Wohlfahrtsverbände, die eine wirksame Interessensvertretung von Migranten auch innerhalb der Verbände unmöglich machten. Dies führte dazu, dass die Verbandspolitik gegenüber Migranten kaum legitimiert werden musste.
Migranten sind nicht Mitglieder der Verbände, sondern Klienten der Beratungseinrichtungen36. Stratmann führt auch den eingangs erwähnten geringen Einfluss der Verbände auf die Gestaltung der Ausländerpolitik auf den
fehlenden Druck von Mitgliedern zurück:
„So spielen dann auch eher Forderungen aus ‚bürokratischem Eigeninteresse’ – z.B. Verbesserungen der Arbeits36
Ausnahme ist die Situation des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, dessen
Arbeit mit Migranten durch Mitgliedergruppen durchgeführt wird. Der DPWV war jedoch bei der Aufteilung der Migranten auf die Wohlfahrtsverbände nicht vertreten und
wurde deshalb auch bei der Mittelvergabe für soziale Leistungen für Migranten kaum
berücksichtigt.
91
bedingungen von Sozialberatern, mehr finanzielle Ressourcen – in den Verbandsinitiativen eine Rolle, als die nur unter Kompetenzverlusten zu realisierende Programmformel
von der ‚Hilfe zur Selbsthilfe’“ (Stratmann 1984: 17).
Statt sich also für die Interessen der Migranten einzusetzen, sicherten sich
die Wohlfahrtsverbände in erster Linie selbst Einflussmöglichkeiten und
die Berücksichtigung bei der staatlichen Mittelvergabe. So entsprach es den
Interessen der Wohlfahrtsverbände, die Eigeninitiative und ‚Hilfe zur
Selbsthilfe’ von Migranten nach Möglichkeit gerade nicht zu fördern, um
die eigene Schlüsselposition nicht zu schwächen. Hinsichtlich einer Integration der Migranten ist die Arbeit der Sozialbetreuung durch die Wohlfahrtsverbände schwer zu beurteilen. Es fand zwar eine gesellschaftliche
Inklusion statt, die Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände war jedoch nicht auf
eine Emanzipation von der Sozialberatung gerichtet, sondern förderte zumindest bei der ersten Generation der Migranten eine Abhängigkeit von
den migrantenspezifischen Beratungsstellen37. Dies ist allerdings nicht allein den Wohlfahrtsverbänden anzulasten, denn auch die Defizite staatlicher Integrationsmaßnahmen, was z.B. die fehlende Bereitstellung von Mitteln für Sprachkurse etc. betrifft, trug zur Entstehung einer klientelisierenden Beratungsstruktur durch die Wohlfahrtsverbände bei.
In dieser Entwicklung einer Praxis der sozialen Betreuung widersprach die
Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände nicht den politisch immer wieder geäußerten Vorstellungen einer Rückkehr der Migranten. Die Beratung bot
Migranten eine Unterstützung in wesentlichen Belangen, insbesondere im
Umgang mit Behörden und Institutionen, band jedoch zugleich die Klienten an die Beratungsstellen und vernachlässigte die Förderung eigener
Handlungskompetenz. In dem Maße, wie sich die Wohlfahrtsverbände als
notwendige Betreuungsinstanz und Vertretung der Migranten darstellten,
37
So erklärte das Referat Migration der AWO Bayern (Juni 2000, mündl. Mitteilung),
dass die Beratungsstellen heute vorwiegend von älteren Migrantinnen und Migranten in
Anspruch genommen würden, die insbesondere auf die Hilfestellung im Umgang mit
Behörden, Kranken- und Sozialkassen sowie auf die muttersprachliche Beratung angewiesen seien.
92
betonten sie auch die im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mehrheit spezifische Unmündigkeit ihrer Klientel. Allein die Existenz migrantenspezifischer Dienste betont die Besonderheit und das besondere Betreuungsbedürfnis der Eingewanderten und trägt damit zu einer Perpetuierung der Unterscheidung von Einheimischen und Ausländern bei.
Ergänzt und theoretisch unterfüttert wurde die Ausländersozialberatung
durch die im Laufe der siebziger Jahre entstehende Ausländerpädagogik.
Während der sechziger Jahre entwickelte sich die Sozialberatung von einer
rudimentären Anlaufstelle für Migrantinnen und Migranten vor allem für
Arbeits- und Unterbringungsprobleme zu einer alle sozialen Belange der
Arbeitenden und ihrer Familienangehörigen umfassenden Beratungs- und
Betreuungsaufgabe. In den siebziger Jahren bekamen Schule und Ausbildung der heranwachsenden und nachgeholten zweiten Generation deutlich
mehr Gewicht, da allseits die Notwendigkeit einer schulischen und beruflichen sowie sozialen Eingliederung der Kinder und Jugendlichen erkannt
wurde. Auch die Sozialberatung der Wohlfahrtsverbände blieb davon nicht
unberührt. Um die zentrale Aufgabe der Sozialberatung gruppierten die
Verbände eine Reihe von Maßnahmen, die sich verstärkt der Integration
von Kindern und Jugendlichen und damit primär pädagogischen Aufgaben
widmeten38.
3. Die Pädagogisierung des „Ausländers“
Anfang der siebziger Jahre traten über die Betreuung der Arbeitsmigranten
hinaus gesellschaftliche Themen der Zuwanderung stärker in den Blick.
Besonders der zunehmende Eintritt von Migrantenkindern in das deutsche
Schulsystem verlangte nach neuen Konzepten und Maßnahmen. Es dauerte
jedoch einige Zeit, bis sich die Schulpädagogik dazu durchringen konnte,
38
So führte das Referat Migration der AWO Bayern seit Anfang der achtziger Jahre
zahlreiche zielgruppenorientierte Projekte ein, wie z.B. die Beratung türkischer Jugendlicher, Stadtteilarbeit, Jugendgerichtshilfe, einen psychologischen Dienst für Türken,
stadtteilorientierte Integration im Kindergarten, eine sozialpädagogische Familienhilfe,
ein Projektzentrum Interkulturelle Kommunikation für Jugendliche, Erziehungsbeistandschaften etc. als neben der Sozialberatung eingerichtete eigenständige Projekte
(vgl. AWO 1998: 3).
93
auf die Anwesenheit nicht-deutscher Schulkinder zu reagieren. Erst nach
und nach führten die Bundesländer die Schulpflicht für ausländische Kinder ein. Die ständige Konferenz der Kultusminister ließ sich Zeit, Richtlinien zum Schulunterricht ausländischer Kinder zu erstellen, so dass Schrader, Nikles und Griese den Behörden Orientierungslosigkeit und Versagen
vorwerfen (Schrader u.a. 1976: 126). Nicht der Mangel an Konzepten war
verantwortlich für die schwankenden Positionen der Schulbehörden. Vielmehr stellten Schrader, Nikles und Griese fest, dass die Kultusministerkonferenz 1971 zwar
„... sehr präzise Vorstellungen für die Eingliederung von
Übersiedlern aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten,
jedoch keine für die Eingliederung von Kindern ausländischer Arbeiter hatte“ (Schrader u.a. 1976: 126f).
Grund für die zögerliche Haltung der Schulbehörden war für die Autoren
vielmehr die Unentschiedenheit, die bezüglich der Aufenthaltsdauer der
Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik bestand. Die Politik ging davon
aus, dass Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen nicht dauerhaft bleiben
sollten. Für die Schulbehörden ging es deshalb um eine „Doppelstrategie“,
wie dies Schrader, Nikles und Griese bezeichnen:
„... im Nebeneinander von deutschem Schulunterricht und
Unterricht in der Muttersprache manifestiert sich die schulpolitische Absicht, die Entscheidung zwischen zeitlich begrenztem Aufenthalt in der Bundesrepublik und Einwanderung möglichst nicht zu präjudizieren“ (Schrader u.a. 1976:
129).
Also verfolgte die Schulpolitik das Ziel, den ausländischen Schulkinder
einerseits den gleichen Unterricht zukommen zu lassen wie deutschen
Schülern, und zugleich die Rückkehroption ins jeweilige Herkunftsland
durch zusätzlichen muttersprachlichen Unterricht aufrechtzuerhalten.
Schrader, Nikles und Griese heben hervor, dass über die mögliche Vereinbarkeit beider Ziele in schulpolitischen programmatischen Aussagen der
94
damaligen Zeit kein Wort verloren wurde. Ferner wurde nicht die bundesrepublikanische Ausländerpolitik, welche eine Rückkehr der Arbeitsmigranten für wünschenswert erachtete, als Begründung angeführt, sondern
die mangelnde Integrationswilligkeit der Arbeitsmigranten und ihre Rückkehrorientierung hervorgehoben. Schrader, Nikles und Griese nennen auch
diese Begründung, welche „... die Ausbildung der Kinder ausschließlich an
den Absichten der Eltern festmachen wollte,“ problematisch (Schrader u.a.
1976: 131). In ihren Augen wirkte sich die Konzeptionslosigkeit der Schulpolitik in der Praxis so aus,
„... dass die ausländischen Kinder – wie es die Schulpraktiker ausdrücken – ‚mit durchgezogen werden’, d.h. ihrem
Schicksal überlassen bleiben. Wir behaupten, dass die Schule und mit ihr die Pädagogik gegenüber dem Problem der
ausländischen Kinder quantitativ und qualitativ versagen“
(Schrader u.a. 1976: 127).
Das Buch von Schrader, Nikles und Griese ist in mehrfacher Hinsicht typisch für die Diskussion um den Umgang mit Einwanderern in der Bundesrepublik. Typisch ist die Haltung engagierter Sozialwissenschaftler, die
sich für die Interessen der Betroffenen, der ausländischen Schulkinder, einsetzen. Typisch ist die Ausdrucksweise auch für die Nöte der Pädagogik.
Angesichts der Konfrontation mit einer ganz neuen Herausforderung suchten Pädagogen durch Anleihen bei der Soziologie, Psychologie und Ethnologie Grundlagen für eine entstehende Ausländerpädagogik zu erstellen.
Typisch ist das Buch auch deshalb, weil das den Schulpädagogen gestellte
Integrationsthema explizit weit über den Spracherwerb hinaus gestellt wird.
Die grundlegende Frage, die im Buch von Schrader, Nikles und Griese aufgeworfen wird, ist die nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer Assimilation, Akulturation oder Integration der ausländischen Schulkinder in
die Kultur der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Die schulische Bildung ausländischer Kinder, so die einhellige Meinung
gegen Ende der siebziger Jahre, entscheidet über die Möglichkeit, ob sie in
die Kultur der Aufnahmegesellschaft hineinfinden. Diese Auffassung steht
95
im Mittelpunkt des pädagogischen Interesses an ausländischen Kindern und
begründet die Aufmerksamkeit, die Diskussionen über Vorbereitungs- und
Sonderklassen, Förderkursen und sonstigen Maßnahmen gezollt wird und
zugleich, dass diese nicht nur didaktisch als inadäquat eingeschätzt wurden
(vgl. Schrader u.a. 1976: 199f; Czock u. Radtke 1984: 37ff), sondern auch
hinsichtlich ihrer Unterstützung kultureller Anpassungsleistungen der ausländischen Schüler.39 Schon frühzeitig ging so der Horizont dessen, was an
schulischen „Extra“-Anforderungen gegenüber ausländischen Schülern zu
leisten ist, über die Befähigung zum Erwerb der deutschen Sprache hinaus,
ohne dass jedoch deutlich gemacht wurde, welche Integrationsleistungen
über den Spracherwerb hinaus von den Kindern erwartet wurden. Kultur,
sei es die des Herkunftslandes der Migranten, sei es die des Aufnahmelandes, wurde nicht näher spezifiziert, sondern als umfassendes Ganzes dargestellt. Schrader, Nikles und Griese betonen mit Bezug auf die Sozialisationstheorie von Classen:
„... seine einmal übernommene kulturelle Rolle kann der
einzelne nicht mehr abwerfen: Er ist Deutscher, Franzose,
Türke oder Italiener! ‚Culture is grown into soma’, d.h.:
Sprache, Gestik, Denkweisen, Werthaltungen, Gefühle, Reaktionen und Verhaltensmuster etc. sind intrakulturell und
zumeist subkulturell determiniert“ (Schrader u.a. 1976: 58).
Der Kulturbegriff, an den die Autoren damit anschließen, ist nicht nur
denkbar umfassend ausgelegt, sondern vor allem radikal in sich abgeschlossen. Wer einmal seine Sozialisation in einer Nationalkultur erfahren
hat, kann nicht mehr anders als sich im Sinne dieser Kultur zu verhalten.
Kultur wird hier konzipiert als eine Art ‚Einmachglas’, aus dem ein Individuum nicht mehr entweichen kann. Dies erklärt, warum Schrader, Nikles
39
Schrader u. a. betrachten die Kommunikation unter Gleichaltrigen (die ‚peer group’)
als den wesentlichen Bereich, in welchem ausländische Schüler Normen und Werte der
Aufnahmegesellschaft internalisieren. Die schulischen Förderklassen und auch den Regelunterricht halten sie hingegen diesbezüglich für untauglich (vgl. Schrader u.a. 1976:
199f).
96
und Griese der Sozialisation in einer Kultur ein so großes Gewicht beimessen. Wer seine Entwicklung nicht in einer Kultur abschließt, dessen Verhalten wird nicht geprägt und begrenzt durch das kulturelle Gefäß, der ist
ebenso haltlos wie schutzlos, ist weder Deutscher noch Ausländer, sondern
Fremder.
Entsprechend wurde der Wechsel von einer Kultur in die andere als höchst
problematisch wahrgenommen, insbesondere bei Kindern, deren Sozialisation noch nicht abgeschlossen ist. Sie geraten im Entwicklungsprozess zwischen die Fronten der Familie und der Schule, die Schrader, Nikles und
Griese als die wesentlichen Instanzen der Kulturvermittlung bestimmen.
Während innerhalb einer Kultur elterliche und schulische Erziehung zusammenwirken, konstatieren die Autoren bei Migrantenfamilien die Situation, dass sich die Schule an einer Akulturation der Migrantenkinder versucht, während die Familie „gegenhaltende“ Energien entwickelt und den
Kindern zum Problem wird. Nicht nur sei die Familie durch Migration und
schwierige Bedingungen im Aufnahmeland erheblich belastet, sondern
auch das Beharren an der Herkunftskultur erschwere dem Kind die Integration in die aufnehmende Gesellschaft:
„Tatsächlich deutet das Verhalten der Kinder darauf hin,
dass sie sich von der Heimatkultur und der Minderheitensubkultur der Eltern entfernen bzw. dass sie selbst die Minderheitensubkultur immer stärker mit Elementen der
Fremdkultur durchsetzen helfen. Zu dem sozusagen ‚natürlichen’ Unterschied der Generationen kommt ein ‚Kulturkampf’, d.h. die Auseinandersetzung mit der Fremdkultur
hinzu. Während sich die Kinder sehr bereitwillig auf die
Verhaltensanforderungen und Wertorientierungen der
Fremdkultur einstellen, versuchen die Eltern sehr häufig,
gegenhaltende Einflüsse auszunützen.“ (Schrader u.a. 1976:
109f; Kursivsetzung im Original).
Die Familie, so ließe sich zusammenfassen, ist für die Kinder und Heranwachsenden eine Zelle der Herkunftskultur und bremst damit eine unge97
hinderte Anpassung bzw. Aneignung der Kultur der Aufnahmegesellschaft.
Das Kind erscheint als hin- und hergerissen zwischen der Familie und der
durch sie repräsentierten Kultur des Herkunftslandes und den von außen
herangetragenen Offerten und Forderungen der umgebenden Aufnahmegesellschaft. Exemplarische Gegenspieler im „Kulturkampf“ um die Kinder
sind Familie auf der einen und Schule auf der anderen Seite. Welche Seite
‚gewinnt’, hängt nach Ansicht der Autoren entscheidend vom Alter ab, in
dem Kinder mit der Kultur des Aufnahmelandes konfrontiert werden. Hier
entwerfen Schrader, Nikles und Griese ein Drei-Stufen-Modell von
Kleinstkind, Kleinkind und Schulkind, das entwicklungspsychologisch begründet wird (Schrader u.a. 1976: 121ff). Das Kind wird damit zum Austragungsort des ‚Kulturkampfes’ stilisiert, das Eintrittsalter in die Aufnahmegesellschaft entscheidet darüber, ob eine Assimilation oder Akulturation
gelingt oder das Kind bereits die Kultur des Herkunftslandes soweit internalisiert hat, dass Sprache, Normen und Werte der aufnehmenden Gesellschaft sich nur noch sekundär und oberflächlich über bereits verinnerlichte
kulturelle Strukturen der Herkunftskultur legen können.
Verlierer in diesem ‚Kulturkampf’ sind die Vorschulkinder, die weder die
eine noch die andere Kultur hinreichend internalisieren konnten, weil sie
während dieses Prozesses aus der Herkunftsgesellschaft in die Aufnahmegesellschaft wechselten. Für diese Kinder zeichnen Schrader, Nikles und
Griese ein düsteres Bild eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeiten in
beide Richtungen, deren Folge Entfremdung, Apathie oder psychosoziale
Desorientierungen sein können (vgl. Schrader u.a. 1976: 121f). Als
Kleinstkinder Eingereiste werden „Neudeutsche“, Schulkinder werden
„Ausländer“, die Vorschulkinder hingegen werden „Fremde“, entwurzelt
und nirgendwo zu Hause (Schrader u.a. 1976: 198).
Wenn die Studie von Schrader, Nikles und Griese typisch ist für die siebziger Jahre, so hatte sich in den achtziger Jahren nicht nur die Literatur zum
Thema Integration vervielfältigt. Konzeptuell fanden von den siebziger in
die achtziger Jahre einige Verschiebungen statt, die insbesondere unter dem
Begriff des Multikulturalismus zu sammeln sind, der sich als das bestimmende Paradigma der achtziger Jahre darstellt. Am zugrunde gelegten Beg98
riff der Kultur änderte sich indes wenig. Kultur und die Frage der kulturellen Identität blieb in der Bundesrepublik auch während der achtziger Jahre
der Schlüsselbegriff schulischer und außerschulischer Integration der Kinder aus Einwandererfamilien. Unter dem Schlagwort des Multikulturalismus wurde lediglich eine andere Gewichtung zwischen der Kultur der Einheimischen und den Kulturen der Eingewanderten angestrebt. Verwies der
(Kultur und Staatsangehörigkeit umfassende) Dualismus ‚Deutsche’ und
‚Ausländer’ auf eine klare Abgrenzung der Zugehörigkeit, so wurde die
Vision einer multikulturellen Gesellschaft als eine inkludierende Anerkennung der Kultur der Eingewanderten entworfen. Ziel schulischer Sozialisation war nicht mehr die unbedingte Assimilation oder Akulturation an eine
deutsche Kultur, sondern der Unterricht hatte nach Möglichkeit die kulturellen Hintergründe der Kinder zu berücksichtigen. Dass die Kultur von
Kindern anderer Herkunft als Defizit aufgefasst wurde, das durch Mehrleistung kompensiert und pädagogisch aufgearbeitet werden sollte, rückte allerdings zunehmend in den Mittelpunkt der Kritik. Während in den siebziger Jahren Pädagogen und Sozialwissenschaftler wie Schrader, Nikles und
Griese die Stärkung der Schule als die Integration mitentscheidender Institution verfochten, wurde in den achtziger Jahren auch die Belastung gesehen, der Migrantenkinder durch forcierte Integrationsmaßnahmen ausgesetzt waren. Im Konzept des Multikulturalismus wurde insbesondere die
Auffassung, kulturelle Differenz sei als Mangel und Makel zu betrachten,
hart kritisiert. Schulische Defizite von Migrantenkindern auf ihre Kultur
zurückzuführen, sollte in einer multikulturellen Gesellschaft nicht mehr
möglich sein. Kulturelle Vielfalt wurde als Bereicherung der Gesellschaft
dargestellt40.
Der Multikulturalismus konnte sich allerdings nicht durchsetzen, und auch
die schulische Praxis konnte mit diesem Wandel innerhalb der Pädagogik
nicht mithalten. Trotz vermehrter Kritik bestimmten weiterhin Förderklassen und Sonderprogramme den Umgang mit Migrantenkindern, war die
Orientierung an der deutschen Regelklasse die Norm. Die Trägheit der In40
Vgl. zur Diskussion des Multikulturalismus in der Pädagogik Radtke 1991a.
99
stitution Schule (und ihr Gleichklang mit migrationspolitischen Vorgaben)
forderte Pädagogen zu oft sarkastischen Kommentaren heraus:
„Die Familien, die sich wie Deutsche im Wohnbereich verhalten, ordentlich, angepasst und sauber sind und die Privatsphäre des Mitmieters nicht stören, sind die Adressaten ansiedlungsstrategischer Programmatiken; der Schüler, der
sich im Bildungssystem einpasst und überanpasst, individuelle Leistungen erbringt und keine Anforderungen an große
zusätzliche Investitionen in seinen Ausbildungsprozess
stellt, erfüllt die Vorstellung vom Idealtyp des Integrationswilligen der 2. Generation, für den der Preis kompensatorischer Maßnahmen bereitwillig bezahlt wird und der derzeit
die pädagogische und sozialpädagogische Programmstruktur
bestimmt. Gemessen an diesem Bild des „Wie-einDeutscher-sein“ sind die Integrationsvorleistungen des Ausländers beliebig als mangelhaft klassifizierbar. Alle Kompensationsangebote, sozialpädagogischen Sondermaßnahmen und Hilfsprojekte setzen konsequent diesem Gedanken
folgend den defizitären Charakter der Einzelanstrengungen
jedes Ausländers voraus und unterstellen seine/ihre Hilfsbedürftigkeit, die dann wiederum das pädagogische Handeln
begründet und legitimiert“ (Hamburger u.a. 1983: 11).
In den achtziger Jahren wurde nicht nur die Defizit-These kritisiert, sondern auch die pädagogischen Konzepte zur Behebung des kulturellen Defizits wurden der Kritik unterzogen. In der theoretischen Fundierung wie
auch in der Praxis führte der Umgang der Pädagogik mit Migrantenjugendlichen auch innerhalb der Schule dazu, dass Unterschiede zwischen deutschen und ausländischen Schülern häufig eher betont als ausgeglichen wurden. Vorbereitungs- und Förderklassen haben neben der bestandssichernden Funktion für die Schule, die gegenüber dem Schulamt über den „Ausländerbonus“ mehr Schulstunden und damit mehr Lehrer rechtfertigt
(Czock und Radtke 1984: 47), insbesondere den Effekt, dass hier die aus100
ländischen Jugendlichen zusammengefasst und von den anderen Schülern
separiert werden. In der Regelklasse beobachten Czock und Radtke Verhaltensweisen, die sie auf einem Kontinuum zwischen „ignorierender Toleranz“ und „positiver Diskriminierung“ einordnen (Czock und Radtke 1984:
59 ff):
„Werden jedoch die Unterschiede zu den deutschen Schülern zur Kenntnis genommen, so erscheinen sie in der pädagogischen Perspektive in erster Linie als Defizite und Mängel. Dann kann nicht weiter von einer Gleichbehandlung
ausgegangen werden. Die Bearbeitung der Defizite fordert
eine besondere Behandlung in der jeweiligen Stunde, wenn
sie nicht ohnehin an Sondermaßnahmen delegiert wird. Ethnische und kulturelle Besonderheiten bleiben auch in dieser
Situation ein Makel“ (Czock und Radtke 1984: 63).
Folgt man Czock und Radtke, so ergibt sich eine allgemeine Schieflage, die
in beiden Fällen, sowohl bei ostentativer Nichtbeachtung von Unterschieden als auch bei der Betonung von Unterschieden zwischen deutschen und
ausländischen Schülern, zur Benachteiligung der letzteren führt und damit
das gesellschaftliche Verhältnis auch innerhalb der Schule reproduziert.
Der Rahmen für beide Verhaltensweisen ist, wie Hamburger sich ausdrückt, der Vorrang eines „reibungslosen Schulbetriebs“. Dies gilt weit über den Spracherwerb und Deutschunterricht hinaus auch für die Aneignung gesellschaftlicher Normen und Werte:
„Die pädagogische Reflexion generalisiert die ‚Anpassungsleistung’ und entwickelt Integrationsvorstellungen, die auf
Übernahme von Sprache und schulischen Wertorientierungen abzielen. Damit verbunden ist die Fokussierung der
Wahrnehmung auf die ‚Defizite’ der ausländischen Kinder
aus der Sicht des ‚reibungslosen Schulbetriebs’, auf die fehlenden Fertigkeiten und Verhaltensdispositionen“ (Hamburger 1991: 92).
101
Wie in den siebziger Jahren wurde auch in den Achtzigern und Neunzigern
weiterhin Kultur als Grundproblem wahrgenommen, das letztlich die Defizite der Migrantenkinder bedingt. Die Fehlschläge, die schon Anfang der
achtziger Jahre mit dem Förderunterricht für Migrantenkinder erkannt worden waren, führten nicht zu einer Anpassung der Schule an die Einwanderungssituation, sondern beschleunigten die Suche nach anderweitigen Ursachen. Sei es, um das Scheitern der verschiedenen Förderprogramme zu
rechtfertigen, sei es, um die Fördermaßnahmen theoretisch zu fundieren.
Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre knüpfte insbesondere die Pädagogik an verschiedene Kulturkonzepte an und übertrug sie auf das Verhältnis zwischen deutscher Aufnahmegesellschaft und insbesondere Migrantinnen und Migranten türkischer Herkunft. Bei aller Unterschiedlichkeit
war, so Czock und Radtke (1984: 41f), auch diesen Ansätzen gemeinsam,
dass Kultur darin als weitgehend invariabel, als integrationshemmender
Faktor und damit als Problem und als Defizit formuliert wurde. Mit dem
Rückgriff auf Kulturtheorien verließ die Pädagogik den Kontext nur
sprachlicher Eingliederung und stellte ihre Tätigkeit in das unübersichtliche
Terrain einer kulturellen Integration. Erst diese Ausweitung stützte den Anspruch der Pädagogik, nicht allein für die sprachliche Eingliederung, sondern generell für die Integration der Zugewanderten und ihrer Nachkommen zuständig zu sein.
Kultur als Kriterium der Differenz
Die Einbeziehung von Kulturtheorien in migrationspädagogische Konzepte
vollzog sich insbesondere in zwei Diskussionssträngen. Der eine Strang
kombinierte Kultur mit Entwicklungspsychologie und bemühte sich, verschiedene Stufen der kindlichen Entwicklung mit der Verfestigung kulturspezifischer Normen, Werte und Handlungspräferenzen in Beziehung zu
setzen. Hier wurden exemplarisch Schrader u.a. (1976) angeführt mit ihrer
Unterscheidung verschiedener Altersstufen, in denen Kinder mehr oder
minder große Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer türkischen oder
deutschen Identität haben sollten. Dabei erschien es als vorteilhaft für die
Identitätsentwicklung, wenn diese innerhalb nur einer Kultur stattfindet.
102
Für besonders gefährdet hielt man dagegen Kinder, die während ihrer Entwicklung von einer Kultur in die andere wechseln. Migration, vorgestellt
als Wechsel von der einen in die andere Kultur, führt nach dieser Diskussion zu Identitätskonflikten und Persönlichkeitsstörungen im Individuum41.
Der zweite Diskussions- und Forschungszusammenhang stellte nicht das
Aufwachsen in der einen oder anderen Kultur, sondern die Koexistenz
zweier Kulturen und die Folgen für Individuum und Gesellschaft in den
Vordergrund seiner Betrachtungen. Einer nicht weiter hinterfragten Mehrheitskultur stand eine – in der Regel türkische – Minderheitskultur gegenüber. Ausgangspunkt dieser Diskussion war die Frage, inwieweit Integration, Assimilation, Akkulturation oder Enkulturation an bzw. in die Mehrheitskultur notwendig, möglich oder wünschenswert wäre. Eine der aufschlussreichen Fragen dieser Diskussion war, ob eine ethnische Segregation der Minderheit als sogenannte ‚Binnenintegration’ (Elwert 1982: 717731) einer gesellschaftlichen Integration der Minderheit förderlich sei oder
die schlussendliche Integration eher verhindere. Hier ist nicht die Kultur,
sondern die Community, die ethnische Gemeinschaft, als eine Art Schutzraum gedacht, der eine identitätsstabilisierende Wirkung entfalten kann.
Kultur wie auch Community stehen in diesen Diskursen für Tradition, Stabilität, Schutz. Sie sind positiv vorstellbar als Schneckenhäuser, in die sich
das Individuum bei allzu raschem gesellschaftlichem Wandel oder unfreundlicher Atmosphäre zurückziehen kann. Beides kann zugleich aber
auch außerordentlich negativ gedeutet werden als kultureller Ballast, Fortschrittsbremse und Barriere, die das Individuum auf dem Weg in eine gesellschaftliche Integration überwinden muss.
Kultur und Community stehen als feste Gehäuse in diesen Diskursen im
Gegensatz zur Gesellschaft, die als direktes Gegenbild aus diesen Kultur41
Auch wenn diese Thesen schon bald als überholt galten, hat gerade dieser Ansatz eine
nachhaltige Wirkung entfaltet. So liefert er noch immer die Argumentation für die politischen Versuche, das Nachzugsalter von Kindern herabzusetzen, zuletzt bei den Diskussionen um das Zuwanderungsgesetz. Während von der Kommission der Europäischen Union die Heraufsetzung des Familiennachzugsalters auf 18 Jahre empfohlen
wurde, setzt das neue deutsche Zuwanderungsgesetz das Nachzugsalter weiter herunter,
allerdings mit verschiedenen Ausnahmebestimmungen.
103
vorstellungen ableitbar wird. Das Gesellschaftsbild, das durch die hier dargelegte Kulturvorstellung evoziert wird, ist dynamisch, kalt, tendenziell
bedrohlich, unparteiisch und erfordert stete Einsatzbereitschaft und Wachsamkeit des Individuums. Der Gesellschaft wird aber auch Handlungsfähigkeit und Dynamik bescheinigt. Sie allein besitzt die Fähigkeit, Barrieren
zu überwinden, Ballast abzuwerfen, dort Gemeinsamkeiten zu stiften, wo
die Kultur nur Differenzen zwischen Identitäten hervorbringt und insbesondere die Migranten zwischen den Stühlen Platz nehmen lässt. Unschwer
lässt sich hier der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne erkennen,
der in seinen Grundzügen auf das von der Ausländerpädagogik entwickelte
Kulturverständnis übertragen wurde42.
Auch die Ansätze zum Modell einer multikulturellen Gesellschaft verharren im Gegensatz zwischen Gesellschaft und Kultur, Moderne und Tradition. Teils als Beschreibung des gesellschaftlichen Ist-Zustandes, teils als
programmatischer Gegenentwurf zu einseitigen Assimilationsforderungen
in die Diskussion gebracht, unterliegen auch sie dem Vorwurf, Gegensätze
und Unvereinbarkeiten zwischen Einheimischen und Zuwanderern zu betonen, kulturelle Identitäten zu verfestigen, statt gemeinsame und übergreifende Handlungsperspektiven zu entwickeln. Durch Ansätze zu einer interbzw. transkulturellen Gesellschaftskonzeption wurde inzwischen versucht,
Kultur und Gesellschaft vermittelnde Modelle zu entwerfen, in denen auch
die starren Trennungen zwischen Mehrheits- und Minderheitskulturen aufgehoben werden43. Im Zuge einer sogenannten interkulturellen Öffnung
kommt es in der Schnittstelle zwischen Pädagogik und Sozialarbeit überdies zu einer Umdeutung von Kultur: Kultur wird nicht mehr allein den
ethnischen Minderheiten zugeschrieben, sondern im Sinne subkultureller
42
Radtke fasst dies zusammen als Teil einer in den Siebzigern und frühen Achtzigern
allgemein in den Sozialwissenschaften zu beobachtende Wende zur Regionalisierung,
Alltagskultur und zur Gemeinschaft (Radtke 1991a: 36ff).
43
Die Partei Bündnis 90/DIE GRÜNEN, in der sich die vehementesten politischen Verfechter der Multikulturellen Gesellschaft fanden, vertritt seit ca. 1999 nicht mehr das
Ziel einer ‚multikulturellen Gesellschaft’, sondern hat dies umbenannt in ‚multikulturelle Demokratie’; auch dies ein Zeichen, dass die Dominanz der Kultur im Bereich Migration zurückgedrängt worden ist.
104
Lebensstile verallgemeinert. Insbesondere im Bereich sogenannter Jugendkulturen, so ist auf Veranstaltungen für Multiplikatoren regelmäßig zu hören, überlagern Gruppenbildungen entlang von Moden und Musikstilen,
mit denen bestimmte Haltungen assoziiert werden, Kultur als Ausdruck
ethnischer Identität. Interkulturalität als Sensibilität gegenüber dem Anderen ist die verallgemeinerte Fassung pädagogischer Leitlinien, die daraus
abgeleitet wird44.
„Ist letztendlich nicht jede beraterische Begegnung interkulturell, wenn interkulturelle Kompetenz definiert wird als
Sensibilisierung für Wahrnehmungsprozesse in der Interaktion mit Menschen, die eine andere Art des In der Welt
Seins haben als man selbst?“
(EB Verbund München 2002: 3)
wird im Vorwort einer Zeitschrift zur Erziehungsberatung gefragt. Die bislang zitierten Autoren geben die Problematik der schulischen Integration
vorwiegend aus der Innensicht der wenn auch kritisch intonierten Pädagogik wieder. Die in der Pädagogik entwickelten Vorstellungen und Konzepte
sind jedoch weder endogen innerhalb der Pädagogik entwickelt worden,
das zeigen die Übernahmen verschiedener Kulturkonzepte und Sozialisationstheorien, noch blieb die Diskussion auf die Pädagogik beschränkt. Der
Fokus auf die Kultur der Migranten ist über die Pädagogik hinaus als
Kennzeichen des deutschen Diskurses über Eingewanderte und Einwanderung erkennbar. Mit der Erweiterung der schulischen Integrationsdiskussion um den Aspekt der Kultur schloss die Pädagogik an den in anderen Feldern geführten Migrationsdiskurs an und konnte ihn zeitweilig deutlich be44
Ethnizität als Zuschreibung und Selbstzuschreibung ist damit jedoch mitnichten außer
Kraft gesetzt. Die Verallgemeinerung des Interkulturellen im Bereich der Pädagogik,
Sozialpädagogik und Sozialberatung kann, darauf hat Kothen hingewiesen, auch ein
Zeichen dafür sein, dass man im behördlichen Umgang für Migranten keine Ausnahme
gestatten will (Kothen 2000: 119ff). Die Leitlinie einer interkulturellen Sensibilität
könnte insofern auch deshalb eine Verallgemeinerung erfahren, weil speziell auf
Migranten zugeschnittene Maßnahmen als einseitige Bevorzugung gewertet werden
können.
105
einflussen. Radtke (1991: 41ff) sieht die Ausländerpädagogik geradezu als
Paradefall des Zusammenspiels zwischen Politik und Sozial- und Erziehungswissenschaften, die in den siebziger und achtziger Jahren an Integrationskonzepten arbeiteten:
„Vorliegende Deutungen wurden mit gerade durchgesetzten
Methoden und neu gewonnenen Überzeugungen kombiniert.
Was irgendwie zusammenzupassen schien, wurde zusammengebracht. Das Grundmuster für die Bastelei gab die Überzeugung von der Pädagogisierbarkeit des Problems vor.
Indem soziale Integration nicht als Inkorporation im Sinne
der Vergabe von Mitgliedschaftsrechten im Sozial- und
Rechtsstaat, sondern als kulturelle Anpassung konzipiert
wurde, stellte sich das Migrationsproblem als eine Aufgabe
pädagogischer Prävention und Intervention gerade im Kindes- und Jugendalter“ (Radtke 1991a: 44).
Die differente Kultur der Migranten wurde als das zentrale Problem der
Integration verstanden. Es gab jedoch besonders in den achtziger und neunziger Jahren Entwürfe zur Integration, die den Aspekt der Kultur auszuklammern versuchten und sich an Theorien sozialer Ungleichheit oder abweichenden Verhaltens orientierten (vgl. z.B. Bukow und Llaryora 1988).
Erfrischend zu lesen, konnten sich diese Ansätze jedoch nicht durchsetzen.
Kultur blieb der Fokus jedweder Beschäftigung mit der Eingliederung von
Eingewanderten in die Mehrheitsgesellschaft und Pädagogik das dominierende Mittel ihrer Durchsetzung.
Pädagogik, Wohlfahrt und Politik
Die Bereiche Politik, Wohlfahrtsinstitutionen und Schule bestimmten in
den letzten Jahrzehnten wesentlich das Verhältnis zu Einwanderern und
ihren Nachkommen in der Bundesrepublik. Sowohl in der jeweiligen Praxis
als auch im gesellschaftlichen Diskurs hatten die entwickelten Konzepte
großen Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Migranten und
106
Migration. Für die deutsche Umgangsweise mit eingewanderten Minderheiten war es charakteristisch, dass eine gesellschaftliche Neubestimmung,
die der multikulturellen Realität Rechnung trägt, nur in Ansätzen stattgefunden hat. Die Politik hielt lange Zeit an der Rückkehrfiktion der Arbeitsmigranten fest, ein Umstand, der die Entwicklung von Integrationskonzepten behindert und verzögert hat. Die Wohlfahrtsverbände etablierten
sich erfolgreich als Vermittlungsinstanzen zwischen Behörden, Öffentlichkeit und Eingewanderten, die als betreuungsbedürftige Klientel dargestellt
wurden und deren Interessen „anwaltlich“ von den Verbänden wahrgenommen wurden.
Die Schulpädagogik integrierte die Nachkommen der Arbeitsmigranten
durch ein Arrangement von Übergangs- und Förderklassen in ein Schulsystem, das darüber hinaus keine konzeptionelle Umgestaltung erfuhr. Schulische Defizite von Migrantenkindern wurden dem entsprechend nicht zum
Anlass genommen, die Adäquatheit der Unterrichtsgestaltung in Frage zu
stellen, sondern wurden der differenten „Kultur“ der Migrantenfamilien in
Rechnung gestellt. Sowohl Wohlfahrtsverbände als auch die Migrationspädagogik haben zur Verfestigung und inhaltlichen Präzisierung einer Kategorie des „Ausländers“ beigetragen, der im wesentlichen als problematisch
und als hilfsbedürftig angesehen wird. Eigene Interessen und die Abhängigkeit von staatlichen Fördergeldern haben lange Zeit erschwert, dass eine
hinreichende Reflexion der eigenen Methoden unternommen wurde.
Die siebziger Jahre erweisen sich als entscheidende Phase eines Umschwungs von einer Wahrnehmung der Arbeitsmigranten unter rein ökonomischen Gesichtspunkten zur Entstehung einer faktischen Einwanderungssituation. Während die Politik weiterhin an einem nur vorübergehenden Aufenthalt der Migranten festhielt, entwickelte die Pädagogik ein theoretisches und didaktisches Instrumentarium, das im wesentlichen assimilative Züge trug. Erst die wachsende Kritik seit Mitte der achtziger Jahre
zwang die Pädagogik und Sozialwissenschaften zu einer Überprüfung ihrer
Instrumente und führten zu einem Integrationsbegriff, der nicht primär einer kulturellen Assimilation verpflichtet war. Dennoch spielte und spielt
die Kultur der Migranten als Verursachungsprinzip für kulturellen Konflikt
107
und Probleme der individuellen Identitätsentwicklung der Migranten weiterhin eine tragende Rolle in den meisten Konzepten.
Trotz aller Schwierigkeiten fand und findet gegenüber Arbeitsmigranten
und ihren Nachkommen ein gesellschaftlicher Integrationsprozess statt.
Auch wenn ethnische Differenz sich praktisch und symbolisch als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal niederschlägt, werden die Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen doch von breiten Bevölkerungsteilen als Teil
der bundesdeutschen Gesellschaft gesehen und akzeptiert (vgl Weiß u.a.
2001a: 7-26).
Wie sieht dies bei Asylsuchenden aus? Wie auf den kommenden Seiten
ausgeführt wird, fand hinsichtlich der einen Asylantrag stellenden Flüchtlinge seit den siebziger Jahren ein zunehmender Ausgrenzungsprozess statt.
Die Hürden sowohl hinsichtlich einer aufenthaltsrechtlichen Perspektive als
auch hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten an den gesellschaftlichen
Märkten wurden Schritt um Schritt erhöht, parallel verlagerten sich Ängste
vor weiterer Einwanderung von Arbeitsmigranten auf die Flüchtlinge. Es
kam zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung zwischen den verschiedenen Migrationsformen, begleitet von einer strikten Reglementierung der
Rechte insbesondere von Asylsuchenden. Während sich die funktionale
Separierung der ‚Gastarbeiter’ seit den 70er Jahren zunehmend auflöste,
fand im gleichen Zeitraum eine verstärkte Separation von Asylsuchenden
statt.
4. Asyl in der Bundesrepublik Deutschland
Das Asylrecht in der Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten drei
Jahrzehnten zum Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen
geworden. Dabei ist es in seinen wesentlichen Inhalten kräftig beschnitten
worden, so dass von der Intention, die der Parlamentarische Rat mit diesem
Grundgesetz einst verband, nicht mehr viel übrig bleibt. In der nun folgenden Besprechung dieser Entwicklung soll die Diskussion um das Asylrecht
mit der zeitlich vorausliegenden und parallel fortlaufenden Einwanderung
von Arbeitsmigranten und deren Nachkommen in Beziehung gesetzt werden. Der Schwerpunkt der Darstellung wird auf dem öffentlichen Diskurs
108
um Asyl Anfang der neunziger Jahre liegen. In diese Phase fiel nicht nur
die Einschränkung des Artikels 16 Absatz II, Satz 2 des Grundgesetzes:
‚Politisch Verfolgte genießen Asylrecht’, sondern auch die Eskalation
fremdenfeindlicher Gewalt sowie demonstrativer Gegenbewegungen. Die
Darstellung dieser Entwicklung dient als sozialer und politischer Kontext
auch für die Gründung und Arbeit von Nachbarschaftsinitiativen der 90er
Jahre, die sich aktiv um Flüchtlinge kümmerten.
Recht auf Asyl und Asylpolitik
Unter dem Titel „Aporien der Menschenrechte“ schreibt Hannah Arendt
zum Problem, dass auch die Menschenrechte, die über einzelne Nationalstaaten und deren Regierung hinaus Geltung besitzen, doch des Staates zum
Zweck ihrer Durchsetzung bedürfen:
„Nun stellte sich plötzlich heraus, dass in dem Augenblick,
in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und
daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen
angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dies
Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen“
(Arendt 1993: 455).
Dies hat für Staatenlose, aber auch für politische Flüchtlinge, die sich nicht
auf den Schutz des Herkunftsstaates berufen können, vor dessen Verfolgung sie fliehen, ernste Konsequenzen. Die einzige Schutzgarantie genießen politische Flüchtlinge paradoxerweise als Bürger des Staates, von dem
sie verfolgt werden. Die Entscheidung über Schutzgewährungen gegenüber
Menschen fremder Staatsangehörigkeit behalten sich Aufnahmeländer in
der Regel vor. Das Asylrecht ist deshalb fast überall ein Recht, das der
Staat vergeben oder verwehren kann. Die Bundesrepublik machte hier eine
Ausnahme. Die Erfahrung des Nationalsozialismus führte bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland dazu, politisch Verfolgten in besonderem Maß eine Schutzgarantie zu geben und das Asylrecht als subjektiv
109
vom Flüchtling einklagbares Recht im Grundgesetz zu verankern. Das
Recht auf Asyl wurde vom Parlamentarischen Rat beim Entwurf des
Grundgesetzes mit Bedacht weit gefasst. Die Möglichkeit, dass es von einer großen Zahl von Flüchtlingen in Anspruch genommen werden könnte,
war dem Rat ebenso bewusst wie das Problem, dass auch politisch missliebige Personen sich auf das Recht berufen könnten (vgl. zu den Diskussionen des Parlamentarischen Rats Wolken 1988: 22ff). Eine Reihe von Gesetzen und internationalen Vereinbarungen regeln die Aufnahme von
Flüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Artikel 16a (bis
1.7.1993 16 II, 2) des Grundgesetzes nimmt in dieser Reihe eine Sonderstellung ein, verheißt er doch denjenigen, die sich auf ihn berufen, ein individuell einklagbares Recht45.
In den Anfangsjahren der Bundesrepublik kam Artikel 16 II 2 des Grundgesetzes nicht zur Geltung. Über die Asylberechtigung von Flüchtlingen
wurde auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von
1951 entschieden. Da diese zunächst nur die Schutzgewährung für Flüchtlinge vorsah, die aufgrund von Vorgängen vor 1951 verfolgt wurden bzw.
Furcht vor Verfolgung hatten, war diese Asylgewährung auf Flüchtlinge
aus Ostblockstaaten beschränkt. Von dort kam die überwiegende Zahl von
Flüchtlingen, wobei die Gesamtzahlen der Asylgesuche zwischen jährlich
2000 und 6000 lagen. Nur in Ausnahmefällen wie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings stiegen die Antragszahlen auf über 10.000 pro
Jahr:
45
Dass diese Verheißung sich in den meisten Fällen nicht erfüllt, steht auf einem anderen Blatt. Zu einer differenzierten Betrachtung von Asylverheißung und Asylrechtsprechung vgl. Pagenkopf 1983.
110
Jahr
1969
1970
1971
1972
1973
1974
1975
Zahl der
Asylbewerber
11.664
8.645
5.388
5.289
5.595
9.424
9.624
Osteuropa
(%)
92,7
85,5
64,7
58,4
51,3
30,5
27,0
Vorderer
Orient (%)
2,3
4,8
17,9
17,9
26,0
37,5
17,7
Asien
(%)
0,5
0,5
1,6
1,3
1,5
2,7
31,5
Abb. 1: Asylanträge 1969-1975 (nach Wolken 1988: 40)
Erst mit dem Ausländergesetz von 1965 wurde das Grundrecht auf Asyl,
also Art. 16 II 2 des Grundgesetzes, zur Grundlage der Asylverfahren erhoben.46 Insgesamt, so Wolken, war die Asylpolitik der Bundesrepublik bis
Anfang der siebziger Jahre parteiübergreifend
„... durch das Bemühen um eine rechtsstaatlich und humanitär geprägte Flüchtlingspolitik geprägt, die sich am Normalfall des wirklich politisch verfolgten Asylsuchenden orientierte“ (Wolken 1988: 38).47
Die asylpolitische Wende
Die grundsätzlich positive Einstellung gegenüber Asylsuchenden änderte
sich erst Anfang der siebziger Jahre und ist an einem Ausspruch des damaligen Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher im Bundestag vom
19.9. 1973 abzulesen:
„... das Problem besteht darin, dass es insgesamt schwierig
ist, einen Missbrauch des Asylrechts in der Bundesrepublik
46
Das Zusatzprotokoll zur GFK von 1967, das die Einschränkung von Fluchtursachen
auf Ereignisse vor 1951 aufhob, war wegen des neuen Ausländergesetzes für die Rechtsprechung in der Bundesrepublik zunächst kaum relevant.
47
So wurden zum Beispiel selbst diejenigen Ostblockflüchtlinge, deren Asylanträge
rechtskräftig abgelehnt worden waren (mit Ausnahme der Jugoslawen), nicht abgeschoben, sondern erhielten per Beschluss der Innenministerkonferenz 1966 eine Duldung
(Wolken 1988: 38).
111
Deutschland zu verhindern. Dieser Frage müssen wir uns in
gemeinsamer Verantwortung stellen“
(zit. n. Wolken 1988: 39).
Hier wurde zum ersten Mal die Formel vom „Missbrauch“ des Asylrechts
thematisiert, die mit wechselnden Inhalten die in den späteren Jahren erfolgenden Einschnitte im Asylrecht begleitete. Der Einstellungswandel ist
nicht auf ein Ansteigen der Asylbewerberzahlen zurückzuführen. Mit einer
Steigerung um rund 300 Anträge lagen diese 1973 nur geringfügig höher
als im Vorjahr. Es kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass sich die
plötzlich negative Haltung gegenüber Asylsuchenden auf einen Wandel der
Herkunftsregionen beziehen lässt, der sich schon 1971 abzuzeichnen begann: Zu den Ostblockflüchtlingen kamen in steigendem Maße Asylsuchende vor allem aus dem Vorderen Orient und aus Asien.
Zur veränderten Einstellung gegenüber Flüchtlingen trug nicht nur ihre
Herkunft bei, sondern gleichfalls sicherheitspolitische und ideologische
Bedenken. Durch das auf der Olympiade 1972 in München durch die Palästinenserorganisation ‚Schwarzer September’ verübte Attentat gerieten Angehörige arabischer Staaten, vor allem aber die palästinensischen Flüchtlinge in der Bundesrepublik unter Verdacht. Die sicherheitspolitischen Bedenken lösten eine Abwehrhaltung aus, die sich pauschal gegen „Araber“
richtete (vgl. Wolken 1988: 42). Ebenfalls heftig diskutiert wurde die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen aus Chile, nachdem dort die sozialistische Regierung Allende durch die Militärjunta Pinochets gestürzt worden
war. Der Offenheit, die gegenüber Flüchtlingen aus dem sozialistischen
Ostblock gezeigt wurde, stand die zögerliche Aufnahme von Flüchtlingen
gegenüber, die von westlichen Diktaturen verfolgt wurden48.
Noch klarer wird die Bedeutung der vermuteten politischen Ausrichtung
von Flüchtlingen für die Aufnahmebereitschaft, wenn man die restriktive
Aufnahme chilenischer (sowie in noch geringerem Maße argentinischer)
48
Wie Bade die Haltung gegenüber Ostblockflüchtlingen treffend bezeichnet: „... willkommene Überläufer bei der Abstimmung mit den Füßen im Wettstreit der Systeme“
(Bade 2000: 370).
112
Flüchtlinge mit der kurz darauf gezeigten demonstrativen Hilfs- und Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen aus Vietnam vergleicht. Besonders CDU und CSU signalisierten Unterstützung einer humanitären Aktion
zugunsten der Vietnamesen, die vor einem kommunistischen Regime geflohen waren.49 Hieran lässt sich ablesen, dass das Asylrecht wie die Aufnahme von Flüchtlingen insgesamt nicht allein auf die Schutzbedürftigkeit
der Verfolgten, sondern in nicht unwesentlichem Maß auf den jeweiligen
gesellschaftlichen und politischen Kontext und seine je aktuellen Erfordernisse abstellte. Neben regelmäßig geltend gemachten Befürchtungen mangelnder Akzeptanz durch die Bevölkerung war es besonders die staatliche
Souveränität, die ab Anfang der 70er Jahre durch die Asylzuwanderung in
Frage gestellt wurde. In den Folgejahren begann eine Auseinandersetzung
um die Frage, wie der Staat trotz Asylrecht die Inanspruchnahme des
Rechts begrenzen kann bzw. wie das Recht gestaltet werden muss, damit
der Staat sich seine Handlungskompetenz hinsichtlich der Fluchtmigration
erhalten kann. Die entscheidende Frage der folgenden Jahre war deshalb
die nach dem Verhältnis des Asylrechts als Grundrecht und den staatlichen
Interessen, die darauf gerichtet sein müssen, dem Wohl und dem Frieden
der Gesellschaft zu dienen. Die besondere Bedeutung, die dem Asylrecht
als Teil der Verfassung eingeräumt wird, führte zunächst dazu, dass staatliche Maßnahmen zur Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen unterhalb dieser Ebene einsetzten. Begründet wird diese Politik mit der Notwendigkeit, „echte“ Flüchtlinge von sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“
zu unterscheiden.
Wirtschaftsflüchtlinge und Missbrauch des Asylrechts
In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, die von deutlich steigenden Asylbewerberzahlen geprägt war (vgl. Abb. 1 Seite 100), gesellte sich die Argumentationsfigur des ‚Wirtschaftsflüchtlings’ zu den bereits genannten: In
49
Dies zeigt sich besonders am Beispiel des Freistaates Bayern. Während Bayern die
Aufnahme von Flüchtlingen aus Chile, Argentinien oder Kuba ablehnte, wurden vietnamesische Flüchtlinge sogar über den Länderverteilschlüssel hinaus aufgenommen
(vgl. Klausmeier 1984: 36).
113
den Debatten des Bundestags wurde zunehmend auf wirtschaftliche Migrationsursachen verwiesen. Gleichzeitig etablierte sich auch im politischen
Sprachgebrauch statt der juristisch korrekten Bezeichnung Asylantragsteller oder -berechtigter der pejorative Sammelbegriff der „Asylanten“50. Die
siebziger Jahre markieren damit eine Wende in der bundesdeutschen Asylpolitik, die allerdings zunächst weitgehend verbal blieb. Die zentralen Vokabeln „Wirtschaftsflüchtling“ und „Missbrauch des Asylrechts“ waren in
die Diskussion gebracht. Seit Ende der siebziger Jahre waren die Änderungen des Asylrechts hauptsächlich auf das Ziel ausgerichtet, die Zahl der
Asylsuchenden in der Bundesrepublik zu reduzieren.
Die Formel vom “Wirtschaftsflüchtling“ ist dabei von zentraler Bedeutung.
Sie unterstellt einem Asylsuchenden wirtschaftliche statt politische Fluchtgründe. Gegenüber den anderen Argumentationen (wie zum Beispiel die
Formel der Gefährdung der inneren Sicherheit der BRD durch politische
Flüchtlinge, die nur phasenweise die Debatte bestimmt) erweist sich die
Rede vom „Wirtschaftsflüchtling“ als die haltbarste. Dies ist mit der Vorgeschichte des Begriffs in der innerdeutschen Migrationserfahrung zu erklären. Seit Beginn der Nachkriegszeit wurde in Westdeutschland eine
Diskussion um den „echten“ Flüchtling geführt. Einwanderer aus der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) und den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs wurde entgegengehalten, „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu sein51.
Dagegen stand eine weite Definition des Flüchtlingsbegriffs durch die Besatzungsmächte, welche die Migration aus der SBZ grundsätzlich politisch
motiviert sah (Ackermann 1999: 77ff). So wurden Flüchtlinge aus der SBZ
und ehemaligen Ostgebieten, obwohl es von deutscher Seite starke Vorbe50
Vgl. dazu Wolken 1986, Link 1988 und Wong 1992. Wolken (1986: 8) spricht bei der
zunehmenden Verwendung des Wortes „Asylanten“, vor allem auch in Verbindung mit
Metaphern wie „Strömen“, „Fluten“ und „Dämmen“ von einem Enttabuisierungsprozess in der Asylpolitik der späten siebziger und frühen achtziger Jahre.
51
Die Vorgeschichte des „Wirtschaftsflüchtlings“ ist tatsächlich noch länger. Heribert
Prantl weist darauf hin: „Als ‚Wirtschaftsemigranten’ wurden in der Zeit des Dritten
Reiches die Juden bezeichnet, die auf der Flucht vor dem Konzentrationslager waren.
An eine ‚wirkliche Verfolgung’ mochte man seinerzeit in vielen Ländern nicht glauben“
(Prantl 1994: 104).
114
halte gegen sie als „Wirtschaftsflüchtlinge“ gab, letztlich pauschal zu politischen Flüchtlingen erklärt. Die Bezeichnung „politischer Flüchtling“ entwickelte sich also zu einer Mantelkategorie, die, wie es sich am Beispiel
der Ostblockflüchtlinge gezeigt hat, auch die stillschweigende Anerkennung von ökonomisch bedingten Wanderungsursachen einschloss. Dies
war so lange gegeben, wie Fluchtbewegungen vorwiegend in der „OstWest-Axiomatik der Flüchtlingsakzeptanz im Kalten Krieg“ (Bade 2000:
370) verliefen. Diese Haltung schlug um, als sich die Fluchtbewegungen
von der Ost-West-Achse verschoben und damit nicht länger durch eine innereuropäische und deutsche Systemkonkurrenz legitimiert waren.
Einschnitte ins Asylrecht
Zunächst verblieb die asylpolitische Wende auf der verbalen Ebene.
Rechtspolitische Maßnahmen zur „Bekämpfung des Asylmissbrauchs“, der
seit 1973 konstatiert wurde, wurden erst gegen Ende der siebziger Jahre
eingeleitet. Bis 1982 wurde auf mehreren Ebenen eine Kette von Eingriffen
vorgenommen, die nach einem Bericht des Innenministeriums von 1977
auf „Möglichkeiten der Steuerung und Begrenzung des Asylbewerberzustroms“ sowie „Beschleunigung des Asylverfahrens“ abzielten (zit. n.
Wolken 1988a: 66). Da sich Maßnahmen wie die Verkürzung des Instanzenwegs und der Widerspruchsfristen im Asylverfahren nicht wesentlich
auf die Zahl der Asylanträge auswirkten, wurde als effektivere Maßnahme
gegen die Einwanderung von Asylsuchenden zusätzlich eine Visumspflicht
für die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen verhängt52.
Dies war die deutlichste Reaktion auf die im Jahr 1980 auf über 100.000
gestiegene Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik. Als eine dritte
Strategie wurde der Weg einer administrativen Verschlechterung der Le-
52
„So wurde allein im Jahre 1980 der Sichtvermerkzwang auf sieben weitere Flüchtlingsherkunftsländer ausgedehnt: Afghanistan, Äthiopien, Sri Lanka, Iran, Türkei,
Bangladesh und Indien. Damit galt für die zehn Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge in die Bundesrepublik kamen, ausnahmslos Sichtvermerkspflicht“ (Wolken 1988:
47).
115
bensbedingungen für Asylsuchende eingeschlagen53. Die Maßnahmen erfolgten kurz aufeinander oder parallel in einer Geschwindigkeit, die eine
sorgfältige Ausarbeitung oder Prüfung ihrer Wirkung ausschloss. Sie fanden 1982 mit der Ausgliederung des Asylverfahrensgesetzes aus dem Ausländergesetz ihren vorläufigen Abschluss und hinterließen einen Gesetzesund Verordnungsapparat, den der SPD Abgeordnete Schöfberger nachträglich als dilettantisches Nachbessern und „Flickschusterei“ beschrieb (Wolken 1988: 55).
Kampagnen gegen „Asylanten“
In den Jahren 1982 bis 1984 fanden kaum gravierende Einschränkungen im
asylpolitischen Bereich statt, auch eine politische Diskussion wurde vermieden, so dass Wolken von einer ausdrücklichen „Dethematisierung und
Konsolidierung der Asylpolitik“ (Wolken 1988: 68) durch die regierende
CDU/CSU/FDP Regierung spricht. Trotz verschiedener asylpolitischer
Skandale, durch welche die negativen Folgen der asylpolitischen Maßnahmen publik wurden, kam es zu keinen Änderungen54. Die diskursive Matrix
der Asylbewerber als „Asylanten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ war allerdings ebenso festgelegt wie die grundlegende Ausrichtung der Maßnah53
Asylsuchenden wurde durch das sogenannte „Wartezeitgesetz“ erst für ein Jahr, kurze
Zeit später für die ersten zwei Jahre nach Antragstellung ein Arbeitsverbot auferlegt, sie
wurden von der Sprachförderung ausgeschlossen, ebenso von der Gewährung von Kindergeld. Sie konnten weiter durch Ausländerbehörden verpflichtet werden, an einem
bestimmten Ort oder in einer bestimmten Gemeinde zu wohnen, Sozialhilfe sollte nach
Möglichkeit in Sachmitteln geleistet werden, „... eine Maßnahme, die gegenüber Obdachlosen immer wieder von den Gerichten als rechtswidrig beurteilt wird“ (Wolken
1988: 50). Außerdem konnten Asylbewerber zur Leistung gemeinnütziger und zusätzlicher Arbeit herangezogen werden, bei Verweigerung drohte Kürzung oder Streichung
der Sozialhilfe.
54
Der Selbstmord von Kemal Altun, der 13 Monate in Auslieferungshaft gehalten wurde und trotz seiner Anerkennung als Asylberechtigter an die Türkei ausgeliefert werden
sollte, entfachte eine öffentliche Diskussion um die menschenwürdige Behandlung von
Asylsuchenden und um die Frage der Schutzgewährung. Der sogenannte ‚Toscani’ Bericht des UNHCR brachte die menschenunwürdige Behandlung von Asylsuchenden in
deutschen Sammellagern an die Öffentlichkeit und führte zu einer heftigen Verstimmung zwischen UNHCR und dem damaligen Innenminister Zimmermann (CSU) (vgl.
Wolken 1988: 60ff; Hamburger Arbeitskreis Asyl 1983: 74ff).
116
men. So konnte es dann Mitte der achtziger Jahre innerhalb weniger Wochen zu einer neuen Thematisierung der Asylmigration kommen, ohne dass
es des längeren Prozesses einer Enttabuisierung bedurft hätte (vgl. Wolken
1988: 70).
In dieser neuen Kampagne wurden Gesetzesentwürfe verschiedener Bundesländer (Berlin sowie Baden-Württemberg und Bayern) in den Bundesrat
eingebracht, um die eine heftige politische Debatte und öffentliche Diskussion entbrannte, in die sich auch die Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen einschalteten. Die Kritik
sah die in den Gesetzesentwürfen gemachten Vorschläge im Großen und
Ganzen als weder mit dem Flüchtlingsschutz nach der GFK noch mit der
Definition politischer Verfolgung nach Art. 16 II 2 Grundgesetz vereinbar
an. Die Entwürfe wurden schließlich nicht verabschiedet, weil sie auch innerhalb der Regierungskoalition umstritten waren. Zum Teil wurden Maßnahmen aus diesen Entwürfen in späteren Gesetzen und Verwaltungsvorschriften realisiert, eine Reihe weiterer Verschärfungen kam im Lauf der
achtziger Jahre noch hinzu. In der öffentlichen Diskussion wurde seit Anfang der achtziger Jahre zunehmend auch von Bundespolitikern die Forderung nach einer Einschränkung des Grundrechts auf Asyl erhoben. 1984
schlossen sich führende CDU/CSU Politiker den Forderungen des Berliner
Innensenators Lummer (CDU) an, womit sie
„... den bis dahin postulierten Allparteienkonsens über die
Unantastbarkeit des Grundrechts auf Asyl unter Protest der
SPD und FDP verließen, weil die Bundesrepublik ‚nicht das
Arbeits- und Sozialamt für die ganze Welt sein’ kann“
(Wolken 1988: 75).
Auch wenn diese Änderung zunächst politisch nicht umzusetzen war, weil
die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag ohne Zustimmung der
SPD nicht erreicht werden konnte, so wurde die Forderung in den Folgejahren immer wieder gestellt. Ende der achtziger Jahre wurde das Verlangen nach einer Einschränkung des Grundrechts auf Asyl schließlich zum
offen proklamierten Ziel der Unionsparteien.
117
Rechtsprechung „auf Kurs“
Seit Beginn der achtziger Jahre unternahm die Bundesregierung größere
Anstrengungen, auch die Asylrechtsprechung in einem restriktiveren Sinne
zu beeinflussen. Zentral für diesen Belang war die Stellung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten. Dieser direkt dem Innenministerium
unterstellte Beauftragte diente als Korrektiv gegen Entscheidungen des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichte. In der Praxis legte der Bundesbeauftragte Widerspruch
fast ausschließlich gegen anerkennende Bescheide bzw. Urteile ein und berichtigte so die Anerkennungsquoten speziell für bestimmte Herkunftsländer nach unten (Münch 1992: 164).
Ab Mitte der achtziger Jahre versuchte die Bundesregierung auch durch
öffentlichen Druck auf die Verwaltungsgerichte eine Spruchpraxis zu erreichen, die von einem möglichst engen Begriff der politischen Verfolgung
ausgeht. Seitens der Regierung und der christlichen Parteien, aber auch der
Medien wurde der Rechtsprechung unterstellt, sie urteile zu asylfreundlich
und versuche, die Definition des politisch Verfolgten auf einen größeren
Adressatenkreis zu erweitern (vgl. Wolken 1988: 78f). Da weitere Verschärfungen der Gesetzgebung ohne eine Grundgesetzänderung keine radikalen Einschnitte möglich erscheinen ließen, wurde der Rechtsprechung
vorgeworfen, der Tendenz einer stetigen Einschränkung des Asylrechts
nicht hinreichend Folge zu leisten.
Dagegen stellte z.B. der Ausländerrechtsexperte Reinhard Marx (1988)
fest, dass die Rechtsprechung insbesondere des Bundesverwaltungsgerichts
im Prinzip bereits der von der Politik vorgegebenen Linie folgte. Zeitlich
analog zu den gesetzgeberischen Maßnahmen gegen „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylmissbrauch“ wurde 1977 die Lehre von der subjektiven Verfolgungsfurcht auf die Verfolgungsmotivation des Staates umgestellt.
„Wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen seien ‚der
totalitäre Charakter einer Organisation oder Staatsform, die
Radikalität ihrer Ziele, der Rang, den sie dem einzelnen und
118
seinen Belangen einräumt sowie das Maß an geforderter und
durchgesetzter Unterwerfung’“ (Marx 1988: 152).
Damit wurde, so Marx, nicht die subjektive und schwer zu ermessende
Furcht vor Verfolgung, sondern der vergleichsweise besser zugängliche
Charakter der staatlichen Verfolgungstendenz zur Entscheidungsgrundlage
erhoben. Zugleich wurde damit jedoch die Rechtsprechung an die Einschätzung geknüpft, welches Regime als totalitär oder unterdrückend einzustufen ist. Weitere Konsequenz: eine Verfolgung, die nicht direkt durch
staatliche Organe erfolgte, wurde häufig als nicht asylrelevant eingestuft
(vgl. Marx 1988 152ff).
Die zunehmende Beschränkung des Asylrechts führte nicht dazu, dass die
Maßnahmen als ausreichend erachtet wurden. Insbesondere die christlichen
Parteien konzentrierten sich seit Mitte der achtziger Jahre auf die Argumentation, dass Asylzuwanderung eine gesamtgesellschaftliche Bedrohung
sei, auf welche die Politik nicht adäquat zu reagieren im Stande sei, da ihr
durch das Grundrecht auf Asyl die Hände gebunden seien, und leitete daraus die Forderung nach einer Einschränkung des Grundrechts ab. Doch erst
Anfang der neunziger Jahre zeigte sich auch die SPD zu einer Änderung
des Artikels 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes bereit und gab damit den
Weg zur für diese Änderung notwendigen 2/3 Mehrheit frei.
119
Entwicklung der Asylantragszahlen in den Jahren 1953 bis 2004 (ab
1995 nur noch Erstanträge).
Abb. 2 (Quelle: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 2005: 17)
120
5. Asylpolitik nach dem Mauerfall
Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Asylzuwanderung setzte Anfang der neunziger Jahre erneut mit großer Intensität ein. Hinsichtlich der
ergriffenen gesetzgeberischen Maßnahmen ist jedoch zugleich eine klare
Kontinuität der seit Ende der siebziger Jahre eingeschlagenen Richtung zu
verzeichnen. Mit dem am 6. Dezember 1992 erzielten und im Mai 1993
umgesetzten sogenannten Asylkompromiss wurde das Grundrecht auf Asyl
in mehreren Punkten eingeschränkt, die zum Teil schon in den achtziger
Jahren eingebracht, damals aber teils als nicht durchsetzbar oder verfassungswidrig aufgeschoben worden waren. Auch wenn mit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl eine deutliche Schwelle überschritten wurde, so lag diese Entscheidung durchaus im Trend einer zunehmenden Zugangsverhinderung zum Asylrecht. Dass diese Kontinuität in den Hintergrund treten konnte, ist vor allem auf die Schärfe der Diskussionen und den
gleichzeitigen Anstieg rassistischer Gewalt vor allem gegen Asylsuchende
und Unterkünfte zurückzuführen.
Die Diskussionen, die Anfang der 90er Jahre um das Asylrecht und um
Flüchtlinge geführt wurden, waren vielschichtig und verliefen in unterschiedlichen Strängen. Die öffentliche Diskussion wurde dominiert von
politischen Auseinandersetzungen, die auf die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl hinausliefen. Gerade in dieser Diskussion wurden Asylbewerber und Antragszahlen sowie aufflammender Rassismus wechselseitig
aufeinander bezogen. In verschiedenen Expertenkreisen wurde das Asylrecht einerseits im Kontext europäischer und internationaler Politiken, andererseits mit Bezug auf mehr oder minder umfassende Reformen in der
Zuwanderungs- und Integrationspolitik diskutiert, Aspekte, die im Wesentlichen erst in den Folgejahren aufgegriffen werden sollten. Menschenrechtsgruppen wie Pro Asyl oder Amnesty International, die sich für den
Erhalt des Flüchtlingsschutzes einsetzten, blieben in der öffentlichen Diskussion ohne großen Einfluss, ebenso Kirchen und Wohlfahrtsverbände.
Eine wenn auch befristete Wahrnehmung in den Medien fanden hingegen
121
bürgerliche Appelle und Proteste gegen zunehmenden Rassismus in der
Bundesrepublik.
Gesellschaftliche Umbrüche in den Staaten des ehemaligen Ostblocks und
der Fall des Eisernen Vorhangs führten seit 1988 zu stark ansteigenden
Migrations- und Fluchtbewegungen und zu einer erneuten Umkehr der
Hauptherkunftsländer. Besonders Personen aus der Bundesrepublik Jugoslawien sowie Sinti und Roma aus Rumänien flüchteten in die Bundesrepublik und stellten Antrag auf Asyl, häufig aus Mangel anderweitiger Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung55. Dies ließ die Asylantragszahlen in
die Höhe schnellen (vgl. Abb. 2 Seite 108). Schon 1988 kam mehr als die
Hälfte der Antragsteller aus Staaten des ehemaligen Ostblocks, Anfang der
90er Jahre mehr als 70 %. Zugleich war die Bundesrepublik (bzw. waren
vor der Vereinigung beide deutschen Staaten) Ziel weiterer zahlenmäßig
großer Wanderungsbewegungen von deutschstämmigen Aussiedlern und
jüdischen Einwanderern aus dem ehemaligen Ostblock.
Die Diskussion konzentrierte sich auf die Einwanderung von Asylsuchenden, andere Einwanderer traten zunächst in den Hintergrund. Der Grund für
diese Einengung liegt wiederum in der spezifisch deutschen Haltung gegenüber Einwanderung begründet. Am Diktum „Die Bundesrepublik ist
kein Einwanderungsland“ wurde auch in den 90er Jahren festgehalten; eine
Diskussion über Neuregelungen zur Einwanderung stand also nicht zur
Disposition. Die Thematisierung von tatsächlich stattfindender Einwanderung bezog sich deshalb auf Migranten, die unter Berufung auf das Asylrecht einwanderten und zumindest für die Dauer der Prüfung ihres Antrags
ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik bekamen. In der Debatte wurde
nicht nur auf die große (und wachsende) Zahl der Asylanträge verwiesen,
sondern das Asylrecht geriet in der Darstellung zur massiven Einschränkung der staatlichen Handlungsfähigkeit. Ohne die Einschränkung des
55
Dies trifft vor allem auf Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien zu. Viele
Kommunen drängten Flüchtlinge in Asylanträge, weil damit der Staat und nicht die
Kommunen die Kosten für die Unterbringung und Versorgung zu tragen hatte (vgl. z.B.
Bosswick 1997: 59).
122
Grundgesetzes, so wurde argumentiert, bliebe das Asylrecht ein Einfallstor
für unkontrollierbare Einwanderung. Es ist nicht von der Hand zu weisen,
dass sich viele Flüchtlinge chancenlos auf das Asylrecht beriefen. Chancenlos waren nicht nur Einwanderer, die primär Sicherheit und eine (auch
wirtschaftliche) Lebensperspektive nach dem Zusammenbruch sozialistischer Systeme suchten, chancenlos waren auch Minderheiten wie Roma
aus Südosteuropa, die als Opfer auflebender Diskriminierungen Schutz
suchten, oder die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien. Ungeachtet der fehlenden Möglichkeiten auf Anerkennung wurde
vielen dieser Flüchtlinge ein wenigstens temporärer Abschiebeschutz gewährt. Zunächst jedoch ließen sie die Asylstatistik ansteigen und boten der
Debatte damit Nahrung.
Besonders auf die Kommunen kamen durch die hohen Antragszahlen große
Belastungen hinsichtlich der Versorgung und Unterbringung der Einwanderer zu. Viele Kommunen reagierten demonstrativ widerwillig und zögernd
auf die Aufnahme von Migranten, und insbesondere hinsichtlich Asylsuchender erklärten Kommunen häufig, dass sie mit der Unterbringung überfordert wären56. Ähnliches traf auch auf die Bundesländer zu, die mit jeweils besonders scharfen Durchführungsbestimmungen zueinander in Konkurrenz traten und damit zeitweilig eine „interne ‚Asylflucht’“ (Bade 2000:
376) in Gang setzten57. Es scheint insbesondere die gleichzeitige Thematisierung der Asylpolitik auf Bundes- und Länderebene sowie in den Kom-
56
Münch spricht von einem weit verbreiteten „Unzuständigkeitsdenken“: „Auch nachdem die einzelnen Bundesländer eine Kostenerstattungsregelung eingeführt haben, fühlen sich die Kommunen überfordert; entweder gelten die Mittel als unzureichend oder
man lehnt eine Einquartierung überhaupt als unzumutbar ab. Letzteres ist das Hauptproblem bei der Flüchtlingsaufnahme. Die einzelnen Kommunen versuchen meist, die
Verantwortung auf andere Städte abzuwälzen, indem sie zum Beispiel eigene, bereits
bestehende Belastungen anführen“ (Münch 1992: 136)
57
Dies gilt nicht allein für die neuen Bundesländer, aus denen Asylsuchende in größeren Zahlen in die alten Bundesländer migrierten, sondern auch aus Bayern und BadenWürttemberg gab es Wanderungsbewegungen nach Nordrhein-Westfalen oder Hamburg
(vgl. Bade 2000: 376).
123
munen gewesen zu sein, was der Asyldiskussion Anfang der 90er Jahre ihre Schärfe verliehen hat.
Politische Kampagne gegen Asylsuchende und rassistische Gewalt
Auf die in den Medien besorgt kommentierte steigende Asylzuwanderung
reagierten christlich-liberale Bundesregierung und Unions-Parteien mit der
Forderung nach weiteren Maßnahmen der Zuwanderungsbeschränkung,
insbesondere nach der Einschränkung des Asylgrundrechts, die nur mit Zustimmung auch der SPD realisierbar war. Die hohe Asylzuwanderung wurde dabei als bedrohlich wahrgenommen und darüber hinaus als Indiz für
eine weitgehend unbegrenzte Steigerung der Zuwanderungszahlen gewertet.
Die Einschränkung des Asylrechts wurde als Ultima Ratio für die Bewältigung dieser Bedrohung angesehen. In den Jahren 1991 und 1992 starteten
die Unionsparteien eine Kampagne auf unterschiedlichen Ebenen mit dem
Ziel, die SPD unter Druck zu setzen und zur Zustimmung der Grundgesetzänderung zu bewegen. Die Regierungsparteien attestierten sich selbst
Handlungsunfähigkeit und warfen der SPD vor, sich einem Kompromiss zu
verweigern, der dem Staat erlaubte, das Problem der Asylzuwanderung zu
beherrschen.
Gleichzeitig zur immer hitzigeren Debatte um die Asylpolitik kam es zu
einem beispiellosen Anstieg von rassistischen Übergriffen, die sich gegen
Ausländer und Asylsuchende sowie deren Unterkünfte, aber auch gegen
jüdische Einrichtungen und Obdachlose richteten. Vor allem in den neuen
Bundesländern kam es zu offenen Pogromen und Verfolgungsjagden gegen
Eingewanderte, die in einigen Fällen (Hoyerswerda September 1991, Rostock August 1992) tagelang anhielten, bis sie von der Polizei zögerlich unter Kontrolle gebracht wurden. Bundesweit wurden zum Teil fast täglich
Übergriffe auf Migranten und Brandanschläge auf Asylbewerberunterkünfte, aber auch auf Wohnhäuser ehemaliger Arbeitsmigranten verübt (so in
Mölln November 1992 und Solingen Mai 1993).
Der Rassismus, der sich Anfang der 90er Jahre Bahn brach, hatte eine Reihe von Ursachen. Zur Verstärkung hat sicherlich die Umbruchphase beige124
tragen, welche die Bevölkerung des vereinigten Deutschlands durch den
Fall der Mauer und den Prozess der Eingliederung der ehemaligen DDR in
das politische und wirtschaftliche System der Bundesrepublik durchlebte.
Insbesondere die Bürger der ehemaligen DDR wurden, wie Bade schreibt,
durch die Wiedervereinigung zu „Fremden im eigenen Land“58: Als weiteres, spezifisch deutsches Phänomen führt Bade die „Desorientierung der
Bevölkerung“ (1994: 71) an, die durch eine faktisch seit Anfang der achtziger Jahre bestehende Einwanderungssituation mit allen sozialen und kulturellen Konsequenzen bei gleichbleibender beharrlicher Weigerung der
Politik, dies anzuerkennen, entstanden ist.
„Als offenbar wurde, dass die hilflose Flucht in das Dementi, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, nur die
Kehrseite der politischen Rat- und Konzeptlosigkeit war,
konnten sich ökonomische und soziale Ängste, Irritationen
und Frustrationen über die Abwesenheit von Politik in einer
gespenstischen, weil alltäglich erlebten und doch für nichtexistent erklärten Einwanderungssituation umschlagen in
Aggressivität gegen die falschen Ursachen“
(Bade 1994: 72).
Dies deutet die Verzahnung von politischer Anti-Asyl-Kampagne und rassistischer Gewalt an. Die öffentliche Diskussion über Einwanderung wurde
zugespitzt auf die Asylsuchenden. Als einzige Möglichkeit einer Begrenzung der Asylmigration setzten CDU und CSU auf die Einschränkung des
Asylgrundrechts. Nachdem die FDP ihre Zustimmung zur Änderung des
Grundgesetzartikels signalisiert hatte, richteten sich die politischen Bestrebungen der Regierungsparteien darauf, auch die SPD zur Änderung zu bewegen, damit die notwendige 2/3 Mehrheit erreicht werden konnte. Zu diesem Zweck wurde trotz schon zunehmender Gewalttätigkeiten gegenüber
58
„Was der Einigungsschock konkret an dramatischen existenziellen Problemen bedeutete, spricht aus den Extremwerten von Geburt und Tod in der Statistik der neuen Bundesländer, mit ihren extrem hohen Suizidraten im Vereinigungsprozess und einem Absturz der Geburtenrate von 1989 bis 1992 um 70 Prozent“ (Bade 1994: 58f).
125
Flüchtlingen eine gezielte Verschärfung der Asyldiskussion unternommen59.
Bezeichnend für die Debatte ist es, dass die Asylsuchenden und das bestehende Asylrecht als Ursache für den grassierenden Rassismus dargestellt
wurden. Exemplarisch ist dies abzulesen an einer Rede des damaligen
Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble (CDU). In einer Bundestagsdebatte am 18.10.91, die sich nach den Ausschreitungen in Hoyerswerda eigentlich mit den bedrohten Ausländern in der Bundesrepublik befassen
sollte, bezeichnete Schäuble den Anlass der Debatte als „doppelt unerfreulich“ (zit. n. TAZ 19.10.91: 4):
„Unerfreulich sei die Gewalt gegen Ausländer, die er knapp
mit wenigen Worten wie ‚Schande für unser Land’ verurteilte. Ebenfalls ‚unerfreulich’ nannte er es, womit er sich
dann bis zum Schluss seiner Rede beschäftigte: Dass viele
Ausländer versuchten, mittels des Asylrechts hier ein Bleiberecht zu bekommen und dass sie die geltenden Zuwanderungsbeschränkungen unterliefen. Wie gewöhnlich forderte
Schäuble, den Asylartikel 16 des Grundgesetzes zu ändern“.
Nur wenn die Sozialdemokraten sich ‚gesprächsbereit’ für
eine Änderung des Asylrechts zeigten, ‚bleibt die Bundesrepublik ein ausländerfreundliches Land’. (TAZ 19.10.91: 4)
Der Rassismus auf der Straße wurde also direkt auf die steigenden Asylbewerberzahlen zurückgeführt und beides gemeinsam der SPD angelastet,
damit sie ihre ablehnende Haltung gegenüber einer Änderung des Grund-
59
Im Oktober 1991 wurde ein Rundschreiben des damaligen CDU Generalsekretärs
Volker Rühe an alle Fraktionsvorsitzenden aus den Stadträten, Landtagen und Bürgerschaften bekannt, das die Aufforderung enthielt, „... systematisch ‚die Asylpolitik zum
Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern.’ (...) ‚Die Verweigerung der SPD
treffe’, so Rühe, ‚insbesondere die Kommunen, die für die Unterbringung der Asylbewerber zu sorgen haben. In den Städten und Gemeinden artikuliert sich in der Bevölkerung auch am ehesten Unmut und mangelnde Akzeptanz des praktizierten Asylrechts.’
An diese Emotionen, so Rühes Aufforderung, müsse die CDU anknüpfen“ (TAZ vom
8.10.1991: 4).
126
rechts auf Asyl revidierte60. Die Kampagne der CDU und CSU wurde in
gleichbleibender Schärfe weitergeführt. Sie gipfelte schließlich in der Ankündigung des Bundeskanzlers Helmut Kohl sowie des CDU/CSU Fraktionschefs Gerster im Herbst 1992, angesichts der „Katastrophe“ von Asylzuwanderung und Rassismus einen „Staatsnotstand“ auszurufen und das
Asylrecht auch ohne Zustimmung der SPD zu ändern (vgl. TAZ 5.11.92:
4). Im Herbst 1992 widersetzte sich die SPD nicht länger einer Grundgesetzänderung und fand sich im Dezember zu einem Asylkompromiss mit
den Regierungsparteien CDU/CSU/FDP bereit. Artikel 16 II 2 des Grundgesetzes wurde durch einen neuen Artikel 16a ersetzt, der insbesondere die
Zugangsmöglichkeiten zum Asylrecht stark einschränkt61. Der neue
Grundgesetzartikel trat zum 1. Juli 1993 zugleich mit einem neuen Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft. Durch die schrille Intonierung der Asyldiskussion gelang es, eine Grundgesetzänderung durchzusetzen, allerdings
um den Preis der Anheizung eines rassistischen Klimas in der bundesdeutschen Bevölkerung62.
60
So sagte Rühe im Herbst 1991 im Bundestag, wenn die SPD der Grundgesetzänderung nicht zustimme, sei künftig „jeder Asylant ein SPD-Asylant“ (TAZ 19.10.91: 4).
61
Demnach haben Asylsuchende, die über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ einreisen, keinen Anspruch mehr auf ein Asylverfahren in der Bundesrepublik, weil sie
schon im „sicheren Drittstaat“ einen Asylantrag hätten stellen können. Alle die Bundesrepublik umgebenden Staaten sind „sichere Drittstaaten“. Wer weiter aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ kommt, dessen Asylantrag ist in der Regel als „offensichtlich unbegründet“ einzustufen. Für „offensichtlich unbegründete“ Anträge gilt ein verkürztes
Verfahren. In einem sogenannten „Flughafenverfahren“ werden Asylantragsteller zunächst als nicht eingereist betrachtet und in bewachten Unterkünften auf dem Flughafengelände interniert, bis entschieden ist, ob ihr Asylantrag zugelassen wird. Insbesondere die Fristen im Verfahrensweg wurden stark verkürzt. Abgelehnte Asylbewerber
werden vom Flughafen aus abgeschoben (vgl. Wurzbacher 1997: 22ff; Heinhold 2000).
62
Dass dies auch von Vertretern der Unionsparteien so eingeschätzt und billigend in
Kauf genommen wurde, belegt die Stellungnahme von Bundesinnenminister Manfred
Kanther (CDU) zur Asylrechtskampagne: „Jetzt kommen nicht mehr 30.000, sondern
10.000 Flüchtlinge. Das ist immerhin etwas. Dieses Ergebnis bestätigt die Richtigkeit
unserer Politik. Es wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung – die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat“ (zit. n. Prantl 1994: 53, Hervorhebung von mir, St.D.).
127
Expertengespräche
Die sachliche Auseinandersetzung von Praktikern und Wissenschaftlern um
Möglichkeiten und Bedingungen einer Einwanderungsbegrenzung verblieb
gegenüber der mit Schlagworten geführten politischen Debatte im Hintergrund. Dabei gab es eine ausgesprochen pragmatische Diskussion um
Auswege aus der offensichtlichen Krise, in die sich die Bundesrepublik
hineinmanövriert hatte63. Die immer wieder bekräftigte Aussage, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, war durch hohe Aussiedler- und
Asylbewerberzahlen faktisch und für jedermann offenkundig widerlegt.
Auf Tagungen und in Fachzeitschriften wurden neben der Frage der Glaubwürdigkeit der Politik insbesondere drei Aspekte abgewogen: wie sollte
man angesichts steigender Zuwanderung durch Flüchtlinge das deutsche
Asylrecht als aus der Faschismuserfahrung resultierendes Grundrecht bewahren, wie die deutschen Verpflichtungen gegenüber internationalen
flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen absichern, und wie
konnte dem gegenüber die staatliche Souveränität, die angesichts der asylrechtlich gegebenen vorübergehenden Aufenthaltsmöglichkeiten eingeschränkt schien, gewahrt werden? Diese Fragen wurden Anfang der 90er
Jahre nicht nur wegen bestehender, sondern vor dem offenen Hintergrund
möglicherweise rapide weiter steigender Migrationszahlen diskutiert.
Während die politische Diskussion mit ihrer Fokussierung auf das Asylgrundrecht eher suggerierte, dass (nur) eine Grundgesetzänderung dem
Staat wieder seine Handlungsfähigkeit zurückerstatten würde, diskutierten
die Fachleute unterschiedlicher Couleur das Thema Fluchtmigration in der
Regel differenzierter. Experten sahen die Fluchtmigration deutlich im Kontext allgemeiner Einwanderung und stellten neben Aspekte wie die Bekämpfung von Fluchtursachen und eine verbesserte Kontrolle der Fluchtmigration auch Überlegungen zu einer europäischen Lastenteilung bei der
Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen sowie unterschiedliche Mo63
Auch andere westeuropäische Staaten hatten eine deutlich erhöhte Zuwanderung zu
verkraften, doch durch die geographische Lage sowie durch bestehende Netzwerke vor
allem jugoslawischer Migranten hatten insbesondere Deutschland und Österreich hohe
Zuwanderungszahlen zu verzeichnen.
128
delle, mit denen z.B. Bürgerkriegsflüchtlingen ein temporärer Schutz ermöglicht werden sollte. Verschiedene mit Migration befasste Wissenschaftler betonten die Notwendigkeit umfassender und langfristiger Programme,
die an den Realitäten der Einwanderungssituation ansetzen, Zuwanderung
regeln und durch Integrationsmaßnahmen flankiert werden sollten (vgl.
Bade u.a. 1991).
Aus der einhellig vertretenen Meinung, dass das bundesdeutsche Asylrecht
nicht nur politischen Flüchtlingen, sondern auch Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen als Einreisemöglichkeit diente, wurden unterschiedliche
Schlüsse gezogen. Der konservative Rechtswissenschaftler Kay Hailbronner stellte etwa fest, dass die Asylanträge, die Anfang der 90er Jahre zu etwa 70 % durch Angehörige ost- und südosteuropäischer Staaten erfolgten,
die Konsequenz des liberalen Selbstverständnisses westeuropäischer Staaten während des Kalten Krieges sei:
„Die liberale Idee der individuellen Freiheit, innergemeinschaftlich mit der Herstellung des Binnenmarktes verknüpft,
ist in ihrem Grundgedanken als Weltmodell konzipiert. Es
kann daher nicht überraschen, wenn das jahrelange Beharren auf Ausreisefreiheit von den bisherigen Unterdrückten
beim Wort genommen und zur Einreisefreiheit verwandelt
wird – ist doch Ausreisefreiheit ohne freie Einreise in andere Länder nicht denkbar. Alle westeuropäischen Länder haben sich mit der Erklärung beeilt, dass es so nicht gemeint
war“ (Hailbronner 1992: 51).
Deutlich sah Hailbronner auch die Wechselwirkungen einseitiger Asylrechtsverschärfungen voraus. Verständige sich Europa nicht auf gemeinsame Standards für Einwanderungs- und Asylpolitiken, so „ steht nur ein
Wettlauf der westeuropäischen Staaten um die jeweils rigidesten Einwanderungsbeschränkungen zur Verfügung. Das humanitäre Anliegen des A-
129
sylrechts müsste dabei notwendigerweise auf der Strecke bleiben“
(Hailbronner 1992: 52)64.
Der vorsitzende Richter am hessischen Verwaltungsgerichtshof Renner sah
nicht in der weiteren Verkürzung von Einspruchsfristen oder in der Einführung neuer Restriktionen Möglichkeiten zu einer Reduzierung der Antragszahlen und der 1992 auf ca. 500 000 angelaufenen unentschiedenen Anträge, sondern eher im Bereich der Exekutive und Judikative65. Außerdem kritisierte Renner, dass für Flüchtlinge, die offenkundig ohne Aussicht auf
Asyl einreisten, keine anderen Aufenthaltsmöglichkeiten eröffnet wurden.
Dies bezog er insbesondere auf die Bürgerkriegsflüchtlinge des zerfallenden Jugoslawien, die ohne aufenthaltsrechtliche Alternative ins Asylverfahren gedrängt würden. Dadurch würde die Asylstatistik aufgebläht und den
Flüchtlingen nicht geholfen:
“Schließlich wäre zweifellos eine spürbare Entlastung der
Asylstatistik und vor allem der Diskussionen um das Asylgrundrecht dadurch zu erreichen, dass ein vorläufiges Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge eingeführt wird. Die in
den letzten Monaten aus dem auseinanderbrechenden Jugoslawien nach Westeuropa kommenden Flüchtlinge suchen
zum ganz großen Teil (nur) vorübergehenden Schutz vor
den inneren Kämpfen und keine Daueraufnahme aus Furcht
vor politischer Verfolgung. Könnte ihnen eine passende
64
Diese Einsicht hinderte Hailbronner nicht daran, 1993 im Auftrag der Bundesregierung die Grundgesetzänderungen am Asylrecht, die im Wesentlichen einseitige Einschnitte darstellen und im Laufe der 90er Jahre eine Reihe von Asylrechtsverschärfungen anderer Staaten Westeuropas nach sich zogen, vor dem Bundesverfassungsgericht
zu verteidigen.
65
„Die Gesamtverfahrensdauer könnte auch durch ein konsequentes Ausschöpfen der
bestehenden Regelungen ganz erheblich verkürzt werden, und zwar weitaus wirksamer
als durch Verkürzung der Rechtsmittelfristen um ein oder zwei Wochen oder durch Einführung von Präklusionen, welche die Arbeit von Behörden und Gerichten um keinen
einzigen Tag beschleunigen. Deren mangelnde personelle Ausstattung ist nämlich im
Wesentlichen verantwortlich für die überlange Verfahrensdauer. Nicht die Bearbeitung
von Asylanträgen und Klagen beansprucht Zeit, sondern deren Nichtbearbeitung“ (Renner 1992: 65).
130
rechtliche Grundlage für ihr Anliegen geboten werden, wären sie nicht auf den (Aus-) Weg des Asyls verwiesen und
die Asylbewerberzahlen dieses Jahres um 40 % niedriger
(Renner 1992: 66).
Auch die Grundgesetzänderung, die seitens der Experten kontrovers diskutiert wurde, erschien Renner als ein wenig probates Mittel, um einer faktischen Einwanderung von Flüchtlingen zu begegnen. Wie er mit Blick auf
die Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien feststellt:
„Allerdings kann auch eine andere Rechtsgrundlage nichts
an ihrem Aufenthalt in Deutschland ändern. Denn diese
Flüchtlinge wollen ihr nacktes Leben und das ihrer Kinder
retten. Sie nehmen keine Rücksicht auf unser Verfahrensrecht – auch nicht auf ein etwa geändertes Grundgesetz“
(Renner 1992: 66).
Eine Verringerung der Einwanderung von Flüchtlingen durch die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl schien auch aus diesem Grund schwierig.
Effizienter, wenn man die staatliche Souveränität in Bezug zur Reduzierung von Fluchteinwanderung setzen mag, ist der im Asylkompromiss eingeschlagene Weg der verstärkten Blockade zum Asylrecht, auch wenn bald
offenkundig wurde, dass damit weder die Einwanderung zu stoppen noch
die Erteilung von mehr oder minder stark befristeten Aufenthaltsmöglichkeiten zu verhindern ist. Auch andere Expertenbeiträge zur Diskussion um
das Asylrecht Anfang der 90er Jahre können den grundsätzlichen Widerspruch zwischen den staatlichen bzw. gesellschaftlichen Ansprüchen einerseits und den Schutzansprüchen der eingewanderten Flüchtlinge andererseits nicht auflösen66.
66
Befürworter z. B. einer verstärkten Bekämpfung von Fluchtursachen im Sinne von
erhöhten Entwicklungsmaßnahmen und -investitionen in den Herkunftsländern wurden
durch praktische Erfahrungen ernüchtert (vgl. Münz und Weiner 1997: 201ff).
131
Gegenbewegungen
Gegen den manifesten Rassismus in der Bundesrepublik kam es zu Kundgebungen in vielen Städten, die von einer breiten Bevölkerungsschicht unterstützt wurden. Sie waren allerdings nicht von einer einheitlichen Stellung gegenüber der Asylpolitik oder der Asylzuwanderung getragen, sondern richteten sich als breit angelegte Bewegung in erster Linie gegen die
deutlich zu Tage tretende Feindseligkeit gegenüber Migranten und Asylsuchenden. Die Asylpolitik wurde weitgehend ausgespart, auch, weil die Debatte die Bevölkerung polarisiert hatte. Die Demonstrationen und Lichterketten verstanden sich als Signal gegen Rassismus und teilweise auch gegen die politische Inszenierung der Asyldebatte67. Die Mobilisierung gelang nicht zuletzt, weil auch aus dem Ausland immer mehr kritische Stimmen zur Situation in der Bundesrepublik laut wurden. So sollte ein Zeichen
gesetzt werden, dass es nicht nur fremdenfeindliche Exzesse, sondern auch
eine bürgerliche Gegenposition dazu gab.
Nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung, gestärkt durch Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Flüchtlingsbetreuer und Menschenrechtsorganisationen,
setzte sich darüber hinaus für Flüchtlinge und Asylsuchende und den Erhalt
ihrer Rechte ein. Dass gewichtige gesellschaftliche Organisationen in der
Asyldiskussion eine ausgesprochen marginale Rolle einnahmen, lag auch
an der Entwicklung, die von der Politik seit 1973 eingeschlagen wurde. Anfang der 90er zeigte sich eine Zuspitzung der Situation, die Wolken schon
für die achtziger Jahre feststellt:
„Die asylpolitischen Forderungen und Maßnahmen, die
trotz einiger nicht zu vernachlässigender Verbesserungen
für die Asylsuchenden (...) in der Tendenz die Rechte der
Asylbewerber zunehmend beschnitten, führten (...) zu einer
Polarisierung zwischen diesen beiden Interessensgruppen,
bei der die Lobby der Asylbewerber als eine Lobby der
Schwachen bei gleichbleibenden Vorstellungen und Forde67
So verstand sich die Münchner Lichterkette explizit als bürgerliches Ereignis und
verbat sich die Teilnahme und Unterstützung seitens politischer Parteien.
132
rungen immer mehr ins Abseits geriet und ungewollt, verglichen mit den Vorstellungen der Gegenseite, Extrempositionen einzunehmen schien“ (Wolken 1988: 374f).
Während die Flüchtlingslobby auf der Einhaltung der Menschenrechte sowie der humanitären Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingen beharrte,
hatte die Politik vor allem die Haltung der Einheimischen im Blick.
Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands waren eine
schwierige Ausgangslage für die angesichts der gleichzeitig verstärkt einsetzenden Zuwanderung erforderliche gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft. Zugleich sind jedoch Versäumnisse der Politik festzustellen: so hatte das Festhalten an der Devise, dass Deutschland kein Einwanderungsland
sei, die erst in den 90er Jahren offenbar werdende Handlungsschwäche der
Politik lange zuvor eingeleitet. Diese Schwäche wurde dann im Zuge einer
Auseinandersetzung um politische Grundsätze eher verstärkt als abgemildert. Statt der in Selbstjustiz eskalierenden Fremdenfeindlichkeit energisch
entgegenzutreten, wurde die Abwehrhaltung in der Bevölkerung teilweise
legitimiert und für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert. Dies gelang
verhältnismäßig leicht, weil die Asyldiskussion seit Beginn der siebziger
Jahre kontinuierlich auf- und ausgebaut worden war. Grundlegende
Schlagwörter waren in die Debatte eingeführt und mussten lediglich aktualisiert werden. Will man dies in die Diktion vom Fremden übertragen, so
ließe sich feststellen, dass die Ambivalenz des Fremden aufgehoben und
auf den Gegensatz zwischen Freund und Feind zugespitzt wurde, ein Gegensatz, der sich deutlich in der Polarisierung der Gesellschaft in Befürworter und Gegner der Asylzuwanderung niederschlug.
6. Arbeit oder Asyl
Vergleicht man die Entwicklungen, die das politische und gesellschaftliche
Verhältnis zu Arbeitsmigranten und ihren Nachkommen einerseits, zu
Flüchtlingen und Asylsuchenden andererseits genommen haben, so treten
drei Aspekte deutlich hervor: Zunächst ist festzustellen, dass der Inklusionsdiskurs gegenüber Arbeitsmigranten und der Exklusionsdiskurs gegenüber Flüchtlingen zeitlich ihren Anfang in der ersten Hälfte der siebziger
133
Jahre nahmen. Im Jahr 1973 wurde ein Anwerbestop gegenüber Arbeitsmigranten verhängt, kombiniert mit verschiedenen Maßnahmen, den Zuzug
weiterer Migranten und Flüchtlinge zu bremsen und die Rückkehr in die
Herkunftsländer zu fördern. Im gleichen Jahr wurde die Rede vom ‚Wirtschaftsflüchtling’ wieder aufgenommen und das Thema des ‚Missbrauchs
des Asylrechts’ eingeführt. Der Zusammenhang liegt auf der Hand. Sowohl
gegenüber Arbeitsmigranten als auch hinsichtlich der Asylantragsteller soll
ein weiterer Zuzug gestoppt werden.
Die Arbeitsmigranten und ihre Nachkommen im Land wurden spätestens
seit den siebziger Jahren in zunehmendem Maße als zumindest temporär an
den gesellschaftlichen Märkten partizipierende Personen betrachtet. Dies
bedingte eine schrittweise Öffnung verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche für die Migranten, zugleich die Forderung, dass Migranten sich an
die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren hätten. Die Unterstützung dieser
Assimilation wurde pädagogisch – sozialpädagogisch geleistet, indem als
kulturell definierte Defizite der Migranten mit pädagogischer Unterstützung aufgearbeitet werden sollten. Während Kontakte zwischen Arbeitsmigranten und einheimischer Bevölkerung bis zum Beginn der siebziger
Jahre nur sporadisch und auf den Arbeitsplatz beschränkt stattfanden, begann besonders mit dem Eintritt der sogenannten ‚Zweiten Generation’ in
die Schule ein weitergehender Prozess der gesellschaftlichen Teilhabe.
Gleichzeitig unterlief die Gleichstellung der Arbeitsmigranten im Rahmen
des bundesdeutschen Sozialsystems politische Bestrebungen zur Exklusion
der Eingewanderten. Schrittweise kam es zu einer Eingliederung der Eingewanderten, die zwar nicht als abgeschlossen zu betrachten ist, den Status
der Eingewanderten als ‚Gastarbeiter’ jedoch weitgehend aufgehoben hat.
Die gesellschaftliche und politische Haltung gegenüber Asylsuchenden verlief im gleichen Zeitraum in die entgegengesetzte Richtung. Von einer anfänglichen Toleranz und Nichtbeachtung der zahlenmäßig unerheblichen
Asylzuwanderung sowie, in Phasen erhöhter Flüchtlingszahlen etwa nach
dem Prager Frühling, mehrheitlicher Bestätigung des Asylrechtes, erfolgte
Mitte der siebziger Jahre der Umschwung zu einer zunehmend restriktiven
und exkludierenden Asylpolitik. Ende der siebziger Jahre wurden Konzepte
134
entwickelt, durch die Asylzuwanderung gebremst werden sollte. Eine Einschränkung der Einwanderungsmöglichkeiten und die Abschreckung von
Asylsuchenden im Land waren die eingeschlagenen Wege, die im Laufe
der achtziger und neunziger Jahre zunehmend ausdifferenziert wurden. Da
eine weitere Einwanderung nicht erwünscht ist, wird auch die Asylzuwanderung als unwillkommene Eingangstüre in die Bundesrepublik gesehen.
Die Kriterien für eine Asylanerkennung werden eingeschränkt, Asylantragsteller werden größtenteils als „Wirtschaftsflüchtlinge“ angesehen, mithin zu Zuwanderern, die wie die zuvor angeworbenen „Gastarbeiter“ einem
ökonomischen Interesse folgen. Durch die Definition von Flüchtlingen als
‚Wirtschaftsflüchtlinge’ wird es möglich, die restriktive Asylpolitik mit der
nötigen Legitimität auszustatten. Gegenüber ‚Wirtschaftsflüchtlingen’ kann
das staatliche Eigeninteresse an einer Begrenzung der Einwanderung zum
Ausdruck gebracht werden; das Interesse der Migranten steht hier dem Interesse des Staates gegenüber. Hinsichtlich der Abwehr schutzbedürftiger
Flüchtlinge ist eine solche Haltung wesentlich schwieriger zu begründen,
setzt man damit doch staatliches Interesse gegen höhere Werte wie die
Verpflichtung gegenüber Menschen- und Flüchtlingsrechten. Insofern ist
nachvollziehbar, dass die Argumentationslinien des ‚Asylmissbrauchs’ und
des ‚Wirtschaftsflüchtlings’ kontinuierlicher Bestandteil der Asyldiskussion in der Bundesrepublik sind.
Die Kontinuität des Lagers
Am deutlichsten tritt der Gegensatz zwischen inkludierender Politik gegenüber Arbeitsmigranten und exkludierenden Maßnahmen gegenüber Flüchtlingen in der Behandlung von Asylsuchenden im Land hervor. Mit der steten Verkleinerung des Nadelöhrs der Asylgewährung schlossen sich
gleichzeitig die möglichen Passagen für Flüchtlinge. Selbst ein langjähriger
Aufenthalt eröffnete kaum Chancen auf ein Bleiberecht. Arbeitsverbote
wurden immer wieder erneuert, zugleich wurde der damit zwangsläufige
Sozialhilfebezug den Flüchtlingen als Hindernisgrund für ein Bleiberecht
ausgelegt. Den deutlichsten Ausdruck fand die Exklusionspolitik gegen-
135
über Flüchtlingen jedoch in der Unterbringung in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften.
Vergleicht man die Entwicklung der ‚Gastarbeiter’-Unterbringung68 mit der
Unterbringung von Asylsuchenden, so lässt sich ein gegenläufiger Trend
feststellen, der verschiedene Aspekte umfasst. Während die Unterbringung
der angeworbenen Arbeitsmigranten anfangs in Lagern mit zum Teil erbärmlicher Ausstattung erfolgte, dann aber schrittweise Verbesserungen
dieser Unterbringungsform stattfanden, so bildet die Unterbringung von
Asylsuchenden in Lagern, verbunden mit einer kontinuierlich gesteigerten
Verschlechterung der Lebensbedingungen, das Ziel und Ende eines gesellschaftlichen Ausschließungsprozesses. Obwohl noch heute Baracken für
Arbeitsmigranten existieren (Dunkel und Stramaglia-Faggon 2000: 161),
konnten Arbeitsmigranten, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, von der
Lagerunterbringung in Wohnheime und Privatwohnungen überwechseln
und so ihre Wohnsituation verbessern. Die strukturelle Diskriminierung,
der Arbeitsmigranten anfangs ausgesetzt waren, weil ihre Unterkunftsbedingungen einen deutlichen Qualitätsunterschied zu Wohnheimen für Deutsche aufweisen sollten, wurde gesetzlich aufgehoben. Asylsuchende wurden hingegen in zunehmendem Maße durch Zwangseinweisungen in Sammellager und Arbeitsverbote aus anderen Wohn- und Unterbringungsformen ausgesondert. Gegenüber Asylsuchenden waren es vor allem gesetzliche Bestimmungen, die unter der Vorgabe, damit Asylantragsteller möglichst abzuschrecken, eine zunehmende Diskriminierung und Separierung
zwischen Asylsuchenden und der übrigen Bevölkerung der Bundesrepublik
einführten. Bei der Unterbringung von Arbeitsmigranten waren es vor allem ökonomische Aspekte, die den schlechten Unterbringungsstandard begründeten; die Unterbringung von Asylsuchenden in Lagern hingegen erfolgte, obwohl bekannt war, dass damit höhere Kosten verbunden sind.
Nicht nur die materiellen Kosten, die mit der Lagerunterbringung und Formen der Sammmelverpflegung verbunden sind, sondern auch die Ver68
Vgl. dazu z.B. Dunkel u. Stramaglia-Faggon 2000; Beer 1999, von Oswald u.
Schmidt 1999.
136
schlechterung der sozialen Situation innerhalb und außerhalb der Lager
werden asylpolitisch in Kauf genommen. Psychologische Untersuchungen
stellten bereits in den achtziger Jahren fest, dass Asylsuchende in Lagern
deutlich häufiger psychische und psychosomatische Krankheitsbilder aufweisen als Flüchtlinge in Privatwohnungen (Henning und Wießner 1982:
52, vgl. Diallo 1994). Die Wohnbevölkerung im Umfeld von Asylbewerberunterkünften reagiert häufig mit Ängsten und Abwehr auf das Lager und
seine Bewohner. Je deutlicher eine Trennung zwischen Wohnbevölkerung
und Lagerinsassen durchgesetzt wird, desto stärker wachsen die Vorbehalte. Eine vom nordrhein-westfälischen Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass eine auch bezüglich des sozialen
Umfelds sozialverträgliche Unterbringung nicht mit einer an Abschreckung
orientierten Unterbringungsweise in Einklang zu bringen ist. Letztere könne deshalb nicht im Interesse der unterbringenden Kommunen liegen (Fokus 1994: 45f).
Während anfangs jeweils in der Notwendigkeit, überhaupt Quartiere zu
gewährleisten, ein wichtiger Grund für die Lagerunterbringung zu sehen
ist, so verliert dieses Argument im weiteren Verlauf an Berechtigung. Diese Wohnform von Asylsuchenden und die damit einhergehende Absenkung
von Leistungen werden verfügt als „... Steuerungsmittel gegen den weiteren Zustrom von Asylsuchenden, die aus asylfremden Gründen in die Bundesrepublik Deutschland einreisten“ (Stech 1991: 11). Der provisorischen
Unterbringung entspricht ein als provisorisch gedachter Aufenthalt. Asylsuchende sollen nur in den Lagern verbleiben, bis über ihren Antrag entschieden ist, worauf sie entweder das Land verlassen sollen oder einen besseren Status erhalten. In der Praxis stellt sich dies oft anders dar. Die sich
zum Teil lang hinziehenden Verfahren führen zu einem oft jahrelang währenden Aufenthalt von Flüchtlingen in Lagern. Ob schließlich die mit der
Lagerunterbringung bezweckten abschreckenden Wirkungen tatsächlich
greifen, kann nicht festgestellt werden.
Diese Formen der Exklusion sind jedoch, selbst wenn man ihre konstante
Ausweitung berücksichtigt, nicht absolut. Die Zeit des Asylverfahrens und
der Aufenthalt abgelehnter Asylsuchender zieht sich in der Praxis oft über
137
Jahre hin. Während dieser Zeit absolvieren Flüchtlinge viele Schritte in
Richtung einer faktischen gesellschaftlichen Integration. Der Arbeitsmarktzugang ist großen Einschränkungen unterworfen, in der Praxis gehen viele
Flüchtlinge dennoch der einen oder anderen Beschäftigung nach. Ähnliches
gilt für die Berufsausbildung jugendlicher Flüchtlinge. Der Schulbesuch
von Flüchtlingskindern schließlich ist eine wichtige Partizipationsmöglichkeit, die auch Flüchtlingen nicht verweigert werden kann. Die Lagerunterbringung setzt ausschließende Signale, die Platzierung der Unterkünfte in
oder am Rande von Wohngebieten erlaubt jedoch in vielen Fällen Kontakte
zur Nachbarschaft. Schon in den achtziger Jahren zeichnete sich ab, dass
die integrativen Interessen von Initiativen, die sich um Migranten kümmerten, durchaus in Opposition zur Politik stehen konnten. Die Nachbarschaftsgruppen, die sich in den Neunzigern der Betreuung von Flüchtlingen
widmeten, knüpften nicht an die Exklusionspolitik des Staates an, sondern
orientierten sich vielmehr an den Integrationsabsichten sozialer und pädagogischer Bemühungen der Migrationsarbeit.
138
4. Die Anfänge der Initiative
1. Die Entstehung der Initiative „Miteinander Leben in Sabing“ 69
Die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft im eigenen Wohnumfeld war
für die Nachbarschaftsgruppen, die sich zu Beginn der neunziger Jahre in
München (und anderswo) gründeten, nur der konkrete Anlass, aktiv zu
werden. Durch die lokale Unterkunft wurden die Stadtviertelbewohner unmittelbar mit dem Asyl-Thema konfrontiert. Die Ursachen ihres Engagements sind jedoch im gesellschaftlichen Umgang mit der Asylzuwanderung
zu suchen. Es mutet paradox an, aber die wenigsten Münchner Bürgerinitiativen für Flüchtlinge hätten sich ohne die massive Thematisierung der Asylproblematik, ohne die Gefahr von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und ohne eine gegenüber der ansässigen Nachbarschaft weitgehend ignorante Unterbringungspolitik gegründet. Somit sind auch die Initiativen, die
sich für Flüchtlinge einsetzen, indirekte Folge einer Abschreckungspolitik
gegenüber Asylsuchenden und direkter Ausdruck der Polarisierung der Bevölkerung durch den Asyldiskurs der frühen 90er Jahre. Am Beispiel der
Initiative „Miteinander Leben in Sabing“ soll die Anfangsphase des nachbarschaftlichen Engagements umrissen werden. Damit dient dieses Kapitel
zugleich als Einleitung zu den nachfolgenden Fallstudien, die anhand spezifischer Situationen Aspekte dieses Engagements der Sabinger Initiative
näher beleuchten.
Von Mitte 1992 bis Mitte 1993 gründeten sich in München eine Kette von
Initiativen. Die Initiative „Miteinander Leben am Westkreuz e.V.“, im
69
Die Begriffe Initiative, Initiativgruppe, Nachbarschaftsgruppe verwende ich synonym. Eine treffende Bestimmung von Initiative hat Kowalski 1984 erarbeitet. Kowalski nennt als Eigenschaften, die Initiativen in der Regel aufweisen, die „... relative organisatorische, methodische und inhaltliche Unabhängigkeit von einem Träger; (wenigstens teilweise) ehrenamtliche Mitarbeit; das Fehlen von Gewinn- oder Bereicherungsstreben; eine selbstgewählte Kooperationsstruktur, in der Regel in Form einer Arbeitsgruppe; ein gemeinsamer Treff-/Besprechungs-/Arbeitsort; gemeinsam erarbeitete Zielsetzung, die in der Regel über kurzfristige Befriedigung der Alltagsbedürfnisse hinausreicht; dementsprechende Aktions- und Kommunikationsformen, die in irgendeiner
Weise nach ‚außen’ wirken und dort auch etwas zum (nach Meinung der Initiative) Besseren verändern oder verändern wollen“ (Kowalski 1984: 137f).
139
Sommer 1992 unter anderen von der SPD Landtagsabgeordneten Anne
Hirschmann und Christian Schneider, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, gegründet, gab den Anstoß und das Modell für die Bildung ähnlicher
Initiativen in anderen Vierteln ab. So wurde Christian Schneider auch zum
ersten Treffen der Initiative „Miteinander Leben in Sabing“ eingeladen, um
die Gruppe zu beraten und über die Aktivitäten zu berichten, die sich am
Westkreuz entwickelt hatten. Mitte 1993 wurden fast alle Unterkünfte im
Stadtgebiet von lokalen Initiativen betreut (52 Unterkünften standen 48 Initiativen gegenüber). Mindestens zwei Initiativen (in den Vierteln Solln und
Harlaching) hatten sich zusammengeschlossen, bevor eine Unterkunft im
Viertel errichtet worden war. Soweit meine Vergleiche ergeben haben, lief
der Gründungsprozess aller dieser Gruppen ähnlich ab.70
Der erste Impuls, der zur Gründung des Arbeitskreises „Miteinander Leben
in Sabing“ führte, war die Befürchtung, dass es mit der Errichtung einer
Flüchtlingsunterkunft aus dem eigenen Stadtviertel heraus zu Feindseligkeiten oder Anschlägen auf Flüchtlinge kommen könnte, und es galt, dagegen etwas zu unternehmen. Die Sorge um die Asylsuchenden und die Sorge
um den Ruf des Viertels kamen hier zusammen. Mit der Errichtung der Unterkunft wurde diese Besorgtheit konkret. Feindseligkeiten konnten nicht
mehr durch den Gedanken ausgeschlossen werden, dass Übergriffe oder
Überfälle nur woanders stattfinden konnten, sondern mit der Unterkunft
hatte man das ‚Problem’ direkt vor der eigenen Haustür:
„Losgegangen ist es damit, dass ich beim Vorbeigehen gesehen hab, im Haus wird mit bescheidenen Mitteln etwas
verbaut. Und hab an Maurer gefragt, dort, sagt der, er weiß
es auch nicht genau, aber soviel sie gehört hätten, sollen da
Flüchtlinge untergebracht werden, ned. Und daraufhin hab
ich bei meiner Rückkehr die Frau Sabel angerufen, die Kir-
70
Aus anderen Unterkünften in München, einigen Münchner Umlandgemeinden, aber
auch aus Hamburg und Köln wurde mir bestätigt, dass ganz ähnliche Entwicklungen
auch dort stattfanden (Hinweise auf die Rolle von Bürgerinitiativen in der Flüchtlingsarbeit finden sich auch in Fokus 1994: 106ff und Kuhn 1994.
140
che angerufen, den Bezirksausschuss angerufen, und alle
wussten – von nichts! Und die Bauarbeiten sind aber fleißig
weitergegangen. Alle wollten sich erkundigen und vierzehn
Tag später wussten sie eben alle immer noch nichts. Und
dann san scho die ersten Schwarzen bei uns hin und her gelaufen, in der Straße, und da kam es erst raus. Einen Tag vor
der Bürgerversammlung haben die dann an den Bezirksausschuss geschrieben und der hat dieses Schreiben in der Versammlung vorgelesen. Und des wurde stillschweigend und
ohne Protest aufgenommen. Des war zu der Zeit, da warn
überall die Initiativen zu Gange, die sich vehement gegen
diese Heime gewehrt ham, und da wollt ich vorbeugen, dass
des hier nicht eintritt. Des war mein auslösender Faktor:
wenn man vorbeugend etwas tun kann, und den Leuten
rechtzeitig sagt, dies und des ist hier, ned. Des war ja nun
1992, wo die große Welle kam, ned ...“ (Frau Tekla).
Einzelne Anwohner, die bemerkten, dass Vorbereitungen für die Errichtung
einer Flüchtlingsunterkunft im Viertel getroffen wurden, wollten ein Signal
setzen gegen die allgemein fremdenfeindliche Stimmung im Land und die
lokalen Gegner der Einrichtung von Unterkünften im Besonderen. Der allgemeine Bezug als Impuls für lokales Handeln tritt in der Aussage Frau
Wiesners deutlich hervor:
„Wir haben die Unterkunft auf gut Deutsch gesagt über
Nacht vor die Nase gekriegt, ja, und, das klingt jetzt sarkastisch wenn ich es sag, aber da war das ja grad mal Mode die
Dinger anzuzünden, und ich meine, da ist es auch mit Sicherheit ein gewisser Teil Selbstschutz, dass Du sagst okay,
bevor das bei uns soweit kommt, werden wir die ganze Sache schon ein bisschen unter Kontrolle haben. Und ich meine, gut, der nächste Aspekt war dann, dass ich irgendwie da
relativ fassungslos vor dem Fernseher saß, wo ich das gesehen habe und gesagt: gut, dann kam bei mir eine Parallele
141
hoch. Ich habe meine Großmutter irgendwann mal gefragt,
sag mal, ihr müsst das doch damals gemerkt haben, was hier
los war, warum hat denn keiner was getan? Ihr müsst das
doch gemerkt haben. Und irgendwo hab ich dann gesagt, na
ja, im Prinzip steuern wir doch irgendwo, wenn auch mit einem anderen Ausdruck, wieder auf dasselbe hin. Also fangen wir lieber gleich an“ (Frau Wiesner).
Am Anfang des Engagements stand also der Widerstand gegen eine gesellschaftliche Entwicklung, die, auch das macht diese Aussage klar, von einigen als Parallele zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Bundesrepublik gesehen wurde. Die anfängliche Motivation zur Einmischung gründete noch keineswegs in dem Bewusstsein, den Flüchtlingen Hilfe leisten
zu wollen, sondern war primär auf die Situation gerichtet, die sich im Viertel durch die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft ergab. Einer fremdenfeindlichen Stimmung im Stadtviertel sollte entgegengewirkt, Anschlägen
vorgebeugt werden. In den ersten Wochen war die Motivation derjenigen,
die sich später in der Initiative ‚Miteinander in Sabing’ engagierten, eine
eindeutig politische. Geplante Aktivitäten richteten sich nicht auf die
Flüchtlinge, sondern sollten an die Bewohner des Viertel adressiert sein.
2. Die Gründung
Gisela Astner war in Sabing schon des längeren lokalpolitisch tätig gewesen und zur Zeit der Errichtung der Flüchtlingsunterkunft Vertreterin der
SPD im Bezirksausschuss, einem Stadtteilgremium, das mit bescheidenen
Kompetenzen ausgestattet ist. Sie gehörte zu den ersten, die das Thema
aufgriffen und sich dafür einsetzten, dass die Unterbringung von Flüchtlingen nicht zu Spannungen im Stadtteil führte. Die Nachfragen der Anwohner und die geäußerten Befürchtungen boten den Anlass, eine Bürgerversammlung einzuberufen, die sich mit der Flüchtlingsunterkunft im Viertel
befasste.
„Ich war damals, 1992, im Bezirksausschuss, und dann haben einige Anwohner, die sind auf mich und einzelne also
142
zugegangen und haben gefragt, was da ist mit dem Haus in
der Birkenstraße, und das würde so renoviert werden, das
war aber schon Juni/Juli. Und dann war im Juli die letzte
Bezirksausschusssitzung, da wussten wir also immer noch
nichts, das war so um den 14. Juli rum, und am 23. oder 22.
Juli war dann die Sonder-Bürgerversammlung. Es hat sich
soweit rausgeschoben, ich weiß nicht mehr warum. Und da
ist das erste Mal bekannt gemacht worden öffentlich, dass
da eine Unterkunft hinkommt für Asylbewerber. Da war die
Barbara Bauer von Amnesty International da, die hat das
Angebot gemacht, dass sie als Verbindungsglied arbeiten
könnte – sie war damals auch schon im Münchner Flüchtlingsrat – das ist von der Bevölkerung soweit positiv aufgenommen worden“ (Frau Astner).
Im Stadtviertel Sabing wurde die Befürchtung, dass die Einrichtung einer
Asylsuchenden-Unterkunft auf starke Anwohnerproteste stoßen würde,
nicht bestätigt. Dies lag auch daran, dass auf der ersten Versammlung, die
zum Thema Unterkunft abgehalten wurde, sich Gisela Astner, die spätere
Sprecherin der Initiative, und andere darum bemüht hatten, dass Befürworter einer Unterkunft in großer Zahl versammelt waren:
„Die Stimmung war ja, also von denen, die mit Asylbewerbern arbeiten, sehr offen. In der Bevölkerung war das sehr
gemischt, würd ich mal sagen, das war ja die Zeit der ganzen Anschläge. Und was schon bekannt ist, wir haben ja
hier auch eine rechtsradikale Gruppe in Sabing, also, und
dann wollten wir, dass nicht nur auf dem Podium, sondern
auch im Publikum ziemlich viele von den Wohlfahrtsorganisationen da sind, damit wir da ein starkes Gegengewicht
hätten schaffen können, falls es notwendig gewesen wäre.
Es waren aber auch alle Einrichtungen, die wir überhaupt
haben im Stadtteil, waren eingeladen und die kamen dann
auch“ (Frau Astner).
143
Nicht nur die Vertreter der Institutionen und sozialen Einrichtungen des
Viertels waren eingeladen worden, sondern auch die lokalen Vertreter aller
Parteien aus Stadtrat und Landtag waren gebeten worden, an der Veranstaltung teilzunehmen und sich für einen vernünftigen Umgang mit der Flüchtlingsunterkunft auszusprechen. Dieser umsichtigen Vorbereitung ist es zu
verdanken, dass auf der Versammlung nur wenige Befürchtungen gegenüber der Anwesenheit von Flüchtlingen geäußert wurden, und kein Protest
gegen die örtliche Unterbringung geäußert wurde. Damit waren die Bedenken, dass sich im Viertel Proteste oder gar Anschläge gegen die Unterkunft
entwickeln würden, jedoch nicht ausgeräumt. So gab die Versammlung den
Anstoß für die gegenüber den Flüchtlingen aufgeschlossenen Viertelbewohner, sich in einer Gruppe zu organisieren und sich auch weiterhin für
die Unterkunft einzusetzen. Es wurden Adressen gesammelt von allen, die
sich für die Flüchtlinge engagieren wollten und der Termin für ein Folgetreffen wurde vereinbart. Kurz nach Ende der Sommerferien fand das erste
Treffen statt, auf dem sich die Initiative „Miteinander Leben in Sabing“
gründete71. Es gab eine Vorstellungsrunde der ca. vierzig Anwesenden und
es wurde eine Adressenliste der Mitglieder erstellt. Eine erste Spende von
1000,- DM für die Arbeit der Initiative wurde bekannt gegeben, woraufhin
Frau Wiesner sich bereiterklärte, ein Sparbuch zu eröffnen und die Kasse
zu verwalten. Es wurde vereinbart, dass sich die Gruppe vierzehntägig treffen sollte, wofür die katholische Kirche einen Raum zur Verfügung stellte.
3. Zusammensetzung der Initiative
Durch die im Viertel plakatierten Hinweise machte sich die Initiative auch
über den Kreis der ersten Interessierten hinaus bekannt, und auf den ersten
Treffen stießen laufend weitere Mitglieder zur Gruppe, andere blieben weg.
In der Gruppe war ein breites Spektrum unterschiedlicher Viertelbewohner
vertreten. Sowohl die örtliche SPD als auch die Kirchen waren präsent, jedoch war keine Institution dominant. So kannten sich einige der Mitglieder
aus der örtlichen SPD. Das Eintreten Frau Astners für die Initiative bewog
71
Für die Namensgebung stand alternativ „Arbeitskreis Asyl Birkenstraße“ zur Wahl,
doch die Mehrheit der Anwesenden entschied sich für „Miteinander Leben in Sabing“.
144
andere, sich der Gruppe anzuschließen, ohne dass sie konkrete Vorstellungen über die Gruppe und ihre eigenen Ziele hatten:
„Also ich bin zu der Gruppe gekommen, da hab ich einen
Aushang gelesen, dass es da um das Haus ging und um Asylbewerber und dann bin ich zu der Veranstaltung hingegangen. Weil mich des einfach interessiert hat. Und da hat
sich des rausgestellt, dass die da Leute aufnehmen wollen.
Und die Frau Astner, die hat des damals inszeniert diese
Veranstaltung, und des hat ma eigentlich zugesagt und dann
hab ich da unterschrieben, dass ich da mitmachen will und
so bin ich halt dazugekommen“ (Karla Herterich).
Für die Kirchen war die Beteiligung an der Initiative obligatorisch, dafür
sorgte allein die Konkurrenzsituation zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Dem katholischen Pfarrer war die Initiative anfangs suspekt,
weil die Sprecherin Frau Astner in der SPD aktiv war:
„Bissl Probleme gab es am Anfang mit der Pfarrei, weil der
wusste das nämlich sehr wohl, aber er wollte nicht. Das andere Problem war, dass er nicht wollte, dass das über die
SPD läuft, das wusste er. Dann hab ich gesagt, gut, dann
mach ich es halt privat, und dann hat er sich bereit erklärt,
also mit dem Ziel auch, dass eine Initiative gegründet wird,
dass wir das im Pfarrsaal machen“ (Frau Astner).
Die Bereitschaft des katholischen Pfarrers zur Unterstützung der Initiative
wurde von der Einsicht unterstützt, dass sich aus der Pfarrgemeinde heraus
kaum eine eigene Unterstützung der Bewohner der Flüchtlingsunterkunft
organisieren ließ. Hier gingen die Meinungen stark auseinander und es gab
wenige Anzeichen, dass sich Personen aus diesem Kreis aktiv für die
Flüchtlinge einsetzen wollten, wie der Gemeindepfleger Herr Lohner erinnert:
„Dass man jetzt rein eine Gruppe bildet, die aus der Pfarrei
ist, des hatt ich mir zwar erhofft, aber des hab ich sehr bald
145
gesehen, also zum Beispiel, dass kaum jemand von der Pfarrei da an dieser Informationsveranstaltung teilgenommen
hat, gell; Gemeindemitglieder, die so zum engeren Kern gehören, gell, und die halt dann auch überall mitmachen. Und
des war für mich dann schon sofort ein Aha-Erlebnis, dass
von dem Kreis eigentlich wenige dabei waren, fast keine“
(Herr Lohner).
Stattdessen setzte sich die Gruppe aus einer großen Zahl Einzelpersonen
und Ehepaaren zusammen. Manche kannten sich als Nachbarn oder von
anderen Aktivitäten oder Institutionen, einige waren befreundet, und diese
bestehenden Bekanntschaften und Beziehungen bildeten die ersten Ansätze
einer lokalen Struktur, die sich innerhalb der Initiative herausbildete. In
dieser Anfangsphase bestand die Initiative aus ungefähr 30 bis 40, zunächst
auch wechselnden Personen. Fast alle kamen aus dem Viertel, viele aus der
näheren Umgebung der Unterkunft. Viele der Mitglieder wohnten schon
seit Jahren im Viertel, und manche hatten seit langem gute Beziehungen zu
den diversen Stadtteil-Institutionen. Mehrheitlich waren Frauen vertreten,
teils berufstätig, teils in Rente. Die Männer waren entweder verheiratet und
gemeinsam mit ihrer Frau der Initiative beigetreten, oder bis auf wenige
Ausnahmen aus professionellen Gründen in der Gruppe, wie der evangelische Pfarrer, der katholische Gemeindepfleger und ein Pädagoge des Jugendtreffs. Einige Mitglieder hatten besondere Zugänge zum Thema. Zwei
Pädagoginnen, eine aus einem Stadtteilprojekt, die andere ebenfalls aus
dem Jugendtreff, waren mit Schwarzen verheiratet. Drei Migrantinnen aus
Spanien und den Niederlanden, Mitarbeiterinnen des Europäischen Patentamtes, waren gemeinsam zum Arbeitskreis gestoßen, obwohl nur eine im
Viertel wohnte. Der Bildungsstand der Teilnehmer war überdurchschnittlich hoch, was aber für die Struktur, die sich in der Initiative rasch herausbildete, weitgehend unerheblich war. Vielmehr setzte sich Gisela Astner
aufgrund ihrer politischen Erfahrung und ihrer organisatorischen Fähigkeiten durch und wurde als Sprecherin der Gruppe gewählt. Auf die Treffen
wirkten sich außerdem diejenigen bestimmend aus, die sich zu regelmäßi146
gen Besuchen in der Unterkunft organisiert hatten, demzufolge über die
Situation in der Unterkunft Bescheid wussten und die am dringlichsten erforderlichen Aktivitäten bestimmten. Dadurch bildete sich bald eine Struktur der Gruppe heraus, in der zwischen denjenigen, die die Unterkunft besuchten, einigen Wenigen, welche primär die Organisation der Gruppe übernahmen, und einer Anzahl passiver Teilnehmerinnen an der Gruppe unterschieden werden konnte. Letztere sympathisierten mit den Zielen der
Initiative und unterstützten sie zum Teil mit Spenden, übernahmen aber
keine regelmäßigen Aufgaben und waren die ersten, die die Initiative nach
einiger Zeit wieder verließen. Nach einigen Wochen pendelte sich die Mitgliederzahl der Initiative bei etwa 15 Aktiven ein.
Die Erwartungen, mit denen die Einzelnen in die Initiative eintraten, waren
in der Anfangsphase diffus. Im Vordergrund stand die Frage, wie die Unterkunft in das Stadtviertel zu integrieren wäre, dass es nicht zu rassistischen Übergriffen gegen die Flüchtlinge kommt. Dieses Risiko wurde gerade in den ersten Monaten des Bestehens der Unterkunft von den meisten
Mitgliedern sehr hoch eingeschätzt. Brandschutzmaßnahmen, Telefonketten für den Fall eines Anschlags oder Angriffs, Information der Flüchtlinge
über Vorsichtsmaßnahmen und anderes nahm in den Diskussionen der Initiative einen wichtigen Platz ein, später traten diese Themen zunehmend in
den Hintergrund. Aber auch die Frage, was von den neuen Nachbarn zu
halten sei, war in den ersten Wochen in der Initiative ein Thema. So schien
es einigen Mitgliedern auch wichtig, auf die Aktivitäten der Flüchtlinge
„ein Auge zu haben“, eine Zunahme der Kriminalität war eine auch innerhalb der Initiative geläufige Befürchtung. Bald stellte sich heraus, dass
auch dieses Thema vernachlässigt werden konnte.
In der Gruppe war von christlich gesinnten Konservativen bis zur gemäßigten Linken ein breites politisches Spektrum vertreten, das auch unterschiedliche Ansichten über die Asylmigration einschloss. Politische Positionen
waren jedoch nicht dominant, vielmehr wurde Politik weitgehend ausgeklammert und politische Diskussionen, bei denen die Verschiedenheit der
Standpunkte zu Tage trat, wurden schnell auf praktische Belange umgelenkt. Die Gruppe wollte für alle um die Unterkunft und die Flüchtlinge
147
besorgten Anwohner offen sein. Lediglich einem örtlichen Vertreter der
Partei der Republikaner wurde, als er sich der Gruppe anschließen wollte,
durch Mehrheitsentscheidung eine Absage erteilt. Es wurde lange diskutiert, ob man ihn in die Arbeit einbinden sollte, letztlich wurde er jedoch als
zu großer potentieller Störfaktor in der Initiative betrachtet und es schien
nicht wahrscheinlich, dass er sich für eine Verbesserung der Situation der
Flüchtlinge in der Unterkunft einsetzen würde. Aus der großen Heterogenität der Initiative resultierte die vorherrschende Ausrichtung der Gruppe auf
das eigene Viertel und die praktische Tätigkeit. Die Sorge um die ‚eigene’
Unterkunft erschien als Schnittmenge der diversen Einzelinteressen und
politischen Überzeugungen. Als der gemeinsame Fokus wurde die friedliche Koexistenz von Anwohnern und Flüchtlingen im Stadtviertel hervorgehoben. Eine Vereinsgründung, die in den Anfangsmonaten erwogen
wurde, ließ die Initiative schließlich wieder fallen, weil die Ausrichtung der
einzelnen Mitglieder als zu unterschiedlich empfunden wurde. Es wurde
bezweifelt, dass man sich auf eine gemeinsame Satzung einigen könnte,
und ein breiterer Diskussionsprozess wurde aus diesem Grund vermieden.
Generell kann gesagt werden, dass die konkret erhobenen Forderungen zur
Verbesserung der Situation in der lokalen Unterkunft nicht in politische
Diskussionen mündeten. Innerhalb der Gruppe wurde die Unterschiedlichkeit der politischen Positionen zwar gelegentlich markiert, einer Auseinandersetzung jedoch aus dem Weg gegangen. Die Polarisierung der Gesellschaft Anfang der 90er Jahre in pro und contra Asylsuchende hatte auf lokaler Ebene die Divergenzen und Differenzen innerhalb beider Lager nicht
aufgehoben. Die Initiative war sich der Tatsache bewusst, dass die Ausgangspunkte und Interessenlagen der einzelnen Mitglieder sehr unterschiedlich waren, und auch aus diesem Grund konzentrierte sich die Gruppe auf konkrete, praktische Unterstützungsmaßnahmen für die Flüchtlinge
der Unterkunft.
4. Erste Aktivitäten
Obwohl seitens der Viertelbewohner kein Widerstand gegenüber der Unterkunft laut geworden war, drehten sich die ersten Treffen stark um die
148
Sicherheitsrisiken, die für die Bewohner bestanden. Erste Berichte hatten
ergeben, dass die Außentüren der Unterkunft nicht verschließbar waren und
freien Zutritt erlaubten. Außerdem waren weder Feuerlöscher noch Notruftelefon vorhanden. Eingaben zur Behebung dieser Mängel sollten bei der
zuständigen Regierung von Oberbayern gemacht werden. Auch stellte die
Gruppe eine Liste naher Anlieger für eine Telefonkette zusammen, über die
bei Notfällen die Initiative alarmiert werden konnte. Die Polizei wurde gebeten, die Unterkunft nach Möglichkeit in die nächtlichen Streifenfahrten
einzubeziehen.
Schon auf dem ersten Treffen wendete sich das Interesse der Gruppe auch
den Bewohnern der Unterkunft zu. Nachdem die Initiative sich durch erste
Besuche in der Unterkunft einen Einblick in die Lebens- und Wohnsituation der Flüchtlinge verschafft hatte, ging man daran, Verbesserungen für die
Gesamtheit der Unterkunftsbewohner als auch für einzelne Flüchtlinge zu
planen. Schon auf dem ersten Treffen war man sich einig, dass für die
Flüchtlinge ein Sozialraum gefordert werden sollte, der auch als Teestube
dienen könnte. Aufgrund von Verständigungsschwierigkeiten zwischen
Verwalterin und Bewohnern der Unterkunft sollten sprachkompetente Mitglieder bei den zweimal wöchentlich stattfindenden Essenspaketausgaben
anwesend sein. Mehrere Frauen erklärten sich bereit, Sprachkurse für die
Flüchtlinge anzubieten und es sollte festgestellt werden, welchen Bedarf an
Bekleidung die Flüchtlinge hätten72. Zunehmend verschob sich so der Fokus von der Aufgabe, für ein friedliches Zusammenleben im Viertel zu sorgen, zu konkreten Hilfs- und Betreuungsaktivitäten für die Flüchtlinge73.
72
Diese Aspekte werden in den folgenden Kapiteln detailliert aufgegriffen, weshalb sie
hier nur genannt werden.
73
Je deutlicher der Aufgabenbereich der Initiative sich der praktischen sozialen Betreuung der Flüchtlinge zuwendete, desto geringer wurde der Anteil der in der Initiative
aktiven Männer. Von Mitgliedern der Initiative, die ich später dazu befragte, wurden
dafür verschiedene praktische Ursachen angeführt, doch scheint mir sowohl die Wende
zur sozialen Betreuung als auch das Abklingen der öffentlichen Debatte über die Asylproblematik eine Rolle gespielt zu haben. Je geringer die öffentlich-politische Aufmerksamkeit und Brisanz des Themas und je deutlicher die soziale Betreuung und Unterstützung der Flüchtlinge zum Mittelpunkt der Aktivitäten wurde, desto weniger schienen
die Männer in der Gruppe bereit, Aufgaben zu übernehmen.
149
Zwar war die Initiative im Viertel präsent und versuchte mittels einiger Informationsveranstaltungen auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam zu
machen und Verständnis für ihre Lage zu erwecken, doch entfaltete die
Gruppe ihre Aktivitäten immer mehr in Bereichen, die der Verbesserung
der Lebensumstände der Flüchtlinge dienen sollten. Nur ein kleiner Teil der
Gruppe hielt auch an dem Ziel fest, zur Meinungsbildung in der ansässigen
Bevölkerung beizutragen. Dies wurde von der Initiative toleriert, aber das
Gros der Mitglieder wies ein politisches Engagement von sich. Typisch für
diese soziale Wende der Nachbarschaftsinitiative ist die Stellungnahme von
Frau Wiesner, die politisches Engagement explizit ablehnte:
„Ich bin mehr ein praktischer Mensch und ich halte nichts
davon, mich mit irgendeinem Plakat auf die Straße zu stellen, weil es nichts bringt, zumindest für die Leute [die
Flüchtlinge, St.D.] nicht. Und ich halte es einfach für sinnvoller, denen zu sagen, du pass auf, es gibt den und den Paragraphen, aber es gibt die und die Möglichkeit. Also Hilfe
zur Selbsthilfe, ja? Und irgendwo so ein bisschen der Weg
kann nicht immer ganz grade sein, aber wenn man weiß, wo
man abbiegen muss, dann ist das ganz praktisch. Und ich
mein, mich, irgendwo demonstrierend oder ähnlich, kann
ich mir nicht vorstellen.“ (Frau Wiesner).
Die Möglichkeit, sich mit gängigen politischen Aktionen öffentlich für die
Flüchtlinge einzusetzen, wurde von der Mehrheit der Gruppe als unpassend
und unnütz für die Flüchtlinge eingestuft. Auch wenn eine gemeinsame politische Position zum Asylthema gefunden worden wäre, so konnte sich
doch das Gros der Initiative nicht mit politischen Protestformen identifizieren, obwohl sich schnell die Einsicht verbreitete, dass die gesetzlichen Bestimmungen wesentlich für die schlechten Lebensbedingungen der Flüchtlinge verantwortlich waren. Statt politischem Protest wurde der praktischen
Unterstützung der Unterkunftsbewohner Vorrang eingeräumt. Ebenso
reichte das Engagement der Initiative nicht über das eigene Viertel hinaus.
Andere im Flüchtlingsbereich tätige Institutionen wurden nur in Einzelfäl150
len konsultiert. Die Initiative nutzte den Münchner Flüchtlingsrat, der sich
als politische Plattform der Initiativen verstand, zwar als Informationsmöglichkeit, wurde jedoch nicht selbst dort aktiv.
Die Initiative konzentrierte ihre Aktivitäten stattdessen auf die Situation in
der Unterkunft. Eine Reihe von Mitgliedern begann mit regelmäßigen Besuchen der Bewohner im Haus, andere boten einen Deutschkurs für die
Flüchtlinge an oder kümmerten sich um die Flüchtlingskinder. Frau Astner,
der Sprecherin der Initiative, oblag die Organisation. Sie bereitete die Treffen der Gruppe vor und beschaffte Informationen zur rechtlichen Situation
der Asylsuchenden. Nach einigen Wochen schälte sich aus den Mitgliedern
der Gruppe ein Kern von Aktiven heraus. Diejenigen, die zu keiner bestimmten Tätigkeit in der Gruppe fanden, rückten zunehmend in den Hintergrund und bildeten das passive Umfeld der Initiative, das bei Bedarf um
Unterstützung gebeten werden konnte. Sie blieben nach und nach den Treffen fern.
5. Das Haus und die Nachbarschaft
Die Unterkunft Birkenstraße, die im Juli 1992 mit cirka 180 Flüchtlingen
belegt worden war, wurde von der Nachbarschaftsinitiative meist „das
Haus“ genannt, gelegentlich auch „Lager“ oder „Unterkunft“. Wer Flüchtlinge in der Unterkunft besuchen wollte, ging „ins Haus“, Berichte, die auf
den regelmäßigen Treffen der Gruppe ausgetauscht wurden, betrafen „Vorgänge im Haus“. Das Haus steht, wenn auch fast im Zentrum des Viertels,
in einem toten Winkel. Es befindet sich am Ende einer Häuserzeile, ist aber
vom nächsten Haus durch Anbauten getrennt. Nach hinten grenzt das
Grundstück an den Damm einer vielbefahrenen Bahnstrecke, den an der
Hausseite eine Straße durchschneidet, gegenüber sind weitläufige Beete
und Lager der Stadtgärtnerei. Nach außen ist das Haus nicht sofort als Unterkunft zu erkennen. Es besteht aus eigentlich zwei viergeschossigen Altbauten, die durch eine Hofeinfahrt oder durch eine Haustüre betreten werden können. Nur nachts signalisiert die in allen Zimmern angebrachte grelle Neonbeleuchtung, dass es sich nicht um ein übliches Wohnhaus handelt.
151
Beim Umbau des Hauses zur Unterbringung von Asylsuchenden wurden
nur notwendigste Renovierungen am heruntergekommenen Gebäude vorgenommen. Die Wohnungen wurden nach Möglichkeit durch Gipskartonwände in separate Zimmer unterteilt, jedes Stockwerk mit einer Toilette
samt Dusche und einer Kochzeile mit dreimal zwei Kochplatten ausgestattet, die Fenster wurden erneuert und die Fassade gestrichen. Schrittweise
kamen weitere Verbesserungen, ein funktionierendes Tor und eine neue
Haustüre dazu. Im Hof wurde 1995 eine Feuertreppe aus verzinktem Stahl
angebracht. Aus feuerpolizeilichen Gründen mussten bis dahin bei einigen
Räumen in den oberen Stockwerken die Türen entfernt werden.74 Die Türöffnungen durften dann nur mit einem Vorhang verschlossen werden. Die
Stromleitungen waren nicht erneuert worden, und da sie für den Betrieb
mehrerer Kochplatten zu schwach ausgelegt waren, fiel der Strom regelmäßig aus. Da der Sicherungskasten verschlossen war und nur von der Verwaltung geöffnet werden konnte, blieb das Haus des öfteren über Nacht
oder auch am Wochenende ohne Stromversorgung. Toiletten und Duschen
waren ebenfalls nicht für die Bewohnerzahl ausgelegt, häufig verstopft und
so schlecht installiert, dass später Toiletten wegen durchgefaulter Böden
nicht mehr benutzbar waren.
Das Zusammenleben zwischen Flüchtlingen und direkten einheimischen
Anwohnern der Unterkunft gestaltete sich weitgehend unproblematisch. Es
gab immer mal wieder Beschwerden wegen zu lauter Musik oder Lärm, die
auch von der Initiative als berechtigt angesehen wurden. Frau Kersten, die
zunächst in der Initiative tätig war und später die Stelle als Sozialpädagogin
in der Unterkunft übernommen hatte, verbindet das eher unproblematische
Zusammenleben auch damit, dass sich die Unterkunft nicht von der übrigen
Bebauung absetzt:
74
Die feuerpolizeiliche Prüfung fand erst auf Drängen der Nachbarschaftsinitiative statt.
Das Aushängen der Zimmertüren führte zu heftigen Streitigkeiten innerhalb der Initiative, da dies zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Privatsphäre und auch zu Beschwerden der betroffenen Flüchtlinge führte. Die meisten der hier genannten baulichen
Mängel waren für die Initiative Anlass zu Aktivitäten und Eingaben.
152
„Ja, durch des, dass des Haus auch so gebaut ist wie `n festes Haus, fällt`s von außen überhaupt nicht auf, dass das `n
Asylbewerberhaus ist. Ich weiß oft, dass Leute, die mich besuchen waren, die was bringen wollen oder mal vorbeischauen wollen, das Haus gar nicht finden, weil`s einfach
nicht als Asylbewerberhaus von außen so jetzt wie Container sichtbar ist. Und des find ich eigentlich sehr gut, und ich
glaub, das hat auch was damit zu tun, dass es mit der Nachbarschaft keine Schwierigkeiten gegeben hat. Das eine ist
ein Gewerbebetrieb, da haben wir eigentlich überhaupt keine Probleme, der direkte Nachbar ist ein Künstler, der sich
auch bemüht, dass der Hof ordentlich ausschaut, der den
Kindern Spielzeuge gibt oder was zum Basteln, oder vorliest oder so Sachen, also der auch an `ner guten Nachbarschaft interessiert ist. Nur von gegenüber, da ist ab und zu
mal einer gekommen und hat sich beschwert, weil die Musik so laut ist. Und meiner Meinung nach zu Recht, weil die
Musik ist manchmal wirklich sehr laut“ (Frau Kersten).
Die Beschwerden hielten sich jedoch im Rahmen, und ein Teil der Anwohner war den Flüchtlingen gegenüber positiv eingestellt. Die gutgehende
griechische Wirtschaft im Erdgeschoss des Hauses hatte allerdings anfangs
etwas Mühe, den Flüchtlingen deutlich zu machen, dass die draußen aufgestellten Tische zahlenden Gästen vorbehalten waren:
„Ganz am Anfang gab’s ja schon die Probleme, also die
ganzen Leute in dem Haus, und dann ist das Lokal aufgezogen, wie das überhaupt bei uns so üblich ist, dass du bei
schönem Wetter rausstellst und das Biergartenflair genießt.
Und nach hinten raus war’s ja für die Bewohner auch nicht
so toll. Und dann verlässt man das Haus nach vorne und
dann sieht man da so schön die Sitzgelegenheiten und dann
haben die sich da halt auch mit breit gemacht. Da gab’s am
Anfang schon Probleme, weil er natürlich zahlende Gäste
153
dort sitzen haben wollte und ein paar es nicht eingesehen
haben wenn da doch Sitzgelegenheiten sind, das ist dann
ganz nett zum Ratschen, warum man denn da nicht so sitzen
bleiben könnte. Dann hat er sich auch mal geweigert jemand
zu bedienen. Da sind dann auch welche von uns hin, ja? Ich
hab mit ihm auch gesprochen, dass das so nicht geht. Und
dann hat man sich arrangiert. Die Asylbewerber haben dann
akzeptiert, dass das halt wirklich zum Lokal gehört und dass
da nur zahlende Gäste hinkönnen und er hat ja dann sogar
ab und zu mal jemand als Aushilfe mit eingestellt, wenn er
mal jemand gebraucht hat“ (Frau Astner).
Auch die Polizei hatte kaum Grund, sich über Probleme mit den Flüchtlingen zu beklagen. Die Initiative hatte sich von Beginn an bemüht, die örtliche Polizei für sich einzunehmen und ihren Einfluss geltend zu machen,
dass die Beamten der Sicherheit der Unterkunftsbewohner höhere Aufmerksamkeit zuwandten. Frau Astner zollt den Beamten Respekt, da sie
sich gegenüber den Flüchtlingen nicht von Vorurteilen leiten ließen:
„Die waren den Bewohnern gegenüber eigentlich sehr tolerant eingestellt. Da kam ja auch ganz am Anfang ne Anzeige bei der Polizei weil eben so ein Kastenwagen – ich bin
kein Autofahrer – da waren die Reifen durchstochen und so,
und man hat das sofort aufs Heim geschoben und so, und
die haben da also wirklich verstärkt kontrolliert und geschaut, also auch in Zivil, und dann haben sie also so ein
paar jugendliche einheimische Sabinger Randalierer erwischt, die dann gesagt haben, jetzt können sie machen was
sie wollen, weil sie haben ja sowieso keine Schuld, jeder
sagt, die warn es. Und auch bei anderen Sachen haben sie
schon geschaut, dass so ne Art Gefahrenabwendung für das
Haus selber da ist. Und das ist nicht überall so selbstverständlich, also auch von dieser Einstellung her. Gut, und
wenn dann was ist, müssen sie halt“ (Frau Astner).
154
Die Haltung der Polizei wurde im Großen und Ganzen von der Initiative
positiv eingeschätzt. Dies machte sich besonders bei Einsätzen in der Unterkunft bemerkbar, bei denen die Beamten zurückhaltend agierten. Gerade
von der ersten, in der Initiative allgemein für inkompetent eingeschätzten,
Verwalterin wurde die Polizei häufig ins Haus gerufen. Von der Verwalterin zum Eingreifen bei Streitigkeiten mit Bewohnern aufgefordert, verhielten sich die Beamten in der Regel distanziert und versuchten, schlichtend in
die Konflikte zwischen Verwaltung und Bewohnern einzugreifen.
Während des gesamten Untersuchungszeitraums gab es keine nennenswerten Ereignisse, die das Verhältnis zwischen Unterkunftsbewohnern und
umliegender Wohnbevölkerung negativ beeinflusst hätten. Nach kurzer
Zeit hatte sich das Viertel daran gewöhnt, dass nun auch eine Flüchtlingsunterkunft existierte, und nahm kaum mehr Notiz vom Haus und seinen
Bewohnern. Es war deshalb fast ausschließlich die Nachbarschaftsinitiative
„Miteinander Leben in Sabing“, die sich um Kontakt zu den Asylsuchenden bemühte und Besuche in der Unterkunft machte. Wenn im folgenden
vom Kontakt zu den Bewohnern die Rede ist, dann bezieht sich dies auf die
Mitglieder der Initiative.
6. Die Bewohner der Unterkunft Birkenstraße
Während seitens der Nachbarschaft die Initiative die Beziehungen zu den
Flüchtlingen fast monopolisiert hatte, stellten für die Bewohnerinnen und
Bewohner der Unterkunft Birkenstraße die Beziehungen zu den Mitgliedern der Initiative nur einen Ausschnitt ihrer Sozialkontakte nach außen
dar. Auch wenn die Flüchtlinge in der Birkenstraße Wohn- und Lebensbedingungen unterworfen waren, die charakteristisch für Lager sind, so gab
es doch für viele der Bewohner Möglichkeiten, sich diesen Bedingungen
wenigstens teilweise zu entziehen. In der Unterkunft Birkenstraße wie in
den meisten Unterkünften in urbanem Umfeld ist die Situation nicht so
strikt der Kontrolle unterworfen, dass sich Flüchtlingen nicht doch gewisse
Spielräume für die eigenständige Organisation ihres Alltagslebens eröffneten. Dies gilt sowohl für das Leben innerhalb der Unterkunft als auch für
die Beziehungen, die Flüchtlinge „nach draußen“ aufnehmen konnten.
155
Viele Flüchtlinge der Birkenstraße nutzten bestehende ethnische Netzwerke. Politische Vereine, die an der politischen Struktur des Herkunftslandes
ausgerichtet waren, hatten auch den Zweck, soziale (meist hierarchische)
Strukturen zu etablieren, die für ihre Mitglieder Unterstützung und sinnvolle Beschäftigung bereithielten. Den gleichen Effekt hatten religiöse Gruppierungen. Auch hier wurden im Wesentlichen soziale Strukturen des Herkunftslandes im Aufnahmeland kopiert. So existierte in den neunziger Jahren in München z.B. fast die komplette, sehr komplexe ethno-politische
Parteienlandschaft Togos in Miniaturformat, ebenso gibt es mehrere Gruppen togoischer christlicher Splitterkirchen und muslimischer Gemeinschaften. Einschränkend muss hier jedoch festgestellt werden, dass die meisten
in Gemeinschaftsunterkünften lebenden Asylbewerber in den ethnischen
Organisationen keine große Rolle spielten. Diese hielten zwar bestimmte
Angebote für ihre Mitglieder (inklusive Beratung) vor, die aktive Teilnahme stieg jedoch deutlich, wenn Flüchtlinge einen einigermaßen sicheren
Aufenthaltstitel besaßen und privat wohnten. Insofern sind die politischen
und religiösen Strukturen innerhalb der ethnischen Netzwerke in ihrer sozialen und psychischen Stützfunktion nicht zu hoch zu bewerten.
Fast schon privilegiert waren Flüchtlinge, die über Verwandtschaftsbeziehungen zu länger ansässigen Migranten verfügten. Anfang der neunziger
Jahre kamen z.B. mehr als die Hälfte der in München ca. 30.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bei Familienangehörigen unter75.
Während viele, insbesondere die bosnischen Jugoslawienflüchtlinge als
Kriegs- bzw. Kontingentflüchtlinge in städtische Unterkünfte eingewiesen
wurden, sah sich eine große Zahl aus aufenthaltsrechtlichen Gründen dazu
75
Auskunft des Münchner Flüchtlingsamts vom April 1994. Duic und Müller (1994:
10) beschreiben die Schwierigkeiten, die damit häufig verbunden waren: „Ca. 18.000
Flüchtlinge wohnen privat, d.h. bei Verwandten oder in einer selbst angemieteten Wohnung. Es sind Fälle bekannt, in denen ein Dutzend Menschen in einer kleinen Wohnung
zusammeleben mussten. Wohnungskündigungen wegen Überbelegung, Familienstreitereien etc. führten zu Obdachlosigkeit von Flüchtlingen und teilweise auch ihrer Gastgeber. Weiterhin gibt es besonders unter Flüchtlingsfrauen eine versteckte Obdachlosigkeit. Sie ziehen alle paar Tage, Wochen oder Monate um: von einem Familienmitglied,
Freund, Bekannten oder kurzfristigen deutschen Gastgeber zum nächsten.“
156
genötigt, einen von vornherein aussichtslosen Asylantrag zu stellen. Viele
dieser Flüchtlinge konnten nicht von ihrer in München ansässigen Verwandtschaft beherbergt werden (das schloss, soweit es nicht unter der Hand
geschah, eine Verpflichtung der vollständigen Kostenübernahme ein). Diese Kontakte sicherten den Flüchtlingen einen Bezugspunkt außerhalb der
Unterkunft und einen Zugang zur Gesellschaft.
Eine weitere und von vielen Flüchtlingen angestrebte Möglichkeit, der Isolation und Sinnentleertheit der Unterkunft zu entkommen, sind individuelle
private Kontakte zu Einheimischen. Die Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe waren hier häufig die erste Anlaufstation, woraus einige private
Kontakte, aber auch viele Missverständnisse resultierten. Neben der risikoreichen Möglichkeit, in Supermärkten, auf der Straße oder im Schwimmbad Einheimische anzusprechen, wurden vor allem die verschiedenen multiethnischen Musik- und Tanzclubs der Stadt zu Kontaktaufnahmen genutzt.
Schließlich war es den Flüchtlingen manchmal möglich, sich einen legalen
Arbeitsplatz zu erkämpfen. Über die Arbeit erschlossen sich Kontakte zu
Einheimischen oder anderen Migranten. Nicht nur ökonomisch, sondern
auch sozial und psychisch ist ein Arbeitsplatz ein stabilisierender Halt für
Flüchtlinge. Da dieser Weg jedoch mit sehr hohen Hürden verbunden war,
wichen viele Flüchtlinge (und ihre Arbeitgeber) auf irreguläre Beschäftigungsverhältnisse aus. Kleine privat organisierte Putz- oder Betreuungsjobs, illegale Beschäftigungen in Reinigungsfirmen, Restaurantküchen oder
auf Baustellen waren die Regel. Aber auch kleine Formen des ethnic business76 florierten: Flüchtlinge, die als Schneiderinnen oder Frisöre eine oft
zahlreiche, wenn auch wenig zahlungskräftige Kundschaft besaßen.
In der Summe stellen diese Bemühungen der Kontaktaufnahme eine Form
der Integration gegen die Ausgrenzung seitens des Staates dar. Die Rege76
Unter ethnic business fasse ich Tätigkeiten, vor allem Dienstleistungen, bei denen
ethnische Aspekte eine Rolle spielen, sei es hinsichtlich der spezifischen Dienstleistung,
sei es wegen des Angebots an eine bestimmte Klientel, sei es, dass die Leistung von
einer spezifischen Gruppe angeboten wird. Zum Begriff des ethnic business oder ethnisches Gewerbe vgl. z. B. Rudolph und Hillmann (1997: 89)
157
lungen für Asylbewerber sehen ja gerade vor, dass diese von der Aufnahmegesellschaft zu separieren sind. Für die Asylsuchenden bedarf es großer
Anstrengungen, sich den Zugang zur Aufnahmegesellschaft zu erschließen.
Zusätzlich zur Verarbeitung der Fluchterfahrung und zur Bewältigung des
Lebens in der Fremde setzt dies einen radikalen Umlernprozess in Gang,
der für die Flüchtlinge mit einer hohen psychischen Belastung verbunden
ist. Flüchtlinge sind darin nicht nur weitgehend auf sich allein gestellt, sondern sie müssen auch lernen, dass ihnen der reguläre Zugang zu den meisten Möglichkeiten, welche die Gesellschaft für ihre Mitglieder vorhält, versagt wird. In München boten sich für die Flüchtlinge Möglichkeiten, Zugänge zu schaffen, da die Lager sich zwar von der Wohnbebauung meist
deutlich unterschieden, sich viele der Unterkünfte jedoch nicht in isolierter
Lage befanden. Über öffentliche Verkehrsmittel war es den Insassen in der
Regel möglich, sich in der Stadt zu bewegen und Anschluss an verschiedene Netzwerke zu finden.
Auch in der Unterkunft Birkenstraße konnte die Nachbarschaftsgruppe
rund ein Jahr nach der Eröffnung erleben, dass die Bewohner sich trotz aller Missstände und prekärer aufenthaltsrechtlicher Situation dort eingerichtet hatten. Trotz einer nicht unerheblichen Fluktuation der Bewohner stellten sich die bleibenden und neu eingewiesenen Flüchtlinge auf eine dauerhafte Übergangslösung ein. Deutlich wird hier die sozial und psychisch
stabilisierende und normalisierende Kraft des Familienverbundes. Familien, die bevorzugt in einem gemeinsamen Raum untergebracht wurden, hatten mit einfachen Mitteln versucht, die kargen Zimmer wohnlicher zu machen, hatten mit Teppichen den PVC Bodenbelag bedeckt, Sofas oder Sessel angeschafft und dafür Spind, Tisch und Stühle sowie häufig auch die
Etagenbetten aus den Zimmern entfernt (diese wurden vom Hausmeister im
Keller eingelagert). In manchen Zimmern waren die Kühlschränke die einzig von der staatlichen Grundausstattung verbliebenen Einrichtungsgegenstände. Viele der Zimmer gewannen dadurch eine individuelle Prägung, die
kasernenähnliche Ausstattung hielt sich nur noch in den Zimmern der
männlichen Bewohner, die an karge Arbeiterwohnheime denken ließen.
Verwahrlosungstendenzen wurden jedoch auch hier häufig abgefedert
158
durch Beziehungen vor allem zwischen Flüchtlingen gleicher Herkunft, die
ein minimales Verantwortungsgefühl für die direkte Umgebung und das
geteilte Zimmer stärkten. Besonders unter kosovarischen Flüchtlingen
funktionierte die Ordnung unter den Männern, die sich ein Zimmer teilten,
in der Regel nach dem Senioritätsprinzip. Auch hier schmückten Poster und
oft die Nationalflaggen des Herkunftslandes die Wände, hingen manchmal
Gardinen vor den Fenstern, waren die Betten mit Tüchern oder Decken abgehängt, um sich so ein Minimum an Privatsphäre zu ermöglichen. Neben
Möbeln und Einrichtungsgegenständen, mit denen die Räume etwas wohnlicher gestaltet wurden, nahm elektronisches Equipment einen zentralen
Platz ein. Es diente zugleich als mobiles Prestigeobjekt und Verbindungsmöglichkeit zu Sendungen in der Herkunftssprache. So standen Fernseher,
Videoapparat, Satellitenempfänger und tragbare CD-Spieler in den meisten
Zimmern und wurden von den Zimmernachbarn häufig gemeinschaftlich
genutzt.
Trotz der offenkundigen negativen sozialen und psychischen Effekte, die
mit der Lagersituation für die Flüchtlinge verbunden waren, zeigen diese
Ansätze das Bestreben vieler Flüchtlinge, sich aus der hoffnungsarmen Lage zu befreien, die für sie mit dem Warten auf einen Asylentscheid und
dessen verordneten Bedingungen verbunden war. Die sozialen Kontakte
innerhalb und außerhalb der Unterkunft halfen vielen Flüchtlingen, ihre
Lebenssituation erträglicher zu gestalten. Auch wenn ihnen der Sinn und
die rechtliche Grundlage der repressiven staatlichen Maßnahmen dadurch
nicht einleuchtender erschienen, konnten doch einige Flüchtlinge eine praktisch begründete Lebensperspektive entwickeln, die über die Lagersituation
hinausreichte und damit verbundene Belastungen verminderte.
Aus der Sicht der Initiative wurde dieser Anpassungsprozeß sogar mit dem
Begriff Heimat umschrieben. Zwar ist Heimatgefühl sicher das falsche
Wort, um das Verhältnis der Flüchtlinge zum Leben in der Unterkunft zu
beschreiben, in den Augen der Initiative wurden allerdings die Anzeichen,
dass sich die Flüchtlinge auf ihr Leben in der Unterkunft einzurichten begannen, sehr positiv bewertet und unterstützt. Vorsichtiger ließe sich formulieren, dass für die Flüchtlinge eine Normalisierung des Alltags einsetz159
te, ein dauerhaftes Einrichten in einer Übergangslösung, das sich in der privaten Ausstattung der Unterkunftszimmer und den Fotos, Fahnen und Postern an den Wänden hinter dem eigenen Bett deutlich niederschlug. Der
eigenen Gestaltung des Wohnraums waren allerdings enge Grenzen gesetzt.
Jede Veränderung der Einrichtung und die Anschaffung privater Möbel
fand entgegen der Vorschriften statt, die kein Mobiliar außer der staatlichen
Grundausstattung vorsahen, wurde von der Unterkunftsverwalterin aber in
den meisten Fällen toleriert, da die zwangsweise Entfernung privater Möbel ein außerordentlich hohes Konfliktpotential barg. Auch hatte die Verwaltung mit den privaten Einrichtungsgegenständen immer ein Druckmittel
gegen einzelne Flüchtlinge in der Hand.77
7. Der Kontakt zu den Bewohnern
Während die Unterkunft nicht auf Anhieb als Flüchtlingsunterkunft zu erkennen war, so fielen die Bewohner in den ruhigen Straßen um das Haus
sofort auf. Bei der Belegung im Juli 1992 waren mehr als die Hälfte der
dort einquartierten Flüchtlinge afrikanischer Herkunft. Die größten Gruppen kamen aus Togo und aus Zaire, jedoch waren auch Flüchtlinge aus Nigeria, Niger, der Elfenbeinküste, Angola, Äthiopien und Somalia in der
Birkenstraße untergebracht. In der Mehrzahl waren afrikanische Flüchtlinge einzelne Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, viele hatten in
ihren Herkunftsländern ein Studium zumindest angefangen. Es gab jedoch
auch einige Familien und mehrere alleinstehende Frauen unter den afrikanischen Flüchtlingen. Eine zweite größere Gruppe stellten Flüchtlinge aus
dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien78. Hier hielten sich alleinstehende
77
Ich konnte nicht verifizieren, ob es in der Unterkunft Birkenstraße (außerhalb der
Kakerlakenaktionen, vgl. Kap. 7.3) öfter dazu gekommen ist, dass Flüchtlinge ihre privat angeschafften Einrichtungsgegenstände entfernen mussten. Es kursierten jedenfalls
Gerüchte, dass die Verwalterin der Unterkunft dies gegenüber einigen Flüchtlingen
durchgesetzt und häufiger angedroht hat.
78
Gruppe ist hier nicht in dem soziologischen Sinne verwendet, dass sich die Flüchtlinge selbst als Gruppe verstanden hätten, oder dass sich Gruppenstrukturen herausgebildet
hätten. Vielmehr bezieht sich Gruppe hier nur auf die Außenwahrnehmung und Zuschreibung dieser Flüchtlinge einer Herkunftsregion durch die Nachbarschaft, insbesondere die Initiative. Ab 1993 kamen vermehrt Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugosla-
160
junge Männer und Familien zahlenmäßig etwa die Waage. Hinzu kamen
einzelne Personen und Familien aus verschiedensten weiteren, als flüchtlingsproduzierende Länder79 bekannten Staaten: Afghanistan, Türkei, Syrien, Irak, Iran, Vietnam, Teilrepubliken der zerfallenen Sowjetunion, Sri
Lanka, etc.
Die afrikanischen Flüchtlinge waren nicht nur diejenigen, die am deutlichsten im Straßenbild in Erscheinung traten und somit zum Indiz für die Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft im Viertel wurden, sondern die Initiative fand auch zu ihnen zunächst den besten Kontakt. Dies lag zum Teil
daran, dass einige Frauen aus der Initiative schon vor ihrem Engagement
Kontakte zu Afrikanern gehabt hatten und sich mit ihnen verhältnismäßig
flüssig verständigen konnten:
„Ich bin ja sehr schnell zu den Afrikanern hingerutscht. Und
dadurch, dass ich halt Englisch und Französisch, und zwar
beide Sprachen afrikanisch spreche. Französisches Französisch is nämlich ganz anders, hab ich da auch ganz schnell
`n Kontakt hin gekriegt. Kann auch so`n paar Redewendungen z.B. in Ewe, von Togo, ne? Oder von den Senegalesen.
Und des hat mir ganz schnell bei denen einen sehr engen
Kontakt gebracht, und ich hab eigentlich des Gefühl gehabt,
ich muss denen zeigen, dass man auch in Europa leben
kann“ (Frau Gustow).
Gegenüber den Flüchtlingen, besonders den alleinstehenden jungen Männern aus dem ehemaligen Jugoslawien war das Verhältnis von Beginn an
problematischer. Sie galten als unzugänglicher und weniger freundlich als
die Afrikaner und wurden von der Initiative als schwierig eingestuft. Dies
änderte sich nur geringfügig, als im Laufe des Jahres 1993 immer mehr
Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Unterkunft kamen und
wien in die Unterkunft, zunächst aus Bosnien-Herzegowina, später besonders Albaner
aus dem Kosovo.
79
Der Begriff „Refugee-generating-country“ stammt von Zolberg u.a. 1989: 19.
161
viele der Afrikaner in andere Unterkünfte verteilt wurden.80 Gegenüber den
jungen Männern aus dem ehemaligen Jugoslawien blieben große Vorbehalte, auch wenn positive Erfahrungen gemacht wurden:
„Und da bin ich aber eben durch meine Kontakte zu Afrikanern sofort in diese Ecke reingerutscht. Und die waren auch
in der Zeit, als es anfing, am stärksten vertreten. Und inzwischen sind ja nich mehr so viele Afrikaner, inzwischen is ja
mehr Kosovo und Ex- Jugoslawien und so. Ich blick immer
noch nich richtig durch damit. Und, mit denen hab ich nur
am Rande zu tun, also nich ganz so toll das Verhältnis. Am
Anfang mocht ich sie überhaupt nich, inzwischen merk ich,
dass das auch ganz nette Leute sein können“ (Frau Gustow).
Ein besserer Kontakt gelang den Mitgliedern der Initiative zu den Familien
aus Ex-Jugoslawien. Deren Kinder lernten schnell Deutsch und konnten
übersetzen, auch fiel den Mitgliedern der Initiative der Kontakt zu den
Frauen wesentlich leichter als der zu den jüngeren Männern. Doch nicht
nur in der Initiative, sondern auch im Stadtviertel herrschte gegenüber den
Afrikanern eine größere Aufgeschlossenheit als insbesondere gegenüber
den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien.
„Und was ganz witzig war, das haben auch welche zu mir
gesagt aus dem Stadtrat, sie hatten ja am Anfang soviel
Angst vor den Schwarzen. Und die haben sich ja alle beschwert als die Frau Liebau die ja alle rausgeekelt und umverteilt hatte: Die waren ja viel netter und die gehören ja
richtig zu uns. Das war total nett“ (Frau Astner).
Diese Äußerungen deuten darauf hin, dass nicht allein eine fehlende Verkehrssprache, sondern auch verschiedene Stereotypen die Wahrnehmung
80
In der Initiative wurde die Verlegung der afrikanischen Flüchtlinge in andere Unterkünfte auf das Bestreben der damaligen Verwalterin zurückgeführt, die tatsächlich mehrere Afrikaner aufgrund von Streitigkeiten verlegen ließ. Ob dies jedoch allein ausschlaggebend war oder auch andere Gründe für die Verlegung bestanden, ließ sich nicht
eindeutig herausfinden.
162
der Flüchtlinge durch die Initiative und Nachbarschaft beeinflussten und
nicht ohne Folgen für den Kontakt blieben.81
Es bleibt festzuhalten, dass, obwohl sich die Initiative sehr bald auf die soziale Betreuung der Flüchtlinge und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen konzentrierte, dies nicht der Impuls zur Gründung der Gruppe war.
Am Anfang stand die Vorstellung, sich gegen eine um sich greifende
Fremdenfeindlichkeit zu stellen und ihr im eigenen Viertel entgegenzuwirken. Die einzelnen Mitglieder der Initiative waren überzeugt, ein Zeichen
gegenüber den Bewohnern des Viertels setzen zu müssen. Die Asylsuchenden waren, anders ausgedrückt, lediglich Gegenstand einer innerdeutschen
Auseinandersetzung über die richtige Haltung gegenüber ihrer Unterbringung. Diese in erster Linie symbolische Haltung wird in der Folgezeit gefüllt durch eine soziale Praxis, die fast ausschließlich auf die Flüchtlinge,
nicht auf die Nachbarschaft ausgerichtet ist. Den Ursachen und Folgen dieser Wende wird in den folgenden Fallstudien nachgegangen.
8. Soziales Engagement ohne soziale Bewegung
In einer zeitlich eng umrissenen Phase gründeten sich nicht nur in München, sondern auch in kleineren Städten und Gemeinden vor allem in den
alten Bundesländern Initiativen, die sich für ein friedvolles Zusammenleben zwischen einquartierten Flüchtlingen und Einheimischen und für die
Unterstützung von Flüchtlingen einsetzten. Zugleich standen durch lokale
und landesweite Flüchtlingsräte und den Dachverband Pro Asyl wenn auch
schwache, so doch etablierte regionale und überregionale Strukturen parat,
die eine Vernetzung und Verständigung dieser Initiativen unterstützen
wollten. Das Engagement entsprang einer je lokalen Sorge bezüglich einer
Thematik, die gesamtgesellschaftlich zu einer starken Polarisierung geführt
hatte und auf welche die lokalen Aktivitäten der einzelnen Initiativen ohne
81
Es ist jedoch wegen der Vielfalt an Faktoren, die in diese Wahrnehmungen hineinspielen (Geschlechterverhältnis und Altersdifferenzen, Exotismus, Stereotypen, persönliche Erfahrungen etc.), ausgesprochen schwierig, differenzierte Aussagen zu treffen.
Da diese Arbeit auf eine andere Ebene des Verhältnisses zwischen Flüchtlingen und
Initiative abzielt, findet dieses Thema nur der Vollständigkeit halber Erwähnung.
163
Mühe bezogen werden konnten. Hatte im unruhigen Jahr 1992 die Gründung einer Vielzahl von Initiativen eine große Dynamik, so gewann dieses
Engagement dennoch nicht den Charakter einer sozialen Bewegung, blieben Vernetzung und gemeinsame Aktivitäten marginal, war der Bezug auf
eine gesellschaftliche Problemlage selten. Die untersuchte Initiative ‚Miteinander Leben in Sabing’ bietet hierfür ein gutes Beispiel. Auch hier wurden in der Gründungsphase viele Kontakte geknüpft, die Anbindung an bestehende Netzwerke gesucht und der Erfahrungsaustausch mit anderen,
ähnlich agierenden Initiativen. Ebenso schnell verebbte dieser Elan jedoch
wieder, trat zurück gegenüber der Konzentration auf das eigene Viertel und
die dort untergebrachten Flüchtlinge. Die Kontakte zu übergeordneten
Strukturen wie dem Münchner oder dem Bayerischen Flüchtlingsrat blieben marginal, beide Einrichtungen wurden als Informationsbörsen benutzt.
Auch in der Gründungsphase sah sich die Initiative nicht als Teil einer Bewegung, wollte keinen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. In der Initiative fand keine Verallgemeinerung von lokal festgestellten Problemlagen
statt, vielmehr war die Übertragung einer allgemeinen Problemlage auf ein
lokal begrenztes Handlungsfeld festzustellen. Mit diesem lokalen Fokus
trat die Initiative weder zu etablierten Vorstellungen in der Gesellschaft
noch zur praktizierten Politik in Gegensatz, sie eröffnete stattdessen ein
eigenes, lokales Terrain, auf dem sie die Probleme anging.
Die Gründe, warum die Gründung von Nachbarschaftsinitiativen nicht zu
einer Art sozialer Bewegung geführt hat, sind teils innerhalb der Initiativen
bzw. ihrer Zusammensetzung, teils in der Thematisierung der Asylzuwanderung und Politik der frühen neunziger Jahre anzusiedeln. Die lokale Ausrichtung der Initiativen hat mehrere Gründe. Zum einen wurde die Beschäftigung mit der Asylpolitik und bundesweit relevanten Ereignissen mehrheitlich abgelehnt. Die wahrgenommene Problematik war nicht die Unterbringung von Asylsuchenden als solche, sondern die Unterkunft in der eigenen Nachbarschaft. Zum anderen waren die Personen, die sich in der Initiative zusammenfanden, nicht durch spezifische Einstellungen charakterisierbar, sondern vor allem wiederum durch das Prädikat ‚Anwohner’ gekennzeichnet. Daraus folgt, dass auch die Ressourcen, welche die Nachbar164
schaftsgruppe mobilisieren konnte, vor allem nachbarschaftliche Kontakte
und Beziehungen waren. Zu diesen ‚internen’ Ursachen kam hinzu, dass
die öffentliche Asyldiskussion der frühen 90er Jahre ihren Höhepunkt im
Winter 92/93 fand und danach abebbte. Ab Mitte 1993 wurde die Asylpolitik kaum noch öffentlich thematisiert. Die Problematik änderte sich zwar
nicht, mit dem sogenannten ‚Asylkompromiss’ im Dezember 1992 war jedoch politisch ein Abschluss gefunden und das öffentliche Interesse nahm
stark ab. Für die Entstehung einer sozialen Bewegung war dies denkbar
ungünstig, da ihr gleich in der potentiellen Anfangsphase die Grundlage
öffentlicher Resonanz entzogen wurde. Aus sich heraus hatten die zaghaften Ansätze von Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen, eine stärkere
Vernetzung und gemeinsame Ziele der vielen einzelnen Initiativen zu fördern, kaum Erfolg.
165
5. Der Sozial Raum
„Mindestanforderungen:
Wohn- und Schlaffläche: 15 qm für vier Personen
Küche: Gemeinschaftsküche für 50 Personen, zwei Spülen
und eine Kochstelle für vier Personen
Sanitärausstattung: eine Waschstelle für fünf Personen, eine
Dusche für 20 Personen, ein WC für 5 Personen, ein Urinal
für 10 Männer
Gemeinschaftsraum: 0,4 qm für 100 Personen.“
(LBK-Mitteilung Nr. 15 – 7/92, zitiert nach: Bayerischer Flüchtlingsrat o.J.)
Die Unterkünfte, in die Asylsuchende und Flüchtlinge eingewiesen werden,
solange sie keinen sicheren Aufenthaltsstatus erteilt bekommen, üben einen
bestimmenden Einfluss auf die Flüchtlinge und ihr Verhältnis zur Nachbarschaft aus (vgl. Kuhn 1994 und Fokus 1994). Die Gemeinschaftsunterkünfte, die sich treffender und weniger euphemistisch als Lager bezeichnen lassen, strukturierten auch für die Sabinger Initiative den sozialen Raum, in
dem die Kontakte zwischen Nachbarschaftsgruppe und Flüchtlingen stattfanden82. Damit wurden die Begegnungen nicht allein durch ihre Form,
Funktion und die Intentionen der sich Begegnenden bestimmt, sondern in
besonderem Maße auch dadurch, wo sie stattfanden. Im folgenden Kapitel
soll deshalb der Frage nachgegangen werden, wie sich die Begegnungen
zwischen Initiative und Flüchtlingen in der Unterkunft entwickelten, und
82
Lager besitzen nach Anne von Oswald und Barbara Schmidt folgende allgemeine
Merkmale: „... sie sind ein provisorisches, schnell und billig zu errichtendes Massenquartier; die typische Behausung im Lager ist die Baracke. Das Leben im Lager ist
durch räumliche Enge und niedrigen Komfort charakterisiert. Es wird gekennzeichnet
durch Isolation nach außen und eine zwangsweise Vergesellschaftung nach innen, die
sich in der Einschränkung oder dem Verlust von Privatsphäre und einem umfassenden
formellen Reglement niederschlägt“ (von Oswald und Schmidt 1999: 184). Hinsichtlich
Asylsuchender vermied man die Bezeichnung Lager exakt seit der Zeit, als die Unterbringung von Flüchtlingen in Sammellagern zum Zweck der Abschreckung verfügt
wurde. Im Asylverfahrensgesetz von 1982 wurde Sammellager durch den euphemistischen Begriff der „Gemeinschaftsunterkunft“ ersetzt (Jürgens 1989: 152).
167
insbesondere auch, welche Rolle der soziale Raum besonders hinsichtlich
der Machtbalance spielte, die diesen Begegnungen zu eigen war. Die
Schilderung konzentriert sich dabei auf den „Sozialraum“ der Unterkunft,
der auf Betreiben der Initiative eingerichtet wurde, und auf die Art und
Weise, wie dieser Sozialraum Fokus eines sich schrittweise institutionalisierenden Verhältnisses zwischen Initiative und Flüchtlingen wurde.
1. Zugänge zum Haus
Das von der Bezirksregierung von Oberbayern (ROB) verfolgte Prinzip der
Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen nach der Maxime des minimalen Aufwandes schlug sich auch darin nieder, dass in den Unterkünften in der Regel keine Aufenthaltsräume für die Flüchtlinge vorgesehen
waren. Manche aus Wohncontainern zusammengestellten Lager waren
diesbezüglich besser gestellt, weil Gemeinschaftsküchen dort zum Teil die
Möglichkeit boten, ein paar Tische und Stühle aufzustellen und sie so zu
einem Aufenthaltsraum umzufunktionieren. In einigen Unterkünften, in
denen Wohlfahrtsverbände eine Sozialbetreuung unterhielten, waren die
zur Verfügung gestellten Räume großzügig genug bemessen, dass sie auch
als Aufenthaltsräume für die Flüchtlinge dienen konnten. Die Unterkunft
Birkenstraße verfügte jedoch über keinen Raum, der den Flüchtlingen als
Gemeinschafts- oder Aufenthaltsraum hätte dienen können. Die Küchenzeilen waren schmale Schläuche ohne Sitzgelegenheit, die Flure eng. Bei
gutem Wetter nutzten einige Flüchtlinge, besonders Familien, Kinder und
ältere Frauen das grasbewachsene Grundstück hinter dem Haus, um der
Enge des Zimmers zu entfliehen.
Kurz nach der Belegung des Hauses mit Asylsuchenden hatten zwei kleine
Gruppen der Initiative mit regelmäßigen Besuchen im Haus begonnen.
Diesen regelmäßigen Besuchen waren einzelne Stippvisiten vorausgegangen, bei denen sich Mitglieder der Initiative und die örtlichen Pfarrer erste
Einblicke in die Verwaltung und Belegung des Hauses verschafft hatten
und den Kontakt zur Verwalterin knüpfen konnten. Auch erste Beschwerden von Flüchtlingen erreichten so die Initiative. Aufgrund der Berichte vor
allem der zwei regelmäßig die Unterkunft besuchenden Gruppen machte
168
sich die frisch gegründete Initiative ein Bild von der Situation der Flüchtlinge und orientierte ihr Handeln. Eine der ersten Forderungen an die Verwaltungsleitung war die nach einem Sozialraum, da die Flüchtlinge sehr
beengt untergebracht waren. Schon im Protokoll der ersten ordentlichen
Sitzung der Initiative ist festgehalten: „Da auch die Einrichtung eines Sozialraums (Teestube u.ä.) günstig wäre, soll versucht werden, diesen von der
ROB zu erhalten“ (Protokoll vom 5.10.92). Ein Sozialraum als allen
Flüchtlingen zugänglicher Raum in der Unterkunft, der auch als neutraler
Ort für die Begegnung zwischen Nachbarschaftsgruppe und Flüchtlingen
nutzbar gewesen wäre, stand deshalb von Anfang an auf der Agenda der
Initiative.
Die zwei Gruppen der Initiative, die das Haus regelmäßig aufsuchten, setzten sich aus je zwei bis vier Personen zusammen, von denen einige über
Englisch- und Französischkenntnisse verfügten. Nacheinander gehörten der
ersten Gruppe, der „Tages-Gruppe“, verschiedene Frauen an, die, seien sie
in Rente, Studentin oder nicht berufstätig, zweimal wöchentlich einen
Vormittag Zeit hatten, während der Ausgabe von Post und Essenspaketen
an die Flüchtlinge in der Unterkunft anwesend zu sein. Die Ausgabe der
Essenspakete diente der Verwaltung zugleich als eine Art Appell, bei dem
die Anwesenheit der Flüchtlinge kontrolliert werden konnte. Die Flüchtlinge waren verpflichtet, ihre Essenspakete und Post persönlich abzuholen.
Zur Abholung der Post hing vor dem Eingang zum Verwaltungsbüro eine
Liste aus, auf der die Zimmernummern derjenigen Flüchtlinge vermerkt
wurde, die Post hatten. Um Post und Essensrationen abzuholen, standen die
Flüchtlinge im Flur Schlange, bis sie an der Reihe waren. Für die Initiative
bot sich hier die Gelegenheit zum Kontakt. Die Frauen der Tages-Gruppe
stellten sich den Flüchtlingen vor und boten ihre Hilfe besonders für Übersetzungsprobleme an. Diese Hilfe wurde gerade anfangs dringend benötigt.
Weniger bei der Übersetzung von Amtsschreiben, die häufig das laufende
Asylverfahren betrafen und von den Flüchtlingen nicht verstanden wurden,
sondern vor allem bei Streitigkeiten zwischen den Flüchtlingen und häufigen Problemen zwischen Verwalterin und Flüchtlingen übersetzte und
vermittelte die Gruppe. Dass diese Gruppe direkt unter den Augen der
169
Verwaltung aktiv war, bedeutete, dass sie ihre Anwesenheit nicht nur gegenüber den Flüchtlingen, sondern vor allem gegenüber der Verwaltung
begründen musste. Da die Verwaltung das Hausrecht ausübte, oblag es der
Initiative, ihren Nutzen nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die
Verwaltung regelmäßig unter Beweis zu stellen. Allzu deutliche Parteinahmen gegen die Verwaltung verboten sich deshalb83.
Die zweite Gruppe, die „Abend-Gruppe“, kam ebenfalls zwei mal wöchentlich, jedoch abends um 18 oder 19 Uhr ins Haus und machte einen meist
zweistündigen Rundgang84. Die Mitglieder dieser Gruppe gingen von Zimmer zu Zimmer, stellten sich und die Initiative bei den Bewohnern vor und
boten ihre Unterstützung an. Zunächst ging es der Gruppe darum, sich bei
den Flüchtlingen bekannt zu machen und Kontakte herzustellen. Dann
brachte die Initiative die Sprache auf den Grund ihrer Besuche, nämlich die
Flüchtlinge bei Problemen so gut es ging zu unterstützen. Diese Offerte
wurde von den Flüchtlingen nicht immer angenommen und gerade in der
Anfangszeit höflich übergangen. So stellte sich der Abend-Gruppe das
Problem, dass die Flüchtlinge keine Probleme zu haben schienen. Hatte die
Gruppe zunächst aus der Art der Unterbringung und der öffentlichen Diskussion über Asylsuchende abgeleitet, dass der Flüchtlingsalltag im Aufnahmeland naturgemäß von einer Vielzahl Schwierigkeiten begleitet sei, so
stellte sich bald heraus, dass die Problemorientierung der Initiative nicht als
Grundlage für den ersten Kontakt zu Flüchtlingen taugte. Die Flüchtlinge
interpretierten die Besuche der Initiative in der Regel als Zeichen nachbarschaftlicher Höflichkeit und reagierten mit Gastzeremonien in unterschiedlichem Aufwand. Meist wurde die Gruppe von den Zimmerbewohnern eingeladen, das Zimmer zu betreten, eine Sitzgelegenheit, ein Kaffee, Tee oder eine Limonade wurde angeboten und man erkundigte sich nach dem
beiderseitigen Befinden. Obwohl die Abend-Gruppe immer wieder aufs
Neue ihr Anliegen vortrug und sich als Teil einer Initiative erklärte, die
83
Die Situation bei der Verteilung von Essenspaketen wird im Kap. 7.1. detaillierter
aufgenommen, deshalb erfährt die Aktivität der Tages-Gruppe hier keine eingehendere
Schilderung.
84
Auch ich war Teil der Abend-Gruppe und nahm regelmäßig an den Rundgängen teil.
170
sich der Bewohner der Unterkunft unterstützend annehmen wolle, wurden
ihre Mitglieder doch zumeist als Einzelpersonen wahrgenommen und empfangen. Zunächst reagierte die Abend-Gruppe darauf etwas hilflos: allein
Kontakte zu knüpfen und zudem von den Flüchtlingen eingeladen zu werden, ohne diese Einladungen erwidern zu wollen, brachte sie in eine
schwierige Situation. Bald aber stellte die Gruppe fest, dass ein stabiler
Kontakt und eine nähere Bekanntschaft für viele Flüchtlinge Bedingung
dafür war, auch Probleme und Fragen an die Mitglieder der Initiative heranzutragen.
Die betonte Problemorientierung der Gruppe war nicht nur dem Wunsch,
Hilfe zu leisten oder der Zugehörigkeit zur Initiative mit ihrem bestimmten
Ziel geschuldet. Vielmehr war die Betonung des Hilfsangebots an die
Flüchtlinge auch ein Mittel, sich den Eintritt in die Unterkunft im Allgemeinen und in die Privatsphäre der Flüchtlinge im Besonderen zu legitimieren. Die Asylbewerber-Unterkünfte waren durch die öffentliche Diskussion symbolisch aufgeladen, ein Eindringen verlangte ein deutliches
Bekenntnis, dass man zum Wohle und nicht zum Schaden der Flüchtlinge
dort sei. Darüber hinaus verlangte der Besuch der Flüchtlinge in ihren
Zimmern nach einem Grund, sollte er nicht missinterpretiert werden. Nicht
nur war die Verwaltung argwöhnisch gegenüber Besuchern in der Unterkunft, auch die Flüchtlinge selbst registrierten, wer von Mitgliedern der
Initiative Besuch bekam. Die Initiative, die nicht vorrangig private Kontakte zu einzelnen Flüchtlingen pflegen, sondern den Bewohnern in ihrer Allgemeinheit Unterstützung bieten wollte, musste ihre Interessen auch nach
außen kenntlich machen. So diente der funktional formulierte Auftrag, die
Bewohner kennen zu lernen und ihnen Unterstützung anzubieten, auch dazu, die Besuche in die Unterkunft und in den Zimmern der Flüchtlinge zu
legitimieren. Wäre es nach der Gruppe gegangen, so hätten sich viele Kontaktaufnahmen auf dem Hausflur oder auf der Schwelle zu den Flüchtlingszimmern abgespielt, denn das Betreten der dürftigen Privatsphäre der
Flüchtlinge stellte für die meisten Mitglieder der Initiative noch einmal eine deutliche Hemmschwelle dar. Die Mitglieder der Initiative vermieden
es, allein die Zimmer von Flüchtlingen zu betreten, wenn nur der Mann o171
der die Frau zuhause war. Gerade die Abend-Gruppe war darauf bedacht,
diesbezüglichen Gerüchten vorzubeugen und achtete darauf, dass immer
mindestens ein Mann und eine Frau gleichzeitig die Besuche machten.
Dennoch war es nicht zu verhindern, dass über die Besuche geredet wurde
und auch Klagen laut wurden, dass bestimmte Flüchtlinge bevorzugt behandelt wurden.
Die Abend-Gruppe hatte sich den Anspruch auferlegt, jeweils eine Runde
durch das ganze Haus zu machen, eine Aufgabe, die desto schwieriger
wurde, je mehr Flüchtlinge die Gruppe kannte. Im Verlauf dieser Visiten
verschob sich dadurch zunehmend der Fokus. Statt immer neue Flüchtlinge
kennen zu lernen, wurden zunehmend die Flüchtlinge aufgesucht, deren
Bekanntschaft man schon gemacht hatte. Auch ging die Gruppe dazu über,
an den Lösungen bestimmter Probleme der Flüchtlinge zu arbeiten, was
einen häufigeren Besuch bei diesen Flüchtlingen zur Folge hatte. Ein Mitglied der Abend-Gruppe begann zum Beispiel den Kindern einer iranischen
Familie Hilfe bei den Schulaufgaben zu geben, und nahm deshalb nicht
mehr an den regelmäßigen Rundgängen teil. Die geringe Kapazität und die
gleichzeitige Fluktuation der Flüchtlinge machte den Anspruch zunichte,
möglichst alle Flüchtlinge des Hauses zu kennen und gleichermaßen zu unterstützen.
Für die Flüchtlinge wie auch für die Mitglieder der Initiative waren diese
Besuche ein Unterfangen, das ein hohes Maß an Offenheit verlangte.
Schnell gewann die Initiative die Einsicht, dass die Flüchtlinge, obwohl in
vergleichbarer Lebenslage, höchst unterschiedliche Umgangsweisen mit
ihrer Situation entwickelten. Auch die Bereitschaft der Flüchtlinge zum
Kontakt mit der Gruppe reichte von misstrauischer Zurückhaltung bis hin
zum freudigen Empfang. Mit einigen Flüchtlingen fand die Abend-Gruppe
bald persönlichen Kontakt, bei anderen blieb es bei distanzierten Pflichtbesuchen. Nach der Besuchsrunde diskutierte die Gruppe häufig über das
Verhalten einzelner Flüchtlinge, über ihre Erwartungen und die eigenen
Möglichkeiten, diesen gerecht zu werden.
Immer wieder hieß diese Form der Kontaktaufnahme, das ganze Haus abzuklappern, sich vorzustellen, sich die Namen der Flüchtlinge einzuprägen,
172
Einladungen zum Tee abzulehnen oder nicht, und immer aufs Neue das
Anliegen der Initiative vorzutragen, den Flüchtlingen Hilfestellung beim
Einleben im Viertel leisten zu wollen. Die schwierige Verständigung gerade bei Erstkontakten und die Unwägbarkeiten der interkulturellen Kontaktaufnahme führten bei der Gruppe bald zu einer Haltung kalkulierter Unhöflichkeit. Rituale der Gastfreundschaft wurden oft abgekürzt, die Einladungen, ins Zimmer zu treten, wurden pro Runde auf ein oder zwei begrenzt,
wobei auf eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit geachtet wurde. Die Verständigungsprobleme trugen zur Selektion der Kontakte bei. Mit Flüchtlingen, die weder Deutsch noch eine der europäischen Verkehrssprachen zumindest radebrechten, blieben die Kontakte an der Oberfläche, sofern nicht
Kinder die Übersetzung erledigten. Die Mühseligkeit der Besuche sowie
die Bereitschaft einzelner Flüchtlinge, mit Problemen, Fragen oder Beschwerden auf die Gruppe zuzugehen, fokussierte die besondere Aufmerksamkeit der Gruppe schließlich auf eine Reihe von Einzelpersonen und
Familien. Dadurch kam es zu intensiveren Kontakten zwischen den Mitgliedern der Gruppe und bestimmten Flüchtlingen. Die Gruppe begann,
sich in verschiedene typische Problemlagen der Flüchtlinge einzuarbeiten.
Dazu gehörten die Suche nach Arbeit, Kindergartenplätzen oder fremdsprachenkundigen Ärzten, Fragen zur Schule, zu Behörden oder zum Beispiel der Möglichkeit, einen Führerschein zu machen, außerdem Probleme
mit Nachbarn im Haus, mit der Verwaltung, oder mit dem Essen. Das
grundlegende Muster dieser Besuche änderte sich dadurch jedoch nicht.
Konsultationen fanden meist in den Räumen der Flüchtlinge statt, die
Gruppe wurde eingeladen, sich zu setzen und ein Getränk anzunehmen und
so für die Zeit ihres Besuchs genötigt, sich den Regeln ihrer Gastgeber anzupassen.
Beide Formen der Kontaktaufnahme hatten für die jeweiligen Gruppen
gravierende Nachteile. Die Präsenz der Tages-Gruppe bei der Verteilung
der Essenspakete hieß zum einen, stundenlang im zugigen Hausflur zu stehen, zum anderen, dass die Gruppe, die in Konflikten zwischen Verwaltung
und Flüchtlingen von Fall zu Fall Stellung beziehen musste, ständig Gefahr
lief, es sich mit den Flüchtlingen oder der Verwalterin zu verscherzen.
173
Schließlich fanden hier Kontakte immer unter den mehr oder minder misstrauischen Augen der Verwaltung statt. Der Kontakt litt also etwas unter
der allzu großen Öffentlichkeit, in der er stattfand. Neben der Tatsache,
dass die Abend-Gruppe aus Gründen der Berufstätigkeit nicht tagsüber ins
Haus konnte, waren die abendlichen Besuche auch durch die Überlegung
motiviert, dass ein besserer Kontakt zu Flüchtlingen aufgebaut werden
könne, wenn die Verwaltung am Abend das Haus verlassen hätte. Nicht nur
würde man auch die berufstätigen Flüchtlinge erreichen, sondern der Kontakt würde davon profitieren, dass er nicht direkt unter den Augen der
Verwalterin stattfände. Hier wurde es jedoch seitens der Gruppe oft als
schwierig empfunden, dass die abendlichen Besuche in den Räumen der
Flüchtlinge stattfanden und damit der öffentliche Anspruch der Initiative in
der Interpretation der Flüchtlinge in einen privaten Besuch verkehrt wurde.
Die Kontakte zwischen Initiative und Flüchtlingen wurden so deutlich von
dem Ort bestimmt, an dem sie stattfanden. Der allzu großen Offenheit der
Flure, wo die Begegnung unter den Augen der Verwaltung stattfand, stand
die allzu große Privatheit der Flüchtlingszimmer gegenüber, wodurch die
funktional-distanzierte Herangehensweise der Initiative ständig Gefahr lief,
in private Besuche umgewandelt zu werden. Beide Gruppen machten so die
Erfahrung, dass die Räume der Unterkunft entweder von den Flüchtlingen
oder der Verwaltung bestimmt wurden und die Gruppen ihr eigenes Anliegen an diese Umstände anpassen mussten. Da es keinen eigenen Raum gab,
wo die Initiative ihrem Anliegen gemäß auftreten konnte, verwundert es
nicht, dass die Verschiedenartigkeit der Begegnungsformen tendenziell
verschiedene Zugangsweisen zu den Flüchtlingen eröffnete. Mit Tagesund Abend-Gruppe bildeten sich dadurch zwei Fraktionen innerhalb der
Initiative heraus, die auf der gemeinsamen Basis eines die Initiative verbindenden „Engagements für die Bewohner des Hauses“ unterschiedliche Zugänge fand:
Die Tag-Gruppe versuchte sich im Großen und Ganzen in einer Vermittlungstätigkeit zwischen den Flüchtlingen und der Verwaltung des Hauses
sowie anderen Behörden, mit denen die Flüchtlinge in Kontakt traten. Obwohl sich auch hier persönliche Bekanntschaften zwischen Mitgliedern der
174
Gruppe und Bewohnern herausbildeten, wurde die Beziehung zu Flüchtlingen doch deutlich durch die Dualität zwischen Bewohnern und Verwaltung
der Unterkunft beeinflusst. Diese Gruppe bildete durch den Versuch, eine
möglichst neutrale Position zwischen Flüchtlingen und Verwaltung einzunehmen, eine pragmatische, an der individuellen Konfliktlösung orientierte
Haltung heraus, die ihre Sympathien für die Flüchtlinge vor der Verwaltung verbergen musste. Die Abend-Gruppe suchte zwar ähnlich die Unterstützung von Flüchtlingen, tendierte jedoch besonders bei Streitigkeiten mit
der Verwaltung zu einer deutlicheren Parteinahme für die Flüchtlinge.
Wenn auch die Effekte ihrer Tätigkeiten schließlich weniger weit voneinander entfernt waren als man hätte vermuten können, wurden die so entwickelten Unterschiede in den Zugangsweisen in der Anfangszeit eine Quelle
für Auseinandersetzungen innerhalb der Initiative. 85
Als beispielhaft kann der Fall gelten, in dem eine Frau aus der Tag-Gruppe
eine Hausmeistertätigkeit für Herrn Guvec, einen Unterkunftsbewohner,
organisiert hatte. In der Abend-Gruppe wurde ihm von der Annahme dieser
Tätigkeit abgeraten, da sie schlecht bezahlt war und Herr Guvec durch die
Annahme der Arbeit (und den Verlust der Sozialhilfe) finanziell schlechter
gestellt gewesen wäre. Herr Guvec lehnte daraufhin die Stelle ab. Auf dem
nächsten Treffen der Initiative kam es zu einem Streit zwischen den beiden
Gruppen. Gegenstand war nicht nur, dass die nicht geringen Anstrengungen, einem Flüchtling eine Stelle und möglicherweise eine Perspektive zu
verschaffen, von anderen aus der Initiative unterlaufen worden waren, sondern vor allem die Einschätzung der Herangehensweisen und Auffassungen
zum Bereich Flüchtlinge und Arbeit. Die Tag-Gruppe favorisierte pragmatisch eine gesellschaftliche Einbindung von Flüchtlingen und nahm dabei in
Kauf, dass dies mit Nachteilen für die Flüchtlinge einherging. Die AbendGruppe stellte sich dagegen auf den Standpunkt, dass die Initiative keine
„Integration um jeden Preis“ betreiben sollte, da der Preis schließlich von
den Flüchtlingen zu entrichten sei.
85
Auch dies wird im Kapitel Kakerlakenaktion weiter ausgeführt, siehe hierzu Kap. 7.3.
175
Diese unterschiedlichen Tendenzen von Tag- und Abend-Gruppe lassen
sich nicht ausschließlich auf die verschiedenen Zugangsräume zu Flüchtlingen beziehen. Die Tages-Gruppe wurde wesentlich geprägt von dem
Auftreten Frau Teklas, die mit langer Berufserfahrung in verschiedenen
Ämtern auch der Haltung der Verwaltung Verständnis entgegenbrachte und
die Unterstützung der Verwalterin als wesentlichen Beitrag zur Befriedung
von Konfliktherden in der Unterkunft sah. Die Mitglieder der AbendGruppe waren allesamt jünger und fanden innerhalb der Abend-Gruppe zu
einer Haltung, die sich insbesondere gegen die ungerechte Behandlung der
Flüchtlinge richtete. Darüber hinaus hatte die Art des Zugangs jedoch einen
starken Einfluss darauf, wie die Gruppen zu ihrer Haltung gegenüber den
Flüchtlingen und der Unterkunft fanden. Der jeweils unterschiedliche Legitimationsdruck, die Schwierigkeit, ein funktional bestimmtes Hilfsangebot
durchzusetzen und die Positionierung im Spannungsverhältnis zwischen
Flüchtlingen und Verwaltung wirkte sich deutlich auf die inhaltliche Arbeit
der Initiative aus.
Die begrenzte Möglichkeit tatsächlicher Hilfestellung und Einflussnahme
seitens der Initiative bewirkte andererseits, dass die praktischen Unterschiede zwischen Tag- und Abend-Gruppe gering blieben. Die immer befristete Zeit, die den Flüchtlingen gewidmet werden konnte, die wenigen
Gelegenheiten, tatsächliche Erfolge im Behördenkontakt zu erwirken, die
Schwierigkeiten, sich im Einzelfall ein Bild der behördlichen Auflagen und
Beschränkungen zu machen, all dies trug zu einer faktischen Limitierung
der Möglichkeiten der Initiative bei, und dies gleichermaßen für beide
Gruppen. Auch der Austausch an Informationen und Erfahrungen mit Verwaltung, Flüchtlingen, Behörden und anderen Institutionen, der über die
regelmäßigen Treffen der Initiative erfolgte, brachte beide Gruppen zu einer Angleichung ihrer Beziehungen zu den Flüchtlingen.
Da im Vordergrund des Initiativenhandelns nicht die politische, sondern
die direkte und praktische Unterstützung der Flüchtlinge stand, war eine
Beurteilung dieses Handelns nach den Kriterien des Erfolgs und der sachlichen Angemessenheit regelmäßiger Bestandteil der Treffen. Im Laufe dieser ersten Phase der Kontaktaufnahme zu den Bewohnern der Unterkunft
176
gewann die Initiative ein Bild von der Situation der Flüchtlinge und gelangte auch zu einer realistischen Einschätzung ihrer eigenen Möglichkeiten.
Enttäuschungen sowohl hinsichtlich der Erfolge gegenüber Behörden als
auch hinsichtlich der Reaktionen der Flüchtlinge auf die Bemühungen der
Initiative ließen die Gruppe zu dem Schluss kommen, dass die Flüchtlinge
ihre Probleme selbst in die Hand nehmen mussten, und dass die Initiative
ihnen dazu lediglich eine Hilfestellung leisten konnte.
Für alle im Haus aktiven Mitglieder der Initiative galt ebenfalls, dass sie –
bei durchaus unterschiedlichen Umgangsweisen mit den Bewohnern – eine
deutliche Trennlinie zwischen ihrer eigenen Privatsphäre und dem Engagement gegenüber den Flüchtlingen zogen. Ebenso zurückhaltend wie die
Initiativenmitglieder hinsichtlich der Privatsphäre der Flüchtlinge agierten,
schirmten sie auch ihr eigenes Privatleben gegenüber den Flüchtlingen ab.
Einige der aktiven Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe freundeten sich
mit Bewohnern der Unterkunft an, jedoch wurde darauf geachtet, dass diese privaten Kontakte singulär blieben. In der Regel vermieden es die Mitglieder der Initiative, Flüchtlinge zu sich nach Hause einzuladen oder auch
nur die eigene Telefonnummer und Adresse an die Flüchtlinge weiterzugeben. Dies steht zum Teil in direktem Bezug zum öffentlichen Anliegen
der Initiative, sich für die Flüchtlinge und ein ‚miteinander Leben’ im
Stadtviertel einzusetzen. Nicht der private Kontakt, sondern die allgemeine
Solidarität waren dabei das Leitmotiv. Zum Teil ging dieses Ausklammern
des Privaten jedoch auch auf Erfahrungen mit einzelnen Flüchtlingen zurück, die sich über die Maßen mit Bitten und Hilfsgesuchen an die Mitglieder der Initiative gewandt hatten. Vor allem jedoch sahen die Mitglieder
der Initiative ihre Arbeit für die Flüchtlinge als ein bestimmtes Segment
ihrer eigenen Lebensgestaltung an, das sich als ehrenamtliches Engagement
weder dem Bereich der Arbeit noch der Freizeitgestaltung zuschlagen ließ.
In der Regel trennten die Mitglieder der Initiative den Bereich Flüchtlinge
mehr oder minder deutlich von ihren übrigen Beschäftigungsbereichen. Offener waren die Übergänge, was die Beziehungen zwischen den einzelnen
Mitgliedern der Initiative betraf. Hier entwickelten sich aus den anfangs
sachlichen Kontakten eine Reihe von freundschaftlichen Beziehungen, die
177
zum Teil auch das Engagement der Mitglieder in der Initiative überdauerten. Die privaten Beziehungen zu Flüchtlingen, die einige aus der Initiative
hatten, wurden wiederum deutlich von den Aktivitäten der Initiative abgesetzt. So war in der Initiative zwar bekannt, dass verschiedene Mitglieder
mit Bewohnern des Hauses befreundet waren, dies wurde jedoch auf den
Treffen nicht thematisiert und auch in die Aktivitäten der Gruppe nicht einbezogen. Beispiel für eine Mischform dieser Beziehungen ist Frau Wiesner,
die sich mit drei Afrikanern anfreundete, zu denen sie fortan eine besondere Beziehung pflegte. Frau Wiesner lud ihre „Schützlinge“, wie sie sie
nannte, zu sich nach Hause ein, doch gab es dafür einen festen Termin und
ein sich schnell ritualisierendes Prozedere. Die „Schützlinge“ wurden bewirtet oder kochten auch mal selbst, sodann wurde im weiteren Verlauf
dieser Abende Deutsch gelernt oder es wurden Behördengänge besprochen.
Auch diese Form des Kontaktes, die sich von den übrigen dadurch abhob,
dass sie außerhalb der Unterkunft und in der Wohnung von Frau Wiesner
stattfand, war durch feste Regeln vom sonstigen Alltag Frau Wiesners abgeschirmt. Indem die Treffen jedoch im privaten Haushalt Frau Wiesners
stattfanden, überschritten sie gleichwohl die übliche, von der Initiative eingehaltene Trennung zwischen dem Engagement für die Flüchtlinge und ihren sonstigen Lebensbereichen:
„Aber ansonsten hatte ich für mich jetzt mehr davon gehalten, mich einfach mit gewissen Leuten zusammen zu tun
und zu sagen: ja gut, okay, wie kann ich jetzt gezielt helfen,
oder was kann ich gezielt tun? Ja gut, nachdem ich ziemlich
viel in Afrika unterwegs war, kam ich irgendwie mit den
Afrikanern erheblich besser zurecht als mit den ehemaligen
Jugoslawen und so hat sich das also einfach ergeben. Das
wurde dann auch irgendwie eine freundschaftliche Sache
und, na ja, irgendwann hat mein Mann dann gesagt: Deine
afrikanische Wahlverwandtschaft, ja, und die Jungs sind
dann einmal die Woche gekommen, ich habe mir dann
Deutschbücher besorgt, und habe versucht, denen also
178
halbwegs passabel Deutsch beizubringen und auch auf gewisse Situationen bezogen: was mache ich, wenn ich Arbeit
haben will, wie spreche ich jemand an, wie reagiere ich auf
gewisse Dinge, seien es jetzt Anfeindungen oder dass man
also unfreundlich ist zu mir, also: was mache ich am besten.
Gut, ich war dann auch irgendwo Ansprechstation für die,
wenn sie irgendwelche Situationen erlebt haben, wo sie einfach nicht klar kamen damit. (...) Und ... ja gut, einfach ein
bisschen versuchen, Lebenshilfe zu geben. (...) Ne, und insofern, das war auf jeden Fall ein Austausch. Und das war,
hoffe ich mal, für beide Seiten eine Bereicherung, für mich
war es auf jeden Fall eine. Also Einbahnstraße, ne, in gar
keinem Fall. Mein Mann hat ab und zu seine Probleme gekriegt weil er, gut, wir haben uns dann irgendwo auf Englisch geeinigt als Sprache und da war er halt immer ein bisschen außen vor, aber – lacht – damit musste er leben“ (Frau
Wiesner).
Auch wenn Ausnahmen wie Frau Wiesner und ihre ‚Schützlinge’ existierten, so ist generell festzustellen, dass die Trennung, welche die Initiativenmitglieder zwischen ihrem Privatleben und ihrem Engagement für Flüchtlinge gezogen hatten, eine wichtige Markierung darstellt, die die ehrenamtliche Beschäftigung ähnlich den Kontakten, die man am Arbeitsplatz hat,
einrahmt. Der öffentliche Anspruch, mit dem die Mitglieder der Initiative
gegenüber den Flüchtlingen, der Verwaltung und auch der Nachbarschaft
auftraten, diente damit mehreren Zwecken, darunter auch dem Schutz des
Privaten. Nicht unwesentlich war hierbei auch die Rolle von Familienangehörigen, die das Engagement der Initiativenmitglieder nicht immer teilten.
Auch dies war für manche Mitglieder der Gruppe ein Grund, die Kontakte
zu Flüchtlingen auf die Besuche in der Unterkunft zu beschränken.
Familie Guvec
Die Initiative sah sich besonders in der ersten Phase ihres Kontaktes zu
Flüchtlingen mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Beziehungen zu
179
Flüchtlingen in der Unterkunft definieren zu müssen. Dabei färbten der eigene Anspruch, einerseits das Wohl der Allgemeinheit der Flüchtlinge im
Auge zu haben, andererseits die partikularen Interessen der Flüchtlinge
einzubeziehen, und schließlich die Situierung der Kontakte in den Räumlichkeiten der Unterkunft auf die Begegnungen ab. Die Ambivalenzen des
Zuganges der Initiative zu Flüchtlingen treten exemplarisch im Verhältnis
zur Familie Guvec hervor. Familie Guvec stammte aus Vukovar im serbisch-kroatischen Grenzgebiet. Herr Guvec hatte dort eine Metzgerei betrieben, und nachdem gleich zu Beginn des Krieges der Besitz der Familie
in Vukovar zerstört worden war und die Bevölkerung der Vertreibung ausgesetzt war, flüchtete die Familie nach Deutschland. Hier stellte sie einen
Asylantrag, vor allem, um zunächst eine Duldung zu erhalten.86 Die siebenköpfige Familie zählte zu den Flüchtlingen, die gleich zu Anfang einen
guten Kontakt zur Nachbarschaftsinitiative fanden. Herr Guvec sprach genug Deutsch, um sich gut verständigen zu können, und war einer der wenigen Flüchtlinge, die sich um Kontakte zu den Mitbewohnern bemühten.
Schnell hatte Herr Guvec den Posten eines inoffiziellen Hausmeisters, der
sich um praktische Probleme verschiedener Flüchtlinge kümmerte und mit
handwerklichem Geschick prompte Hilfe leistete. Auch für die Verwalterin
der Unterkunft war Herr Guvec bald unverzichtbar:
„Ja, die Frau Liebau wäre ohne den Herrn Guvec aufgeschmissen gewesen, weil, der hat ja schon viel geregelt. Dadurch hatte er natürlich auch gewisse Vorteile. Ihn hat sie ja
ziemlich in Ruhe gelassen. Guvec hatte schon ne zentrale
Rolle. Auf der einen Seite so eine Vaterfigur, auch weil er
86
Auch später, als Gelegenheit gewesen wäre, den Asylantrag zurückzuziehen und gegen den Status des Bürgerkriegsflüchtlings einzutauschen, hielt die Familie ihren Asylantrag aufrecht. Als Bürgerkriegsflüchtlinge wäre der soziale Status deutlich besser gewesen, allerdings verbunden mit der Auflage, nach Ende der Kampfhandlungen zurückzukehren und Deutschland zu verlassen. Dies musste die Familie am Ende schließlich
auch tun. Dem Asylantrag wurde erwartungsgemäß nicht stattgegeben, Pläne zum Weiterwandern über Verwandte in den USA zerschlugen sich, und im Frühjahr 1997 kehrte
Familie Guvec nach Vukovar zurück, nachdem ihr die Abschiebung angedroht worden
war.
180
viele Kinder hatte, und war ja auch ne Stütze für die Frau
Liebau, hat in vielen Bereichen dann schon auch Streitereien gedämpft ... Direkt abgelehnt wurde er eigentlich von
niemandem, es haben allerdings etliche geglaubt, dass er
bevorzugt behandelt wurde, also auch von uns. Das schon.
An ihm kam man nicht vorbei. Wobei man ihm zugute halten muss: er hat ja auch Probleme, die es mit einzelnen gab
und wo man was tun konnte, das hat er ja schon auch weitergegeben. Und nicht nur von Leuten seines Kulturkreises
...“ (Frau Astner).
Die Offenheit der Familie und die Deutschkenntnisse ließen Familie Guvec
zur festen Anlaufstelle für alle im Haus aktiven Mitglieder der Initiative
werden. Durch den Kontakt, den die Familie zu vielen Flüchtlingen und
Mitgliedern der Initiative hatte, wurde das Wohnzimmer der Familie Guvec
zum inoffiziellem Treffpunkt innerhalb der Unterkunft. Herr Guvec kannte
fast alle Bewohner, wusste über Verlegungen, Auszüge und Neuzugänge
Bescheid, und war selbst einer von den Flüchtlingen, die bereitwillig die
Unterstützung der Initiative suchten. So fanden sich verschiedene Mitglieder immer wieder damit beschäftigt, kleine Probleme der Familie Guvec zu
lösen. Mehrfach stellte sich auf den Treffen der Initiative heraus, dass die
Familie mit dem gleichen Problem gleich an mehrere Initiativenmitglieder
herangetreten war. Regelmäßig war die Initiative damit beschäftigt, einen
Kindergartenplatz oder eine Lehrstelle für eines der Kinder der Familie
Guvec zu organisieren, sich Abhilfe für die Migräne von Frau Guvec zu
überlegen, kaum ein Besuch in der Unterkunft kam um wenigstens eine
Stippvisite und einen Mokka bei der Familie herum. Des öfteren wurde die
Initiative zu Feiern bei der Familie eingeladen. Die Initiative profitierte
zwar von der Hilfsbereitschaft der Guvecs und hatte über sie immer eine
Anlaufstelle und eine Informationsquelle über Bewohner und Verwaltung,
aber es resultierten daraus auch Nachteile:
„Guvec hatte eine ziemlich starke Stellung auch innerhalb
des Hauses, und auf der anderen Seite war er ja auch vom
181
‚Stamme Nimm’. Also eben Guvec und noch ein paar andere haben uns nämlich auch ziemlich ausgepowert. Also in
einer anderen Form und das ist auch nicht böswillig, aber
das hat auch sehr viel Zeit gekostet. Ich weiß, dass wir da
sehr intensiv also auch in der Gruppe diskutiert haben und
andere Sachen dadurch hinten runter gefallen sind“ (Frau
Astner).
So war das Verhältnis, das sich zwischen Initiative und der Familie Guvec
entwickelte, ausgesprochen zwiespältig. Auf der einen Seite war die Initiative dankbar für die Gastfreundschaft der Familie, die ihnen jederzeit die
Türe öffnete. Auf der anderen Seite fühlte sie sich von Guvecs stark beansprucht und hatte Schwierigkeiten, die Ansprüche der Familie von Fall zu
Fall zu erfüllen oder zurückzuweisen. Auch wollte die Initiative die Familie
nicht bevorzugt behandeln, musste sich jedoch eingestehen, dass durch die
gute Bekanntschaft Familie Guvec immer zu den ersten gehörte, die von
Aktionen der Nachbarschaftsgruppe profitierten. Exemplarisch sind auch
verschiedene Angebote der Initiative, für die Kinder der Familie Lehrstellen und Ausbildungsplätze zu beschaffen. Diese Stellen, deren Beschaffung
mit einigen Mühen verbunden war, wurden von Guvecs zunächst angenommen, um dann nach einer Weile wieder fallen gelassen zu werden, was
seitens der Initiative als herbe Enttäuschung erfahren wurde87.
Die Initiative war auf persönliche Kontakte zu einzelnen Flüchtlingen – zu
denen auch die Guvecs gehörten – angewiesen, die ihnen einen Zugang zu
den Problemen der Unterkunftsbewohner eröffneten. Durch diese Kontakte
erfuhr die Initiative von den Schwierigkeiten der Bewohner, sich trotz der
87
Der praktische Hintergrund der Absagen war im Wesentlichen die geringe Verdienstmöglichkeit im Lehrstellenverhältnis. Nicht gemeldete Tätigkeiten waren demgegenüber besser entlohnt, auch wenn sie größere Risiken bargen und perspektivisch weniger lohnend erschienen. Aus dem anfänglichen Bemühen der Familie Guvec, auf die
Angebote der Initiative einzugehen, ist das Bemühen ablesbar, den ‚vernünftigen’
Ratschlägen der Initiative zu folgen, den Kindern eine Ausbildung zu verschaffen.
Schließlich setzte sich jedoch eine andere Ratio durch. Dass diese mit dem prekären
Aufenthaltsstatus und der Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen zu tun hat, kann nur
vermutet werden.
182
ausschließenden Maßnahmen, denen sie per Asylgesetzgebung unterlagen,
in ihrer Umgebung einzurichten. Zugleich bedeuteten die persönlichen
Kontakte aber auch immer, dass sich die Initiative den Bitten z.B. der Familie Guvec nur schwer entziehen konnte, und dass die Beziehung zu einzelnen Flüchtlingen die Arbeit der Gruppe zu dominieren drohte. Der Anspruch, sich um die gesamte Bewohnerschaft der Unterkunft zu kümmern,
wurde durch die teils exzessiven Bedürfnisse einzelner Flüchtlinge unterminiert. Die Intensität der individuellen Kontakte bedrohte auch das Auftreten der Nachbarschaftsgruppe als Initiative mit öffentlichem Anspruch.
Ohne die Einzelkontakte fehlte der Initiative jedoch der Bezug zu den
Problemlagen der Unterkunftsbewohner. Diesen Widerspruch glaubte die
Initiative dadurch aufheben zu können, dass sie sich einen eigenen Raum in
der Unterkunft schuf. Durch den Sozialraum sollte dieses Verhältnis im
Sinne der Initiative umgestaltet werden. Wenn sich die Initiative nicht in
die privaten Räume der Flüchtlinge begeben müsste, wo sie sich den an sie
herangetragenen Wünschen nur schwer entziehen konnte, dann würde sich
– so der Wunsch der Initiative – ihr Anspruch, für alle Flüchtlinge präsent
zu sein, besser realisieren lassen. Ein Sozialraum, so hoffte die Initiative,
könnte auch den persönlichen Kontakten einen angemessen neutralen
Rahmen geben.
2. Kampf um den Sozialraum
Von Anfang an forderte die Initiative einen Sozialraum, doch die Genehmigung durch die Regierung von Oberbayern (ROB) ließ auf sich warten.
Bevor der Sozialraum nach etwa einem Jahr tatsächlich eingerichtet wurde,
entspann sich ein langwieriges Ringen um die Genehmigung und Einrichtung dieses Raumes, mit dem die Initiative Einzug in die Flüchtlingsunterkunft hielt.
Das Thema Sozialraum kam gleich auf der ersten ordentlichen Sitzung der
Initiative zur Sprache. Auf dem nächsten Treffen, nur neun Tage später,
wurden erste konkrete Überlegungen angestellt, wie ein Sozialraum zu realisieren wäre, obwohl das Haus bis unter das Dach mit Flüchtlingen belegt
war:
183
„Die Gruppe hält es für äußerst dringend, einen Sozialraum
einzurichten. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder werden
1 - 2 Zimmer im Erdgeschoss nicht neu belegt, oder ein Teil
des Kellers (Gewölbe) wird für diesen Zweck instandgesetzt. Die Renovierung des Kellers soll nach Möglichkeit
die ROB leisten oder falls dies nicht möglich ist, sollte zusammen mit den Asylbewerbern und der Gruppe der Keller
hergerichtet werden. Es haben sich zur Verfügung gestellt:
[es folgt die Auflistung von 9 Personen, 5 Frauen, 4 Männer, St.D.]. Zu beiden Punkten soll ein Antrag an Herrn E.
[Regierung von Oberbayern, St.D.] gestellt werden“ (Protokoll 21.10.92).
Die Antwort der Regierung fiel beschwichtigend aus. Zwar signalisierte die
zuständige Stelle die Bereitschaft, der Initiative einen Raum zur Verfügung
zu stellen, die Vergabe des Raums wurde jedoch zunächst zurückgestellt.
Es müsse geprüft werden, ob die leerstehenden Kellerräume aus brandschutztechnischen Gründen für eine Nutzung freigegeben werden dürften,
andere Räume wären zur Zeit nicht zu haben und es wäre dringlicher, zunächst die Frage einer professionellen Sozialbetreuung zu klären, bevor
man weiter über einen Sozialraum rede.
Die Initiative begriff diese Antwort als deutliches Zeichen, sich für eine
sozialpädagogische Betreuung zu engagieren, um im Windschatten einer
solchen Stelle die Forderung nach einem Sozialraum durchsetzen zu können. Im Protokoll vom 10.12.92 steht deshalb die Forderung nach einer sozialpädagogischen Betreuung obenan, die gemeinsam mit der örtlichen
Pfarrei durchgesetzt werden sollte:
„Herr Stadtpfarrer Weininger und der AK [Arbeitskreis,
St.D.] haben diesbezüglich einen Antrag an die Caritas gerichtet. Zusätzlich soll versucht werden, die Vertreter der
Wohlfahrtsverbände, der Regierung von Oberbayern, der
Stadtverwaltung, des Staatsministeriums für Arbeit, Familie
und Sozialordnung und unserer Initiative für einen „Runden
184
Tisch“ zu gewinnen, um eventuell neue Wege zu finden für
eine solche Betreuung“ (Protokoll 10.12.92).
Die Hoffnungen, in absehbarer Zeit einen Sozialraum in der Unterkunft
einrichten zu können, erfuhren damit zunächst einen Dämpfer. Der Keller
schied als Sozialraum aus: notwendige Umbau- und Brandschutzmaßnahmen machten den Plan aus Kostengründen undurchführbar. Im Januar erfolgte zwar noch einmal eine Zusicherung der Regierung von Oberbayern,
der Initiative ein oder zwei Zimmer zu überlassen, „... sobald der Strom der
Flüchtlinge nachlässt“ (Protokoll 22.01.93), es schien jedoch, dass ein Sozialraum am ehesten über die Einrichtung einer sozialpädagogischen Beratungsstelle zu erreichen wäre. Vorbereitungen für die spätere Nutzung eines Sozialraums wurden dennoch getroffen. Eine im Dezember 1992
durchgeführte Spendenaktion brachte einiges ein: neben Kleidung, Fahrrädern und Spielzeug wurden auch andere Gerätschaften abgegeben. Das
meiste wurde direkt an die Flüchtlinge weitergegeben, aber:
„... die Schreibmaschinen und die Nähmaschine werden zurückbehalten und später, wenn der Sozialraum bewilligt ist,
der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt“ (Protokoll
22.01.93).
Auch der Kampf um eine sozialpädagogische Betreuung erlebte in den
Folgemonaten Höhen und Tiefen. Mitte Februar 1993 gab die Pfarrei bekannt, dass seitens der Kirche einer Genehmigung nichts im Wege stehe,
Bezahlung und Trägerschaft seien geregelt. Wegen des Platzmangels in der
Unterkunft sei die Tätigkeit der Sozialpädagogin in der Pfarrei in Betracht
zu ziehen. Doch niemand glaubte daran, dass dies ein längerfristiger Zustand sein würde. Der Sozialraum für Flüchtlinge rückte wieder in greifbare
Nähe. Doch gleich in der nächsten Woche folgte die Ernüchterung:
„Bezüglich der Sozialpädagogin können wir vor Herbst `93
lt. Herrn Lohner nichts erwarten. Es sei zwar geklärt, dass
seitens der Regierung 70% und seitens der Kirche die restli-
185
chen 30% der Bezahlung erfolgen, doch über alles weitere
würde noch debattiert“ (Protokoll 24.2.93).
Im Vergleich zu einer weiteren Initiative, die sich in München um Flüchtlinge kümmerte, stellt die Protokollantin Frau Astner etwas resigniert fest:
„Vor die existenziellen Probleme, mit denen wir in unserer
Unterkunft zu kämpfen haben, angefangen vom Brandschutz über Elektrik usw. bis zur Erlangung eines Sozialraums, war die Initiative am Westkreuz e.V. nie gestellt“
(Protokoll 24.2.93).
Auf der gleichen Sitzung wurden neue Vorschläge erwogen, wie ein Sozialraum für die Flüchtlinge doch noch in absehbarer Zeit realisiert werden
könnte. Den Zuschlag erhielt die Idee, den Raum vom Haus in den Hof zu
verlagern: „Ein Container als Sozialraum soll beantragt werden. Einstimmig wurde Fr. Teklas Idee aufgenommen und befürwortet“ (Protokoll
24.2.93).
Auch dieser Vorschlag der Initiative wurde von der ROB abgelehnt, da das
Hofgelände Eigentum der Bundesbahn war und jede bauliche Nutzung eines komplizierten Genehmigungsverfahrens bedurft hätte. Der schließlich
letzte Vorschlag der Initiative, sich statt um einen Container um einen von
den Stadtwerken ausrangierten Bus zu bemühen, der im Hof geparkt werden könnte, wurde nicht weiter verfolgt, denn in der Zwischenzeit (Anfang
Mai 1993) hatte eine Sozialpädagogin unter der Trägerschaft der Caritas
ihre Arbeit in der Unterkunft aufgenommen und damit wurde die Einrichtung eines Büros für die Sozialarbeiterin im Haus durch die ROB genehmigt. Außerhalb der Bürozeiten sollte dieser Raum auch der Initiative zur
Verfügung gestellt werden.
Die Räumung
Die Regierung von Oberbayern hatte im Mai 1993 einen Raum zwar genehmigt, dieser stand jedoch noch nicht zur Verfügung. Bevor Sozialpädagogin und Initiative einen Raum übernehmen konnten, musste dieser daher
geräumt werden. Die Verlegung der Bewohner provozierte einen Streit in186
nerhalb der Initiative, denn die Flüchtlinge, eine angolanische Familie mit
zwei kleinen Kindern weigerte sich, den Raum gegen einen kleineren einzutauschen. Auch die vier Bewohner des kleineren Raumes mussten erst
verlegt werden, was jedoch weniger Schwierigkeiten bereitete. Für die aus
Angola geflüchtete Familie da Selha war ein Wechsel mit Nachteilen verbunden: weil beide Kinder kränkelten, hatte die Verwalterin die Familie in
einen Raum einquartiert, der eigentlich für sechs Personen vorgesehen war.
Der Aufforderung, diesen Raum nun gegen den Vier-Personen-Raum abzugeben, der überdies zwei Stockwerke höher lag, widersetzte sich die Familie zunächst. Mehrere Aufforderungen zum Umzug ignorierte die Familie, ein Räumungstermin eskalierte:
„Da keiner der Räume am Morgen des 25. geräumt wurde,
rief Fr. Liebau [die Verwalterin der Unterkunft St.D.] die
Polizei, die nach dem zweiten Anruf erschien. Diese wurde
nicht tätig, da sie bei Umlegungen innerhalb des Hauses
keine Befugnis hat. Frau Liebau bat (...) um Unterstützung
durch Leute des AK. Das 4er-Zimmer wurde in Abwesenheit der Bewohner, die arbeiten, durch Fr. Liebau und den
Hausmeister geräumt, der Besitz der Bewohner in Müllsäcke verpackt und in das neue Zimmer (215) gebracht. Als
Fr. Liebau im Zimmer der Familie da Selha erschien, fand
sie dort eine Besucherin vor, der bei früherer Gelegenheit
Hausverbot erteilt worden war. Diese verwies sie resolut des
Hauses. In Gegenwart von Hr. Lohner (von der Initiative)
wurde Familie da Selha ultimativ und letztmalig zum friedlichen Umzug in das für sie geräumte Zimmer aufgefordert.
Frau da Selha reagierte sehr aufbrausend und war weder zur
Verständigung noch zum Umzug bereit. Weder Hr. Lohner
noch anwesende Mitglieder des AK konnten Frau da Selha
umstimmen – Räumung unterblieb“ (Protokoll 26.05.93).
Beim nächsten Treffen der Initiative entbrannte darüber eine heftige Diskussion: sollte in Kauf genommen werden, dass die Einrichtung eines Sozi187
alraums mit der Zwangsräumung des Zimmers einherging? Dies hätte einen
schlechten Einstand im Haus bedeutet. Einige Mitglieder der Initiative plädierten aus diesem Grund dafür, Familie da Selha das große Zimmer zu lassen und sich mit einem kleineren Raum zufrieden zu geben. Die Unterkunftsverwalterin hatte jedoch schon angekündigt, dass die Familie sich
den großen Raum künftig mit zwei weiteren Personen zu teilen hätte. Außerdem stünde als kleineres Zimmer für den Sozialraum lediglich ein ZweiPersonen-Zimmer zur Verfügung; die Vier-Personen-Zimmer müssten für
Familien vorgehalten werden. Ein Zwei-Personen-Zimmer wäre jedoch angesichts der geplanten Doppelnutzung durch Initiative und Caritas nicht
ausreichend. Wenn die Initiative sich jetzt mit einem kleinen Zimmer zufrieden geben würde, wäre jede spätere Forderung nach einem größeren
Raum aussichtslos. Die Caritas-Bezirksleiterin, die auf dem Treffen zugegen war, betonte, grundsätzlich könnte die Caritas von der Regierung von
Oberbayern jeden Raum in der Unterkunft anfordern. Sollte es jedoch allzu
große Schwierigkeiten bei der Bereitstellung des Raumes geben, dann
könnte die Sozialpädagogin auch von der Unterkunft abgezogen und in einem anderen Sammellager eingesetzt werden. Die Sprecherin der Initiative,
Frau Astner, die sich deutlich für einen großen Raum aussprach, unterstrich
diese Forderung mit der Erklärung, dass Flüchtlingen in einer Unterkunft
grundsätzlich nur das Recht auf ein Bett zustehe. Anrecht auf ein bestimmtes Zimmer oder auf Unterbringung einer Familie allein in einem Raum
bestünde nicht. Schließlich entschied eine Abstimmung über das Problem.
Die Mehrheit der Initiative stimmte für einen größeren Raum und nahm
damit dessen Räumung und die damit verbundenen Nachteile für die Familie da Selha billigend in Kauf.
Obwohl es schließlich gelang, Familie da Selha zum Umzug zu bewegen,
hinterließ dieser letzte Akt des Kampfes um einen Sozialraum nachhaltigen
Eindruck. Der Initiative war bewusst geworden, dass sie in dieser Diskussion die Ausrichtung und Bedeutung ihrer Arbeit bestimmt hatte. Durch die
Auseinandersetzung um den Sozialraum war die Initiative den Flüchtlingen
gegenüber eine neue Verbindlichkeit eingegangen, noch bevor eine tatsächliche Nutzung in Gang gekommen war. Sie hatte die Pläne, mit dem Sozial188
raum zum Nutzen aller Flüchtlinge präsent zu sein, über die Interessen einer einzelnen Flüchtlingsfamilie gestellt und stand nun in der Pflicht, diesen Anspruch auch einzulösen. Anhand des Konflikts, den die Frage der
Räumung des Zimmers in der Initiative auslöste, lassen sich Anspruch und
Verpflichtung der Initiative gegenüber den Flüchtlingen beleuchten. Die
Fraktion der Initiative, die sich für den Verbleib der Familie da Selha ausgesprochen hatte, hatte zu ihr auch den besten Kontakt, kannte ihre individuellen Sorgen und Nöte und wollte diese nicht vergrößern. Bei den übrigen Mitglieder der Gruppe überwogen Faktoren, die auf das allgemeine
Ziel eines Sozialraums gerichtet waren. Dieser war sowohl wichtig für die
Gruppe, die sich schließlich lange intensiv für einen solchen Sozialraum
eingesetzt hatte, als auch für das Allgemeinwohl der Unterkunftsbewohner,
die ja primär von einem Sozialraum profitieren sollten.
An dieser Auseinandersetzung zeigen sich erneut die verschiedenen Zugangsweisen und ihre Folgen: besonders die Abend-Gruppe, die Flüchtlinge in ihren Zimmern besuchte, hatte zu verschiedenen Flüchtlingen ein persönliches Verhältnis. Die Kontakte wurden hoch bewertet, es fand ein intensiverer Austausch statt als bei anderen Formen der Begegnung. Diese
Gruppe war denn auch diejenige, die sich besonders für die Rechte der Familie da Selha stark machte. Die Fraktion hingegen, die sich für den großen
Raum aussprach, wurde von der Sprecherin der Initiative angeführt, die
selbst kaum persönlichen Kontakt zu Flüchtlingen hatte. Das Eigeninteresse der Gruppe und die Verfolgung der allgemeinen Ziele der Initiative
standen deshalb deutlicher im Vordergrund. Die verschiedenen Zugangsweisen der Initiativenmitglieder zu Flüchtlingen, die persönliche Begegnung und Anteilnahme einerseits und der allgemeine, auf Haus und Bewohner zielende Ansatz standen sich in diesem Konflikt als zwei Gruppen
gegenüber: die einen stellten das Wohlbefinden und die Rechte einer Familie höher als den Anspruch der Gruppe auf einen Sozialraum „um jeden
Preis“, die anderen sahen den Sozialraum als Bedingung für ein effektives
betreuerisches Handeln, das der Gesamtheit der Bewohner zugute kommen
sollte. Einzelinteressen dem Wohl der Allgemeinheit entgegenzustellen,
erschien aus dieser Perspektive als ungerechtfertigte Bevorzugung einer
189
einzelnen Familie. Um das Argument der rechtmäßigen Ansprüche der angolanischen Familie zu entkräften, wurde sogar auf die staatlichen Unterbringungsvorschriften verwiesen, die Flüchtlingen nur das Anrecht auf ein
eigenes Bett einräumt. Dies steht im deutlichen Widerspruch zur in der
Gruppe häufig geäußerten Kritik an der Art und Weise der Unterbringung,
ist aber aus der Warte des Allgemeinen durchaus folgerichtig: schließlich
unterliegen die Flüchtlinge, was die Unterbringung betrifft, unterschiedslos
den staatlichen Regeln. Wo die Initiative mit einem ebenso allgemeinen
Anspruch antrat, liegt die Bezugnahme auf die Hausordnung und Unterbringungsvorschriften nahe. Auch ließ sich die Forderung der Initiative
nach einem Sozialraum nur mit Billigung und Unterstützung der staatlichen
Verwaltung durchsetzen. Obwohl sich zu dieser Zeit bereits ein Konflikt
zwischen Initiative und Hausverwalterin anbahnte88, war die Initiative hinsichtlich des Sozialraums auf die Verwaltung angewiesen und zur Kooperation gezwungen. Auch hier schien es plausibel, sich der Verwaltungsregeln
zu bedienen.
Das sozialpädagogische Büro
Die Einrichtung eines Büros für die sozialpädagogische Betreuung sollte
sich noch einen guten Monat bis Ende Juni 1993 hinziehen. Nachdem Familie da Selha das Zimmer schließlich geräumt hatte, wurde es gereinigt,
frisch gestrichen, ein Telefonanschluß und Möbel mussten installiert werden. Die Initiative hatte dadurch genügend Zeit, sich auf ihr künftiges Engagement im Inneren der Unterkunft vorzubereiten. Da die Regierung von
Oberbayern den Raum für die Sozialberatung der Caritas zur Verfügung
gestellt hatte, musste zunächst die gemeinsame Nutzung des Sozialraums
durch Caritas und Initiative festgeschrieben werden. Die Verhandlungen
hierzu liefen zwischen Frau Astner, der Sprecherin der Initiative, und der
zuständigen Caritas-Bezirksstelle. In dieser Nutzungsvereinbarung wurden
verschiedene Punkte festgeschrieben, welche die spätere Verwendung des
88
Vgl. zu diesem Konflikt auch Kap. 7.2.
190
Sozialraums entscheidend beeinflussten. Aus dem Protokoll des Arbeitskreistreffens vom 16.06.93:
„Regelung der Raumbelegung (Zimmer 14) + Schlüsselverteilung: Außerhalb der Bürozeiten kann der Raum generell
vom AK genutzt werden. Das Telefon kann angerufen werden – keine Selbstwahl möglich. Koordination der Belegung
über Fr. Astner [Sprecherin der Initiative], bzw. gruppeninterne Abstimmung. AK hat 2 Zimmerschlüssel erhalten. Die
Anfertigung von nötigen weiteren Schlüsseln veranlasst ausschließlich Fr. Astner. Vorab die rechtliche Seite der Angelegenheit: Der Raum ist von der ROB zur Nutzung für die
Caritas gestellt. Die CARITAS ist "Hausherr" des Zimmers,
das sie mit uns als (nutzungsrechtlich) gleichberechtigtem
Partner teilt. Gelagertes Material, ebenso Telefon und Mobiliar, das wir pfleglich benutzen dürfen, ist Eigentum der Caritas. Fr. Astner als Sprecherin der Gruppe trägt für uns die
volle Haftung gegenüber der Caritas. Der Raum darf nicht
an die Öffentlichkeit übergeben werden, d.h. Nutzung erfolgt nur durch Fr. Birn [die Caritas-Sozialpädagogin] bzw.
in Anwesenheit von Mitgliedern des AK. Für die restliche
Zeit muss das Zimmer abgeschlossen werden“ (Protokoll
16.06.93; Hervorhebung im Original).
Damit waren, nicht zuletzt auf Wunsch der Caritas, die Nutzungsbedingungen festgelegt. Die primäre Nutzung des Sozialraums als Büro für Sozialberatung bestimmte das Verhältnis nicht allein zwischen Caritas-Beratung
und Aktivitäten der Initiative, sondern auch die Möglichkeiten für Flüchtlinge, den Raum zu nutzen. Die Schlüsselgewalt lag ausschließlich in der
Hand von Caritas und Initiative. Von der Vorstellung eines offenen und
neutralen Raums, der gleichermaßen den Flüchtlingen wie der Initiative zur
Verfügung stehen würde, hatte man sich stillschweigend verabschiedet.
Zwar gab es noch einige Stimmen innerhalb der Initiative, die den Flüchtlingen die Gelegenheit einer Raumnutzung eröffnen wollten, die Vereinba191
rung mit der Caritas schloss diese Möglichkeit jedoch zunächst aus. Die
Flüchtlinge als Bewohner der Unterkunft wurden als Klientel definiert, die
das Beratungs- und Betreuungsangebot wahrnehmen konnten. Dies galt
nicht nur für die Caritas-Sozialbetreuung, sondern auch für die Initiative,
wie unschwer an den von der Gruppe geplanten Aktivitäten ablesbar ist, die
im gleichen Protokoll festgehalten wurden:
„Vorschläge für die Raumnutzung:
• Fr. Marei hält bereits ihren Deutschkurs dort ab.
• Fr. Jünger möchte mit ihrem [Deutsch-, St.D.] Kurs,
der derzeit noch im Pfarramt abgehalten wird, im
Herbst ebenfalls den Raum nutzen. Hr. Seidl schlägt
Gesprächsabende vor.
• Fr. Tekla würde sich für Informationsstunden mit
Aufklärung und Hilfestellung bei Formularen, Vollmachten, Anträgen usw. zur Verfügung stellen und
regt einen Nähkurs an, bei dem versucht werden
könnte, Juliana Guvec zu gewinnen, die eine Schneiderlehre begonnen hatte.
• Fr. Gustow würde sich für Unterricht eines Nähkurses
oder Nähkreises zur Verfügung stellen - Fr. Herterich
bietet hierfür Nähmaterial an - eine Nähmaschine besitzt der AK bereits (steht noch im AXE) 2 weitere
Maschinen bieten Fr. Jünger und Fr. Astner an. Frau
Bauer von AI hält den Nähkurs/-kreis für sehr wichtig
und berichtet aus ihrer Erfahrung, dass diese Kreise
von fast allen Frauen angenommen werden. Selbst
strenge Moslem-Ehemänner erheben hier keine Einwände, so dass auch diese Frauen damit erreicht und
in die Betreuung eingebunden werden können.
• Frl. Schuler, die durch Ihr Studium zeitlich eingeengt
ist, stünde für Hausaufgabenbetreuung (statt Deutschkurs) zur Verfügung.
• 1 x wöchentlich Veranstaltung für Kinder durch das
Jugendzentrum AXE. Das AXE ist zwar im Haus bekannt, aber es kommen nur sehr wenige dorthin.
192
Hierbei ist lt. Fr. Dietel eine Trennung nach Altersgruppen erforderlich, um die Arbeit effektiv zu gestalten, auch der Personalaufwand für kontinuierliche
Arbeit ist hoch.
• Fr. Bauer - AI - bietet, nach Terminabsprache, eine
Sprechstunde im Haus an - vorläufig einmalig gedacht - Wiederholung angestrebt. Ob wir als AK Informationsabende (evtl. unter Hinzuziehung eines
Rechtsanwaltes oder anderer autorisierter Personen)
veranstalten dürfen, muss erst noch geklärt werden.
Vorläufig empfiehlt es sich, Ratsuchende zum
Rechtshilfefonds für Ausländer zu schicken. Dienstags ab 18.00 Uhr im 3.Welt Cafe ...“
(Protokoll 16.06.93).
An der Menge und Vielfalt der Angebote ist die Euphorie abzulesen, mit
welcher der Sozialraum von der Initiative begrüßt wurde. Neben bestehenden Angeboten (zwei Deutschkursen, die aus der Pfarrei in den Sozialraum
verlegt wurden) sollten viele regelmäßige Aktivitäten im Sozialraum stattfinden. Insbesondere ging mit der Nutzung des Sozialraums eine Systematisierung des Beratungsangebots einher: Die Hilfe beim Übersetzen, Erläutern und Verfassen von Schriftstücken, die vor der Einrichtung des Sozialraums in Einzelfällen und ad hoc auf dem Flur stattfanden, sollte nun in ein
reguläres Angebot umgewandelt werden. Ähnliches gilt für die Beratungen,
die in rudimentärer Weise zum Asylverfahren oder anderen rechtlichadministrativen Angelegenheiten erteilt wurden. Der Sozialraum bot die
Möglichkeit, Beratungen nach dem Zufallsprinzip in ein festes Modell zu
überführen, nach dem Flüchtlinge auf definierte Beratungsleistungen
zugreifen konnten, die zu einer bestimmten Uhrzeit im Sozialraum angeboten wurden. Die ungeregelten und provisorischen Kontakte, die auf persönlichen Bekanntschaften und fast zufälligen Begegnungen beruhten, sollten
sich in ein strukturiertes Verfahren umwandeln, das allen Bewohnern der
Unterkunft gleichermaßen zugänglich war, an einem bestimmten Ort und
zu geregelten Zeiten.
193
Mit dem Sozialraum wurde ein Zustand behoben, der in erster Linie seitens
der Initiative als störend empfunden wurde: vorher hatten sich die Mitglieder der Initiative immer nur als Gäste, als von den Flüchtlingen und der
Hausverwaltung geduldete Besucher im Haus aufhalten können. Mit der
Einrichtung des Sozialraums hatte sich nun die Initiative das Recht eines
weitgehend unabhängigen Aufenthalts in der Unterkunft erkämpft. Der Legitimierungsdruck, unter dem die Anwesenheit von Initiativenmitgliedern
zu Anfang stand, wurde durch die Inbesitznahme des Sozialraums deutlich
vermindert. Die Initiative war nicht mehr auf die Zwischenräume angewiesen, auf Beratungen im zugigen Hausflur oder in den privaten Zimmern der
Flüchtlinge, sondern sie hatte nun ihren eigenen Raum in der Flüchtlingsunterkunft. Rückblickend urteilte die Sprecherin der Initiative:
„Wenn da auch ein Raum da gewesen wäre, dann hätten die
ganzen Bewohner auch zu uns direkt gehen können, und
dann hätten wir das vom Austausch her da anders abfangen
können als wenn du dann immer so im Flur rumstehst oder
gehst zu den Leuten rein – also das ist nicht das Gleiche.
Weil die Frau Liebau [die Verwalterin, St.D.] ja doch alles
mitkriegt“ (Frau Astner).
Der Sozialraum verlieh der Anwesenheit der Initiative in der Unterkunft
die nötige Legitimität, zudem bot er die Möglichkeit von Kontakten zu
Flüchtlingen, die der direkten Kontrolle der Unterkunftsverwaltung entzogen waren. An obigem Zitat wird jedoch auch deutlich, dass sich der Sozialraum ganz prinzipiell auf das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Initiative auswirkte: Waren es vorher die Mitglieder der Initiative gewesen, die
auf die Flüchtlinge zugingen, so wurde mit der Einrichtung des Sozialraums und den damit verbundenen Angeboten die Erwartung einer Umkehrung des Verhältnisses verknüpft: nicht mehr die Initiative begibt sich zu
den Flüchtlingen, sondern nun sind es die Flüchtlinge, die umgekehrt die
Initiative aufsuchen. Das ambulante verwandelt sich in ein stationäres
Hilfsangebot. Mit dem Bezug des Sozialraums wollte die Initiative ihre
Präsenz in der Unterkunft, die vorher vor allem durch feste Besuchszeiten
194
geregelt war, auch räumlich institutionalisieren. Dies manifestierte sich zunächst darin, dass das erste Treffen der Initiative nach der Einrichtung des
Sozialraums auch in diesem Raum in der Unterkunft abgehalten wurde.
Damit wurde der Raum auch symbolisch für die Initiative in Besitz genommen.89 Als schließlich einige Monate später das Caritas-Büro in einen
freiwerdenden, nun ausschließlich der Caritas zur Verfügung stehenden
Raum umgesiedelt wurde, und die Nutzung des Sozialraums der Initiative
übertragen wurde, wurden die Angebote der Initiative in die Tat umgesetzt.
Raum für Angebote
Als eines der ersten Angebote der Initiative hatten schon mehrere Deutschkurse stattgefunden. Sie zogen als erstes aus den Räumlichkeiten der Kirchengemeinde in den Sozialraum der Unterkunft. Dadurch erhoffte sich die
Initiative mehr Zulauf für die Kurse. Die Flüchtlinge mussten nicht mehr in
die Räume der Kirche gehen, was in den Augen der Initiative für Muslime
ein mögliches Hindernis darstellte. Nun mussten sie nicht einmal das Haus
verlassen, ein Umstand, der möglicherweise der Rolle der Frau in manchen
Herkunftsgesellschaften der Flüchtlinge entgegenkam. Auch die anderen
Angebote wurden mit Elan und großem Arbeitsaufwand angegangen. Wenig später kam es innerhalb der Initiative aber auch zu einer Auseinandersetzung darüber, wie den Flüchtlingen eine bessere Nutzung des Raumes zu
erschließen sei.
Bei aller Freude über den Sozialraum wurde nämlich evident, dass die Initiative diesen Raum schon mit ihren Vorstellungen und Wünschen ‚vollgeräumt’ hatte - nicht nur im ideellen Sinne. Lange vor der Genehmigung eines Sozialraums waren Materialien gesammelt und in verschiedenen privaten Abstellräumen gelagert worden, die dann den Sozialraum auch tatsächlich anfüllten. Eine Nähmaschine und ein Schrank mit Stoffen, Kisten und
Kartons mit Kinderspielzeug, eine Kaffeemaschine mit dem notwendigen
Zubehör, zwei alte Sofas, eine Schultafel, ein abgetakelter Computer, eine
89
Später wurden die Treffen wieder in die Räumlichkeiten des Pfarramtes verlagert; vor
allem aus Gründen der Bequemlichkeit, aber auch, um die katholische Kirche weiter
einzubinden.
195
halbe Regalwand Bücher, vor allem Kinderbücher, dazu ein großer Tisch
und ein knappes Dutzend Stühle bildeten das Inventar des Sozialraums,
weiteres wurde durch Spenden aus der Nachbarschaft angehäuft. All das
war von der Gruppe herangeschafft, aufgestellt, einsortiert worden – die
Gruppe nahm auch auf diese Weise den Raum in Besitz. Für die Flüchtlinge blieb da vorerst kein Platz.
Insbesondere die Abend-Gruppe rief in Erinnerung, dass die Idee eines Sozialraums ja eingangs vorgesehen hatte, den Flüchtlingen den freien Zugang zum Raum zu ermöglichen, und plädierte für eine Öffnung des Raumes. Wenigstens zeitweilig sollte der Raum Flüchtlingen zur Verfügung
stehen. Gegenstimmen wandten ein, dass dies nicht möglich sei, wenn man
zugleich den Raum für Angebote nutzen wolle. Es wurde eingeräumt, dass
der Raum trotz der verschiedenen Angebote der Initiative die meiste Zeit
verschlossen wäre und damit für die Flüchtlinge nutzlos sei. Andererseits
wäre der Raum aber eingerichtet, so dass er nicht unbeaufsichtigt bleiben
könnte. Würde der Raum offen zugänglich sein, dann würde zum Einen die
Ordnung nicht aufrecht erhalten werden können, zum Anderen würde sich
jeder aneignen, was er grade brauchen könne, das sorgsam angesammelte
Material würde in kürzester Zeit verschwunden, unbrauchbar oder zerstört
sein. Das folgende Zitat bezieht sich zwar auf die Flüchtlingskinder, illustriert jedoch deutlich die Befürchtungen, welche die Initiative gegenüber
den Flüchtlingen generell äußerte:
„Es wurde dann mehr oder minder das Spielzimmer für die
Kinder, wo man dann auch drauf kam, na ja, allein lassen
darf man sie eigentlich auch nicht da drin, ja, und sofern also unser Spielzeug halbwegs für alle erhalten bleiben sollte,
mussten ja schon halbwegs Leibesvisitationen durchgeführt
werden, wenn die wieder gingen. Ich meine, für die Kinder
glaube ich war der schönste Tag der, an dem sie das Zimmer
stürmen und alles mitnehmen durften“ (Frau Wiesner).
Weiter wurde die Befürchtung geäußert, dass sich einzelne Flüchtlinge oder Bewohnergruppen im Raum breit machen würden. Ein offener Raum
196
würde damit auch nicht für alle, sondern nur für einige zugänglich sein. Die
Initiative müsse wissen, wer den Raum nutzt, und hätte ja dafür die Verantwortung zu tragen. Eine auch zeitweilige Öffnung des Raumes wurde
damit am Ende abgelehnt. Die Gruppe kam lediglich darin überein, einigen
ausgewählten Flüchtlingen, die das Vertrauen mehrerer Initiativenmitglieder besaßen, den Raum gelegentlich zum Deutsch lernen zu überlassen.
Hintergrund dieser Auseinandersetzung bildete auch die Erfahrung der Initiative, dass die angebotenen Beratungs- und Beschäftigungsprogramme
von den Flüchtlingen nach anfänglicher Neugier kaum wahrgenommen
wurden. Die Hoffnung der Initiative, durch Verlagerung der Angebote in
den Sozialraum die Akzeptanz oder Beteiligung der Flüchtlinge zu erhöhen, wurde enttäuscht, zum Beispiel bei den Deutschkursen. Nachdem es
den einen oder anderen erfolgreichen Kurs gegeben hatte, dümpelten mehrere Kurse mangels kontinuierlicher Teilnahme der Flüchtlinge dahin, bis
sie schließlich eingestellt wurden90.
„Und des war ja auch die Idee mit den Sprachkursen. Gut,
des war ja überwiegend gedacht für die Frauen, die des
Haus aufgrund der Kinder jetzt nicht verlassen konnten oder
... Erster Versuch war ja im Pfarrheim drüben, wo dann, ich
glaube, eine einzige kam. Wo sich des schlichtweg erledigt
hat, weil man festgestellt hat, gut, man kriegt die Frauen
nicht aus dem Haus, nicht mal, wenn man dort die Kinderbetreuung sicherstellt. Also, derselbe Versuch im Haus ist
genauso baden gegangen. Gut, teilweise vielleicht auch am
Widerstand der Ehemänner, die das einfach nicht gewollt
haben: meine Frau hat zuhause zu sein. Das haben ein paar
geäußert, ne, das wollen sie nicht. Und, ja gut, insofern sind
also all diese wunderschön gedachten Projekte dann gescheitert, mehr oder minder“ (Frau Wiesner).
90
Später wurden die Kurse wieder aufgenommen. Ihre Durchführung übernahmen jedoch Mitglieder des Vereins „Deutsch für Flüchtlinge“.
197
Gescheitert waren auch das Angebot einer Jobbörse, einer abendlichen
Teestube mit Beratung, oder eines Nähkurses. Die Reaktion der Flüchtlinge
war, summarisch gesagt, eine einzige Enttäuschung für die Nachbarschaftsgruppe. Obwohl die verschiedenen Angebote im Haus ausgehängt
und angekündigt worden waren, blieb die Resonanz weit hinter den Erwartungen zurück. Zur Teestube, die von der Abend-Gruppe angeboten wurde
und eine offene Begegnungsmöglichkeit mit Beratung bieten sollte, kamen
nur die Flüchtlinge, zu denen auch zuvor sehr guter Kontakt bestand, und
selbst die kamen nur gelegentlich. Ebenso betrüblich waren die Resultate
der Jobbörse oder der Nähstunde. Die Jobbörse lief nur dann, wenn die
Frau aus der Initiative es übernahm, alle notwendigen Tätigkeiten selbst
durchzuführen: passende Inserate aus der Zeitung suchen, anrufen, potentielle Arbeitgeber über die speziellen Arbeitsbedingungen von Flüchtlingen
aufklären etc:
„Gerda und ich, wir haben das ja immer Freitagabend gemacht, ne. Dass wir dann immer die Abendzeitung gekauft
haben und da haben wir reingeguckt wegen Stellen und Arbeit und so. Wenn wir das aber nicht alles gemacht haben,
also die Zeitung mitgebracht, durchgeguckt, angestrichen,
angerufen, möglichst noch mit hingegangen, dann ist auch
nie was passiert“ (Frau Buschmeier).
Auch zur Nähstunde erschienen nur wenige Flüchtlingsfrauen, und hier
scheiterte das Angebot zudem an deutlichen Differenzen über den Zweck
der Nähstunde:
„Es wurde also Stoff und Garn und es wurde alles hergekarrt, sogar die Nähmaschine, aber das endete darin, dass
die Damen kamen mit den Kindern, Maß nehmen und anfertigen ließen. Und des war ja eigentlich so gedacht, dass sie
selbst etwas tun sollten, ja. Aber das wurde also nicht angenommen, und irgendwann war dann auch die nähwilligste
unserer Damen soweit, dass sie gesagt hat, wisst ihr was?
Ich mach hier nicht den Kinderausstatter, oder, ja? Die
198
Maßschneiderei für euch: also wenn ihr selber nichts tut,
dann vergessen wir’s“ (Frau Wiesner).
Im Laufe des nächsten halben Jahres wurden die Angebote nach und nach
wieder eingestellt. Auch der Versuch, einigen Flüchtlingen den Raum zum
Lernen zu überlassen, wurde nach einigen Anläufen wieder fallengelassen.
Es fanden sich kaum interessierte Bewohner, und der Organisationsaufwand war außerordentlich groß, da den Flüchtlingen kein eigener Schlüssel
ausgehändigt werden durfte. Nur die Hausaufgabenhilfen und ein Spielnachmittag für Kinder im Sozialraum fanden regen Zuspruch.
Erklärungen des Scheiterns
Die Mitglieder der Initiative führten selbst eine ganze Reihe von Gründen
an, aus denen in ihren Augen die Angebote von den Flüchtlingen nicht oder
nicht wie erwartet wahrgenommen wurden. Frau Tekla, die den Flüchtlingen Hilfestellung beim Ausfüllen von Formularen und Beantworten von
Briefen angeboten hatte, führte die mangelnde Inanspruchnahme darauf
zurück, dass diese Hilfe nicht gebraucht wurde:
„Da hat ma dies oder jenes rauskriegt, ned, und dann die Erfahrung gemacht, ned, also in dem Moment, wo man zuviel
Hilfe investiert, wer’n die andern faul! Und dann kommt
diese Ausnutzphase, ned. Wo du dich wieder zurückziehen
musst, damit sie überhaupt von sich aus wieder was tun und
nicht alles abwälzen auf die sogenannten Hilfegeber. Ja und
dann eben einfach erlebt, dass Angebote, ich hab ja das
Schreibbüro vorne aufgemacht, ned, und ich hab mich jeden
Donnerstag reingesetzt zwoa Stunden und gekommen ist
keiner! Ned. Also es wurde nicht gebraucht, offensichtlich
ned“ (Frau Tekla).
Während am Anfang die Erfahrung steht, dass die Flüchtlinge sich bisweilen zu sehr auf die Hilfsangebote stützten, ist die Erfahrung mit dem Angebot im Sozialraum, dass die Flüchtlinge keinen Gebrauch mehr vom Angebot machen. Die Form des Angebots wird dabei nicht einbezogen, nur im199
plizit klingt in der Aussage ein Vermittlungsproblem durch. Stattdessen
eröffnet die Erklärung einen chronologischen Zusammenhang. Noch deutlicher wird dies in den Aussagen anderer Initiativenmitglieder. In den Interviews, in denen sie rückblickend die Aktivitäten um den Sozialraum resümieren, dominiert die Einschätzung, dass der Sozialraum zu spät kam:
„Dass kein Raum da war, da ist auch viel Energie verpufft,
weil es auch ... Wenn man andere Initiativen betrachtet:
wenn man aus dem Einzugsbereich, aus der Unterkunft weg
muss, dann wird’s schwierig“ (Frau Astner).
„Ich meine der Grundgedanke an der Geschichte war ja eigentlich mal, den Leuten die Angst vor uns zu nehmen und
irgendwo so eine Art neutralen Raum zu schaffen. Aber bis
dieser neutrale Raum zustande kam, hatten wir uns als Arbeitskreis in der Form eigentlich überlebt. Die Leute hatten
sich selber schon irgendwo durchgewurschtelt oder etabliert, gut, man hat uns zwar teilweise mehr, teilweise weniger gern gesehen, aber der eigentliche Zweck, den dieser
Sozialraum mal erfüllen sollte, der war ja nicht mehr da“
(Frau Wiesner).
In diesen beiden Aussagen bestimmen chronologische Aspekte die Interpretation: Im ersten Zitat wird der Energieverlust hervorgehoben, den die
Initiative durch das lange Ringen um den Sozialraum erlitten hat. Zu lange
hatte die Initiative improvisieren müssen; als der Sozialraum dann endlich
eingerichtet war, fehlte die Kraft, diesen auch richtig zu nutzen. Die zweite
Aussage legt das Gewicht auf die Selbstorganisation der Flüchtlinge: die
Angebote kamen zu spät, inzwischen waren die Flüchtlinge in ethnische
Netzwerke eingebunden, die den Beratungsbedarf deckten. Zu spät also für
den Sozialraum? Fehlende Energie bei der Initiative, mangelnder Bedarf
bei den Flüchtlingen?
200
Institutionalisierung
Die Begründung, der Sozialraum für die Flüchtlinge sei zu spät gekommen,
macht vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung der Initiative und
ihres Engagements einen Sinn. Die Erfahrungen mit dem Sozialraum setzten erst ein knappes Jahr nach der Gründung der Initiative ein. Im Verlauf
dieses Jahres hatte sich die Initiative deutlich verändert: von einer bunten
Schar von Aktiven und Unterstützern war eine kleinere Gruppe Aktiver
übrig geblieben, der obendrein die Grenzen ihrer Möglichkeiten, die
Flüchtlinge tatsächlich zu unterstützen, immer deutlicher bewusst geworden waren:
„Zunächst hatte die Gruppe ja ziemlich viele Leute angezogen und es war im wahrsten Sinne des Wortes eine sehr
bunte Mischung mit sehr viel realistischen Leuten, mit einigen Spinnern und Träumern, mit einigen, die ich also in
meinem höchst persönlichen Gebrauch als Sozialidioten bezeichnet habe. Die zwar mit Sicherheit voll des guten Willens und des Glaubens an die Gerechtigkeit waren, die nur
jenseits von Gut und Böse waren, insofern, als sie weder auf
Recht noch Gesetz noch sonst was geachtet haben, sondern,
dass das also für die eine rein emotionale Sache war, wo
dann eben auch verschiedener Blödsinn auf gut Deutsch
rauskam. Ja gut, und dann gibt’s also auch absolute Realisten, da zähle auch ich mich irgendwo dazu, die sagen, okay,
das ist Ist-Zustand, ja? Es wäre schön wenn, aber das und
das und das ist gegeben, und irgendwo innerhalb dieser
Bandbreite ist was möglich, und vielleicht können wir das
noch ein bisschen ausdehnen. Und, gut, insofern fand ich
die Gruppe auch ganz schön interessant, als Objekt an sich,
um das mal so zu sagen“ (Frau Wiesner).
Die anfangs oft spontanen Aktivitäten waren regelmäßigen Besuchen im
Haus gewichen. Diese Besuche waren zum Teil schon mit konkreten Angeboten an die Flüchtlinge verbunden, die Interessen und Möglichkeiten
201
der Mitglieder der Initiative wurden mit Erfahrungen mit Flüchtlingen verknüpft und strukturierten diese Angebote. Die kleiner werdende Gruppe
stand unter dem Druck, ein zum Teil sehr zeit- und arbeitsintensives Angebot an die Flüchtlinge mit wenigen Mitteln zu organisieren. Mit dem
Kampf um den Sozialraum verband sich für die Initiative eine Phase der
zunehmenden Institutionalisierung, die sich in einer ökonomischeren und
systematischeren Ordnung der Besuche im Haus, des Informationsaustausches untereinander und der internen Rollenverteilung niederschlug. Der
Umschwung von einer im Fachjargon „aufsuchend“ genannten Betreuungsarbeit zur angebotsorientierten Präsenz im Sozialraum ist als markanter Abschnitt in dieser Entwicklung zu sehen.
Während der Sozialraum der Initiative entgegenkam, gingen nicht nur die
Angebote, sondern auch der Raum und seine Einrichtung an den Interessen
der Flüchtlinge vorbei:
„Aber, dass man gesagt hat: gut, jetzt wirklich in Form einer
Zusammenkunft, wo man mal alle erreicht hätte .... Das war
Illusion, das kam auch nie zustande, ja? Vor allen Dingen
nicht mit diesem Raum, ja?“ (Frau Wiesner).
Auch externe Faktoren spielten eine Rolle. So hatte zur Zeit des sogenannten „Asylkompromisses“ im Winter 1992/93 die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Thema Flüchtlinge ihren Zenit erreicht. Schon im Sommer
1993 war die Erregung und das Medieninteresse abgeklungen, die Unterbringung von Flüchtlingen wurde weniger stark skandalisiert, auch im
Stadtviertel gab es Signale, dass die Anwesenheit der Flüchtlinge weitgehend akzeptiert wurde. Damit war die Angst, dass es zu Übergriffen aus der
Viertelbevölkerung auf die Flüchtlinge kommen könnte, in den Hintergrund gerückt. Zugleich hatten sich die Flüchtlinge eingelebt. Trotz einer
gewissen Fluktuation unter den Bewohnern war auch für viele Flüchtlinge
das Wohnen in der Unterkunft zur Normalität geworden. Damit veränderte
sich die Arbeitssituation der Initiative. Die Dramatik eines BeinaheAusnahmezustandes war dem Alltag gewichen, die Initiative stellte sich
vom akuten Krisenmanagement auf ein längerfristiges Engagement um.
202
Deshalb ging es nicht mehr darum, mit dem Sozialraum „den Leuten die
Angst vor uns zu nehmen“, wie Frau Wiesner sagt. Der Kontakt zu den
Flüchtlingen war unspektakulär, die Angst der Flüchtlinge vor ‚den Deutschen’ war im persönlichen Kontakt ebenso abgeklungen wie die Angst der
Deutschen vor ‚den Flüchtlingen’. Die veränderte Situation erforderte andere Maßnahmen, auch wenn das erklärte Ziel der Initiative, das ‚Miteinander Leben’ zu fördern, das gleiche geblieben war.
Das Interesse der Initiative, den Flüchtlingen das Einleben in der Bundesrepublik zu erleichtern, geschah nach dem Muster „Hilfe zur Selbsthilfe“:
Die Angebote der Initiative liefen darauf hinaus, Flüchtlinge zu eigenen
Aktivitäten zu ermuntern und sie darin zu unterstützen. Wenigstens zwei
Angebote, die Nähstunde und die Jobbörse scheiterten vor allem daran,
dass die Flüchtlinge auf dieses Angebot nicht adäquat reagierten: sie nahmen das Angebot als Offerte der Initiative, ihnen eine Arbeit zu suchen
bzw. Kleider zu schneidern. Dies lag wiederum nicht im Interesse der Initiative. Für die Flüchtlinge sollte keine praktische Arbeit geleistet werden,
sondern sie sollten dazu befähigt werden, diese Arbeit selbst zu übernehmen. Seitens der Initiative wurde die Reaktion der Flüchtlinge auf das Angebot schnell als Ausnutzung erfahren, in jedem Fall als eine inadäquate
Reaktionsweise. Dabei unterließ es die Initiative jedoch, die Flüchtlinge
nach ihren Interessen zu fragen, sich also an der Nachfrage zu orientieren.
Stattdessen formulierte die Initiative selbst „sinnvolle“ Ziele: Deutsch lernen, Arbeit suchen, über Nähkurse die Sozialkontakte zu pflegen oder lernen, Formulare von Behörden auszufüllen. Auch wenn die Nützlichkeit
dieser Angebote kaum zu bezweifeln ist: Einschätzungen der Initiativenmitglieder über den Bedarf der Flüchtlinge, aber auch die eigenen Interessen und Möglichkeiten der Initiativenmitglieder bestimmten das Angebot
im Sozialraum. Dies wird deutlich in der Aussage von Frau Buschmeier,
die ihr eigenes Engagement und das der Gruppe kritisch reflektiert, nachdem sie wegen ihres Umzugs in ein anderes Viertel die Gruppe verlassen
hatte:
203
„Und das war halt auch viel zu einseitig, dass wir ihnen da
irgendwas angeboten haben. Wir haben halt nie irgendwas
gemacht, was von den Leuten ausgegangen wäre. Wir haben
ja auch nie die Leute gefragt, was sie gerne machen würden.
Also ich hab nie jemand gefragt, ‚was willst du gerne machen, am Wochenende?’ Das hat wahrscheinlich bis heut
noch nie jemand gemacht, oder? (...) Ich glaube, viele Asylanten kommen einfach uns zuliebe. Auch mit dem Nähen.
Da kamen dann die Guvecs. Tut man halt mal reinschauen.
So quasi: wenn die netten Damen das schon machen, dann
gehen wir jetzt mal hin und sagen guten Tag und dann gehen wir wieder. So ist es .... – St.D.: Und woran lag das deiner Ansicht nach, dass man nie gefragt hat, was wollt ihr
machen, was interessiert euch? – Frau Buschmeier: Ja, weil
man ja schon so durchblicken lässt, dass man weiß, was die
Leute brauchen. Also die Leute, ich hab nie gefragt, weil ich
immer dachte, ich wüsste, was die Leute brauchen und weil
ich eigentlich gar nicht machen wollte, was die Leute wollen, sondern was ich gerne machen will! (lacht) Also wenn
ich gerne häkle, dann denke ich, dann wollen die das auch
machen, verstehst du? Nur weil ich gerne koche, da mach
ich dann halt`ne Kochgruppe oder Gymnastik für Frauen,
oder irgend so was ... Das ist bei mir der Ausgangspunkt
gewesen und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass jemand vielleicht ... Mei, jemand, der in einer Notsituation ist,
ist ja froh, wenn man ihm was vorschlägt, ne? Also der freut
sich quasi, wenn ich komme und sag, so, wir häkeln jetzt
hier samstags eine Stunde. Und dann hab ich mir immer gedacht, das müssen alle toll finden. Und ich weiß nicht was
ich gemacht hätte, wenn mal dann einer gekommen wäre
und hätte gesagt, so ich will jetzt ich weiß nicht was machen. Hat auch nie jemand ... Dann hätte ich wahrscheinlich
204
noch gesagt, ja so was! Jetzt bietet man hier schon was, und
dann wollen die was anderes machen. Ich weiß nicht was
das ist, so ne Arroganz, einfach zu wissen, was für die Leute
gut ist, und was auch interessant ist. Wie des mit dem
Sprachkurs. Dass ich denke, ich geh da von mir aus: das ist
für jeden wichtig Deutsch zu können. Und das interessiert
auch jeden. Bis ich gemerkt hab, das interessiert so und so
viele Leute überhaupt nicht! Und wen es wirklich interessiert, der findet seine Möglichkeit“ (Frau Buschmeier).
Die Haltung von Frau Buschmeier, die ironisch auf Distanz zu ihrer anfänglichen Naivität geht, war in der Initiative allerdings nicht Konsens.
Wie die weiter vorn angeführten Zitate verdeutlichen, zog die Mehrheit der
Initiative andere Gründe für das Scheitern der Angebote heran. Diese liefen
darauf hinaus, dass der Sozialraum zu spät kam und die Flüchtlinge sich
schon „selbst durchgewurstelt“ hätten. Tatsächlich jedoch scheinen die limitierten Möglichkeiten der Initiative und die auf sinnvolle Integrationsangebote festgelegten Ziele die Ursachen dafür zu sein, dass die Interessen
der Flüchtlinge bei den Kontakten und Angeboten der Initiative nur eine
untergeordnete Rolle gespielt haben. Etwas ratlos kommentiert Frau Astner
den enttäuschenden Verlauf der Entwicklung:
„Wir hatten ja auch zum Teil das Glück, dass die Leute länger geblieben sind. Und damit werden diese Anfangsschwierigkeiten weniger, wo sie dann ja auch Kontakte zu
uns hatten, wo viele Dinge auf dem Gang so abgewickelt
wurden, gell? Du richtest dich natürlich dann auch ein und
arrangierst dich. Und es kann auch sein, dass bestimmte
Angebote einfach nicht auf die Leute in dem Sinn zugeschnitten waren. Wo man sich denkt, das wär es vielleicht
und da ist Bedarf und dann ist es doch nicht“ (Frau Astner).
Die Angebote, so stellt es sich rückblickend dar, waren dem üblichen
Strauß migrationspädagogischer Maßnahmen entlehnt und spiegelten darüber hinaus wider, welche Fähigkeiten, Interessen und Schwerpunkte die
205
anbietenden Initiativenmitglieder in ihre Arbeit einbrachten. Allesamt waren die Angebote ‚sinnvoll’ in dem Sinne, dass sie Hilfeleistungen für die
Bewohner darstellten, sich besser in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. D.h., der Sinn der Angebote wurde nicht von den Interessen der
Flüchtlinge, sondern ganz wesentlich von den vorherrschenden Auffassungen der Aufnahmegesellschaft bezüglich Integration und ihrer Förderung
bestimmt. Die Flüchtlinge haben auf diese Angebote kaum Einfluss. Von
ihnen wird stattdessen erwartet, dass sie in adäquater Weise an den Angeboten teilnehmen. Das Curriculum der Integration ist festgeschrieben.
Die Feste als Gegenprobe
Das Argument, der Sozialraum sei zu spät eingerichtet worden, hält nicht
stand, betrachtet man die spätere Arbeit der sozialpädagogischen Beratungsstelle im Haus. Die Beratungsstelle der Caritas, die etwa ein Jahr lang
unter wechselnder Besetzung kaum effektive Arbeit geleistet hatte, wurde
lebhaft frequentiert, als Frau Kersten, eine Sozialpädagogin aus der Initiative schließlich Mitte 1994 die Stelle übernommen hatte. Der Beratungs- und
Informationsbedarf der Flüchtlinge war also auch ein Jahr später unvermindert hoch. Doch auch eine bisher hier nicht erwähnte Form der Nutzung
entkräftet die Aussage, der Sozialraum sei zu spät gekommen: die Partys
und kleinen Feste, die von der Initiative dort mit Flüchtlingen gefeiert wurden. Noch im Winter 1992 wurde im Jugendzentrum AXE, das sich anfangs noch im Rahmen der Initiative um die Unterkunft, später vermehrt
um jugendliche Flüchtlinge kümmerte, ein Fest für Flüchtlinge gefeiert.
Das Fest war für die Initiative ein großer Erfolg. Auch wenn nur wenige
Flüchtlinge daran teilnahmen, die Stimmung war gut, viele Nachbarn hatten das Fest besucht und auch für die Arbeit der Initiative gespendet. Im
Sommer 1993 wie auch in den darauf folgenden Sommern wurden von der
Initiative im Hof der Unterkunft Sommerfeste veranstaltet. Eingeladen waren vor allem die Flüchtlinge, aber auch die Nachbarn und Viertelbewohner. Während beim Fest im Jugendzentrum weit mehr Anwohner als
Flüchtlinge erschienen, war es bei den sogenannten „Hoffesten“ umge-
206
kehrt.91 Bei allen Festen waren die Flüchtlinge eingeladen worden, sich mit
Speisen und Musik an den Vorbereitungen zu beteiligen, was besonders bei
den Hoffesten von vielen auch freudig aufgenommen wurde. Flüchtlinge
wurden so in die Gestaltung der Feste mit einbezogen.
Die Feste, die im Sozialraum veranstaltet wurden, erfüllten hingegen nicht
die Hoffnung, dass auch hier Flüchtlinge verschiedener Herkunft zusammen kommen würden. Tatsächlich waren die Feste, die von der Initiative
dort veranstaltet wurden, entweder von Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien
besucht, oder es fanden sich Afrikaner, unter ihnen vor allem Togoer ein.
Je nachdem, zu welcher Uhrzeit die Feste begannen, kamen obendrein eher
die Kinder mit ihren Müttern oder die Männer. Dennoch waren die Feste in
den Augen der Flüchtlinge und der Mitglieder der Initiative nicht ohne Erfolg, es gab Musik und Limonade (der Ausschank von Bier war nach einigem Überlegen fallengelassen worden), es wurde getanzt und geredet. Mit
anderen Worten: die Begegnung in einem „neutralen Raum“, die von der
Initiative gewünscht worden war, realisierte sich in den kleinen Festen, die
im Abstand von einigen Monaten im Sozialraum gefeiert wurden. Auf diesen Partys gab es die Gelegenheit, dass sich Flüchtlinge und Mitglieder der
Initiative kennen lernten und auch gemeinsame Aktivitäten ergriffen. Bei
einigen togoischen Flüchtlingen fanden die Feste so großen Anklang, dass
sie begannen, selbst eine Party zu organisieren, zu der die Initiative eingeladen wurde. Plötzlich befanden sich die Mitglieder der Initiative in der
Situation, dass sie die Gäste waren. Getreu der Vorgabe der Initiative hatten auch die Togoer, die das Fest in die Hand nahmen, nur Limonade gekauft, auch sonst lief das Fest so ab, wie es die Initiative sich erwünschte.
Dennoch waren diese Feste im Sozialraum in der Gruppe nicht so hoch angesehen und wurden kaum diskutiert, im Gegensatz zu den größer angeleg-
91
Die Hoffeste erwiesen sich als Gelegenheit, die Zersplitterung der verschiedenen
Flüchtlingsgruppen wenigstens so weit zu überwinden, dass sie gemeinsam an den Festen teilnahmen, wenn auch deutlich als Angehörige verschiedener Gruppen. Tatsächlich
scheint der geräumige Hof weit besser als der Sozialraum den Flüchtlingen die Möglichkeit geboten zu haben, trotz verschiedener Herkunft an einer gemeinsamen Veranstaltung teilzunehmen.
207
ten Hoffesten, die eines hohen organisatorischen Aufwands bedurften und
unter großem Einsatz der ganzen Initiative durchgeführt wurden. Die Sozialraum-Feste wurden von den Mitgliedern der Initiative, obwohl sie neben
den Aktivitäten mit Flüchtlingskindern die einzigen wirklich erfolgreichen
Aktivitäten im Sozialraum darstellten, nicht als „Arbeit“ angesehen und
hatten, da sie nur zwischen Flüchtlingen (und auch nicht allen) und Mitgliedern der Initiative stattfanden, keinen wirklichen „Sinn“ im Kontext
integrativer Maßnahmen. Entsprechend kommentierte Frau Tekla diese
Feste ironisch:
„Ah ja, die haben wir da gemacht, die Festerl, das ist klar,
ned, dass ma des angeboten hat. Dass sich dann der Lärm
wieder im Haus fortgesetzt hat, der laute“ (Frau Tekla).
Frau Wiesner fallen, auf die Feste im Sozialraum angesprochen, zuerst die
privaten Feste ein, zu denen sie und andere Mitglieder der Initiative von
Flüchtlingen im Haus eingeladen worden waren:
„Ich hab jetzt persönlich im Haus von, eben von meinen
Schützlingen her, zwei- dreimal muslimische Feste erlebt,
ja. Des Fastenbrechen nach dem Ramadan zum Beispiel, ja.
Wo mich der Mussah eingeladen hatte. Gut, des war dann
halt im Zimmer. Die Frau Tekla war dabei, der Dino (der
Ehemann Frau Teklas), es war auch Werner (der Ehemann
Frau Wiesners) dann dabei. Das hat sich dann auch geändert
des Verhältnis, ja. Wo der Werner total überrascht war, so
ein Aufwand und so. Ja gut, man hat halt auf dem kleinen
bescheidenen Raum versucht, wirklich des Optimalste zu
machen. Und das war also mit einer solchen Liebe und Hingabe, wo ich dann also gesagt hab, das ist auch was, was ich
nie vergessen werde“ (Frau Wiesner).
Die Feste im Sozialraum sind dagegen für Frau Wiesner nicht richtig ernst
zu nehmen. In ihren Augen litten sie unter dem Manko, dass bei diesen
Festen immer nur ein Teil der Unterkunftsbewohner angesprochen wurde:
208
„Es kamen dann ja entweder die Frauen mit den Kindern,
oder es kamen wieder die Männer. Aber, dass man gesagt
hätte, okay, es kommen jetzt alle zum Feiern, das haben wir
vielleicht mal mit unseren Sommerfesten geschafft, zum
Teil, im Garten draußen. Aber ich meine, unser Sozialraum,
das war ja auch ein bisschen ein größeres Wohnklo, wenn
wir ehrlich sind. Ich meine, du hättest am besten eine Staffelei rundherum aufgebaut, dann wäre es vielleicht noch gegangen. Von den Bewohnern wurde das ja auch teilweise so
gesehen, ja quasi: jetzt nimmt man ihnen ja noch ein Zimmer weg, ja? Gut, aus deren Sicht völlig legitim. Wo wir
halt mit unseren hehren Ideen dann doch gescheitert sind,
ja?“ (Frau Wiesner).
Gerade auch der Aspekt, dass die Initiative einen Raum innerhalb der Unterkunft okkupiert hatte, erhöhte für Frau Wiesner den Legitimationsdruck,
in diesem Raum auch sinnvolle Angebote für die Flüchtlinge vorzuhalten,
ihn durch diese Angebote, die „hehren Ideen“ aufzuwerten, so dass dadurch
die Wegnahme des Raumes auch gegenüber den Flüchtlingen begründet
werden konnte. Der Raum, der einer einzelnen Flüchtlingsfamilie „weggenommen“ wurde, sollte mittels der Angebote der Initiative der Allgemeinheit der Flüchtlinge wieder zugute kommen. Die Feste, die immer nur selektiv bestimmte Gruppen unter den Flüchtlingen ansprachen, aber auch die
übrigen Angebote der Initiative im Sozialraum, erfüllten für Frau Wiesner
nicht die Voraussetzung eines übergreifenden Allgemeinwohls. Die Flüchtlinge, das war der Initiative hierdurch relativ deutlich, sahen sich nicht als
Gesamtheit. Nur in besonderen Krisensituationen konnte es zu einer übergreifenden Aktion kommen92, den Alltag aber bestimmten Individuierung
und Orientierung an ethnischen Kategorien der verschiedenen Herkunftsländer:
92
Dies war zum Beispiel bei dem Konflikt mit der Verwalterin der Fall. Hier taten sich
eine Reihe Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalität zusammen, um einen Protestbrief
an die Regierung von Oberbayern zu verfassen (vgl. Kap. 7.2).
209
„Ja gut, ich mein, wir waren immer der Meinung, die sitzen
doch eigentlich alle im selben Boot, aber es hat doch jeder
irgendwo noch sein persönliches Kanu gefunden“ (Frau
Wiesner).
Dennoch gelang es der Initiative nicht, diesen Umstand hinreichend in ihre
Vorstellungen einzubeziehen, widersprach er doch der Ausrichtung der Initiative auf die Gesamtheit der Unterkunftsbewohner.
Als wegen einer Teilrenovierung des Hauses mehrere Zimmer geräumt
werden mussten und der Sozialraum im Sommer 1994 in ein kleineres
Zimmer verlegt wurde, wurden auch die Feste eingestellt. Im Sozialraum
fanden schließlich nur noch Hausaufgabenhilfen für Schulkinder und eine
Kinderbetreuung statt. Abgesehen von diesen wenigen Stunden blieb der
Sozialraum ungenutzt und versperrt. Die Initiative ging nach dem Scheitern
der meisten Angebote im Sozialraum wieder dazu über, Flüchtlinge privat
aufzusuchen, beschränkte sich dabei aber zunehmend auf die ihr schon bekannten Bewohner des Hauses. Als Frau Kersten, Mitglied der Initiative,
im Sommer 1994 die Stelle der Sozialpädagogin übernahm, zog sich die
Gruppe weitgehend aus der regelmäßigen Betreuung der Flüchtlinge zurück. Sie sah sich nun, abgesehen von wenigen verbleibenden Kontakten,
als Unterstützung der sozialpädagogischen Betreuung, die verschiedene
Aufgaben an einzelne Mitglieder der Initiative weiterleitete (z.B. intensivere Betreuung einzelner Flüchtlinge, Begleitung von Bewohnern zu Behörden, Ärzten etc.). Die Initiative kam zwar noch regelmäßig zusammen, die
Treffen bekamen aber zunehmend privaten Charakter. Neben den Berichten
von Frau Kersten, die regelmäßig zu den Treffen kam, gab es mit der Zeit
immer weniger Erfahrungs- und Informationsaustausch in der Initiative,
das Engagement zerfiel in Einzelinteressen und -kontakte, lediglich für einige größere Aktionen wie Hoffeste oder Kleidersammlungen bündelte die
Initiative noch Personen und Energie.
3. Fremde im sozialen Raum
Bei der Institutionalisierung des Kontaktes zwischen Initiative und Flüchtlingen, denn darum handelt es sich hier auch, ist also etwas schief gelaufen.
210
Die Initiative erwartete sich vom Wechsel in den Sozialraum keine großen
Unterschiede in den Beziehungen zu Flüchtlingen, eher eine Verbesserung
und Erweiterung ihrer Kontakte. Es war nicht absehbar, dass durch die Verlagerung von Kontakten aus dem Treppenhaus oder dem Zimmer von
Flüchtlingen ein Problem entstehen würde. Ansonsten hätten die Mitglieder
der Initiative diesen Schritt nicht so bereitwillig vollzogen. Einiges spricht
dafür, dass sich mit der Einrichtung des Sozialraums eine neue Konstellation ergab, eine Konstellation, die eng mit diesem Raum zu tun hatte. Die
sich durch den ganzen Prozess hindurchziehende Institutionalisierung ist
für eine Bürgerbewegung wie für eine Initiative kennzeichnend: die anfängliche Euphorie erlahmt und wird durch ein Mehr an Organisation, an
Regelhaftigkeit, Aufgabenteilung etc. zu kompensieren gesucht.
Dieser Prozess lässt sich für die Initiative in drei Phasen unterteilen: eine
Phase vor dem Sozialraum, eine Phase der Nutzung, und schließlich die
Phase des langsamen Rückzugs der Initiative aus dem Sozialraum und aus
der Unterkunft.
Die erste Phase des Engagements der Initiative in der Unterkunft ist von
notwendigen Versuchen der Annäherung gekennzeichnet. Die Initiative ist
bemüht, die Situation in der Unterkunft kennen zu lernen, sich ein Bild von
den Schwierigkeiten der Flüchtlinge zu machen, um gezielt Unterstützung
anbieten zu können. Dabei sucht die Initiative den persönlichen Kontakt zu
Flüchtlingen, wenn auch in der Anfangsphase schon Methoden eingebracht
werden, diesen Kontakt zu strukturieren. Begegnungen mit den Flüchtlingen werden auf die Besuche der Initiativenmitglieder in der Unterkunft beschränkt, die Kontrolle der Initiative verläuft über die Zeit, die den Flüchtlingen gewidmet wird. Die Initiative bestimmt, wann die Kontakte stattfinden und wie viel Zeit dafür zur Verfügung gestellt wird. Den Ritualen der
Gastfreundschaft, die von den Bewohnern gepflegt werden, begegnet die
Initiative mit ebenso ritualisiertem Insistieren auf Problemen, welche die
Flüchtlinge der Initiative zur Behandlung vortragen sollen. Dabei legt die
Initiative das Gewicht auf die Probleme, die aus der allgemeinen Lage der
Flüchtlinge resultieren. Auch wenn sich persönliche Kontakte ergeben,
sieht die Gruppe ihre Aufgabe darin, sich für die Gesamtheit der Bewohner
211
der Unterkunft einzusetzen. In dieser ersten Phase jedoch dominieren die
Bemühungen, die Flüchtlinge und ihre Situation zunächst einmal kennen zu
lernen.
Die Entwicklung, die mit der Nutzung des Sozialraums einsetzt, kann als
die zweite Phase gesehen werden. Hier versucht die Initiative, ihre Arbeit
besser zu organisieren und zu einer systematischeren Vorgehensweise zu
finden. Damit führt die Initiative zum einen die in der ersten Phase begonnene Arbeit fort, auf der anderen Seite wird hier aber auch eine Wende
vollzogen. Die Intensivierung der Arbeit soll nicht weiter über die singulären persönlichen Kontakte zu Flüchtlingen verlaufen, sondern stattdessen
über ein verbreitertes und systematisches Programm, das allen Flüchtlingen
zugänglich gemacht wird. Die singulären Kontakte sollen ersetzt werden
durch Angebote, die von persönlicher Bekanntschaft absehen und durch
ihren Inhalt bestimmt werden.
Nachdem dies weitgehend fehlschlägt, weil die Flüchtlinge auf die angebotenen Leistungen nicht oder nicht adäquat reagieren, fehlt der Initiative eine
gemeinsame Richtung. Es wird zum Teil wieder an den persönlichen Kontakten zu Flüchtlingen angeknüpft, zum Teil zieht sich die Initiative von
der Betreuung zurück, leistet nur noch Unterstützung für die Sozialpädagogin im Haus. Diese dritte Phase ist die zeitlich am längsten andauernde.
Das Engagement der Initiative lässt langsam nach, die Kontakte werden
seltener. Die Auflösung der Unterkunft im Sommer 1998, die auch das Ende der Initiative bedeutet, wird fast mit Erleichterung quittiert.
Die Wende im sozialen Raum
Die zweite Phase, die das Engagement im Sozialraum umschließt, markiert
einen Wendepunkt im Verhältnis der Initiative zu den Flüchtlingen. Die
Systematisierung der Angebote schneidet die Initiative von den Flüchtlingen ab, und ist deshalb nicht nur als eine Phase in der schrittweisen Institutionalisierung der Initiative zu sehen, sondern auch als einschneidender
Wandel im Verhältnis zu den Unterkunftsbewohnern.
Nur in zweiter Linie soll hier die Frage gestellt werden, warum diese Institutionalisierung, die mit der Einrichtung des Sozialraums ihren beschleu212
nigten Verlauf nimmt, nicht funktioniert hat, warum also die Flüchtlinge
auf das, was die Initiative für eine Verbesserung ihrer Leistungen hielt,
nicht mit erhöhter Inanspruchnahme reagierten. Vielmehr soll zunächst eine Betrachtung dieses Prozesses unter dem Vorzeichen des Umgangs mit
dem Fremden unternommen werden. Zu den Umgangsweisen gegenüber
Fremden, die Bauman (1991: 27f) aufführt, zählen Territorialisierung und
Funktionalisierung der Beziehungen. Territorialisierung bestimmt Bauman
als die räumliche Trennung zwischen Fremdem und Eigenem, Funktionalisierung als Abtrennung des Austausches „... mit solchen Unbekannten (...)
von der Alltagsroutine und dem normalen Interaktionsnetz ...“ (ebd.: 28).
Tatsächlich kann die Einrichtung des Sozialraums durch die Initiative als
eine nochmalige territoriale Abgrenzung verstanden werden93 sowie als
Versuch der Funktionalisierung der Beziehungen zu den Flüchtlingen.
Zwei Themen treten im Prozess der Einrichtung des Sozialraums in der Unterkunft durch die Initiative deutlich hervor: Zum einen bestimmt der Ort
der Begegnung mit Flüchtlingen die Zugangsweisen der Initiative; zum anderen sind es die Zielsetzungen und eingeführten Praktiken der Initiative,
die schließlich den Raum als von der Initiative eingerichteten Ort der Begegnung mit Flüchtlingen prägen. In der Nutzungsweise wird deutlich, dass
die Initiative eher ihre eigenen Beziehungen zu den Flüchtlingen besser in
den Griff bekommen möchte. Mit dem Sozialraum führt die Initiative eine
Struktur ein, die es ihr erlaubt, gegenüber den Flüchtlingen wie auch gegenüber der Verwaltung eine bessere Position zu gewinnen. Offensichtlich
drückt sich in der Institutionalisierung der Initiative, die mit der Sozialraumgestaltung einherging, die Etablierung eines Machtverhältnisses primär zwischen Initiative und Flüchtlingen aus. Begegnungen von der Art,
wie sie zwischen Initiative und Flüchtlingen stattfanden, sind selten herrschaftsfrei. Auch wenn die Ausübung direkter Herrschaft über die Flücht93
Nochmalige Trennung deshalb, weil die zwangsweise Unterbringung von Asylsuchenden in Lagern eine solche territoriale Trennung zwischen Einheimischen und
Flüchtlingen bereits einführt. Mit dem Sozialraum trennte die Initiative innerhalb der
Unterkunft nochmals einen Ort ab, der für ihre Interaktion mit Flüchtlingen bestimmt
war.
213
linge nicht im Interesse und auch nicht im Rahmen der Möglichkeiten der
Initiative lag, so ist doch deutlich, dass es im Prozess, der zu einer bestimmten Nutzung des Sozialraums der Unterkunft führte, auch um die
Durchsetzung verschiedener Interessen ging. Dabei artikuliert sich die
Durchsetzung der Interessen der Initiative als eine Kontrolle des Raumes,
in dem die Begegnungen mit den Bewohnern der Unterkunft stattfanden.
Ambivalente Beziehungen
In der Anfangsphase, so lässt die Beschreibung der ersten Besuche erkennen, ist die Machtbalance nicht zugunsten der Initiative geregelt. Zwar bestimmt die Initiative, wann sie die Unterkunft besucht und wie lange sie
bleibt, hat also die weitgehende zeitliche Kontrolle über die Begegnungen.
In den Fluren der Unterkunft aber werden die Begegnungen zwischen Initiative und Flüchtlingen von der Verwaltung kontrolliert, deren Interesse die
Initiative berücksichtigen muss. In den Zimmern der Flüchtlinge wiederum
werden die Mitglieder der Initiative als Gäste empfangen und müssen sich
dementsprechend anpassen. Die Interessen einzelner Flüchtlinge gewinnen
damit Einfluss auf die Aktivitäten der Initiative. Die Mitglieder der Initiative lassen sich in die Pflicht nehmen bis an die Grenze, an der sie sich ausgenutzt fühlen. Die eigenen, integrativen Absichten der Initiative können
dagegen kaum durchgesetzt werden. Die Initiative ist damit in einer ebenso
unbequemen wie schwachen Position. Sie, die als Vertretung der Einheimischen und der lokalen Nachbarschaft mit dem Selbstverständnis des Gastgebers auftritt, ist in der Unterkunft selbst Gast, muss sich der Verwaltung
und den Flüchtlingen anpassen, bewegt sich auf fremdem Terrain und verliert ihren Heimvorteil. Die Initiative sieht durch die Notwendigkeiten, sich
immer wieder auf diese Umstände einlassen zu müssen, ein Hemmnis ihrer
Tätigkeit. Immer geht es um Einzelfallhilfe für Flüchtlinge, viel Energie
verpufft und wird von wenigen Flüchtlingen beansprucht, denen sich die
Initiative nicht entziehen kann. Die Hilfestellung der Initiative ist gerade in
der Anfangsphase nicht effektiv genug, der Sozialraum kam zu spät, so
mehrheitlich die Einschätzungen.
214
Die Einrichtung des Sozialraums durch die Initiative kann deshalb auch als
Versuch gelesen werden, der Initiative einen eigenen und sicheren Raum
innerhalb der Unterkunft zu verschaffen, einen eigenen Ort, von dem aus
sie mit der Autorität der Einheimischen den Flüchtlingen Angebote zur Integration offerieren kann. Mit der Einrichtung des Sozialraums werden die
Verhältnisse von Innen und Außen wieder umgekehrt: die Initiative hat nun
im Innern der Unterkunft einen Ort, von dem aus sie mit der gleichen Autorität auftreten kann wie außerhalb der Unterkunft. Die Initiative ist nicht
länger Gast der Flüchtlinge und geduldete Besucherin für die Verwaltung,
sondern verfügt über einen legitimen Raum zur Ausübung ihrer Tätigkeit
innerhalb der Unterkunft. Nun sind es nicht mehr die Mitglieder der Initiative, die auf die Flüchtlinge zugehen müssen, sondern es ist an den Flüchtlingen, auf die Nachbarschaftsgruppe zuzugehen. Die Initiative sichert den
Raum also primär für sich selbst, um hier eine eigene Basis für den Kontakt
zu Flüchtlingen zu haben.
Schlüsselgewalt
Dennoch standen anfangs grundsätzlich zwei Nutzungsmöglichkeiten des
Sozialraums zur Debatte: Einmal der Unterbringung von Flüchtlingen entzogen, hätte der Raum auch den Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden können, anstatt ihn für die Arbeit der Initiative zu reservieren. Interessant sind die Argumente, die schließlich den Flüchtlingen nur den durch die
Initiative kontrollierten Zugang zum Sozialraum öffneten: Gegen eine generelle Öffnung des Raums wurde zum einen angeführt, dass die Einrichtung, mit der die Initiative den Raum ausgestattet hatte, nicht gesichert wäre. Die Vermutung war, dass die Flüchtlinge sich das Mobiliar und die übrigen Materialien für den persönlichen Gebrauch aneignen könnten und so
die im Sozialraum gesammelten Einrichtungsgegenstände dem Gebrauch
durch die Allgemeinheit entziehen könnten. Was für die Einrichtung galt,
traf auch auf den Raum zu. Zweites Argument gegen eine Öffnung des
Raumes war die Befürchtung, dass sich einzelne Flüchtlinge oder Gruppen
den Raum aneignen würden. Beides lässt den Schluss zu, dass die Initiative
den Flüchtlingen eine eigenverantwortliche Nutzung nicht zutraute. Da sei215
tens der Regierung der Raum nicht den Flüchtlingen, sondern der Initiative
zur Nutzung übertragen worden war, lag auch die Verantwortlichkeit bei
der Nachbarschaftsgruppe. Die Initiative sah die Flüchtlinge nicht als Kollektivsubjekt, dem die Verantwortung für den Raum hätte übertragen werden können. Die Initiative hatte richtig erkannt, dass die Bewohner der Unterkunft keine Gemeinschaft bildeten, sondern nur eine zusammengewürfelte Anzahl von Individuen, die durch ihren aufenthaltsrechtlichen Status
in die gleiche Lage gezwungen worden war. Es gab keine die Bewohnerschaft verbindende Kommunikation, keine Struktur, welche die Interessen
und Konflikte der Bewohner gehegt oder vermittelt hätte. Die Initiative, die
sich den Sozialraum erkämpft hatte, übernahm mit dem Raum auch die
Verantwortung für eine sinnvolle Nutzung, die allen Flüchtlingen zugänglich sein sollte. Im Namen der Allgemeinheit behielt sich die Initiative deshalb die Schlüsselgewalt über den Sozialraum vor.
Zwei Prozesse verschränken sich hier: zum einen reserviert sich die Initiative den Sozialraum, um die Kontakte zu Flüchtlingen in einen Raum zu
verlegen, den sie selbst kontrollieren kann, in dem sie die Schlüssel- und
Verfügungsgewalt ausübt. Zum anderen werden die Flüchtlinge von der
Nutzung dieses Raumes ausgeschlossen, weil die Initiative ihnen eine verantwortliche Nutzung nicht zutraut. Der Raum wird zur Enklave für die
Initiative. Denn aus der Perspektive des Stadtviertels heraus betrachtet, ist
die Unterkunft ein abgeschlossener und symbolisch eingegrenzter Ort. Indem Asylsuchende zum Leben in der Unterkunft gezwungen werden, werden sie sichtbar und identifizierbar, wird ein fremder Ort im Stadtviertel
installiert. Besucher der Unterkunft hatten dadurch einen schwachen Stand.
Ihr Besuch ähnelt daher einem Eindringen in fremdes Territorium. Dieser
Vorstoß ist nur schwach legitimiert, es ist weder von der verwaltenden Regierung noch von den Bewohnern a priori erwünscht. Die Einrichtung eines
Sozialraums ist insofern ein Schlüsselmoment in der Etablierung und Legitimierung der Anwesenheit der Initiative in der Unterkunft. Die Legitimation dieser Anwesenheit ist allerdings an die Bedingung geknüpft, dass die
Ziele der Initiative dem Wohl der Flüchtlinge dienen und die Verwaltung
nicht stören. Mit dem Erhalt des Sozialraums manifestiert sich die legitime
216
Anwesenheit der Initiative in der Unterkunft. Die Initiative besetzt diesen
Raum, gibt ihm einen Inhalt und eine von ihr definierte Ordnung. Die
Flüchtlinge bleiben von der freien Nutzung des Raumes ausgeschlossen,
weil von ihnen befürchtet wird, dass sie die von der Initiative etablierte
Ordnung nicht respektieren werden. Der Zugang wird ihnen nur gewährt,
wenn er von der Initiative kontrolliert werden kann. Die Ausnahmen von
dieser Regel werfen Licht auf einen weiteren Aspekt der Abgrenzung des
Sozialraums. Flüchtlingen, die Ruhe brauchten, um Deutsch zu lernen, sollte der Schlüssel jeweils ausgehändigt werden. Hier verbindet sich das Interesse an der Kontrolle des Raums mit spezifischen Nutzungsbedingungen.
Wenn Flüchtlinge mit besonderem Eifer an ihrer Integration in die Aufnahmegesellschaft arbeiten (das im Bemühen um die Sprache zum Ausdruck kommt), dann sollte ihnen die Nutzung gewährt werden. Zweifel am
Verantwortungsbewusstsein der Flüchtlinge werden dort unterdrückt, wo
sich nicht allein das Bemühen eines Einwanderers ausdrückt, sein Leben
aktiv zu gestalten, sondern wo dieses Bemühen im Erlernen des Deutschen
auch noch mit den integrativen Interessen der Initiative in Einklang gebracht werden kann.
Funktionalisierung der Beziehungen
Der Zugang zum Sozialraum wird den Flüchtlingen nur im Rahmen bestimmter Programme gewährt, die das Verhältnis zwischen Initiative und
Flüchtlingen auch funktional regulieren. Diese im Sozialraum etablierte
Funktionalität gilt für beide, für die Initiative wie für die Flüchtlinge, obwohl sie von der Initiative eingerichtet wird. Sie fügt der zeitlichen und
räumlichen Kontrolle der Initiative über die Beziehungen zu Flüchtlingen
mit der – allerdings in der Praxis nicht sehr strikt gehandhabten – Funktionalität noch einen dritten Faktor hinzu. Damit grenzt die Initiative ihren
Kontakt zu Flüchtlingen ein, indem sie den Begegnungen ein jeweils definiertes Programm gibt, das den Kontakt im Prinzip von den individuell
Ausführenden abstrahiert. Dass der Raum erst im Gefolge einer sozialpädagogischen Beratungsstelle erkämpft werden konnte, hatte einen deutlichen Einfluss auf seine Nutzungsbedingungen. Weil ein Raum für die Initi217
ative oder für die Nutzung durch die Flüchtlinge von der Regierung abgelehnt wurde, verstärkte sich der Legitimationsdruck der Initiative. Dies trug
dazu bei, dass die Nutzungspläne einen deutlich sozialpädagogischen Zuschnitt bekamen, die Schlüsselgewalt und damit auch die Frage, wer die
Nutzung bestimmt, klar in der Hand der Initiative verblieb. Mit der daraus
folgenden Notwendigkeit, die Nutzung des Raums mit bestimmten Angeboten zu verbinden, war eine offene Raumnutzung für die Initiative wie
auch für die Flüchtlinge nicht oder nur eingeschränkt möglich. Die Folge
ist die Installation von festen Angeboten, die persönlichen Bekanntschaften
keine Rechnung tragen und sich in der Mehrzahl neutral an die Gesamtheit
der Bewohner richten. Es spielt keine Rolle mehr, wer von den Flüchtlingen ein bestimmtes Angebot wahrnimmt oder wer aus der Initiative das
Angebot offeriert. Die Funktion des jeweiligen Angebots an die Flüchtlinge
wird von der Initiative in den Vordergrund gestellt, ob dies nun der Fremdsprachenerwerb, die Kommunikation untereinander in Tee- oder Nähstube,
die Hilfe beim Ausfüllen von Formularen oder bei der Suche nach Arbeit
ist.
Diese Funktionalisierung ist nicht grundlegend negativ zu sehen. Für die
Initiative bietet sie tatsächlich eine Reihe von Vorteilen. Ähnlich wie Bauman (1991: 27f) sieht auch Frank-Olaf Radtke die Funktionalisierung als
ein Mittel, die Offenheit des Kontakts zu reduzieren. Radtke sieht gerade in
der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft die Möglichkeit, zum Beispiel ethnische Differenzierungen aus dem öffentlichen
Verkehr herauszuhalten. Für Funktionsrollen sind ethnische Kategorien
nicht relevant, wodurch funktionale Beziehungen Unsicherheiten vermeiden können (Radtke 1991: 92). Eben dieser Unsicherheit, sich im Verhältnis mit Flüchtlingen mit unbekannten Erwartungen und Forderungen konfrontiert zu sehen, kann die Initiative durch den Sozialraum und seine Angebote entgehen. Mit der Funktionalisierung geht jedoch ebenfalls eine
Hierarchisierung einher: die Initiative versammelt im Sozialraum alle Vorteile auf ihrer Seite: sie übt die alleinige Kontrolle über die Beziehungen
aus. Nun ist es nicht mehr die Initiative, die sich auf manchmal überraschende Begegnungen einlassen muss, sondern die Flüchtlinge sollen auf
218
die Initiative zugehen. Die Initiative lässt sich nicht mehr einbinden, sondern offeriert definierte Angebote. Im Gefolge der Funktionalisierung kann
die Initiative ihre Kontakte auch deutlicher der öffentlichen Sphäre zuordnen, in welcher funktional bestimmte Kontakte dominieren. So stellt Radtke den privaten Beziehungen, die grundsätzlich offen sind, die Beziehungen im öffentlichen Raum entgegen:
„Die Bedingung für das Funktionieren der öffentlichen
Sphäre ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem ‚neutralen
Fremden’, der Passant ist wie man selber. (....) Anders in der
Privatsphäre: Hier lassen unspezifische Beziehungen die
Wahrnehmung aller Merkmale der Person zu. Sie werden
geradezu thematisiert, wo es nicht um Funktionsleistungen,
sondern um die Interaktion mit der ganzen Person geht“
(Radtke 1991: 92; Hervorhebungen im Original).
Daraus kann gefolgert werden, dass die Initiative mittels der Funktionalisierung ihrer Kontakte zu den Bewohnern der Unterkunft auch deutlich
markieren konnte, dass diese Kontakte eben nicht private und individuelle
Beziehungen, sondern Teil einer öffentlichen Aufgabe waren. Sowohl gegenüber den Flüchtlingen als auch gegenüber der Verwaltung und der
Nachbarschaft konnte die Initiative damit betonen, dass für die Kontaktaufnahme keine privaten Interessen im Vordergrund standen. Territorialisierung und Funktionalisierung des Kontaktes sind im wesentlichen formale Reaktionsweisen auf die Präsenz des Fremden. Für die Initiative boten
diese Umgangsweisen die Möglichkeit, Distanz zu den Flüchtlingen zu
schaffen, indem sie das Verhältnis zugleich eingrenzen und kontrollierbar
machten. Die offenen Beziehungen, die zu Anfang das Verhältnis bestimmt
hatten, wurden so durch eine relativ geschlossene Umgangsweise ersetzt,
wobei das Verhältnis zugleich eine Hierarchisierung erfuhr, indem es die
Initiative war, die Ort, Zeit und mögliche Inhalte der Kontakte bestimmte.
219
Integration – Assimilation
Territoriale Abgrenzung und Funktionalisierung sind Umgangsweisen mit
dem Fremden, die auf ein statisches Verhältnis hinauslaufen. Sie stellen die
Implementierung einer bestimmten Ordnung des Raumes und des Verhältnisses dar, die, einmal erreicht, nur noch aufrechterhalten werden muss.
Den dritten Aspekt, der das Verhältnis zwischen Initiative und Flüchtlingen
kennzeichnet, das Angebot verschiedener Hilfsmaßnahmen an die Flüchtlinge, zeichnet dagegen aus, dass er eine bestimmte Bewegung verlangt.
Kann bei den Aspekten Funktionalisierung und Territorialisierung gesagt
werden, dass sich hier die Initiative von den Flüchtlingen weg bewegte, so
lassen die Inhalte der Angebote der Initiative den Schluss zu, dass damit
die Aufforderung an die Flüchtlinge erging, sich nun ihrerseits in Richtung
Initiative zu bewegen.
Diese Umkehrung der Richtung signalisiert ebenso wie die Angebote, die
auf eine Integration der Flüchtlinge abzielen, dass die Initiative nicht mehr
auf die Flüchtlinge zugeht, um diese kennen zu lernen, sondern dass sich
die Initiative jetzt an die Spitze setzt und den Flüchtlingen die Richtung
vorgibt. Nun ist es an den Flüchtlingen, die von der Initiative repräsentierte
Gesellschaft kennen zu lernen und Umgangsweisen zu erlernen, wie man
sich in dieser Gesellschaft bewegt. Die eingeschlagene Richtung wird dabei
nicht von den je individuellen Beziehungen, sondern von den Inhalten der
an die Flüchtlinge herangetragenen allgemeinen Angebote bestimmt. Sowohl die Gleichgültigkeit funktionaler Beziehungen im öffentlichen Raum
(Radtke) als auch der Vorrang des Allgemeinen vor dem Individuellen
(Schiffauer) gewinnt im Verhältnis der Initiative zu den Flüchtlingen an
Gewicht, je mehr sich die Initiative gegenüber den Bewohnern als Repräsentantin der Aufnahmegesellschaft wahrnimmt. Im Gegensatz zu den persönlicheren individuellen Beziehungen zu Flüchtlingen, die durchaus auch
der Hilfeleistung verpflichtet waren (vgl. Interviewpassage Frau Wiesner S.
110), sind die Angebote im Sozialraum deutlicher auf den Transfer von der
Initiative zu den Flüchtlingen gerichtet und in diesem Sinne eine ‚Einbahnstraße’.
220
Nach dem aus der Sozialarbeit entlehnten allgemeinen Modus der ‚Hilfe
zur Selbsthilfe’ soll Flüchtlingen keine Arbeit abgenommen werden, sondern durch spezielle Hilfestellungen ihre Integration in wichtige gesellschaftliche Teilbereiche unterstützt werden. Nicht nur das Prinzip der ‚Hilfe zur Selbsthilfe’, sondern auch die konkreten Offerten der Initiative an
die Flüchtlinge decken sich mit Angeboten, wie sie im Bereich der Migrationssozialarbeit üblich sind. Diese wurden adaptiert und ausgewählt nach
bestimmten Problemlagen, die in der Sicht der Initiative für die Situation
aller Flüchtlinge der Unterkunft charakteristisch, letzten Endes jedoch in
keiner Weise flüchtlingsspezifisch waren, sondern ganz allgemein die seitens der Einheimischen wahrgenommenen Problemlagen von Einwanderern kennzeichneten. Obwohl die Integrationsangebote im Sozialraum auf
die Ideen einzelner Mitglieder der Initiative zurückgingen und nicht aufeinander abgestimmt worden waren, deckten sie doch wesentliche Aspekte des
allgemeinen migrationspädagogischen Instrumentariums ab und sind vergleichbar mit den Programmen, die von Wohlfahrtsverbänden oder Vereinen für Eingewanderte vorgehalten werden. So sollten die Flüchtlinge unterstützt werden in der Qualität ihres Zusammenlebens, was durch Angebote wie Teestube oder Kinderbetreuung sowie – speziell für Frauen – den
Nähkurs geleistet werden sollte, um die häufige Isolation in der Unterkunft
zu durchbrechen. Mit Deutschkursen wurde beabsichtigt, die Kommunikationsmöglichkeiten der Flüchtlinge mit den Einheimischen zu verbessern,
außerdem wurden spezielle Hilfen bei der Suche nach Arbeit und für den
Umgang mit Behörden angeboten. Insgesamt sollten mit diesen Angeboten
die Flüchtlinge befähigt werden, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand
zu nehmen.
Das Ziel der Initiative ist es, sich selbst samt ihren individuellen Hilfestellungen überflüssig zu machen. Dies trat für die Initiative schneller ein als
erwartet. Dass die Angebote seitens der Flüchtlinge kaum wahrgenommen
wurden, interpretierte die Initiative dahingehend, dass die Flüchtlinge inzwischen selbst Mittel und Wege gefunden hatten, sich zu behelfen. Die
Frage nach der Angemessenheit der Angebote wurde kaum gestellt, auch
die Frage, ob die Form der Angebote der Situation der Flüchtlinge adäquat
221
war, kam nur bei wenigen Mitgliedern der Gruppe auf. Der Versuch der
Initiative, den Flüchtlingen nicht nur Hilfestellung zu leisten, sondern mit
dieser Hilfestellung auch die Richtung vorzugeben, schlug fehl. Die Flüchtlinge waren nicht bereit, der Initiative auf diesem Weg zu folgen. Seitens
der Initiative wurde dies teils mit Unverständnis, teils mit Enttäuschung
quittiert. Dennoch nahm die Initiative keine Kurskorrekturen vor. Die Ziele, die mit den Angeboten verknüpft waren, entsprachen der pädagogischen
‚Vernunft’ und dem Interesse der Initiative an einer Integration der Flüchtlinge und waren dementsprechend wenig variabel. Die Initiative, die den
Sozialraum in ein Klassenzimmer verwandelt hatte, verfügte nicht über die
Möglichkeiten und Autorität, die Flüchtlinge zum Besuch des Unterrichts
zu zwingen, und blieb deshalb im Sozialraum allein. Die Angebote wurden
eingestellt, und die Initiative ging wieder dazu über, individuelle Beziehungen zu Flüchtlingen zu unterhalten.
Warum scheitern die Angebote?
Die eindeutige Bestimmung der Gründe, warum die Angebote der Initiative
im Sozialraum und damit das gesamte von der Initiative angestrebte Sozialraum-Konzept gescheitert sind, ist ob der Komplexität der verschiedenen
Einflussgrößen nicht möglich. Es ist anzunehmen, dass verschiedene die
Sozialraumnutzung begleitende Aspekte eine Rolle spielten, und dass sie in
ihrer Summe dazu führten, dass die Flüchtlinge nicht adäquat auf die Angebote der Initiative eingingen. Weiter wären die individuellen Interessen
und Haltungen der Flüchtlinge, die Auswirkungen der ungewissen Lebenssituation von Asylsuchenden und die Einflüsse des Lebens im Lager zu berücksichtigen. Auch die Erfahrungen, die andere Initiativen mit ähnlichen
Angeboten gemacht haben, helfen hier nicht weiter. In manchen Unterkünften waren Teestuben erfolgreich, wo sich Flüchtlinge zu einer bestimmten
Zeit in einem Sozial- oder Gemeinschaftsraum einfanden, in anderen ‚funktionierten’ Nähkurse oder der Deutschunterricht. Häufig hielten sich solche
erfolgreichen Angebote aber auch nur über eine begrenzte Zeit und waren
von individuellen Beziehungen getragen. Bezüglich der mangelnden Ak-
222
zeptanz der in der Unterkunft Birkenstraße gemachten Angebote erscheinen mir vor allem die folgenden Gründe relevant:
1. Durch die Einrichtung des Sozialraums war die Initiative nicht häufiger, sondern deutlich weniger in der Unterkunft präsent: Der Bezug
des Sozialraums ist zugleich ein Rückzug aus den offenen Räumen
der Unterkunft. Damit sank die ohnehin eingeschränkte Anwesenheit
und Sichtbarkeit der Initiative in der Unterkunft weiter ab. Das reduzierte die Möglichkeit, bestehende Kontakte zu pflegen und auszubauen sowie Kontakte zu neuen Flüchtlingen aufzubauen.
2. Seitens der Flüchtlinge wurde den persönlichen Bekanntschaften
Priorität eingeräumt. Sie reagierten so gut wie nie auf Angebote,
wenn ihnen die Anbietenden nicht bekannt waren. Die Funktionalisierung der Angebote der Initiative, die ja gerade auf nichtpersonalisierte Kontakte setzte, ignorierte diese Haltung.
3. Die Bedürfnisse und Interessen der Flüchtlinge wurden in der Angebotspalette nicht mehr berücksichtigt. Die Angebote folgten allgemeinen Überlegungen zur Hilfestellung für die Bewohner bzw. waren dem üblichen Repertoire der Migrationssozialarbeit entlehnt.
4. Die verschiedenen ethnischen Gruppen der Unterkunftsbewohner
standen, wenn nicht in einem Konkurrenz-, so doch in einem Meidungsverhältnis zueinander, auch was die Kontakte zu Mitgliedern
der Initiative betraf. Obwohl der Initiative dieser Sachverhalt bekannt war, optierte sie für Angebote, die auf eine Gesamtheit der
Flüchtlinge zugeschnitten war, darauf hoffend, dass Flüchtlinge
wenn nicht Gemeinsamkeiten, so doch die für alle gleiche Problemlage akzeptieren würden.
Der grundlegende Widerspruch zwischen den Interessen von Flüchtlingen
und der Initiative, der auch zum Scheitern der Angebotsorientierung geführt hat, ist in der Bewegung der Initiative zu bemerken. Die Gruppe formulierte zwei im Grunde divergierende Zielvorstellungen, nämlich einmal,
die Flüchtlinge kennen zu lernen und Kontakt zu ihnen aufzubauen, und
zum Anderen, sie in ihrer Allgemeinheit bei ihrem Einleben in die Aufnahmegesellschaft zu unterstützen. Das erste Ziel ließ sich nur realisieren,
indem persönliche Beziehungen zu einzelnen Flüchtlingen hergestellt wurden, das zweite Ziel negierte jedoch in gewissem Maß diese persönlichen
Kontakte und ihre Konsequenzen, indem es sich funktionalisierend und
klientelisierend von den Einzelbeziehungen absetzte und die Notwendigkeit
223
eines allgemeinen und sich gleichermaßen an alle Flüchtlinge richtenden
Angebots betonte. Dieses zweite Ziel resultierte zum einen aus der Erfahrung, wie aufreibend und zeitraubend die Einzelfallbetreuung sich gestaltete, wie sehr die Initiative oder ihre einzelnen Mitglieder durch diese Beziehungen belastet wurden. Zum anderen ergab es sich aber auch aus dem
Selbstverständnis der Initiative: wenn sie sich als öffentlich agierende Bürger- oder Nachbarschaftsgruppe legitimieren wollte, musste sie sich in eben
dem Maße, wie sie die Anerkennung und Legitimation ihrer öffentlichen
Rolle suchte, von persönlichen Beziehungen absetzen, wollte sie nicht in
den Ruf kommen, die Initiative sei nur ein Grüppchen von Privatpersonen,
die sich aus welchen Gründen auch immer gern mit bestimmten Bewohnern der Asylunterkunft abgaben. Die Initiative sah sich bei der Einrichtung des Sozialraums mit Forderungen von verschiedenen Seiten konfrontiert, die zugleich mit der Freigabe des Raums an die Initiative auch auf die
Gestaltung Einfluss nehmen wollten. Insbesondere die Sozialberatung der
Caritas gab anfangs die Bedingungen der Raumnutzung vor, und dies verfehlte nicht die Wirkung auf die Initiative. Letztlich fügten sich die Richtlinien zur Raumnutzung und die dort vorgehaltenen Angebote jedoch zu einem bekannten und so plausibel wirkenden Modell, dass die Entwicklung
des Sozialraums ausgesprochen selbstverständlich anmutet.
Die Initiative erkannte das Dilemma individueller Beziehungen und allgemeiner Angebote durchaus, sie gab jedoch der Realisierung ihres Anliegens, das mit dem Sozialraum und den dortigen Angeboten umgesetzt wurde, die höhere Priorität. Indem sich die Initiative selbst eine deutlichere
Struktur gab und ihre Praxis an ihr Selbstverständnis anglich, verengte sie
auch strukturell ihre Möglichkeiten mit Flüchtlingen Beziehungen aufzubauen. Die anfänglich verhältnismäßig offenen Beziehungen wurden in ein
geschlossenes Muster überführt, das nur noch bestimmte Kontakte zwischen Initiative und Flüchtlingen erlaubte. Paradoxerweise wurde gerade
diese Form des Kontaktes, die auf bestimmte, von der Initiative definierte
Anforderungen abzielte, den Bedürfnissen der Flüchtlinge nicht gerecht.
Die Initiative stand sich damit hinsichtlich einer erfolgreichen Arbeit mit
Flüchtlingen vor allem selbst im Weg. Dadurch, dass die Initiative sich von
224
der Vorstellung eines offenen Sozialraums verabschiedete und ein geschlossenes Klassenzimmer etablierte, das ihren Zielen eher zu entsprechen
schien, wird der Sozialraum zum Symbol für die Problematik einer einseitig formulierten Integrationsabsicht.
225
6. Kleider machen Leute
Die Aktivitäten der Nachbarschaftsgruppe ‚Miteinander Leben in Sabing’
waren schon nach kurzer Zeit vor allem auf die Flüchtlingsunterkunft und
ihre Bewohner ausgerichtet. Die Initiative bündelte ihre Energien und Aktivitäten in den Versuchen, die Flüchtlinge kennen zu lernen und zu unterstützen. Ursprünglich umfasste das Motto ‚Miteinander Leben’ auch die
Seite, in die Bewohnerschaft des Viertels hineinzuwirken und hier die Akzeptanz gegenüber den lokal untergebrachten Flüchtlingen zu erhöhen. Es
zeigte sich jedoch bald, dass insbesondere hinsichtlich der Frage, wie die
Nachbarschaft mit dem politischen Thema Flucht und Asyl zu erreichen
wäre, in der Initiative unterschiedlichste Auffassungen herrschten. Wie die
Nachbarschaft an die Unterkunft und ihre Bewohner heranzuführen wäre,
war deshalb in der Initiative ein umstrittenes Thema. Welche Aktivitäten
die Gruppe dennoch hinsichtlich der Nachbarschaft unternommen hat, und
wie dadurch das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Viertelbewohnern
von der Initiative mitgestaltet wurde, soll im Folgenden betrachtet werden.
Während in der vorangegangenen Fallstudie die belehrende Unterstützung
der Flüchtlinge durch die Initiative im Vordergrund stand, wird es nun darum gehen, wie die Initiative zwischen der Nachbarschaft und den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft vermittelt und aus letzteren Partner in einem
ungleichen Tausch macht.
1. Schadensbegrenzung
„Zunächst war ein gewisses Maß an Schadensbegrenzung
dabei, weil das Verhalten von der Regierung schon ziemlich, nun ja, happig war, würde ich mal sagen. Wenn man
am Montag noch beim Bezirksausschuss anruft und sagt:
Leute, was ist denn da eigentlich los? Und der Bezirksausschuss sagt dann, ja, wir haben keine Ahnung, und am
Dienstag springen auf einmal hundert Schwarze rum, na
dann ist das ein bisschen eine krasse Variante. Die ROB, die
Regierung von Oberbayern, die hat da ja nicht lang gefragt.
227
Die hat halt querbeet angemietet und schlichtweg zugeladen
dann“ (Frau Wiesner).
Die Einrichtung der Flüchtlingsunterkunft im Viertel wurde nicht angekündigt. Über Nacht, so schien es den späteren Mitgliedern der Initiative, wurde die Unterkunft aus dem Boden gestampft und mit Flüchtlingen belegt.
Dass dies in einer Phase drastischer Flüchtlingsfeindlichkeit als dramatisch
empfunden wurde, davon zeugt auch die schnelle Gründung der Initiative.
Trotz Ferienzeit wurde nur wenige Wochen, nachdem die Einrichtung der
Unterkunft bekannt geworden war, eine Bürgerversammlung einberufen,
aus der die Initiative „Miteinander Leben in Sabing“ hervorging. Erst die
Einrichtung der Unterkunft im Viertel gab also den Anstoß für die Gründung einer Gruppe, die sich um diese Unterkunft und ihre Bewohner kümmert. Die plötzlich einquartierten Flüchtlinge waren für die Initiative ein
Unsicherheitsfaktor im üblichen Leben des Viertels. Ihre unangekündigte
Anwesenheit stellte ein Risiko dar, das eingehegt werden musste. Die
Nachbarschaft und ihre Bereitschaft, die Anwesenheit der Flüchtlinge zu
akzeptieren oder zu tolerieren, war eine weitere unbekannte Größe. Wie
würden die Anwohner reagieren, denen plötzlich eine Flüchtlingsunterkunft vor die Nase gesetzt wurde? Wie ließ sich möglichen Abwehrreaktionen der Nachbarn begegnen? Die Initiative sammelte einige der Nachbarn, die den Flüchtlingen gegenüber wohlgesonnen waren oder es zumindest als ihre Pflicht sahen, mögliche durch die Unterkunft hervorgerufene
Probleme zu mindern. Doch ebenso wahrscheinlich erschien zumindest in
der Anfangszeit, dass sich Kräfte aus der Nachbarschaft zum Widerstand
gegen die Unterkunft zusammenfanden. Dies bezog sich nicht nur auf eine
Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher im Viertel, von denen die Leiterin des
Jugendtreffs AXE zu berichten wusste, sondern auch auf mögliche Proteste
von Nachbarn und direkten Anwohnern der Unterkunft, wie sie aus anderen
Stadtvierteln zu vernehmen waren.
Obwohl die lokalen Beziehungen mancher Mitglieder weit verästelt in das
Viertel und seine Institutionen hineinragten, konnte die Initiative sich zunächst keine einhellige Vorstellung über die mögliche Bandbreite lokaler
228
Reaktionen auf die Flüchtlinge machen – zu sehr hatte das Thema Asyl die
Bevölkerung gespalten, zu drastisch wirkten Überfälle und Brandanschläge
auf Asylbewerber und Unterkünfte andernorts. Die Situation, die mit der
Einrichtung der Unterkunft entstand, war somit schwer einzuschätzen, offen, und dadurch bedrohlich. Vorrangiges Ziel der Initiative war, wie aus
dem Eingangszitat deutlich wird, diese offene und als beunruhigend erlebte
Situation unter Kontrolle zu bringen. Das Vorhaben, Schadensbegrenzung
zu betreiben, schloss schloss auch die Bewohner des Viertels mit ein. Es
lag im Interesse der Initiative, ein geregeltes und sicheres Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Nachbarschaft zu etablieren. Wie entwickelte sich
dieses Verhältnis, welche Rolle nahm die Initiative darin ein und welche,
mit Bourdieu gesprochen, „strukturierenden Strukturen“ (Bourdieu 1976:
164f) traten dabei in Kraft?
Die Initiative, die einer Abwehrhaltung gegen die Asylsuchenden im Viertel vorbeugen wollte, sah sich darin immer als Teil der Nachbarschaft. Sie
versammelte verschiedenste Bewohner des Viertels, einige davon fest im
Stadtteil verwurzelt, eingebunden in soziale, kirchliche oder politische Einrichtungen vor Ort, andere, für die ein lokales Engagement im Viertel Neuland war. Als aktive Gruppe innerhalb der Nachbarschaft, die in einer spezifischen Weise für die Flüchtlinge Partei ergriff, setzte sich die Initiative
aber gleichzeitig von der allgemeinen Bevölkerung des Viertels ab und bildete mit der Zeit eine eigene lokale Institution. Das heißt jedoch nicht, dass
sich die Initiative in ihren Zielen und Erwartungen deutlich vom Stadtviertel löste – im Gegenteil. Die Initiative verstand sich durchweg als lokal, sie
wies mehrheitlich Ziele und Aufgaben ab, die über das Stadtviertel hinausgingen. So fühlte sich die Initiative nicht für das „Asylproblem“ zuständig
– selbst die Mitwirkung im Münchner Flüchtlingsrat, immerhin gleichermaßen Informationsbörse wie politische Plattform der Initiativen, lag außerhalb des Interesses der Nachbarschaftsgruppe94. Zugleich waren die lo-
94
Die Gruppe griff jedoch sehr wohl auf die Informationen zurück, die sie in Form monatlicher Sitzungsprotokolle des Münchner Flüchtlingsrats bekam. An den Sitzungen
und an Aktivitäten des Flüchtlingsrats nahm aber zumeist nur ich selbst teil. Während
229
kalen Bezüge und Bindungen im Viertel richtungsweisend für das Engagement. Die Identifikation mit einer Viertelmentalität war besonders stark
bei denjenigen Initiativenmitgliedern anzutreffen, die sich schon in anderen
lokalen Bereichen engagiert hatten. Aktivitäten der Nachbarschaftsgruppe
wurden deshalb nicht nur auf ihre mögliche Effektivität hin überprüft, sondern auch in Bezug ihrer Angemessenheit hinsichtlich des Viertels und seiner Bewohner. Die Initiative verstand sich damit immer als einen Teil der
Nachbarschaft, und das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und den Bewohnern des Viertels gewann dadurch einen besonderen Stellenwert.
Auf die meisten Begegnungen zwischen Flüchtlingen und Nachbarschaft
hatte die Initiative keinen Einfluss. Auf der Straße und im Supermarkt, aber
auch über Arbeit, Kindergarten und Schule kamen Nachbarn und Flüchtlinge miteinander in Kontakt, wurden letztere schrittweise in den Alltag des
Viertels integriert. Die Initiative versuchte, diesen Prozess zu fördern, indem sie Veranstaltungen anbot, Feste und Vorträge organisierte. Die ertragreichste Aktion zur Integration der Flüchtlinge zielte jedoch nicht konkret
auf eine Gesinnungsänderung der Einheimischen oder auf Begegnungen im
kontrollierten Rahmen, sondern war der Aufruf zu Sach- und Kleiderspenden für die Flüchtlinge. Besonders anhand dieser Kleiderspenden soll deshalb eine detailliertere Untersuchung des von der Initiative intendierten
Verhältnisses zwischen Nachbarschaft und Flüchtlingen angegangen werden.
2. Feste und Vorträge
Die Feste, die für Nachbarschaft und Flüchtlinge ausgerichtet wurden, zählten zu den regelmäßigen Aktivitäten, die von der Initiative zur Einbindung
der Flüchtlinge in das Viertel aufgenommen wurden. Nicht nur die Feste
im Hof der Flüchtlingsunterkunft gehören in diese Kategorie, sondern auch
die Veranstaltungen, die von der Initiative zuerst im Jugendtreff AXE, in
den Folgejahren dann im Pfarrsaal organisiert wurden. Flüchtlinge und
Einheimische waren aufgefordert worden, zu diesen Festen mit Essen und
sich der Flüchtlingsrat auch mit Asylpolitik befasste, wurden gerade politische Aktionsund Protestformen von der Initiative mehrheitlich abgelehnt.
230
musikalischen Darbietungen zur Gestaltung beizutragen. Auf beiden Seiten
wurde dies wahrgenommen, und einige Flüchtlinge nutzten begeistert die
Gelegenheiten, ihre Fähigkeiten gegenüber den Einheimischen zur Geltung
zu bringen. In der ritualisierten Form multikultureller Feste wurde der kulturellen Diversität durch Musik, Tanz und Speisen Ausdruck verliehen, von
den Teilnehmenden erwartet, dass sie diese Vielfalt bejahten und ein Mehr
als alltägliches Maß an interkultureller Toleranz und Freundlichkeit an den
Tag legten. Obwohl auch bei diesen Festen darauf hingewiesen wurde, dass
es sich bei den Migranten um Flüchtlinge handelt, trat der politische und
soziale Status derjenigen auf der Bühne und hinter den Speisetafeln in den
Hintergrund. Zelebriert wurden die Kulturen und ihre Unterschiedlichkeit.
Fremdheit im Sinne von kultureller Andersartigkeit war bei diesen Festen
kein Problem, sondern geradezu Bedingung für die Teilnahme und den Erfolg.
Das ‚multikulturelle Fest’ bedient sich der Feststellung kultureller Differenz und lässt damit kaum Rückschlüsse auf die soziale Anerkennung zu.
Als mittlerweile ritualisierte Demonstration eigener Weltoffenheit ist das
multikulturelle Fest gleichwohl ein vom Alltag deutlich unterschiedener
Ausnahmezustand, weshalb Rückschlüsse von Festen auf den alltäglichen
Umgang nur mit großer Vorsicht zu ziehen sind. Wenn diese Feiern für einige Flüchtlinge willkommene Abwechslung und ersehnte Anerkennung
boten, so schrieb die Initiative hinsichtlich der Nachbarschaft diesen Festen
keine große Wirkung zu. Es wurde angenommen, dass an den Festen nur
diejenigen aus dem Viertel teilnahmen, die sowieso nicht gegen die Flüchtlinge eingestellt waren, Menschen also, die man nicht erst überzeugen
musste. Allerdings wurden auch die Feste als Veranstaltungen gesehen, die
eine gewisse Signalwirkung auf das soziale und politische Klima des Viertels ausübten und zugleich den Flüchtlingen das Gefühl der Akzeptanz
vermittelten. Ganz pragmatisch wurden die Feste von der Initiative auch
dazu genutzt, sich selbst und ihre Aktivitäten bekannt zu machen, und um
Spenden für ihre Arbeit mit den Flüchtlingen zu sammeln.
Die politischen Veranstaltungen, die von der Initiative der Nachbarschaft
angeboten wurden, sollten ebenfalls dazu beitragen, im Viertel Verständnis
231
für die Anwesenheit der Flüchtlinge und für ihre Situation zu wecken. Obwohl diese Veranstaltungen gut besucht wurden, waren sie in der Initiative
sehr umstritten. Für einen Teil der Gruppe gehörten die Abende, die sich
explizit meinungsbildend an die örtliche Bevölkerung richteten, zu den
Aufgaben der Initiative, andere lehnten diese Informationsabende ab, weil
sie zu „politisch“ seien und nicht direkt der Unterstützung der lokal untergebrachten Asylsuchenden dienten. Frau Astner hingegen, die Sprecherin
und Organisatorin der Initiative, sah in diesen Veranstaltungen deutlich
auch ein Ziel der Gruppe:
„Ich hatte ja noch einen anderen Ansatz, so dass man das in
die Bevölkerung auch mit reinträgt und dass da die Verständigung auch klappt und das Interesse und die Akzeptanz
wächst. Wir haben ja auch ein paar Informationsveranstaltungen gehabt, und die ganzen Festveranstaltungen. Das war
aber immer auch ein Streitpunkt innerhalb der Gruppe: mache ich das oder mach ich das nicht und warum mache ich
das, und viele waren halt der Meinung man soll nur Sachen
machen, die nur für die Bewohner sind, also, wobei ich heute noch nicht der Meinung bin. Ich glaube, die haben auch
ihren Vorteil gehabt. Dass da nicht alle mitziehen, wenn es
politisch wird, ist aber überhaupt ein Problem bei diesen
Asylgruppen, ... Dafür haben wir eigentlich ziemlich viel
machen können, wenn man mal so schaut. Und dann hängt
es auch immer an ein paar Leuten. Und wenn es dann drauf
ankam, also bei den Veranstaltungen, die dann nach außen
gingen, dann wurden die anderen halt überstimmt und dann
hab ich gesagt, dann lassen wir sie halt auch machen oder
so, aber mitgearbeitet haben sie ja dann trotzdem“ (Frau
Astner).
Für Frau Astner, die sich stark in der örtlichen SPD engagierte, war es
selbstverständlich, sich des Themas Asyl und Flüchtlingsunterbringung
auch lokalpolitisch anzunehmen und im Stadtviertel eine klare politische
232
Position einzunehmen. Andere Mitglieder der Initiative hielten nichts davon, sich öffentlich für Flüchtlinge einzusetzen und führten meist mehrere
Gründe an, weshalb sie ihre Aufgabe eher in der konkreten Unterstützung
von Flüchtlingen in der Unterkunft sahen. So auch Frau Wiesner, die
durchaus nicht einverstanden war mit der Diskriminierung, der Flüchtlinge
ausgesetzt sind. Die Möglichkeiten, sich erfolgreich politisch für Flüchtlinge einzusetzen, schätzte Frau Wiesner aber gering ein:
„Ja gut ich mein: was bitte willst Du tun? Ja? Petitionen irgendwo hinschicken? Wenn wir ehrlich sind, bringt das
nichts. Deshalb habe ich mich für den anderen Weg entschieden, dass ich gesagt habe: gut, mit meinen in Anführungszeichen drei Schützlingen, denen gebe ich Schützenhilfe wo ich kann. (...) Wir als Initiative sind die, die die
praktische Arbeit gemacht haben. Und deswegen halte ich
die auch für erheblich sinnvoller. Ich meine, nichts gegen
Flüchtlingsrat und ähnliches, aber die effektive Arbeit vor
Ort – haben doch die anderen wieder gemacht. Und ich sehe
halt bei uns ... Für mich ist das irgendwo ein sehr deutsches
Phänomen. Wenn Du also irgendwo eine größere Gruppierung hast, irgendwann, wenn die Sache so aussieht, als würde sie Erfolg versprechen, dann taucht irgendein Politiker
mit der großen Klappe auf und macht im Prinzip alles zunichte. Und da habe ich ehrlich gesagt keinen Bock drauf.
Da waren mir also die Leute vor Ort erheblich wichtiger.
Ich glaube da hält es jeder mit sich selber, wo er sagt, das ist
meine Richtung und in der Richtung kann ich was tun. Ich
mein, jetzt, unsere Sprecherin, die war ja parteipolitisch aktiv und alles schön und gut, ja, okay, das ist ihre Sache, das
ist ihr Ding. Aber mir ist es egal, welche Farbe ein Mensch
hat, welche Religion, mich interessiert der Mensch, und
wenn ich mit dem gut zurechtkomme, dann ist das okay.
Und wenn ich dem Menschen helfen kann, ist es auch okay.
233
Aber deswegen muss ich das jetzt nicht irgendwo politisch
eingrenzen oder so“ (Frau Wiesner).
Bei diesem Zitat Frau Wiesners dominiert nicht allein die Skepsis, dass die
Wirkung politischer Aktivität den Aufwand nicht lohnte. Es klingt ein generelles Misstrauen gegenüber der Politik und ihren Vertretern durch, das
vielleicht auch auf die damalige politische Behandlung des Asylthemas zurückführbar ist, von Frau Wiesner jedoch allgemein formuliert wird. Die
praktische Arbeit für einzelne Flüchtlinge wird deutlich positiver gewertet
als die mehr politische, die zum Beispiel in den Flüchtlingsräten geleistet
wird. Die Förderung von Akzeptanz für die Flüchtlinge durch Veranstaltungen im Stadtviertel war für Frau Wiesner kein Ziel, das die Initiative
sinnvoll verfolgen konnte. Besser wäre es, die Kräfte auf die konkrete Unterstützung von einzelnen Flüchtlingen zu konzentrieren, in die Politik und
ihre Streitigkeiten wollte sie nicht hineingezogen werden.
Die beiden hier angeführten Positionen zeigen, dass nicht allein die politische Heterogenität eine gemeinsame Positionierung der Initiative im Viertel erschwerte, sondern dass auch die Frage nach der Zweckmäßigkeit politischer Veranstaltungen die Gruppe entzweite. Während Frau Astner im
Viertel als SPD-Aktive einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte und auch
hinsichtlich der Flüchtlingsunterbringung eine politische Stellungnahme
plausibel fand, lehnt Frau Wiesner politische Aktivitäten im Viertel gänzlich ab. Im Zitat von Frau Wiesner klingt aber auch ein Aspekt an, der ganz
wesentlich die Haltung der Nachbarschaftsgruppe bestimmt: nicht nur wird
der praktischen Unterstützung der Vorzug vor (symbolischen) politischen
Aktionen gegeben; auch die Einzelfallhilfe steht weit über Handlungsweisen, in die Kollektive gleich welcher Art involviert sind. Die Deutlichkeit,
mit der dies von Frau Wiesner formuliert wird, hat mit ihrer Persönlichkeit
zu tun. Sie ist eine Frau, die streitbar ihren Standpunkt vertreten kann und
auch in ihrem Beruf gewohnt ist, mit großem Selbstbewusstsein aufzutreten. Darüber hinaus ist die Haltung Frau Wiesners jedoch charakteristisch
für einen Teil der Mitglieder der Nachbarschaftsinitiative, die nicht gewohnt waren, im Stadtviertel politisch aufzutreten und die Formen öffentli234
chen politischen Auftretens auch für inadäquat hielten. Für die Rechte von
Flüchtlingen auf die Straße zu gehen oder Podiumsdiskussionen zu veranstalten, passte für die meisten Mitglieder der Initiative nicht in das Erscheinungsbild des besonnenen Viertelbewohners, sondern wurde in der Regel
als etwas überspannt beurteilt. Ohne dass die Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe ihr Engagement für Flüchtlinge im Viertel verheimlicht hätten, zogen es doch viele vor, sozusagen ‚im Stillen’ zu wirken und ihre Unterstützung von Flüchtlingen nicht an die große Glocke zu hängen.
Trotz dieser Divergenzen innerhalb der Gruppe veranstaltete die Initiative
zwischen Herbst 1992 und Sommer 1995 eine Reihe von Podiumsdiskussionen, für die sachkundige Vertreter zu den verschiedenen Themen, Vertreter der Behörde oder auch Politiker, eingeladen worden waren95. Die Themen spannten den Bogen von der Situation in den Herkunftsländern von
Flüchtlingen über die deutsche Asylpolitik bis zur rechtlichen und sozialen
Situation von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Konkrete Bezüge zu den
Flüchtlingen im Stadtviertel wurden durch Vertreter der Initiative eingebracht, die jeweils einleitend die Gruppe und ihre Ziele eines ‚Miteinander
Lebens’ vorstellten. Das Bild von Flüchtlingen, das auf diesen Veranstaltungen vermittelt wurde, beschränkte sich im Wesentlichen auf die Opferrolle. Als Opfer vor Verfolgung nach Deutschland geflüchtet, wurden sie
weiter Opfer der Asylpolitik und der staatlichen Exklusion durch Lagerunterbringung und Sachleistungsbezug. Die Veranstaltungen zielten auf je
unterschiedliche Weise darauf ab, Verständnis für die Flüchtlinge und ihre
Lage zu wecken, indem die Flüchtlinge sowohl hinsichtlich der Fluchtursachen als auch Asylverfahren und der Form der Unterbringung als nicht verantwortlich dargestellt wurden.
Flüchtlinge waren bei diesen Informationsveranstaltungen meist nur Gegenstand der Diskussionen. Nur bei wenigen der vorwiegend auf Deutsch
abgehaltenen Veranstaltungen waren auch Flüchtlinge anwesend. Eine
95
Die genaue Anzahl ist schwer zu beziffern, da die Initiative teils selbst Abende veranstaltete, teils andere Organisationen darin unterstützte oder einlud, im Viertel eine Veranstaltung zu machen. Die Initiative hielt bis Ende 1993 selbst drei Veranstaltungen ab,
später begnügte sie sich eher damit, andere Organisationen zu unterstützen.
235
Veranstaltung jedoch, die 1995 der politischen Situation in der jugoslawischen Provinz Kosovo gewidmet war, wurde hauptsächlich von kosovarischen Flüchtlingen besucht, die sich über die Lage in ihrem Herkunftsland
informieren wollten. Außerdem unterstützte die Initiative auch einen Verein togoischer Flüchtlinge (der in der Sabinger Unterkunft gegründet wurde), der mehrmals Informationsveranstaltungen über die politische und
Menschenrechtssituation in Togo veranstaltete. Diese Abende erfreuten
sich größerer Beliebtheit, da sich an die Vorträge ein Fest mit Essen und
Tanz anschloss, das viele togoische Flüchtlinge und auch einige Einheimische anzog, die allerdings aus der ganzen Stadt kamen und über verschiedenste Wege von den Abenden erfahren hatten.
Die „politischen“ Veranstaltungen wurden nur von einem kleinen Teil der
Gruppe aktiv vorbereitet und organisiert. In der Regel nahmen an den Veranstaltungen aber auch diejenigen teil, die wie Frau Wiesner dem ganzen
Ansinnen skeptisch gegenüberstanden. Die Abende trugen zwar zum Bekanntheitsgrad der Initiative im Viertel bei, sprachen jedoch nur einen begrenzten Personenkreis an. So kamen selten mehr als 20 bis 30 Personen
aus dem Viertel. Häufig stammten die Besucher aus dem Bekanntenkreis
der Initiativenmitglieder oder waren Vertreter lokaler Gremien und Institutionen. Die in der Gruppe häufig geäußerte Kritik, dass man mit Festen und
Informationsabenden doch wieder nur diejenigen erreiche, die schon positiv gegenüber den Flüchtlingen eingestellt sind, ist deshalb durchaus berechtigt. Die Initiative bediente sich in beiden Veranstaltungsformen bekannter, wenn auch nicht für alle Mitglieder der Gruppe gebräuchlicher
Modelle.
Sowohl multikulturelle Feste als auch politische Podiumsdiskussionen gehören zum gängigen Repertoire im Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit
ihren Minderheiten und erzielten auch die erwarteten Resultate. Von gänzlich anderem Zuschnitt war die Aktion, die im folgenden beschrieben werden soll.
236
3. Die Kleidersammlung
Sammeln
„Wir hatten das Viertel komplett aufgeteilt. Elf Mitglieder
hatten zugesagt, in ihrer Wohngegend die Plakate aufzuhängen, wodurch wir flächendeckend plakatieren konnten. Viele der Anwesenden nahmen sich etwa 10 bis 20 Plakate im
Din A 4 Format von einem Stapel. Die Plakate sollten an
Laternenmasten, Bauzäune und Hauswände geklebt werden.
Außerdem sollten Laden- und Kneipenbesitzer um Erlaubnis gefragt werden, die Plakate an der Tür oder Fensterscheibe anzubringen. Es gab eine kleine Diskussion, ob wir
auch am T-Platz Zettel aufhängen oder verteilen sollten. Der
Platz ist sehr belebt und mit vielen Geschäften ein kleineres
Zentrum der Umgebung, liegt jedoch nicht im Viertel, was
einigen der Initiative Grund genug war, das Verteilen dort
eher abzulehnen. Das von Frau Astner entworfene Plakat
fand allgemeine Zustimmung. Es wurde angemerkt, dass es
vielleicht ein bisschen sehr auf christlich gemacht sei, aber
alle waren der Ansicht, dass gerade das bei den Bewohnern
des Viertels gut ankäme.
Die Kirche hatte sich bereiterklärt, für Freitag und Samstag
den großen Saal im Pfarrzentrum zur Verfügung zu stellen.
Am Freitag sollten Spenden entgegengenommen und gleich
sortiert werden. Dazu wurden drei Tischreihen aufgebaut, je
eine für Männer-, Frauen- und Kinderkleidung. Den Flüchtlingen sollte bekannt gemacht werden, dass die Ausgabe der
Kleidung am Samstag stattfände. An beiden Tagen sollten
sich für Entgegennahme und Sortieren als auch für die Ausgabe möglichst viele Mitglieder beteiligen“ (Forschungsnotiz zum Treffen am 21.10.1992).
237
Sammelaktionen für die Flüchtlinge wie diese gehörten zum kontinuierlichen Repertoire der Nachbarschaftsgruppe. Gesammelt wurden überwiegend Kleidung, aber auch Spielzeug, Bücher, Geschirr oder Fahrräder96.
Ausgerichtet am vermuteten Kleiderbedarf der Flüchtlinge wurden die
Sammelaktionen jeweils im Frühjahr und im Herbst durchgeführt.
Schon die erste Kleidersammlung im November 1992 brachte eine unerwartet große Resonanz in der Nachbarschaft. Als sich die Initiative am
Freitag im Pfarrsaal versammelte, herrschte noch flapsige Skepsis vor, ob
das Plakatieren auch den erwünschten Erfolg bringen würde. Doch schon
bald trafen die ersten Anwohner mit Plastiktüten und Kartons ein, und danach riss der Strom spendewilliger Nachbarn nicht mehr ab. Vor allem ältere Leute kamen, auch Mütter mit ihren Kindern, die auf dem Weg zum
Einkauf oder Spielplatz Päckchen und Tüten abgaben. Die Initiative bemühte sich, jede Spende persönlich anzunehmen und den Spendern zu danken. Gelegentlich tauschte man sich verständnisvoll über die schlimme Situation der Flüchtlinge aus, und war sich einig, dass man im Viertel zusammenhalten müsse. Nicht wenige der älteren Anwohner verwiesen auf
ihre eigenen Flucht- oder Nachkriegserfahrungen, dass man ja damals auch
nichts gehabt hatte und für alles dankbar gewesen wäre. Die Initiative hatte
genug zu tun, die Spenden anzunehmen, den Überbringern ihren Dank auszusprechen und die Kleidung zu sortieren. Insgesamt kamen an diesem ersten Tag ungefähr zweihundert Bewohner des Viertels, um Kleider- und
Sachspenden abzugeben. Einiges erwies sich in den Augen der Initiative als
zu abgetragen für die Flüchtlinge, manches direkt schäbig, das meiste wurde als brauchbar betrachtet. Die Initiative war von der positiven Resonanz
im Viertel überrascht:
„Und da kamen also wirklich ... gerade so die erste Sammlung, muss ich sagen, da waren auch unwahrscheinlich viel
alte Leute da, die also wirklich liebevollst gepackt ihre Sachen gebracht haben. Die alte Dame mit ihren drei Unterhemden mit dem Samtband, die hat zwar nicht viel, aber auf
96
vgl. Abb. 3 Seite: 238.
238
die kann sie verzichten, und die würde sie gerne geben,
wenn wir sie nehmen. Da muss ich sagen, da habe also ich
etwas mit den Tränen gekämpft damals. Das waren die etwas härteren Dinge. Weil, diese Sachen waren auch brauchbar, während also mancher andere uns verwechselt hat mit
einer Müllhalde oder mit der Altkleiderentsorgung, ja. Wo
man also nach so einer Aktion oder Sammlung dann wirklich erst mal mit einem Auto zur Mülldeponie fahren konnte
um das loszuwerden, was dann schlichtweg bei uns abgekippt wurde“ (Frau Wiesner).
Im Großen und Ganzen wurden die Reaktionen aus der Bevölkerung jedoch als sehr ermutigend eingestuft. Nicht nur durch die Menge an Sachspenden, auch wegen der Einstellungen, die von Nachbarn gegenüber den
Flüchtlingen geäußert wurden, empfanden viele in der Initiative die Sammelaktion als bestätigenden Rückhalt für das eigene Engagement. Dass
auch völlig untragbare Kleidungsstücke abgegeben wurden, konnte den positiven Gesamteindruck der Sammelaktion nicht schmälern.
Verteilen
Auch die Resonanz der Flüchtlinge auf die Sammelaktion war für die Initiative zufriedenstellend. Nachdem die Mitglieder des Arbeitskreises bis in
den Abend hinein noch Spenden sortiert und auf Tische gestapelt hatten,
erschienen im Lauf des Samstag Vormittages etwa 40 bis 50 Flüchtlinge,
um das präsentierte Angebot in Augenschein zu nehmen und Bekleidungsstücke auszusuchen. Die Sammelaktion war in der Unterkunft breit bekannt
gemacht worden, doch wie bei allen Angeboten, vor allem denen, die außerhalb der Unterkunft stattfanden, war die Beteiligung von Flüchtlingen
nie vorhersagbar. Deshalb war es für die Initiative sehr erfreulich, dass
immerhin ein gutes Viertel der Bewohner den Weg in den Pfarrsaal fand.
Beim Betreten des Pfarrsaals wurde jeder Flüchtling eigens begrüßt. Wer
aus der Initiative einen Bewohner der Unterkunft persönlich kannte, nutzte
die Gelegenheit zu einem kleinen Schwatz, wie es denn ginge, wie es um
die Familie stehe, ob es Neues im Asylverfahren gebe usw. Dies war je239
doch nicht die Regel. Viele der Besucher wanderten stumm und oft unschlüssig an den Tischreihen mit Kleidungsstücken entlang, manche kamen
zu zweit oder zu dritt und unterhielten sich gedämpft, während sie das Angebot begutachteten.
Die Reaktion der Flüchtlinge angesichts der ausgebreiteten Bekleidung war
sehr unterschiedlich. Sehr beherzt griffen manche Mütter zu, die für ihre
Kinder zum Teil mehrere Tüten vollpackten. Durchweg wählerischer waren
die meist männlichen Flüchtlinge afrikanischer Herkunft, die oft längere
Zeit unschlüssig vor dem Angebot standen und dann oft wieder gingen, ohne dass sie etwas Passendes gefunden hätten. Die meisten Flüchtlinge jedoch suchten sich etliche Kleidungsstücke aus, die sie mitnahmen. Die Initiative verfolgte alles mit aufmerksamem Blick, sah das Ergebnis im Großen und Ganzen als zufriedenstellend an und befand, dass die erste Kleideraktion ein voller Erfolg gewesen sei. Einige Plastiksäcke übrig gebliebener Kleidungsstücke wurden an einer öffentlichen Sammelstelle abgegeben.
Bilanzieren
Der positive Eindruck der Sammelaktion wurde einige Tage später durch
die Mitteilung eines Mitglieds getrübt, es habe größere Mengen der Bekleidung in den Müllcontainern der Unterkunft gefunden. Mehrere Bewohner
hatten also Kleidung mitgenommen, die sie im Nachhinein als untragbar
angesehen und weg geworfen hatten. Beim nächsten Treffen löste dies eine
Diskussion in der Initiative aus, die den Sinn der Sammelaktion in Frage
stellte. Dass die Flüchtlinge die Bekleidung, die sie sich ausgesucht hatten,
schließlich wegwarfen, wurde allgemein als inadäquate Handlungsweise
eingestuft. Es erschien einer Reihe von Mitgliedern der Initiative als ausgesprochen undankbar gerade gegenüber den älteren Nachbarn, die selbst
wenig hatten und trotzdem etwas für die Flüchtlinge spendeten. Die Einstellungen mancher Flüchtlinge gegenüber den Hilfeleistungen der Gruppe
wurden Gegenstand von Kritik und deutlicher Anlass von Enttäuschung:
„Ja dass man halt die Leute kennen gelernt hat in ihren Eigenarten, ned, raffgierige und raffsüchtige. Und wie wir uns
240
geärgert haben, als sie alles umsonst gekriegt haben und
dann fandst du das alles in den Tonnen wieder. Kiloweise
weggeschleppt, und dann schau ich es mir genau an, und
was ich nicht brauche, schmeiße ich in die Tonne. Ganz
gleich, ob es ein anderer brauchen konnte oder nicht. Wie
man dann so seine Dämpfer erfährt, ned“ (Frau Tekla).
Um einem Missbrauch der Aktion künftig vorzubeugen, wurde beschlossen, bei der nächsten Kleideraktion einen kleinen Geldbetrag pro Kleidungsstück von den Flüchtlingen zu verlangen.
„Dann sind wir ja bei den Kleideraktionen dazu übergegangen, symbolisch Geld dafür zu verlangen, weil wir einfach
nach der ersten Aktion festgestellt hatten, dass die Leute nur
gerafft haben, und zwar völlig wahllos, und wir dann am
nächsten Tag teilweise wirklich wunderschöne Sachen im
Müll gefunden haben. Und dann haben wir gesagt, gut, auf
dem Weg nicht mehr, und dann haben wir ja so von zehn
Pfennig bis zu einer Mark oder zwei Geld verlangt, und
dann lief das auch, ne“ (Frau Wiesner).
An den afrikanischen Flüchtlingen, so die allgemeine Einschätzung, gingen
die Kleideraktionen ziemlich vorbei. Mehreren in der Gruppe war aufgefallen, dass sie kaum etwas mitgenommen hatten. Wahrscheinlich, so eine geäußerte Vermutung, legten sie einen so großen Wert auf ihre Kleidung und
ihr Aussehen, dass sie mit durchschnittlicher und nur selten dem modischen
Stand der Zeit entsprechenden Bekleidungsstücken nicht viel anfangen
könnten. Die Irritationen wegen der Haltung der afrikanischen Flüchtlinge
konnten den Sinn der Kleidersammlung jedoch nicht wirkungsvoll in Frage
stellen. In der Initiative setzte sich die Einschätzung durch, dass man mit
keiner Aktion jemals alle Bewohner der Unterkunft erreichen könne, und
241
dass die Kleidersammlung gemessen an anderen Aktionen durchaus eine
gute Resonanz auch bei den Flüchtlingen hervorgebracht hätte97.
Anhand der Kleideraktion stellte die Initiative fest, dass die Bedürfnisse der
Flüchtlinge sehr unterschiedlich waren. Ein Teil der Bewohner verfügte
über erheblich mehr Ressourcen, als die schäbige Unterbringungssituation
deutlich werden ließ, einige andere waren wirklich bedürftig auch in dem
Sinne, dass Kleider- und Sachspenden Sinn machten. Die staatlichen Bekleidungsrationen deckten gerade mal das absolute Minimum, und insbesondere Familien mit Kindern hatten damit große Schwierigkeiten. In den
Diskussionen, die in der Gruppe geführt wurden, waren jedoch weniger
diese Bedürfnisse von Bedeutung als vielmehr die Haltungen, mit denen
die Flüchtlinge dem Hilfsangebot der Initiative und – im Falle der Kleidersammlungen – auch der Nachbarschaft begegneten. Die Initiative nahm
dabei wahr, dass sie einen Teil der Flüchtlinge mit ihrem Angebot nicht
erreichte: zu den Kleidersammlungen kamen diejenigen unter den Flüchtlingen, die sich soweit eingelebt hatten, dass sie einen realistischen Blick
für ihre Lebenssituation und die damit einhergehenden Möglichkeiten gewonnen hatten. Dies wurde den Flüchtlingen schnell als übersteigerte Anspruchshaltung negativ ausgelegt. Flüchtlinge, die etwa selbst auf ihre
Hilfsbedürftigkeit hinwiesen, wurde vorgeworfen, dass sie die Hilfsbereitschaft übermäßig ausnutzten.
„Irgendwo bin ich ein Mensch der etwas allergisch reagiert
auf dieses permanente: ach du musst mir doch helfen, weil
ich doch so arm dran bin. Also das ja, und das waren also
97
Auch wenn eine Begründung dieser Beobachtung für die Argumentation hier unwesentlich ist, so ist doch die Bedeutung, die afrikanische Flüchtlinge der Kleidung beimessen, erheblich. Dies führte häufig dazu, dass Afrikaner zu den kleinen Festen, die
von der Initiative oder in der Nachbarschaft veranstaltet wurden, mehr als elegant gekleidet erschienen. Möglicherweise spiegeln sich hierin die Erwartungen an ein erfolgreiches Leben im Aufnahmeland, jedenfalls kontrastierte die Kleidung mitunter drastisch mit dem schäbigen Ambiente der Flüchtlingsunterkunft. (Ein interessantes Beispiel zur Rolle europäischer Markenkleidung in der Vermittlung von Konsumwunsch
und Selbstbild bei jugendlichen Gruppen in Zentral-Afrika bietet Friedman 1990: 314319).
242
überwiegend die Leute, denen es eigentlich im Verhältnis zu
anderen schon relativ gut ging, das waren die, die am meisten gejammert haben. Das hat halt bei anderen besser gefruchtet und da konnte man auch was rausholen, aber ich
bin dann eher der Typ: ich zieh mich dann zurück, weil ich
habe Augen im Kopf und mache mir mein eigenes Urteil“
(Frau Wiesner).
Schließlich setzte sich jedoch die Überzeugung durch, dass die Kleidersammlungen trotz allem als Erfolg zu werten waren. Wegen einiger
schwarzer Schafe dürfe, so die mehrheitliche Auffassung, die Kleidersammlung nicht generell in Frage gestellt werden. Die Frage jedoch, ob die
Flüchtlinge tatsächlich einen Bedarf an Bekleidung hätten, der den Aufwand rechtfertigen würde, blieb im Raum. Die Diskrepanz zwischen der
Spendenbereitschaft der Bevölkerung und dem Interesse der Flüchtlinge
war deutlich geworden.
Die Kleidersammelaktionen wurden trotz bestehender Zweifel bis zur Auflösung der Unterkunft und damit auch der Initiative durchgeführt, regelmäßig einmal im Frühling und einmal im Herbst. Nachdem die Initiative
schließlich realisierte, dass das Interesse der Flüchtlinge an den Sammelaktionen immer weiter absank, wurde nur noch Kinderkleidung gesammelt,
die zunächst im Pfarrsaal ausgelegt und später direkt an die Familien in der
Unterkunft verteilt wurde. Bei einigen Mitgliedern war von Beginn an
Skepsis gegenüber dem Sinn der Kleidersammlungen vorhanden. Die überwiegende Mehrheit der Gruppe hielt jedoch an den Aktionen fest. Kritik
wurde nicht zur Kenntnis genommen oder erst gar nicht laut geäußert:
„Und was ich ja dann noch so mitgemacht hatte, des warn
so Aktionen, was weiß ich, wegen den Klamotten. Selber
fand ich das eigentlich auch überflüssig. Die paar Leute, die
ich da gekannt habe privat, bei denen hatte ich eigentlich
das Gefühl, dass die gar nicht daran interessiert sind. Ich
hatte aber auch nicht den Nerv in der Gruppe dann zu sagen,
dass ich das irgendwie unsinnig finde“ (Frau Buschmeier).
243
Die Hartnäckigkeit, mit der die Initiative das Projekt der Kleider- und
Sachspenden für Flüchtlinge verfolgte, ist vor allem deshalb erstaunlich,
weil ihr Sinn, betrachtet man die mäßige Resonanz der Flüchtlinge auf diese Mühe, nicht aus dem Interesse der Flüchtlinge abgeleitet werden kann.
Es fragt sich deshalb, welche Gründe die Initiative veranlassten, eine mühevolle Arbeit auf sich zu nehmen, deren Produkt seine Adressaten offenkundig nicht wirklich erreichte. Die Initiative machte im Laufe ihres Engagements die Erfahrung, dass auch die bestgemeinten und wohlbegründeten
Aktionen oft nur ein begrenztes Echo bei den Flüchtlingen hervorriefen.
Die Beziehungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen und einzelnen Flüchtlingen zu Mitgliedern der Initiative, die religiöse Einstellung der
Flüchtlinge, die kulturell unterschiedlichen Spielräume in der Reaktion auf
Angebote der Initiative, aber auch die Bedingungen ihrer sozialen Lage als
Asylsuchende hatten Einfluss darauf, wie die Flüchtlinge auf welche Angebote reagierten, wie die Initiative nach und nach herausfand. So war man
bei den meisten Aktionen zufrieden, wenn wenigstens ein kleiner Teil der
Flüchtlinge auf das Angebot positiv reagierte. Die Erforschung der Gründe,
weshalb nur diese das Angebot wahrnahmen und andere nicht, hielt sich in
pragmatisch ausgerichteten Grenzen. Ebenfalls eine Rolle spielt sicherlich
die begrenzte Möglichkeit der Initiative, tatsächlich Hilfsangebote für die
Flüchtlinge vorzuhalten, die der Mehrzahl der Flüchtlinge zugute kamen
und die Ressourcen der Initiative nicht überschritten. Auch mangels Alternativen wurden deshalb Aktionen beibehalten, denen ein wenn auch mitunter geringer Erfolg zugeschrieben wurde.
Eine geringe Resonanz der Flüchtlinge war deshalb noch kein Grund für
die Initiative, ein bestimmtes Angebot einzustellen, sofern man generell
von der Angemessenheit und vom Sinn der Maßnahme überzeugt war. Zumal hinsichtlich der Kleidersammlungen einiges dafür sprach, dass Kleiderspenden von den Flüchtlingen gerne gesehen wurden. Besonders Frau
Tekla hatte sich immer wieder um Wäsche und Bekleidung für die Flüchtlinge bemüht und diese in der Unterkunft verteilt:
244
„Und dann hat man sich eben überlegt, was wird gebraucht,
dann ham die einmal alle vier Wochen Bettwäsche gekriegt,
ned. Das hat mir der Sani dann erzählt, ned. Und, na ja,
dann haben Angela und ich angefangen, Bettwäsche zu
sammeln. Und dann hab ich rumgebettelt bei den ganzen
Geschäftsleuten hier, für die Kinder und für die Erwachsenen und, und, und ... Und dann haben wir die Reinigungen
abgeklappert, ned, die übriggebliebenen Sachen, da ist einiges gekommen. Dann hat die vom Kinderladen vorne, die
hat ihren Bestand verkleinert und hat also sehr viel gegeben“ (Frau Tekla).
In der Beurteilung der Kleidersammlungen spielte neben der Resonanz der
Flüchtlinge auch deren Versorgungslage eine Rolle. Asylsuchende bekamen zweimal jährlich einen geringen Barbetrag bzw. Gutscheine, die zum
Einkauf von Kleidung berechtigten, oder sie konnten aus dem Angebot einer Bekleidungsfirma wählen, die turnusmäßig Kleidervergaben an die
Flüchtlinge organisierte. In der Sabinger Unterkunft war die Kleidervergabe über Barbeträge geregelt. Die Bewohner waren diesbezüglich besser gestellt, da sie bedarfs- und angebotsorientiert einkaufen konnten. Flüchtlinge, die allein auf diese staatlichen Leistungen angewiesen waren, konnten
dennoch objektiv als bedürftig bezeichnet werden, da die staatliche Versorgung kaum die Deckung des Mindestbedarfs sicherstellen konnte. Dies
spricht dafür, dass eine Aktion wie die Kleidersammlung von der Initiative
beibehalten wurde, auch wenn das Verhalten mancher Nachbarn, vor allem
aber das der Flüchtlinge Unmut und Enttäuschungen in der Initiative verursachte.
Jedoch sind es nicht allein die pragmatischen Erwägungen der Nachbarschaftsgruppe, die für die Beibehaltung der Kleidersammlungen relevant
sind. Ebenso ist festzustellen, dass sowohl für die Initiative als auch für die
Spenderinnen und Spender aus der Nachbarschaft der Sinn von Kleiderspenden für Bedürftige evident ist. Vergleicht man das Einsammeln und die
Ausgabe der Spenden, so lässt sich feststellen, dass die Spender damit deut245
lich mehr anfangen konnten als die Empfänger. Die Nachbarn, die gemäß
den Wünschen der Initiative Sach- und Kleiderspenden brachten, hatten
gleich mehrere Anknüpfungspunkte, die ihnen eine Einschätzung der Situation erlaubten. Sammlungen und Spenden für Bedürftige der eigenen Gesellschaft, aber auch für Krisengebiete oder die „Dritte Welt“, waren den
meisten geläufig, gerade im karitativen Kontext der Kirche. Flucht oder
den Verlust der eigenen Habe kannten einige Viertelbewohner aus eigener
Erfahrung. Gerade die älteren Spender und Spenderinnen bezogen sich auf
ihre eigene Flucht- oder Nachkriegserfahrung in der Art: „Kennt man ja,
wie das ist, von Null anfangen.“ Auch auf die Verpflichtung, für Randgruppen des eigenen Viertels Sorge zu tragen, wird durch wohltätige Tombolas, Flohmärkte und ähnliches, die zum Beispiel für Behinderteneinrichtungen oder Obdachlose im Stadtteil durchgeführt werden, immer wieder
hingewiesen. Die Kleidersammlung für die im Viertel untergebrachten
Flüchtlinge wurde nun ohne große Mühe in das eine oder andere dieser
Schemata eingeordnet. Die Nachbarn wussten also recht gut, was von ihnen
seitens der Initiative erwartet wurde. Kritik gegenüber der Nachbarschaft
übte die Initiative dementsprechend nur angesichts der Spenden, die von
der Initiative als zu schäbig eingeschätzt wurden, um an die Flüchtlinge
weitergegeben zu werden98. Während die Initiative die Position einer stellvertretenden Empfängerin annimmt, werden die Flüchtlinge in der Vorstellung der Nachbarschaft bekannten Bildern bedürftiger Randgruppen innerhalb und außerhalb der eigenen Gesellschaft angeglichen.
Die Haltung der Flüchtlinge weist auf erheblich größere Schwierigkeiten
mit der Einschätzung hin, was in diesem konkreten Fall von ihnen erwartet
wird. Selbst den Flüchtlingen, denen das Prinzip der wohltätigen Gabe (die
statt einer Gegengabe Dankbarkeit verlangt) bekannt war, dürfte es nicht
leicht gefallen sein, unter den wachsamen Augen der Initiative aus dem
Angebot auszuwählen. Aus der Sicht der Initiative jedenfalls war es gegen98
Auch auf Seiten der Spendenden sind pragmatische Gesichtspunkte nicht ganz von
der Hand zu weisen: die Gelegenheit, mal durch Aussortieren wieder Platz im eigenen
Kleiderschrank zu schaffen, ist natürlich ein Spendenmotiv, das nicht unterschätzt werden darf.
246
über den Gebenden (und auch gegenüber der Initiative als Organisatorin)
ein eklatanter Bruch mit den Konventionen, dass Flüchtlinge die mitgenommene Kleidung nicht vollständig nutzten bzw. für sie unbrauchbare
Kleidungsstücke anschließend wegwarfen. Ähnlich unliebsam war es für
die Initiative zu bemerken, dass einige Flüchtlinge das Angebot inspizierten, dann jedoch wieder gingen, ohne etwas von der Kleidung mitzunehmen. Wenn die Initiative hier auch weniger heftig reagierte, so stellen doch
beide Handlungsweisen den Sinn der Kleidersammelaktion in Frage. Im
einen wie im anderen Fall war das Verhalten der Flüchtlinge für die Initiative ein Indiz nicht adäquaten Handelns.
Die Reaktionen der Flüchtlinge wurden von der Initiative jedoch so ausgelegt, dass sie den allgemeinen Sinn der Kleidersammlung nicht in Frage
stellten. Es fehlte jeder Hinweis auf die Frage, ob die Flüchtlinge die Situation falsch interpretieren oder ob sie vielleicht gar nicht in das Schema der
Bedürftigkeit passen, das der Kleidersammlung zu Grunde liegt. Die Reaktionsweisen der Flüchtlinge wurden vielmehr heruntergespielt zu abweichenden Einzelfällen oder der Besonderheit einer bestimmten Gruppe, hier
den Afrikanern, die eben besondere Ansprüche an ihre Bekleidung stellen.
Dass die Kleidersammlungen trotz dieser deutlichen Signale lange Zeit im
gleichen Modus durchgeführt wurden, spricht dafür, dass sie eine besondere Rolle im von der Initiative imaginierten Verhältnis zwischen Nachbarschaft und Flüchtlingen einnehmen. Nicht der praktische Nutzen, sondern
die Vorstellung dieses Nutzens für die Flüchtlinge ist Angelpunkt und Legitimation der Aktion. Einiges deutet darauf hin, dass die Realität angepasst wird an das Bild, das die Initiative von den Flüchtlingen hat und an
die Nachbarschaft weiter vermittelt. Dies legt nahe, die Plausibilität und
den Nutzen der Aktion nicht primär auf der praktischen und direkten, sondern auf der symbolisch vermittelten Ebene zu suchen, die Kleidersammlung deshalb nicht als praktischen Transfer von Bekleidungsstücken, sondern als Geste zu betrachten.
247
4. Die Kleidersammlung als symbolischer Tausch
Um über die materielle Transaktion hinaus eine Aussage über die Bedeutung der Kleiderspende machen zu können, bieten sich ethnologische Überlegungen über den Tausch, besonders über das Prinzip der Reziprozität
an99. Tausch und Reziprozität sind seit Beginn ethnologischer Forschung
ein immer wiederkehrendes Grundthema. Spätestens seit Bronislaw Malinowskis Untersuchungen des Kula-Tausches (Malinowski 1920: 97-105)
und der Studie von Marcel Mauss über ‚Die Gabe’ (Mauss 1978: 11-144)
wird die Rolle des Gabentausches in der Bildung und Festigung sozialer
Beziehungen zwischen Gruppen untersucht. An dieser Stelle soll jedoch
zunächst auf den amerikanischen Soziologen Alvin Gouldner Bezug genommen werden, der im Kontext funktionalistischer Theoriebildung die
Norm der Reziprozität in ihrer Bedeutung für Sozialsysteme so hoch einschätzt, dass er sie dem Inzesttabu gleichsetzt (Gouldner 1984: 97). Mein
Interesse an Gouldner liegt besonders darin begründet, dass er Reziprozität
weit mehr auf westliche Gesellschaften zuschneidet und zudem dem Thema
des ungleichen Tausches besonderes Augenmerk widmet.
Die Norm der Reziprozität besagt, dass eine Gabe eine Gegengabe impliziert. In Abgrenzung zum Prinzip der Komplementarität, die dem Recht des
einen die Pflicht des anderen gegenüberstellt, bestimmt Gouldner die Reziprozität als eine Norm, die beiden Parteien Rechte und Pflichten zugleich
zuspricht, wodurch ein wechselseitiger Austausch erst ermöglicht wird.
Dadurch unterscheiden sich reziproke Prozesse auch von der Ausübung
von Statuspflichten. Nicht aus dem, was Menschen sind oder darstellen,
sondern aus ihren vorausliegenden Handlungen erwachsen ihnen bestimmte
Pflichten:
„Wir schulden anderen ganz bestimmte Dinge, weil sie früher für uns etwas getan haben, weil es eine gemeinsame
Vorgeschichte unserer Interaktion gibt. Es handelt sich um
99
Ein anderer, ebenfalls interessanter Ausgangspunkt wäre der Begriff der Solidarität,
wie dies Hondrich und Koch-Arzberger versuchen (vgl. ebd. 1992, v.a. 89-105).
248
derartige Verpflichtungen, die mit der generalisierten Reziprozitätsnorm gemeint sind“ (Gouldner 1984: 97).
Gouldner, der im Reziprozitätsprinzip eine allgemeingültige Norm sieht,
charakterisiert Reziprozität durch zwei Minimalforderungen: „1. Man soll
denjenigen helfen, die einem geholfen haben, und 2. man sollte jene nicht
kränken, die einem geholfen haben“ (Gouldner 1984: 98). Der Erhalt einer
Hilfeleistung verlangt demnach vom Empfänger, die Leistung zu erwidern
und verpflichtet ihn zugleich für die Zwischenzeit zu einer Haltung, die mit
Dankbarkeit bezeichnet werden kann. Ex negativo wird dieser Anspruch
deutlicher: jemand, der den Pflichten der Reziprozitätsnorm nicht nachkommt, gilt als undankbar. Die Haltung der Flüchtlinge, die seitens der
Nachbarschaftsgruppe als undankbar eingeschätzt wurde, kann so als inadäquater Umgang der Flüchtlinge mit den Spenden und zugleich als mangelnde Erfüllung der Reziprozitätsnorm bestimmt werden.
Neben diesen Minimalforderungen hebt Gouldner als allgemeine Funktion
der Reziprozität – unabhängig noch vom Wert und Gegenstand des
Tauschobjektes – den Aufbau und Erhalt sozialer Beziehungen zwischen
den Tauschpartnern hervor. Der reziproke Tausch ist nicht eine einmalige
Angelegenheit, sondern über Reziprozität treten Tauschpartner in eine soziale Beziehung ein. Kennzeichen des reziproken Tausches ist seine zeitliche Dimension. In der Regel folgt auf die Gabe nicht gleich die Gegengabe, sondern zwischen beiden Tauschakten liegt eine Zeitspanne, in welcher
eine Verbindlichkeit und damit eine soziale Beziehung zwischen den
Tauschpartnern besteht. Nicht nur die Pflege sozialer Beziehungen kann als
Funktion des reziproken Tausches angesehen werden, sondern der Tausch
kann auch einen Auslöseeffekt haben, also die Möglichkeit, durch Gabentausch eine soziale Bindung und Verbindlichkeit zunächst einmal herzustellen.
Auch die Frage des Gabenwerts ist ein weiterer, für die soziale Funktion
der Reziprozität bedeutsamer Aspekt des Gabentausches. In der Regel wird
die Gegengabe nur ungefähr gleichwertig mit der früher empfangenen Gabe sein. Diese ‚ungefähre Gleichwertigkeit’ ist relativ zum Status der
249
Tauschpartner zu sehen. Differiert dieser Status, so kann auch der Wert von
Gabe und Gegengabe unterschiedlich bemessen sein. Auch wenn Reziprozität also nicht aus den Statuspflichten abzuleiten ist, so ist sie dennoch statusabhängig. Wichtiger für das Prinzip der Reziprozität ist jedoch die allgemeine Auffassung, dass Gabe und Gegengabe nur ‚ungefähr’ gleichen
Wertes sein sollten. Ein exakter Ausgleich würde den Prozess des reziproken Gabentausches beenden und das Band gegenseitiger Verpflichtungen
kappen:
„Es ist auch zu erwarten, das wir Mechanismen finden werden, die Menschen dazu verleiten, gegenseitig sozial verschuldet zu bleiben oder die eine vollständige Rückzahlung
verhindern. Damit wird eine weitere Funktion der Reziprozitätsnorm behauptet, die sich aus dem Erfordernis einer lediglich ungefähren Gleichwertigkeit der Gegenleistung ergibt (Gouldner 1984: 105, Kursivsetzung im Original).
Die Bedeutung der Angemessenheit des Gabenwerts deutet darauf hin, dass
die Formen des Gabentausches in hohem Maße kulturspezifisch sind. Dies
ist nicht allein durch den Gabenwert in Relation zum Status der Tauschpartner begründet, sondern zeigt sich auch in der häufig stark ritualisierten
Form, die der Austausch annehmen kann. Dies macht die Reziprozität enorm anfällig für interkulturelle Missverständnisse100. Womit ein weiteres
Kriterium angerissen ist, dass nämlich die Bedingungen des Gabentausches
weitgehend implizit sind. Zwar wird mit Dritten oft und gern vor allem über die Angemessenheit von Gaben diskutiert, nur selten sind solche Diskussionen jedoch expliziter Teil des Tauschrituals. Auch dies zeigt sich
deutlich in der hitzigen Diskussion, die innerhalb der Nachbarschaftsgruppe über das inadäquate Verhalten mancher Nachbarn und Flüchtlinge statt-
100
Beispiele sind die gelegentliche Verlegenheit von Fremden, wenn es in Deutschland
um adäquate Geburtstagsgeschenke geht, oder die Probleme, die bei der Bezahlung eines gemeinsamen Essens auftauchen können, wo die in Deutschland vorwiegend geübte
Praxis des ‚jeder zahlt für sich’ nicht immer die Lösung ist.
250
fand. Weder gegenüber Nachbarn noch Flüchtlingen wurde das Fehlverhalten jedoch thematisiert.
Nehmen ohne zu geben
Alvin Gouldner behandelt nicht nur den ‚Normalfall’ der allgemeinen Reziprozitätsnorm, wo in seinen Worten „etwas gegen etwas“ getauscht wird,
sondern widmet sich auch dem Thema des einseitigen Tausches, „etwas
gegen nichts“ (Gouldner 1984: 118). Reziprozität beruht auf der normativ
abgesicherten und erfahrungsgesättigten Erwartung, für eine Gabe Anspruch auf eine Gegengabe zu haben. Warum werden, so Gouldners Frage,
nun aber auch Leistungen gegenüber anderen erbracht, von denen eine solche Gegengabe augenscheinlich nicht zu erwarten ist? Die Norm der Reziprozität, wie sie hier kurz umrissen wurde, reicht Gouldner dafür nicht
aus. Gouldner sieht zwischen Reziprozität, dem ‚etwas gegen etwas’ und
der einseitigen Gabe eine so deutliche Kluft, dass er eine weitere Norm einführt: die Güte oder Wohltätigkeit.
Bevor sich Gouldner der Wohltätigkeit zuwendet, will er als Voraussetzung
für das Funktionieren der Wohltätigkeit klären, warum Menschen auch
gerne eine Gabe annehmen, ohne etwas zurückzugeben. Gouldner sieht
dies zunächst als dem Menschen eigene ‚Neigung’ an, ferner als „Stoff, aus
dem Träume und Phantasien gemacht sind“ (Gouldner 1984: 127). Gegen
diese unscharf abgegrenzte Kategorie stellt Gouldner die Reziprozität als
„Norm der ‚realistischen’ Welt der Arbeit“ (Gouldner 1984: 128), in der
keine Leistung ohne Gegenleistung realistisch zu erwarten ist. Reziprozität
gilt Gouldner als die Norm der Erwachsenen. Diese ‚Erwachsenheit’ und
‚Reife’ äußert sich für Gouldner in der Erkenntnis, dass das reziprok agierende Selbst „nicht allein für sich lebt“ (Gouldner 1984: 130), sondern nur
etwas bekommt, wenn es anderen etwas gibt, mithin für andere nützlich ist.
Das erwachsene Selbst hat erkannt, dass es nicht frei und autonom ist, sondern eingebunden in ein Netz gegenseitiger Abhängigkeiten. „In unserer
Kultur ist Reife die freiwillige Verdinglichung des Selbst“ (Gouldner 1984:
130). Das Selbst, das dagegen nehmen möchte ohne zu geben, das also ohne diese entfremdende Verdinglichung leben will, büßt tatsächlich die
251
Möglichkeit ein, seine Wünsche aus eigenem Antrieb zu verwirklichen.
Der Wunsch nach Autonomie bringt es in Abhängigkeit.
„Da es sich weigert, mit der Welt einen Kompromiss zu
schließen, ist dieses Selbst nicht in der Lage, die Reaktionen
der Welt zu beeinflussen. (...) Mit anderen Worten: der Preis
für bedingungslose Hilfe ist Hilflosigkeit und bedingungslose Abhängigkeit des Empfängers vom Gebenden; das Paradigma hierfür ist die Eltern-Kind-Beziehung“ (Gouldner
1984: 131).
Die Reziprozitätsnorm ist damit ein Handlungsmodell, das bei den Tauschpartnern voraussetzt, dass sie etwas zu geben haben und die Bereitschaft,
dies auch in einen Prozess des Gebens und Nehmens einzusetzen. Gleichheit und gesellschaftliche Integration sind, wenn nicht Bedingung, so doch
reziproken Tauschprozessen förderlich. Indem Gouldner die Eltern-KindBeziehung als Paradigma für nicht-reziproke Beziehungen setzt, verweist
er auf die einseitige Abhängigkeit, die sich in diesen Beziehungen manifestiert. Eine Abhängigkeit, die Gouldner zugleich in Relation setzt zu einer
gewissen Unmündigkeit und Unreife bzw. einer nicht vollendeten Sozialisation.
Geben ohne zu nehmen
Reziprozitätsnorm und Wohltätigkeitsnorm siedelt Gouldner auf unterschiedlichen Ebenen an. Während die Reziprozität den Alltag regelt und
von der praktischen ‚Nützlichkeit des Alltags’ geregelt wird, ist die Wohltätigkeitsnorm ‚hohe Moral’ und weit weniger leicht zu praktizieren. Deshalb, so Gouldner, muss „... sie in einer besonderen außerweltlichen höheren Sphäre angesiedelt werden“ (Gouldner 1984: 132). Die Pflicht zur
Wohltätigkeit besteht häufig nicht oder nicht allein gegenüber einem Bedürftigen, sondern gegenüber einer Gottheit oder übernatürlichen Macht,
der Allgemeinheit oder der Gemeinde. Wohltätigkeit ist deshalb häufig
vermittelt; zwischen Geber und Empfänger steht eine weitere Instanz (die
Kirche, Stiftung etc.). Auch die Verpflichtung des Empfängers zu Dank252
barkeit und Gehorsam gilt nicht nur gegenüber dem Geber, sondern gleichermaßen gegenüber der höheren Macht und gegebenenfalls den vermittelnden irdischen Repräsentanten101.
Reziprozität ist eine Norm und Praxis, wie sie unter Gleichberechtigten geübt wird. Sie ‚funktioniert’ nur dann, wenn beide Partner etwas zu geben
haben, wenn insbesondere vom Nehmenden erwartet werden kann, dass er
in absehbarer Zeit zu einer angemessenen Gegengabe fähig und bereit sein
wird. Dagegen regelt die Wohltätigkeitsnorm einen Transfer von Leistungen von oben nach unten. Wohltätig ist man in der Regel gegenüber denjenigen, die es einem nicht in gleicher Münze heimzahlen können102. Dennoch ist auch die Wohltätigkeit eine Form der Reziprozität, die allerdings
eine Gegengabe nicht auf der Ebene des Gabentauschs, sondern als Dankbarkeit und Unterordnung einfordert. Was als Wohltätigkeit daherkommt,
entpuppt sich als Mittel zur Herrschaftssicherung. Während ‚echte’ Reziprozität auf dem Austausch von Gaben beruht, die ‚ungefähr gleichen
Werts’ sein sollten und mit dieser Reziprozität eher mittelbar Beziehungen
zwischen Gleichen begründet oder gefestigt werden, erscheint die Wohltätigkeit hier ungeachtet ihres hohen moralischen Anspruchs als verhältnismäßig krude Form der Transformation ökonomischen Kapitals in soziales
Kapital:
101
Die im deutschen Diskurs über Eingewanderte häufig strapazierte Formel der Toleranz verweist auf eben diese gesellschaftlich verallgemeinerte Großzügigkeit in der
Duldung von Fremden und ihren Lebensgewohnheiten, die explizit oder implizit die
Anerkennung der herrschenden Verhältnisse einfordert. Im Kontext der Wohltätigkeitsnorm erscheint es nicht zufällig, dass insbesondere die Kirchen am Gebot der Toleranz
festhalten.
102
Wenn es für Gouldner echte Wohltätigkeit, d.h. ein wirkliches Geben ohne die Erwartung einer Gegengabe oder -leistung geben sollte, so interessiert sie ihn nicht sonderlich. Schnell macht Gouldner in allen Formen praktizierter Wohltätigkeit eine verdeckte Reziprozität aus. Die Wohltätigkeit von gesellschaftlichen Eliten ist hier das
Modell: „In ihrer Wohltätigkeit lauert Reziprozität. (...) Die Sicherheit einer Oberschicht wird dann gefestigt, wenn sie für die praktizierte Ausbeutung Entschädigung
leistet, also das Nehmen-ohne-zu-geben durch das Geben-ohne-zu-nehmen ausgeglichen wird. Die Widersprüche zwischen weltlicher Reziprozität und außerweltlicher
Wohltätigkeit dienen schließlich dazu, das Mystische, das Eliten anhaftet zu erhöhen“
(Gouldner 1984: 132).
253
„Auch Mildtätigkeit hat damit ihren Lohn auf Erden: Sie legitimiert die Führungspositionen derjenigen, die geben, und
indem sie ‚Außenstände’ bei den Niederen gegenüber den
Höheren entstehen lässt, stärkt sie die Position der Herrschenden. Indem sie das Prestige der Bevorzugten erhöht
und Respekt, Dankbarkeit und Ehrerbietung – kurz: Gehorsam ihnen gegenüber befördert, stattet dies die Bevorzugten
mit Legitimität aus“ (Gouldner 1984: 140).
Am Einsatz von Wohltätigkeit als Mittel der Legitimierung und Absicherung von Herrschaft zeigt sich, dass zwischen Gleichrangigen die Beziehungen eher durch die Reziprozitäts- als durch die Wohltätigkeitsnorm bestimmt werden. Die Wohltätigkeitsnorm verlangt dagegen geradezu ein
hierarchisches Verhältnis zwischen Geber und Empfänger.
Reziprozität, Asymmetrie und Migration
Die Wohltätigkeitsnorm kann damit als eine Form der Reziprozitätsnorm
angesehen werden, darauf weist vor allem die Möglichkeit des Übergangs
von der einen zur anderen Form hin. Auch an die wohltätige Gabe sind eine
Reihe von Erwartungen geknüpft, „Gegenleistungen“ sind hier jedoch
weitgehend auf der Beziehungsebene anzusiedeln. Die Asymmetrie des
Tausches gemäß der Wohltätigkeitsnorm leitet damit eine Asymmetrie der
Beziehungen zwischen Gebenden und Nehmenden ein (die zugleich dynamisch in Aktive und Passive unterscheidet), und bildet ein Verhältnis, das
auf der beiderseitigen Anerkennung der dieses Verhältnis stützenden Hierarchie beruht.
Das beiderseitige Einverständnis in eine bestimmte Form der Beziehung
setzt dabei ganz wie auch bei einer reziproken Beziehung voraus, dass beide Partner sich verstehen und Einigkeit über die kulturell spezifischen
Formen der Wohltätigkeit besteht. Anders als bei der Norm allgemeiner
Reziprozität spricht Gouldner der Wohltätigkeitsnorm keine universelle
Gültigkeit zu, sondern entwickelt die Grundzüge der Wohltätigkeitsnorm
deutlich im Kontext westlicher Gesellschaftsformen. Doch selbst wenn
man eine universelle Gültigkeit der Wohltätigkeitsnorm voraussetzte, so
254
blieben die jeweils kulturspezifischen Formen, in denen eine solche Norm
umgesetzt wird, Anlass genug für Missverständnisse103. Scheitert ein
Tauschangebot nach der Reziproziätsnorm, so stellt sich im interkulturellen
Kontext immer die Frage, ob dieses Scheitern als ablehnende soziale Handlung, als ‚Nicht-Wollen’, oder als fehlerhafte kulturelle Deutung, mithin als
‚Nicht-Wissen’ zu interpretieren ist.
Im Verhältnis zwischen Nachbarschaftsgruppe und Flüchtlingen ist die
Kleiderspende ein in Deutschland wohlbekannter Ausdruck von Wohltätigkeit. Es wurde schon erwähnt, dass der Nachbarschaft vielfältige Anknüpfungspunkte zur Verfügung standen, um die Kleidersammlungen für
Flüchtlinge als sinnvolle Aktionen einordnen zu können. Einer der oben
aufgeführten Aspekte war die durch die Medien vermittelte Bedürftigkeit
von Migranten aus der Dritten Welt, aus Krisen- oder Kriegsgebieten. Entwicklungshilfe-Einrichtungen präsentieren sich in der westlichen Öffentlichkeit mit dem Versprechen, die Armut der Bewohner der ‚Dritten Welt’
und ihre Folgen zu mildern. Hilfsorganisationen werben mit der Darstellung der hungernden Bevölkerung um Spenden. Bis vor kurzem warben
auch kommerzielle Kleidersammlungen mit dem Hinweis „Für die Dritte
Welt“, der das Bild von Armut evozieren und zur Spende animieren soll104.
Diese Armut der Dritten Welt überträgt sich auch auf die von dort nach hier
gekommenen Flüchtlinge, das zeigen die Kommentare zur Kleidersammlung. Die Idee der Sach- und Kleiderspende ist jedoch darüber hinaus keineswegs auf Migranten aus der Dritten Welt beschränkt. In der Kleider103
In einer Erzählung von Anna Hochsieder-Kern über eine pakistanische Flüchtlingsfamilie bringt eine der Töchter die Verwirrung der Familie zum Ausdruck, als sie zu
Nikolaus das erste Mal Schuhe mit Süßigkeiten vor der Tür vorfanden. Die Überreichung der Geschenke in (unreinen) Schuhen wurde von der Familie zunächst einmal als
grobe Beleidigung aufgefasst (mündliche Mitteilung Anna Hochsieder-Kern).
104
Beide Effekte der Kleiderspende – den eigenen Schrank zu leeren und Gutes zu tun –
sind hier versammelt und werden mit dem Bild der Bedürftigen in der Dritten Welt verknüpft. Insbesondere die kommerziellen Kleidersammler standen jedoch in der Kritik,
da die Altkleider auf den Märkten in der Dritten Welt landen und die einheimische
Stoff- und Kleiderproduktion schädigen. Deshalb wird auf den Ankündigungen inzwischen nicht mehr die „Dritte Welt“ als Zielort der Gabe angegeben, sondern mit Vorliebe Länder wie Rumänien oder Bulgarien.
255
spende manifestiert sich vielmehr auch ein geläufiger Topos des nachbarschaftlichen Verhältnisses zum ‚Fremden’ als dem besitzlosen Wanderer.
Nicht erst Flüchtlinge, sondern auch die Migranten der sechziger und siebziger Jahre haben diese Erfahrung gemacht. Aus der Sicht der Migranten ist
dies pointiert festgehalten worden in Sinasi Dikmens Satire „Alles in Butter“ (Dikmen o.J.: 37-44). Mit scharfem Blick beschreibt Dikmen den Verlauf gescheiterter Wohltätigkeit aus der Perspektive eines Migranten, der
sich verzweifelt um adäquate Reaktionen auf die ihm erwiesenen ‚Wohltaten’ bemüht. Der Protagonist Herr
Uzun verliert wegen seines unbeholfenen Umgangs mit derartigen ‚Spenden’ zweimal die Wohnung und landet schließlich im Gefängnis. Nachdem
ihm die erste Wohnung gekündigt worden war, weil er es ablehnte, alte
Kleider von den Nachbarn anzunehmen und deswegen als nicht integrationsfähig gekündigt wurde, nimmt Herr Uzun gegen den Widerstand seiner
Familie in der neuen Wohnung alles an, was die Nachbarn ihm bringen:
„Ich brachte die beiden Säcke gleich in den Keller. Nach einigen Tagen kamen zwei andere Frauen mit alten Klamotten. Wenn ich einer etwas abgenommen hatte, dann konnte
ich die beiden Frauen nicht unverrichteter Dinge wieder
nach Hause schicken. In Deutschland muss man ausgewogen sein, sonst landet man in der Klapsmühle. Eine der
Frauen erzählte mir, dass meine Kinder ihrer Nachbarin, der
Frau Meier, einfach die Tür vor der Nase zugeknallt hätten
mit der Begründung, sie würden keine alten Sachen von
Deutschen brauchen. Das könne sie nicht verstehen, zumal
Frau Meier für ihre Hilfsbereitschaft bekannt sei.
Hier machte ich einen Fehler, ich muss es zugeben. Ich
suchte nämlich Frau Meier auf, entschuldigte mich für das
Verhalten meiner Kinder und brachte die Geschenke nach
Hause, wenn man die alten Klamotten als Geschenke bezeichnen kann. Sie meinte noch, wenn wir so viel Geld hätten, dass wir die alten Sachen der Deutschen nicht mehr
256
brauchten, was wir dann noch in Deutschland zu suchen hätten? Bei den Türken wisse man nie, woran man sei. Bei den
Polen hätte sie so etwas nie erlebt, und sie hätte alles, was
sie auftreiben konnte, nach Polen geschickt, nichts davon sei
zurückgekommen, die Polen seien eine dankbare Nation,
aber die Türken ...“ (Dikmen o.J.: 41).
Während Herr Uzun mit den Spenden seine Kellerräume gefüllt hat und
schon beginnen muss, die alten Sachen in der Wohnung zu stapeln, wird er
zu seiner Überraschung und Freude in der Nachbarschaft zunehmend akzeptiert:
„Der eine oder andere erkundigte sich nach dem Wohl meiner Frau, oder ob wir im Urlaub in die Türkei fahren würden, oder warum meine Frau so viele Kinder geboren hätte?
Wenn wir etwas brauchen würden, dann sollten wir es nur
sagen. Sie gaben mir ihre Telefonnummer, damit ich jederzeit anrufen könne, schließlich seien wir ja Nachbarn. (...)
Mir gefiel es, auf der Straße von ihnen gegrüßt zu werden.
Ich war nicht mehr isoliert, ich kam mit jedem ins Gespräch.
Ich erlebte plötzlich, dass Deutschland auch heimatlich sein
kann. (...) Ich fühlte mich wie in meinem Dorf, jeder kannte
mich, und allmählich kannte ich jeden.“ (Dikmen o.J.: 42f)
Dikmens satirische Darstellung der Kleiderspende trägt alle Anzeichen der
Wohltätigkeitsnorm als eines Tauschprozesses auf zwei Ebenen: auf der
Ebene des materiellen Gütertransfers akzeptiert Dikmens Protagonist alle
„Geschenke“, um auf der Beziehungsebene die soziale Ablehnung seitens
der Nachbarschaft zu überwinden und in eine positive Anerkennung zu
verwandeln. Der Preis, den Herr Uzun für diese Akzeptanz zahlen muss, ist
gebührende Dankbarkeit gegenüber den nachbarschaftlichen Gaben. Die
muffigen Altkleider müssen nicht nur bereitwillig angenommen, sondern
auch getragen werden:
257
„Einmal war ich auf der Bank. Ein älterer Herr, an den ich
mich nicht mehr erinnern konnte, sagte laut vor allen Kunden: ‚Seit einer Woche beobachte ich ihre Kinder, Herr
Idris! Bis heute habe ich leider nicht feststellen können, ob
die Kleidung, die ich Ihnen geschenkt habe, Ihren Kindern
passt.’ Dann fügte er zynisch hinzu: ‚Oder gefällt die Kleidung meiner Kinder Ihren Kindern nicht?’ ‚Doch, doch,’
verwahrte ich mich und gab ihm mein Ehrenwort, dass eines
meiner Kinder seine Geschenke anziehen und ihn besuchen
würde“ (Dikmen o.J.: 42 Kursivsetzung im Original).
Dikmens Persiflage der mildtätigen Gabe lässt die Wirkungen deutlich
werden, die der Kleiderspende zu eigen sind. Der praktische Sinn der Gabe
als materieller Ausgleich kommt nicht nur abhanden, sondern verkehrt sich
bei Dikmen sogar in sein Gegenteil. Die als Unterstützung überreichte Gabe erweist sich als Belastung, und zwar als um so höhere, je reichlicher der
Gabenstrom fließt. Die Annahme der Gabe ist bar jeder Freiwilligkeit und
wird stattdessen zur kräftezehrenden Verpflichtung. Auf der Ebene der sozialen Beziehungen bewirken Akzeptanz und Annahme der Kleiderspende
jedoch Akzeptanz und Annahme in der Nachbarschaft. Über die Gabe wird
ein – asymmetrisches – nachbarschaftliches Verhältnis etabliert. Die Gabe
integriert Dikmens Protagonisten, indem sie die Positionen von Gebendem
und Nehmendem festlegt und damit zugleich den Zugewanderten in die
Vorstellung zwingt, die in der Nachbarschaft von ihm besteht. Gekonnt
deutet Dikmen den herablassenden Tonfall und die von Unkenntnis geprägte Jovialität der Nachbarn an, welche die ‚gutnachbarschaftlichen’ Beziehungen zum Zuwanderer bestimmen, ebenso die Fragilität dieses Verhältnisses, sollte der Zuwanderer nicht den Erfordernissen seiner Rolle genügen. Bei Dikmen lässt der Wunsch, sich zugunsten gutnachbarschaftlicher
Beziehungen diesen Vorstellungen unterzuordnen, Herrn Uzun schließlich
im Gefängnis landen, die Kleidergabe erweist sich als Verhängnis. Nicht
alle Flüchtlinge, dies lässt sich auf den ersten Blick feststellen, hatten gegenüber den Kleiderspenden die Geduld Herrn Uzuns, litten jedoch auch
258
weit weniger unter den Folgen. Während Herr Uzun sehenden Auges in die
Katastrophe schlittert und er das Zerwürfnis mit seiner Frau und seinen
Kindern in Kauf nimmt, um die nachbarschaftlichen Beziehungen nicht
aufs Spiel zu setzen, handelten sich die Flüchtlinge die Empörung der
Nachbarschaftsgruppe ein, weil manche unter ihnen die dargebotenen
Spenden entweder ignorierten oder nachher im Müllcontainer verschwinden ließen.
Die Parallelen zwischen der Satire Dikmens und den Kleidersammlungen
der Nachbarschaftsgruppe sind jedoch unübersehbar. Die Kleiderspende ist,
und dies trifft sowohl auf Dikmens Herrn Uzun als auch auf das Verhältnis
zwischen Nachbarn, Initiative und Flüchtlingen zu, ein Tausch auf zwei
Ebenen. Die Kleiderspende offenbart ihren Sinn nicht im praktischen Verwendungszweck der Bekleidung, vielmehr zeigt sie sich als ein Integrationsangebot an die Zuwanderer. Initiiert und organisiert von der Nachbarschaftsgruppe, die damit ihre Vermittlerrolle zwischen Flüchtlingen und
Nachbarschaft wahrnimmt, dient die Kleiderspende zwar einigen Flüchtlingen auch zur Deckung ihrer Bedürfnisse, stellt jedoch vor allem zwischen Flüchtlingen und Bewohnern des Viertels eine Beziehung her, die
sich über Reziprozitäts- bzw. Wohltätigkeitsnorm bestimmen lässt.
Bevor die Art der eingeführten Beziehung und ihre Konsequenzen näher
betrachtet werden, sollte die Frage gestellt werden, worauf sich die mit der
Kleiderspende verbundenen Anstrengungen richten. Was drängt Initiative
und Nachbarschaft dazu, mit den im Viertel untergebrachten Flüchtlingen
wie auch immer geartete Beziehungen aufzubauen? Woher kommt die Bereitwilligkeit zur Gabe? Was soll durch den Aufbau von Beziehungen erreicht, was soll vermieden werden? Einen ersten Ansatz bietet hier wieder
das Konzept der Reziprozität, nun jedoch aus der Perspektive von Mauss
und Sahlins. Marcel Mauss betont in seinem Werk „Die Gabe“ (Mauss
1978) die sozialen Bindungskräfte, die reziproke Austauschprozesse hervorrufen. Mauss sieht (unter dem Eindruck der Erfahrung des Ersten Weltkrieges) im Prinzip der Reziprozität ein Grundprinzip des Sozialen, das dazu geeignet schien, dauerhaften Frieden zu schaffen.
259
„Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre
Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu
geben, zu nehmen und zu erwidern. Um zu handeln, mussten die Menschen es zunächst fertig bringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans,
sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem
zwischen Individuen. Und erst dann konnten sich die Leute
Interessen schaffen, sie gegenseitig befriedigen und sie verteidigen, ohne zu den Waffen zu greifen“ (Mauss 1978:
141f).
Reziprozität erscheint hier also als ein gesellschaftliches Organisationsmuster, das über Gabentausch wechselseitige Interessen befriedigt und, wie
Mauss meint, sogar erst schafft. Dabei kommen Gesellschaften, die nach
dem Reziprozitätsprinzip organisiert sind, auch ohne Staat aus, wie der amerikanische Ethnologe Marshall Sahlins feststellt:
„The gift, however, would not organise society in a corporate sense, only in a segmentary sense. Reciprocity is a ‘between’ relation. It does not dissolve the separate parties
within a higher unity, but on the contrary, in correlating
their opposition, perpetuates it. Neither does the gift specify
a third party standing over and above the separate interests
of those who contract. Most important, it does not withdraw
their force, for the gift affects only will and not right”
(Sahlins 1972: S.170)105.
Sahlins setzt damit die Reziprozität den Staats- und Gesellschaftsmodellen
von Rousseau, Locke, Spinoza und vor allem Hobbes entgegen. Für diese
gilt, dass
105
Dass Reziprozität keines Staates bedarf, sondern sich auch in segmentären Gesellschaften findet, hat vor Sahlins schon Mauss festgestellt (1978: 140).
260
„… the social contract had been first of all a pact of society.
It was an agreement of incorporation: to form a community
out of previously separate and antagonistic parts, a superperson of the individual persons, that would exercise the
power substracted from each in the benefit of all” (Sahlins
1972: 170).
Die Angehörigen einer Gesellschaft übereignen dem Staat das Gewaltmonopol und stellen sich zugleich unter den Schutz dieses Staates. Worauf es
Sahlins in seiner Gegenüberstellung von Hobbes Leviathan und Mauss Die
Gabe ankommt, ist folgendes: beide setzen ihre Gesellschaftsmodelle gegen eine Art Naturzustand106, in welchem Menschen ihre Ziele mittels Gewaltanwendung durchsetzen können und infolgedessen ihrerseits unter der
permanenten Drohung von Gewaltanwendung stehen. Beide entwickeln
Modelle, die diese Drohung befrieden helfen sollen: bei Hobbes ist es eine
inkorporierende Gesellschaft, deren Mitglieder das Gewaltmonopol an einen Souverän abtreten, bei Mauss ist dies die allseitige Verbindlichkeit des
Gabentausches, durch welche die einzelnen Personen und Gruppen davon
abgehalten werden, zu den Waffen zu greifen. Reziprozität wird hier gedeutet als ein Modell des friedfertigen Umgangs zwischen Personen oder
Gruppen, das keiner übergeordneten Regelinstanz bedarf und keiner umfassenden Gemeinschaft, und das insbesondere den Beteiligten die volle Souveränität über ihre Handlungen belässt. Folgen wir diesem Gedanken, dann
dient die Reziprozität als etablierte Norm, eine erhaltene Leistung mit einer
Gegenleistung zu erwidern, der Befriedung menschlicher Beziehungen im
weitesten Sinne, und zwar ohne dass es eines Staates bedarf.
Hinsichtlich der Nachbarschaftsgruppe und des Verhältnisses zu Asylsuchenden ist es angebracht, gleich zwei Einschränkungen zu machen: zum
Einen ist es nicht Reziprozität, was die Einheimischen den Zuwanderern
anbieten, sondern ein Tausch nach den Maximen der Wohltätigkeitsnorm,
106
Ein Naturzustand, der nicht vorausgehend, ursprünglich oder historisch ist, sondern,
wie Sahlins (1972: 174) anmerkt, als kontinuierliche zeitgleiche Bedrohung des sozialen
Friedens existiert.
261
zum Anderen ist das Verhältnis zwischen Reziprozität und Gesellschaft
bzw. gesellschaftlichen Gruppen nicht hinreichend geklärt. Sahlins, der auf
die Unterscheidung politisch-ökonomischer Steuerungsmechanismen zwischen staatlich oder staatsähnlich organisierten und nicht-staatlichen Gesellschaften abhebt, schenkt Zwischenformen keine Beachtung. Welche
Rolle spielt aber Reziprozität und Wohltätigkeit innerhalb staatlicher Gebilde? Und: warum zielen die Offerten der Nachbarschaft (sowohl bei
Dikmen als auch bei den Asylsuchenden) auf wohltätige und nicht auf allgemein reziproke Beziehungen?
Was sind die Bedingungen, unter denen dies auf die Situation in einem
Münchener Stadtviertel der neunziger Jahre übertragen werden kann? Hier
ist es notwendig, noch einmal auf das Verhältnis zwischen einer ansässigen
Bevölkerung und Zuwanderern, den „Fremden“ dieser Bevölkerung, einzugehen. Gerade die Gewalt gegen Migranten Anfang der neunziger Jahre hat
die Frage nach den Ursachen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und
den Möglichkeiten ihrer Befriedung wieder aufgeworfen. Von Diskussionen der Gewalttätigkeiten im Kontext verschiedener Rassismuskonzepte
heben sich Ansätze ab, die sich dem Thema unter dem Aspekt der Fremdheit nähern. Der zu Beginn dieser Arbeit schon vorgestellte Ansatz von
Zygmunt Bauman (1991: 23-49) beinhaltet ein Modell, das die mit dem
Fremden einhergehende Unsicherheit unter den Vorzeichen der Moderne
betrachtet. Die Bedrohlichkeit des Fremden leitet Bauman daraus ab, dass
der Fremde eine Kategorie ist, die – nicht Freund, nicht Feind – zwischen
allen eindeutigen Zuordnungen steht und damit zugleich die Eindeutigkeit
zerstört. Der Fremde zeigt Merkmale des Feindes ebenso wie Kennzeichen
des Freundes und erzeugt dadurch Verhaltensunsicherheit.
Mit der Herausbildung von Nationalstaaten, so Bauman, werden Solidarität
und Loyalität auf die Nation als imaginierte Gemeinschaft übertragen,
zugleich werden heterogene Lebensweisen sowie konkurrierende lokale
und kommunale Selbstverwaltungen entmachtet. Wer sich diesem Prozess
nicht unterwarf und die allgemein gültigen Regeln und Normen der herrschenden Gruppe nicht anerkannte, unterlag dem Stigma des Fremden (vgl.
Bauman 1991: 37ff). Besonders Neuankömmlinge unterliegen dem Druck
262
der Assimilation und dem Verdacht defizitärer Anpassung, während sich
die Einheimischen darauf berufen können, ‚schon immer da’ gewesen zu
sein.
Die Ambivalenz, die laut Bauman den Fremden auszeichnet, trifft die öffentliche Wahrnehmung auch der Asylsuchenden. Asylsuchende werden
nicht allein als schutzbedürftige Flüchtlinge gesehen. Dem Thema der begründeten Flucht werden machtvoll zwei weitere Themen hinzugesellt, die
sich nicht aus den Gründen der Flucht, sondern aus den Konsequenzen der
Anwesenheit von Flüchtlingen im Aufnahmeland Deutschland ableiten.
Das eine ist die Charakterisierung von Asylsuchenden als „Wirtschaftsflüchtlinge“, die teilhaben wollen am Wohlstand und Wirtschaftsleben des
Aufnahmelandes. Den Flüchtlingen wird unterstellt, dass nicht Verfolgung
sie getrieben, sondern die Verheißung des Wohlstands sie angelockt hätte.
Flüchtlinge werden hier als unwillkommene und unberechtigte Konkurrenz
in einem als geschlossen betrachteten Wirtschaftssystem – vor allen Dingen
Arbeitsmarkt – betrachtet. Sie werden als Eindringlinge in das Territorium
des Wirtschaftsstandorts Deutschland gesehen.
Die zweite, regelmäßig auf Flüchtlinge angewendete Kategorie ist die des
Flüchtlings als „Sozialhilfebetrüger“. Tatsächlich scheint es Fälle gegeben
zu haben, in denen Asylsuchende unter verschiedenen Identitäten doppelt
Sozialhilfe in Anspruch genommen haben, so dass in diesen Einzelfällen
von Betrug gesprochen werden kann. Zur Skandalisierung und Verallgemeinerung dieser Fälle trägt zum einen die Unsicherheit über die Identität
von Flüchtlingen bei (die sich oft während der Flucht ihrer Papiere entledigen, wenn sie überhaupt welche besitzen), hauptsächlich wird jedoch die
Berechtigung zur Teilnahme am staatlichen System sozialer Sicherung generell in Frage gestellt. Flüchtlingen wird zum Vorwurf gemacht (und vielleicht nicht immer in Unkenntnis geltender Arbeitsverbote für Asylsuchende), sie wollten nicht arbeiten, sondern ‚auf Kosten’ der Einheimischen leben. In beiden Fällen werden staatsbürgerliche, besser: nationalstaatliche
Privilegien in Gefahr gesehen, in beiden werden Asylsuchende als unerwünschte Eindringlinge in wohlgeordnete und stabile Verhältnisse betrach-
263
tet, ohne dass, wie Anfang der 90er Jahre immer wieder thematisiert wurde,
der Staat adäquat zu handeln vermochte.
Gegen diese Thesen steht das Recht auf Asyl, das medienvermittelte Wissen um Verfolgung und die Notwendigkeit, das Herkunftsland verlassen zu
müssen, das Leben im Aufnahmeland mit fremder Sprache und in ärmlichen Umständen. Das Bild des Flüchtlings ist ambivalent, und die erregten
Diskussionen Anfang der neunziger Jahre sorgten für eine Polarisierung
und Radikalisierung der Haltungen gegenüber Asylsuchenden. Der erste
Aufruf zur Kleiderspende im November 1992 fiel in eine Phase außerordentlicher Aufladung, die auch lokal die Bevölkerung spaltete in solche,
die jede Anwesenheit von Flüchtlingen ablehnten und diejenigen, die sich
für diese Flüchtlinge und ihren Verbleib einsetzten, analog zur Wahrnehmung der Flüchtlinge als Freunde und Feinde, ohne dass letztlich der Widerspruch aufgelöst werden konnte.
Die Polarisierung in Gegner und Befürworter der Aufnahme von Asylsuchenden verdeckt kaum, dass Flüchtlinge in keiner Weise als den Einheimischen gleichberechtigte oder ebenbürtige Zuwanderer gesehen wurden.
Zwischen ihnen herrschte von Beginn an eine deutliche Distanz, die sich
nur im Einzelfall und erst dann reduzierte, wenn die Flüchtlinge ihre Integrationswilligkeit unter Beweis gestellt hatten107.
In dieser Situation setzt der Aufruf zur Kleidersammlung ein Zeichen und
bringt einen Prozess in Gang, der direkt auf die nachbarschaftliche Haltung
gegenüber der Anwesenheit der Flüchtlinge zielt. Mit der Kleiderspende
bietet die Initiative der Nachbarschaft ein Bild von Flüchtlingen an, das
diese mit Geboten der christlichen Nächstenliebe, mit verbreiteten Vorstellungen über Flüchtlinge sowie mit der eigenen Geschichte verknüpfen können. Allein schon der Aufruf zu einer Sach- und Kleiderspende zeichnet ein
Bild der Flüchtlinge, die auf Hilfe angewiesen sind, um grundlegendste
Bedürfnisse zu decken. Zugleich signalisiert der Aufruf, dass Flüchtlinge
107
Erst die Ausweisung und Abschiebung von Flüchtlingen ließ den Grad ihrer Integration in die Gesellschaft erkennen. Insbesondere bei den schubweisen Rückführungen
der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien gab es geharnischte Proteste von Mitschülern, Nachbarn, Kollegen und vor allem Arbeitgebern, die ihre Mitarbeiter verloren.
264
nicht die vom Wohlfahrtsstaat gehätschelten Objekte sind. Die Initiative
offeriert jedoch nicht allein ein Bild, (dessen Details am Beispiel des Plakates zur Kleidersammlung weiter unten noch diskutiert werden), sie offeriert
der Nachbarschaft auch die Möglichkeit aktiv zu werden, im Verhältnis zu
Asylsuchenden aus der defensiven und passiven Haltung herauszukommen.
Die Viertelbewohner werden aufgefordert, selbst die Initiative zu ergreifen
und damit auf die Anwesenheit der Asylsuchenden gemäß der Interpretation zu handeln, die ihnen von der Nachbarschaftsgruppe angeboten wird.
Das heißt, die Nachbarschaftsgruppe fordert die Viertelbewohner zum aktiven Handeln auf und damit dazu, Verhaltensunsicherheiten zu überwinden
und sich der Anwesenheit der Flüchtlinge in einer nicht beliebigen, bestimmten Weise zu stellen. Die Kleiderspende ist also zunächst ein Angebot an die Nachbarschaft, sich der Flüchtlinge anzunehmen, Verantwortung
für sie zu übernehmen und ihre Anwesenheit damit positiv anzuerkennen.
Doch der Aufruf zur Kleiderspende beinhaltet noch mehr. Er hebt die Mittellosigkeit der Flüchtlinge hervor und leitet daraus die Aufforderung ab,
die Flüchtlinge zu unterstützen. Damit steht der Aufruf konträr zu anderen
Sichtweisen, die Flüchtlinge als Konkurrenz oder Bedrohung darstellen.
Flüchtlinge werden nicht als aktive Konkurrenten um knappe Güter, sondern als bedürftige und passive Hilfeempfänger dargestellt, die der aktiven
Unterstützung der Nachbarschaft bedürfen. Der Aufruf führt eine Unterscheidung ein, die zugleich mit anderen Interpretationen auch die Ambivalenz der Sichtweisen auf die Flüchtlinge zurückdrängt. Wenn Flüchtlinge
zum Gegenstand von Hilfsleistungen werden, dann können sie nicht
zugleich als bedrohliche Konkurrenz wahrgenommen werden. Die Nachbarn, die dem Spendenaufruf Folge leisten, nehmen die Flüchtlinge als Objekte sozialer Verantwortung an108.
108
Diese Logik ist natürlich nur begrenzt verallgemeinerbar, widersprechen ihr doch die
von Rechtsradikalen geschaffenen Tatsachen, indem sich rechte Gewalt in den 90er
Jahren auch gegen gut integrierte Migranten und gegen Obdachlose richtete. Auch hier
spielen Aspekte der Reinheit und ihrer Gefährdung, Ambivalenz, Vermischung, Uneindeutigkeit etc. eine Rolle, die jedoch über die lokale Einführung von reziproken Handlungsmustern nicht gänzlich kontrolliert werden kann.
265
Mit dem Aufruf zur Kleidersammlung führt die Initiative eine Hierarchisierung zwischen Nachbarschaft und Flüchtlingen ein, die an die Wirksamkeit
der Wohltätigkeitsnorm appelliert. Weiter oben wurde festgestellt, dass die
Wohltätigkeitsnorm einen deutlichen Unterschied zwischen Gebern und
Nehmern impliziert. Durch den Aufruf wird diese Unterscheidung zwischen den Einheimischen und Flüchtlingen wenn nicht eingeführt, so doch
deutlich verstärkt und zur Handlungsgrundlage erhoben. Im Effekt werden
die Flüchtlinge damit durch die mit der Kleiderspende verbundenen Aktivitäten in die Nachbarschaft integriert, jedoch auf eine Weise, die zugleich
eine deutliche Distanz und Schichtung zwischen Einheimischen und Asylsuchenden bezeichnet. Mit der Kleiderspende erkennt die Nachbarschaft
die Anwesenheit der Flüchtlinge im Viertel an und übernimmt symbolisch
die soziale Verantwortung für sie. Bekräftigt wird jedoch zur gleichen Zeit
der Sonderstatus, den die Flüchtlinge einnehmen. Sie werden durch die
Kleiderspende zu einer weiteren sozialen Randgruppe, die in das Viertel
inkorporiert wird.
Von den Flüchtlingen, das machen die oben beschriebenen Reaktionen auf
die Kleiderspende deutlich, wird das Angebot sehr unterschiedlich aufgenommen. Anders als die naiv konsequente Reaktion von Dikmens Protagonist suchen die Flüchtlinge aus, sind wählerisch, werfen Unbrauchbares
später weg oder nehmen das Angebot überhaupt nicht wahr. Wie viel Nützliches sie bei der Kleiderspende finden, lässt sich schwer bestimmen. Festzuhalten bleibt, dass sie von dem Angebot differenziert Gebrauch machen,
und dass sie dabei nicht der Vorstellung genereller und absoluter Bedürftigkeit (und daraus folgend: absoluter Dankbarkeit) entsprechen, zu der die
wohltätige Spende auffordert.
Es ist eine Reihe von Gründen vorstellbar, weshalb die Flüchtlinge die
Kleiderspende nicht im für die Initiative adäquat erscheinenden Sinn in
Anspruch nahmen. Da ist zunächst die ökonomische Situation, die für die
meisten Flüchtlinge relativ (zur Situation der Einheimischen) schlecht aussah. Allerdings gab es im städtischen Umfeld viele Möglichkeiten, durch
kleine Jobs und Gelegenheitsarbeiten ein wenig Geld zu verdienen. Angesichts der bemerkenswerten Genügsamkeit, welche die Flüchtlinge hin266
sichtlich ihrer Lebensumstände an den Tag legten, reichte der kleine Verdienst deshalb in vielen Fällen aus, um die für den Alltag notwendigen
Geldmittel aufzubringen. Weiter stellt sich die Frage, ob die Kleiderverteilung in einer Weise geschah, die es den Flüchtlingen ohne Gefahr für ihr
Ansehen ermöglicht hatte, Bekleidung auszusuchen und mitzunehmen. Neben dem naheliegenden Problem, wie Flüchtlinge ohne Umkleidegelegenheit überprüfen konnten, ob die ausgewählten Kleidungsstücke ihnen auch
passten, ist die Frage auch allgemeinerer Natur und berührt zum Beispiel
kulturelle Vorbehalte. Die Kleiderspende kann als solche manchen Flüchtlingen suspekt erscheinen. So waren zum Beispiel einige muslimische
Flüchtlinge ausgesprochen misstrauisch allen Veranstaltungen gegenüber,
die im Gemeindehaus der Kirche stattfanden, seit das Gerücht die Runde
gemacht hatte, dort sollten sie missioniert werden. Auf etwas allgemeinere
Ebene gehoben ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele Flüchtlinge Vorbehalte gegenüber der Annahme von Spenden entwickelten, deren Herkunft
und Zusammenhang ihnen nicht verständlich war. Kleiderspenden, besonders Kinder- und Säuglingsbekleidung, die von den Mitgliedern der Initiative persönlich an Flüchtlingsfamilien weitergereicht wurden, fanden regen
Anklang (wiewohl auch hier möglich ist, dass nicht alles Verwendung
fand). Die Inszenierung einer allgemeinen Kleiderausgabe ist dagegen eine
gänzlich andere Situation. Gebende und Empfangende begegnen sich nicht
als Personen im vertrauten Umfeld, sondern als Vertreter von Institutionen,
der Nachbarschaft auf der einen, der Bewohner der Asylunterkunft auf der
anderen Seite. Insgesamt hat die Kleiderspende einen wesentlich förmlicheren Charakter als ein gelegentlich mitgebrachtes Wäschepaket, und mit
dem Grad der Förmlichkeit steigt die Möglichkeit einer ‚falschen’ Reaktion
für die Flüchtlinge. Die Schwierigkeit, die Situation und die möglichen
Konsequenzen zu überschauen und richtig zu interpretieren, kann Flüchtlinge davon abgehalten haben, auf die Kleiderspende in der von der Initiative gewollten Form zu reagieren.
Nicht von der Hand zu weisen ist ferner die Möglichkeit, dass Flüchtlinge
sich der Implikationen der Kleiderspende deutlich bewusst waren. Die
Spende ist nicht der Einstieg in ein reziprokes und gleichwertiges Aus267
tauschverhältnis. Das dürfte den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft ebenso deutlich gewesen sein wie Dikmens Herrn Uzun, kommt doch weder
Uzun noch den Flüchtlingen der Gedanke, es den Nachbarn mit gleicher
Münze heimzuzahlen. Eine Annahme der Kleiderspende hieße ein öffentliches Eingeständnis der eigenen Bedürftigkeit, eine Akzeptanz des Bildes,
das den Flüchtlinge seitens der Initiative zugewiesen wird. Schon in den
vorigen Kapiteln ist deutlich geworden, dass sich Selbstbilder der Flüchtlinge und das Bild der Initiative von den Flüchtlingen nicht entsprechen.
Die höflich ausweichenden Antworten, die ich von einigen Flüchtlingen
hinsichtlich der Kleiderspende zu hören bekam, stützen die Vermutung,
dass zumindest einige Flüchtlinge der Kleidersammlung fernblieben, weil
sie sich nicht in diesem Sinne bedürftig zeigen wollten und den Status von
Almosenempfängern ablehnten.
5. Die Initiative als Mittler zwischen
Flüchtlingen und Nachbarschaft
So vielfältig die Motive der Flüchtlinge auch waren: Die Kleiderspende der
Nachbarschaft und das damit einhergehende Angebot an die Flüchtlinge,
sich in das Viertel zu integrieren und den Einheimischen unterzuordnen,
wurde nur von wenigen Asylsuchenden zur Zufriedenheit der Initiative
wahrgenommen. Ebenso wie bei Dikmens Herrn Uzun war es für die
Flüchtlinge die Nähe zu den Nachbarn, welche die größten Gefahren barg.
Hätte nicht jemand aus der Initiative die Kleidung im Müllcontainer entdeckt, das Bild der Flüchtlinge wäre glänzend geblieben. Der häufige Kontakt zu den Flüchtlingen erlaubte der Initiative jedoch die Überprüfung, ob
die Gaben auch ihrem Zweck entsprechend genutzt wurden. Diese soziale
Kontrolle beraubte die Initiative bald einiger Illusionen über die Flüchtlinge. Sie lernte zu differenzieren zwischen mehr und minder bedürftigen
Flüchtlingen und schließlich zu begreifen, dass Kleider- und Sachspenden
nicht wesentlich zur Unterstützung der Flüchtlinge beitrugen109.
109
Auch die Versuche, die Flüchtlinge z.B. mit alten Fahrrädern auszustatten (bei den
Preisen des öffentlichen Nahverkehrs eine Einheimischen durchaus sinnvoll erscheinende Alternative der Fortbewegung) wurden eingestellt, nachdem die Flüchtlinge die Rä-
268
Der Nachbarschaft wurden die Enttäuschungen der Initiative jedoch erspart. Hier erwies es sich als vorteilhaft, dass die Initiative das Einsammeln
und die Ausgabe von Spenden an verschiedenen Tagen (bzw. bei späteren
Sammelaktionen zu verschiedenen Zeiten, vormittags und nachmittags)
durchführte. Praktisch wurde diese Vorgehensweise begründet mit der
Notwendigkeit, die Spenden auszupacken und zu sortieren. Durch diesen
Abstand, den die Initiative zwischen der Nachbarschaft und den Flüchtlingen einführte, konnten jedoch auch allzu schäbige ‚Gaben’ aussortiert werden, bevor die Flüchtlinge selbst sahen, was die Nachbarschaft alles für den
Gebrauch der Flüchtlinge als angemessen empfand. Die Initiative übernahm so eine Filterfunktion, die in beide Richtungen mögliche negative
Eindrücke in der Vorstellung vom ‚Anderen’ absorbierte. Paradoxerweise
lässt sich darin eine Erfolgsbedingung der Kleidersammlung sehen: indem
die Initiative sich zwischen Flüchtlinge und Nachbarschaft stellte und dadurch den direkten Kontakt verhinderte, trug sie zum Entstehen eines positiven Verhältnisses zwischen Flüchtlingen und Nachbarn bei. Die Initiative
absorbierte diejenigen Verhaltensweisen, die sie als der Situation nicht angemessen erachtete und setzte damit vor allem gegenüber der Nachbarschaft das ungetrübte Bild des bedürftigen und dankbar nehmenden Asylsuchenden durch.
Das Plakat
Die vermittelnde Rolle der Initiative, die Flüchtlinge und Nachbarschaft
beiderseitig auf Distanz hält, ist jedoch nicht nur den praktischen Erwägungen bei der Kleidersammlung geschuldet. Die Mittlerrolle der Initiative, die
sich zwischen der Nachbarschaft und den Asylsuchenden positioniert, hatte
nicht nur die Funktion eines Filters. Erst durch die erfolgreiche Vermittlungstätigkeit gewinnt die Initiative auch die Legitimität, jeweils als Sprecherin für die Flüchtlinge (gegenüber der Nachbarschaft) oder als Vertreterin der Nachbarschaft (gegenüber den Flüchtlingen und der Unterkunfts-
der nicht selbst benutzten, sondern weiterverkauften. Dafür war dann der Initiative der
Aufwand, den das Herrichten der Fahrräder bedeutete, zu groß.
269
verwaltung) aufzutreten. Am Plakat, das zur Kleiderspende auffordert, wird
deutlich, dass die Initiative sich von Beginn an als vermittelnde Instanz ins
Zentrum der ganzen Transaktion setzte. Die Flüchtlinge werden nur durch
die Initiative und hinter ihr sichtbar. Über die Plakatierung insbesondere für
die Kleidersammlungen, aber auch über die gezielte Ansprache von Mitgliedern anderer lokaler Institutionen (des Bezirksausschusses, der Pfarrgemeinde, der örtlichen SPD) machte die Initiative in erster Linie sich
selbst im Stadtviertel bekannt:
„Du lädst ja auch ganz gezielt ein, du hast ja verschiedene
Verteilerkreise. Und da sind ja auch nicht nur also nahestehende Organisationen, sondern das ist ja ziemlich breit gefächert. Das ist das eine, und durch die Plakatierung, das erzeugt schon auch ein gewisses Bewusstsein. Ich kann mich
erinnern, dass ich mal an der Bushaltestelle angesprochen
wurde, 72er Bus Verspätung, gell, von Leuten, was ich alles
mache und dass sie das gut finden, und ich hab die noch nie
gesehen. Und die Leute registrieren das dann doch. Plakate
darf man also nicht überbewerten, aber da ja solche Verteiler auf verschiedenem Weg laufen und die Kirche ja auch
mit eingebunden war, wenn die auch sehr zähflüssig war,
und immer in Konkurrenz zur evangelischen Kirche, aber
dann doch mit da eingestiegen ist, hat das eigentlich sehr
gut funktioniert“ (Frau Astner).
Auch wenn die Initiative kaum Gewissheit hatte über die Wirkung ihrer
Tätigkeit in der Nachbarschaft, so konnte sie doch aus verschiedenen
Rückmeldungen schließen, dass sie mit ihrer Arbeit auch über den Bekanntenkreis hinaus wahrgenommen wurde. Dabei bediente sich die Initiative
nach Möglichkeit der Institutionen, die im Stadtviertel über einen gewissen
Einfluss verfügten. Je nach Ausrichtung der jeweiligen Aktivität konnte die
Initiative die eine oder andere Institution in den Vordergrund stellen. Mit
der Kleidersammlung knüpfte die Initiative von vornherein an ein christliches Erscheinungsbild an, was Bibelspruch und die Hervorhebung des Na270
mens der lokalen Kirche zeigen. Diese Variante der Selbstdarstellung lag
der Gruppe nicht nahe, wurde aber bewusst ins Repertoire des öffentlichen
Auftritts aufgenommen. Die Initiative nahm an, dass die demonstrativ gezeigte Nähe zur Kirche die Spendenbereitschaft, aber auch die Toleranz der
Nachbarschaft gegenüber den Flüchtlingen erhöhen würde. Die Kirche ist
die lokale Autorität, über die ein großer Teil der Gemeinwesenarbeit im
Viertel koordiniert wird, und die den weitreichendsten Zugang zu den Viertelbewohnern hat.
„Wir sind wahrgenommen worden, und zwar gerade mit
diesen Kleidersammlungen und diesen Sachen. Dass wir uns
da unter den Schutzmantel der katholischen Kirche begeben
haben, war in dem Fall eine ideale Sache, weil wir dadurch
mehr Leute auch erreicht haben. Und dadurch, dass das
Ganze dann in den Pfarrräumen veranstaltet worden ist, haben wir nach außen hin auch noch einen höchst seriösen
Anstrich gekriegt“ (Frau Wiesner).
Zwar wird die Nähe zur Kirche in den Aufrufen zur Kleiderspende betont,
im Mittelpunkt des Plakates aber steht die Initiative, die sich als Teil der
Nachbarschaft präsentiert und als solche Akzeptanz und Tribut fordert. Der
Name ‚Arbeitsgemeinschaft Miteinander Leben in Sabing’, den sich die
Initiative in Anlehnung an ähnliche Arbeitskreise in anderen Vierteln gegeben hatte, wird bewusst groß geschrieben. Auch wird der Name auf allen
Ankündigungen und Plakaten in gleicher Weise verwendet, das Plakat für
die Kleidersammlungen nur mit einem jeweils neuen Datum aktualisiert.
„Ja und sonst, da haben wir dann nicht mehr viel gemacht,
aber es waren immer wieder Zettel aufgehängt in Sabing,
die an diese Initiative erinnert haben. Wir haben ganz bewusst immer dasselbe Logo verwendet, gell, ‚Miteinander
leben in Sabing’, und ich denke schon, dass des gelesen
wurde. Wenn da jedes halbe Jahr so ein Zettel da hängt, da
ist ein gewisser Effekt im Bewusstsein der Leute schon ir-
271
gendwie da. Die gibt’s, gell, diese Initiative gibt’s noch, und
da sind welche, die kümmern sich da“ (Herr Lohner).
Die Selbstbeschreibung der Initiative auf dem Plakat ist denkbar umfassend: „... eine Bürgerinitiative, gebildet aus verschiedensten Menschen, denen das Zusammenleben in ihrem Viertel am Herzen liegt und die praktische Arbeit leistet, damit dieses sich liebevoller gestaltet.“ Die Umständlichkeit der Wortwahl zeugt davon, dass alle Begriffe sorgsam ausgewählt
wurden. ‚Bürgerinitiative’ wie auch ‚verschiedenste Menschen’ verweisen
auf die große Heterogenität der Gruppe und die grundsätzliche Offenheit,
die hier nicht allein den Zustand der Initiative wiedergibt, sondern Programm sein soll. Das ‚Miteinander Leben’ im Namen der Initiative wird
auch im Text noch einmal aufgegriffen und konkretisiert: Der Gruppe liegt
„das Zusammenleben in ihrem Viertel am Herzen“. Hier betont der Text
nicht das Zusammenleben generell, sondern fügt ihm einen deutlichen lokalen Bezug bei. Nicht die Kirchengemeinde allein wird angesprochen,
sondern es wird auf die Bewohner des Stadtviertels als eine Einheit, wenn
auch aus verschiedensten Menschen, Bezug genommen. Der Gruppe, so
lässt sich der Text lesen, ist das Zusammenleben dieser Einheit eine Herzensangelegenheit. Das Zusammenleben im Viertel soll „liebevoller“ werden, ein Bezug, der angesichts urbaner Mobilität anachronistisch anmutet,
im öffentlichen Diskurs des Stadtviertels jedoch durchaus seinen Platz hat.
Die Flüchtlinge stehen am Rand des Textes, keineswegs im Mittelpunkt. Es
dauert lange, bis man auf dem Plakat entdeckt, dass es sich um Spenden für
im Viertel untergebrachte Flüchtlinge handelt. Nahezu beiläufig finden sie
im letzten Satz Erwähnung. Das Wort ‚Asylanten’, unter dem die Flüchtlinge im Viertel bekannt sind, wird wegen seines pejorativen Beigeschmacks bewusst nicht verwendet, aber auch der klarstellende Begriff „Asylbewerber“ oder „Asylsuchende“ fehlt. Stattdessen ist die Rede von
„Menschen, die politisch verfolgt oder auf der Flucht vor der Armut sind“.
Daran wird deutlich, dass die Initiative sich von der großen Linie des öffentlichen Diskurses distanziert und mit der Umschreibung ihre eigene Definition der Flüchtlinge einsetzt. Recht präzise werden die zwei in der A272
syldiskussion vorherrschenden Migrationsgründe, Flucht vor politischer
Verfolgung und Flucht vor Armut zusammengezogen, statt sie einander
entgegen zu stellen oder nur eine der Kategorien zu verwenden. Armut und
Verfolgung als Migrationsursachen zusammenzufügen gelingt dadurch,
dass das Plakat an die (christlich unterfütterte) Hilfsbereitschaft der Nachbarschaft appelliert. Der Aspekt des Asyls als Rechtsanspruch der Flüchtlinge, insgesamt jede Andeutung einer politischen Haltung, wird strikt
vermieden. Was zählt, ist das liebevolle Zusammenleben. (obwohl die Bewohner dieses Viertels sich gern erzählen, dass gerade bei ihnen ein ruppiger, aber herzlicher Ton herrsche). Komplementär zur Hilfsbereitschaft in
der Nachbarschaft wird an das Bild des „notleidenden Flüchtlings“ angeknüpft, ein für viele Nachbarn geläufiges Bild:
„Ich meine, die Sammlungen, die wir gemacht haben, haben
viele Leute erreicht jetzt gerade. Gut, Sabing hat viele alte
Leute, ja. Und die haben alle ihren Krieg hinter sich, und da
gibt es mit Sicherheit nicht einen, der nicht eine abendfüllende Story über seine Dinge erzählen kann. Insofern war
die Akzeptanz schon da, dass man gesagt hat, ja logisch, irgendwie muss man ihnen helfen. Vielleicht ist das auch ein
bisschen die bayerische Mentalität, dass es dann hieß, na
gut: jetzt sind sie halt einmal da, ob wir sie wollen oder
nicht, sie sind da, und jetzt können wir sie ja auch nicht untergehen lassen“ (Frau Wiesner).
273
Abb. 3 Plakat zur Kleidersammlung im Viertel. Das Plakat wurde einmal entworfen, für
die folgenden Sammlungen überklebte man lediglich das Datum.
274
Es handelt sich also nicht darum, die Flüchtlinge in die Mitte der Gemeinde
zu stellen. Sie werden in der Gemeinde wie auf dem Plakat an den unteren
Rand gestellt. Die Integration verläuft nicht darüber, dass die Initiative die
Gemeinde auffordert, den Flüchtlingen einen Platz einzuräumen, sondern
als Appell an die Generosität, die christliche Nächstenliebe und nachbarschaftliche Toleranz. In den Mittelpunkt setzt die Initiative sich selbst und
in der Darstellung als Teil der Gemeinde/des Viertels auch die Bewohner.
Das Plakat ist Spiegel der lokalen Bewohnerschaft, ein christlich unterlegter Appell an das Wertesystem der Gemeinde. Die Initiative handelt aus der
Mitte der lokalen Nachbarschaft heraus, den Flüchtlingen wird als Objekten dieses Handelns eine Randposition zugeordnet. Sie sind die Empfangenden in der Rhetorik christlicher Barmherzigkeit und lokaler Toleranz.
Der Nachbarschaft wird eine schon aktivere Rolle zugewiesen. Die Spendenbereitschaft der Nachbarn, so verspricht das Plakat, wird als Zeichen
der Toleranz und Milde gewertet werden. Einzig wahrer Akteur ist jedoch
die Initiative selbst, die sich stellvertretend für die Bewohner des Viertels
der Flüchtlinge annimmt und den Nachbarn damit auch erlaubt, auf weitere
eigene Aktivitäten zu verzichten. Die Initiative installiert sich damit als
Sachverwalterin der Gemeindeinteressen gegenüber den Flüchtlingen und
zugleich als Mittlerin zwischen Flüchtlingen und Anwohnern.
Gleich mehrfach führt die Kleiderspende somit eine Unterscheidung zwischen Nachbarschaft und Flüchtlingen ein. Die Spende trennt in Gebende
und Nehmende, und unterstellt damit einen kategorischen Unterschied zwischen den Viertelbewohnern und den ‚notleidenden’ Flüchtlingen. Die Unterscheidung wird durch die Vermittlung der Initiative weiter unterstützt,
indem sie Spendende und Empfangende bei der Transaktion auseinander
hält, und weiter, indem die Initiative als Sachverwalterin der Flüchtlinge in
der Nachbarschaft institutionalisiert wird. Gegenüber den Nachbarn wird
die Initiative zur Ansprechpartnerin, an die alle die Flüchtlinge betreffenden Aufgaben delegiert werden können. Die Flüchtlinge werden als Objekte der nachbarschaftlichen Verantwortung und Fürsorge im Viertel anerkannt, zugleich wird aber diese Verantwortung an die Mittlerinstanz Initiative übertragen, so dass sich die Viertelbewohner und andere lokale Institu275
tionen zurückziehen können. Deutlich wird dieser Prozess an der Haltung
der Kirchengemeinde, die nicht, wie der Gemeindepfleger Herr Lohner sich
erhofft hatte, eine eigene Gruppe zur Betreuung der Flüchtlinge bildete,
und sich auch nicht in der Nachbarschaftsgruppe engagierte. Seitens der
Kirche war es Herr Lohner, der sich in der Initiative engagierte und den
Kontakt zur Pfarrei herstellte.
Gerade weil die bestehenden Strukturen im Viertel sich des Themas nicht
ausdrücklich annahmen, wurde die Arbeit der Initiative im Viertel begrüßt.
Wie andere nicht demokratisch legitimierte Interessensvertretungen bedarf
die Initiative der Anerkennung seitens der Bevölkerung und der lokalen
Institutionen. Diese Anerkennung hängt von der Vermittlung der Zielsetzungen ab, die im weitesten Sinne dem Gemeinwohl förderlich zu sein haben. Seitens der lokalen Bevölkerung erfährt die Initiative die Anerkennung durch das Maß der eingegangenen Spenden, die gleichermaßen der
Initiative als auch dem von ihr vertretenen Zweck zugute kommen. Der Ruf
der Initiative ist abhängig vom Erfolg ihres Eintretens für die Flüchtlinge,
von einer Art des Eintretens, die zumindest von einem Teil der örtlichen
Bevölkerung gebilligt und begrüßt werden muss. Insofern bestimmt der
Wunsch der Initiative nach Anerkennung durch die Nachbarschaft über den
Erfolg oder Misserfolg der Kleidersammlungsaktionen. Die Reaktion der
Flüchtlinge auf die Kleidersammlung erscheint dann als zweitrangig, sofern
sie sich noch mit dem Bild der bedürftigen Asylsuchenden vereinbaren und
vermitteln lässt.
Brüche
Gerade die Vermittlung des Bildes vom bedürftigen Flüchtling war für die
Initiative jedoch nicht immer einfach. Nicht nur innerhalb der Initiative bestanden Zweifel an der generellen Bedürftigkeit der Flüchtlinge, die durch
die Reaktionen mancher Flüchtlinge auf die Kleidersammlungen genährt
wurden. Auch andere Bewohner des Viertels mussten die Diskrepanz zwischen dem sehr gepflegten Äußeren, mit dem viele Flüchtlinge, vor allem
Afrikaner in der Öffentlichkeit auftraten, und der postulierten Bedürftigkeit
wahrnehmen. Mitglieder der Gruppe berichteten davon, dass sie mehrfach
276
die Ansichten von Nachbarn korrigieren mussten, den Flüchtlingen ginge
es hier über die Maßen gut. Herr Lohner betrachtete denn die Ziele der Initiative gegenüber der Nachbarschaft auch als Versuch, Akzeptanz für die
Flüchtlinge herzustellen und Missverständnisse auszuräumen:
„Einmal dafür zu sorgen, oder zu beobachten, dass die Bevölkerung informiert wird, dass eben so eine positive Stimmung gemacht wird für diese Menschen dort, gell. Auf deren Not aufmerksam zu machen, auf deren Verhältnisse.
Zum Beispiel auch klar zu machen, dass die unter Umständen schon Geld haben, weil sie arbeiten dürfen, und dementsprechend vielleicht auch reich ausschauen, wenn sie mit
Goldketten rumlaufen, gell. Aber das alleine macht’s ja ned
aus, weil die ihr Geld ja auch gar ned anders verwenden
können. Also können sich vielleicht was zum Anziehen kaufen, aber dann müssen die halt in diesem Heim wohnen,
gell, das ist, das war für uns ja neu und das war für die meisten anderen neu, dass die da wohnen bleiben müssen, solange sie Asylbewerber sind und was die halt alles für besondere Lebensumstände haben durch ihren Aufenthaltsstatus. Ja,
und das war des eine: also irgendwie so Stimmung zu machen für die“ (Herr Lohner).
Die auffallenden Goldketten, mit denen sich einige afrikanische Männer
schmückten, boten besonderen Gesprächsstoff auch innerhalb der Gruppe.
Auch in der Initiative wurde spekuliert, woher Flüchtlinge das Geld für
solch einen Schmuck besäßen. Rauschgifthandel oder sonstige kriminelle
Tätigkeiten wurden vermutet, bis Frau Tekla mit einiger Autorität feststellte, dass es sich bei diesem Schmuck keineswegs um Gold-, sondern um billige Messingketten eines bekannten Münchner Haushaltswarenhauses handele.
„und dann ham die auch noch so Kustermann-Ketten umhängen, möglichst viele, und da is ma sich hier begegnet in
der Straß, da ham’s a solche Goldkettn um den Hals hängen,
wies unsereiner s’ganze Leben nicht kaufen kann, und dann
kriegens noch alles geschenkt. Dann sag ich, ja die sind vom
Kustermann. Wieso vom Kustermann? Ja, das ist Messing.
277
Hab’s ma scho angeschaut. Na ja, dann wars wieder beruhigt. Aber solche Sachen, die ärgern dann, ned“ (Frau
Tekla).
Damit war nicht nur die Diskussion in der Gruppe gestoppt, sondern auch
ein plausibles Argument gegenüber diesbezüglichen Vermutungen in der
Nachbarschaft gewonnen. Auch wenn damit dieses Thema beendet wurde,
so zeichnete sich bei der Etikettierung der Flüchtlinge als bedürftige Randgruppe eine Spaltung zwischen dem Selbstbild der Flüchtlinge und ihrer
Kategorisierung durch die Initiative und Nachbarschaft ab.
Ein weiteres Beispiel ist das Gerücht, dass Flüchtlinge mit dem Taxi zur
Kleiderspende gekommen wären, das bei einigen Mitgliedern der Initiative
höchste Empörung hervorrief110. Dieses Verhalten der Flüchtlinge wurde
als Missachtung und Verkennung der geltenden Verhältnismäßigkeit und
als kindisch heftig kritisiert. Tatsächlich stellte diese Nachricht das Motiv
der Kleidersammlung in Frage, baut diese doch auf der Bedürftigkeit der
Betroffenen auf. Wird diese Bedürftigkeit durch die Anfahrt mit dem Taxi
konterkariert, kommt dies einer Verspottung der Gebenden und der Initiative als Mittlerin gleich. Die Empörung mancher Mitglieder der Gruppe ist
deshalb sehr verständlich. Andere betrachteten eher belustigt diesen Affront und empfanden ihn sogar als gelungene Herausforderung gegenüber
dem Selbstverständnis der Initiative als hilfeleistender Einrichtung. Sabine
Zehrer, obwohl Teil der Initiative, so doch als Leiterin des Jugendtreffs mit
einiger auch professioneller Distanz, kommentierte die Szene wie folgt:
„Scharf fand ich ja auch diese Entrüstung mit den Taxis,
dass sie mit dem Taxi zur Kleidersammlung gefahren sind!
Super! Ich fand das so Klasse! Das war ja ein Sturm der
Entrüstung, wo sich dann diese bösen Menschen da plötzlich undankbar zeigen und meinen, sie könnten da allen
110
Der Wahrheitsgehalt dieser Nachricht ließ sich nicht eindeutig bestimmen, da niemand aus der Gruppe selbst Flüchtlinge mit dem Taxi hatte vorfahren sehen. Der Vorgang selbst ist einerseits nicht ganz auszuschließen, erinnert andererseits aber auch an
geläufige Geschichten über Sozialhilfeempfänger.
278
möglichen Luxus genießen, wo sie doch schon dankbar dafür sein müssten, was sie da haben“ (Frau Zehrer).
Das Zitat zeigt das auch innerhalb der Initiative kontrovers diskutierte
Muster, nach dem nicht nur die Flüchtlinge wahrgenommen wurden, sondern das auch das Selbstbild der Initiative bestimmte. Nicht nur waren
nicht alle Flüchtlinge pauschal als Hilfsbedürftige zu klassifizieren, die davon abhängige Selbstdarstellung der Initiative als wohltätig Helfende war
ebenfalls nicht immer unumstritten. Aus diesem Grund stellten Goldketten
und Taxifahrten auch für die Initiative ein Problem dar. Nicht nur innerhalb
der Initiative, sondern auch in der Nachbarschaft konnten solche Eindrücke
das Bild der Flüchtlinge als Bedürftige beschädigen, und sowohl die
Flüchtlinge in ein schlechtes Licht rücken als auch die Aktivitäten der Initiative als naiv erscheinen lassen. Da die Initiative jedoch die Beziehungen
zu Flüchtlingen in gewissem Sinne monopolisierte, konnte sie auch ihre
Darstellung der Flüchtlinge verbreiten und gegenüber anderen Auffassungen häufig durchsetzen. Die wenigen Gelegenheiten, zu denen Flüchtlinge
und Nachbarschaft aufeinandertreffen konnten, waren nicht geeignet, ein
anderes als das von der Initiative gewünschte Bild von den Flüchtlingen zu
verbreiten.
6. Integration durch Distinktion
In ihrer Ablehnung politischer Aufklärungsarbeit im Stadtteil hatte Frau
Wiesner in einem oben angeführten Zitat Kriterien für ihre Vorstellung
sinnvoller Arbeit für die Flüchtlinge aufgestellt. Ganz wichtig war dabei
die praktische Arbeit, welcher der klare Vorzug vor symbolisch-politischer
Arbeit gegeben wurde. Weiter sollte die Arbeit, die man für die Flüchtlinge
leistet, auch möglichst direkt den Flüchtlingen zugute kommen. In den Augen der Initiative erfüllte die Kleidersammlung alle drei Kriterien: sie war
praktische Tätigkeit, sie war nicht politisch, und sie war gut für die Flüchtlinge. Dadurch konnte die Kleidersammlung unter den sonstigen Aktivitäten der Initiative einen wichtigen Platz einnehmen. Sie war eine der Aktionen, die von einem großen Teil der Gruppe lange Zeit hindurch unterstützt
wurde. Tatsächlich aber, so habe ich hier darzulegen versucht, war die
279
Kleidersammlung weder besonders praktisch (wenn auch mit viel manueller Tätigkeit verbunden), sie war nicht ausgesprochen hilfreich für die
Flüchtlinge (jedenfalls nicht auf der intendierten materiellen Ebene) und sie
war (wenn auch nicht im Sinne üblicher politischer Aktionsformen) im Effekt eminent politisch. Die Kleiderspende mündete in eine umfassende und
kategorische Feststellung der Bedürftigkeit der Flüchtlinge, welche diese
zum Objekt lokaler Verantwortung und Fürsorge machte.
Diese Applikation der Kategorie des „bedürftigen Flüchtlings“ wurde unterstützt durch die aktive Tätigkeit, die durch die Kleiderspende eingefordert wurde. Es fand tatsächlich ein Tausch im Sinne der Wohltätigkeitsnorm statt: Die Nachbarn boten ihre Kleidergaben und erwarteten im Gegenzug Dankbarkeit und Gehorsam von den Flüchtlingen, zumindest das
Ausbleiben schädigender Handlungen. Damit verbunden war ein Wechsel
der aktiven und passiven Rollen. Mit der Kleiderspende waren es die
Nachbarn, denen die aktive Rolle zufällt, die Flüchtlinge waren als Empfangende in der passiven Position.
Insgesamt können der Kleiderspende die Effekte zugesprochen werden,
1. einen großen Teil der Viertelbewohner mobilisiert und damit in diesen Tausch einbezogen zu haben;
2. die Unsicherheit und Ungewissheit, die von der Anwesenheit der
Flüchtlinge ausging, reduziert zu haben, indem Flüchtlinge als bedürftige und dankbare Almosenempfänger einen festen Platz im Gefüge des Viertels bekommen haben;
3. Flüchtlinge nicht auf der Ebene gleichwertiger Reziprozität, sondern
über das hierarchische Verhältnis der Bedürftigkeit ins Viertel integriert zu haben, indem die Nachbarschaft dazu gebracht wurde, Verantwortung für die Flüchtlinge im Viertel zu übernehmen;
4. schließlich den Bekanntheitsgrad der Initiative und ihrer Anliegen im
Stadtviertel erhöht und ihre Rolle als Sachverwalterin der Flüchtlinge etabliert zu haben.
Im Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Nachbarschaft werden nicht, wie
Bourdieu das in Frankreich untersucht hat (Bourdieu 1984), die feinen Unterschiede als distinktive Merkmale eingesetzt, sondern mit der Kleidersammlung wird eine grobe Unterscheidung eingeführt. Über die Kleidersammlung werden die Flüchtlinge integriert, zugleich dient die Spende aber
280
einer Distinktion, der Feststellung einer deutlichen hierarchischen Ordnung
im sozialen Gefüge. Die Kleiderspende zieht zwischen Einheimischen und
Asylzuwanderern die Trennungslinie der Bedürftigkeit. Ganz gleich, wie
dünn im Einzelfall diese Unterscheidung in der Praxis ausfällt: selbst der
ärmste Einheimische hat noch was abzugeben, selbst der wohlhabendste
Flüchtling wird in den Augen der Einheimischen zum dankbaren Empfänger.
Wie die meisten anderen von der Initiative unternommenen Aktionen ist
die Kleidersammlung einem Fundus eingespielter Verhaltensweisen gegenüber Migranten entlehnt. Die Kleiderspende ist nicht nur mit dem Bild
der „Dritten Welt“, Kriegs- oder Katastrophengebieten verknüpft, sondern,
wie ich durch Dikmens Satire zu zeigen versucht habe, auch mit der Präsenz von Migranten in der Bundesrepublik. Es wurde deutlich, dass die Bedürftigkeit der Flüchtlinge keineswegs evident war: selbst die Mitglieder
der Initiative, die persönlichen Kontakt zu Flüchtlingen hatten, konnten die
Bedürftigkeit, was Bekleidung anbelangt, nur mit Mühe für die Gesamtheit
der Flüchtlinge verallgemeinern. Die Bedürftigkeit von Flüchtlingen fiel
nicht ins Auge, aber verknüpft mit den Vorstellungen über die Herkunftsländer sowie mit der Tatsache der schieren Anwesenheit der Flüchtlinge –
wer wandert oder flüchtet schon in ein ärmeres Land? – war diese Bedürftigkeit sehr plausibel. Durch die Übertragung der Geste der Kleidersammlung von den ‚Gastarbeitern’ auf die Asylsuchenden stellt sich eine Kontinuität in der Wahrnehmung der Migranten her. Die neue Migrantenpopulation wird nahtlos an die alte angekoppelt und erfährt in gleicher Weise eine
symbolische soziale Unterschichtung.
Die den Flüchtlingen zugeschriebene Bedürftigkeit knüpft in noch einem
Punkt an die Situation der Arbeitsmigranten in den siebziger und achtziger
Jahren an. Anfang der Achtziger wurde gegenüber den in der Migrationsberatung tätigen Wohlfahrtsverbänden die Kritik geübt, dass die Verbände
ihre Klientel in der Öffentlichkeit als bedürftig darstellten, auch, um die
eigene Tätigkeit besser legitimieren zu können (vgl. Kap. 3.2.) Eben dieser
Effekt tritt nun auch gegenüber den Flüchtligen wieder hervor.
281
Die Installation eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Gebenden und
Nehmenden verdeckt auch die Ursachen der Bedürftigkeit. Ein Effekt des
Rückgriffs auf das Bild des bedürftigen Flüchtlings ist es, dass mit der Anerkennung dieses Bildes auch die Gründe für diese Bedürftigkeit quasi evident sind. Hat die Nachbarschaft einmal die soziale Verantwortung für die
im Viertel untergebrachten Flüchtlinge übernommen, wird weder nach den
Gründen der Anwesenheit der Flüchtlinge noch nach den Ursachen ihrer
Bedürftigkeit gefragt. Ob nun Flüchtlinge vor der Ausweglosigkeit der ökonomischen Situation im Herkunftsland oder aufgrund der politischen
Bedrohung geflüchtet sind ist genauso unerheblich wie die Frage, bis zu
welchem Grad die Mittellosigkeit der Flüchtlinge den staatlichen Maßnahmen zur gezielten Exklusion Asylsuchender geschuldet ist. Gerade durch
die mittels der Kleiderspende eingeführte Distinktion werden die lokal untergebrachten Asylsuchenden in das Viertel integriert. Mit der Kleidersammlung bezieht die Initiative die weitere Nachbarschaft in ihr Projekt
der Flüchtlingsbetreuung mit ein. Indem sie sich an der Spende beteiligen,
übernehmen auch die Viertelbewohner Verantwortung für die Flüchtlinge
und akzeptieren sie als lokale soziale Randgruppe. Zugleich beugt der den
Flüchtlingen verliehene Status der Bedürftigkeit der Tendenz vor, sie als
Eindringlinge, Konkurrenten oder allgemein als Bedrohung zu betrachten.
Nach dem Muster der Wohltätigkeit gehen die Einheimischen in Vorleistung und geben sich damit das Recht, mit der erwiesenen Wohltätigkeit bestimmte Erwartungen an die Flüchtlinge zu richten.
Der Initiative kommt bei der Kleidersammlung eine Schlüsselfunktion zu.
Nicht nur ist sie Initiatorin der ganzen Transaktion, mit ihrer öffentlichen
Anerkennung durch die Nachbarschaft ist sie zugleich auch das Medium,
das Nachbarschaft und Flüchtlinge wirkungsvoll voneinander separiert und
der Kleidergabe damit erst zum Erfolg verhilft. Die Initiative tritt dabei als
Mittlerin und soziale Institution für Flüchtlinge auf. Die von Bauman dem
Fremden zugeschriebene Bedrohlichkeit und Ambivalenz wird dadurch
gemindert, dass die Flüchtlinge zum einen durch Wohltätigkeit in die soziale Verantwortung der Viertelbewohner eingebunden werden, dass sie zum
anderen aber auch durch das Etikett der Bedürftigkeit eingeordnet werden.
282
Die Flüchtlinge sind nicht Subjekt, sondern Objekt dieses Prozesses, der
nicht darüber verläuft, dass sich Flüchtlinge und Nachbarn näher kommen
oder kennen lernen, sondern über die Zuordnung der Flüchtlinge in eine
den Nachbarn bekannte Kategorie.
283
7. Die Kakerlakenaktion
Die Nachbarschaftsinitiative war mit dem Anspruch angetreten, sich für
das Wohlergehen der Bewohner der Flüchtlingsunterkunft zu engagieren
und sich für ein gutes Zusammenleben von Flüchtlingen und anderen Bewohnern des Stadtviertels einzusetzen. Seitens des Staates war eine Integration von Flüchtlingen oder nur Verbesserung der Unterbringungsbedingungen, soweit sie noch den Status des Asylbewerbers hatten, nicht erwünscht. Dies schlug und schlägt sich in einer Reihe von Regulierungen
der Lebensbedingungen von Asylbewerbern nieder, mit denen ihre Exklusion vom gesellschaftlichen Leben abgesichert werden soll. Ein bedeutsamer Teil dieser Ausschlussmaßnahmen, die im Asylbewerberleistungsgesetz vom Juni 1993 nochmals bekräftigt wurden, ist die bevorzugte Unterbringung (noch) nicht anerkannter Flüchtlinge in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften. In diesen Unterkünften sind Flüchtlinge einem strikten
Reglement unterworfen. Flankierend ist durch andere Vorschriften festgelegt, dass sie wirksam von gesellschaftlichen Märkten und Foren ausgeschlossen sind.
Auf dieser allgemeinen Ebene sollte davon ausgegangen werden können,
dass sich die Interessen der Initiative und die Intentionen derjenigen, die
mit der Durchsetzung der Asylbewerberunterbringung beauftragt sind, entgegenstehen. Die Initiative, die an einem möglichst harmonischen und konfliktfreien Zusammenleben von Flüchtlingen und Einheimischen interessiert ist, sollte gegen die drastische Ungleichbehandlung von Flüchtlingen
im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft Partei ergreifen. Sie sollte gewahr
werden, dass die wesentlichen Probleme der Flüchtlinge durch ihren behördlich verfügten Ausschluss aus der Gesellschaft hervorgerufen werden,
der sich in der Unterbringungssituation manifestiert. Die gesellschaftliche
Situation zu Beginn der neunziger Jahre und das Selbstverständnis der
Nachbarschaftsgruppe lassen diese Schlüsse plausibel erscheinen. Über die
Praxis lässt sich jedoch von dieser Warte aus keine stichhaltige Aussage
ableiten. Das Agieren der Initiative innerhalb der stark reglementierten Anstalt „Gemeinschaftsunterkunft“ bedingt, dass nicht nur gegenüber den
285
Bewohnern, sondern auch gegenüber der Verwaltung eine bestimmte Haltung eingenommen wird, die der Initiative den Freiraum für ihre eigenen
Aktivitäten erlaubt. Nach Goffmans Modell der totalen Institution sind Einrichtungen dieser Art vom Dualismus zwischen Personal und Insassen geprägt (Goffman 1973: 18ff). Dem Personal obliegt die Durchsetzung von
oft wenig sinnvollen Regeln, die das Leben der Insassen weitgehend
bestimmen, und es besitzt die hierzu notwendige Macht. In einer solchen
totalen Institution ist für eine dritte Kraft, die innerhalb der Institution tätig
ist, kein Platz vorgesehen. Auch wenn die Asylbewerber-Unterkünfte nicht
immer dem Idealtypus einer totalen Institution nach Goffman entsprechen,
da die Bewohner sich durch die Möglichkeit, sich auch außerhalb der Unterkunft bewegen zu können, der absoluten Kontrolle des Personals entziehen können, so gelten die Feststellungen Goffmans für den Bereich innerhalb der Unterkunft durchaus. Auch für die Tätigkeit der Nachbarschaftsinitiativen in der Unterkunft gilt, dass ihre Aktivitäten unter den wachsamen Augen des Personals und im Rahmen eines bestimmten Handlungsspektrums innerhalb der Unterkunft stattfinden. Die Initiative ist in ihren
Aktivitäten in der Unterkunft also von der Duldung durch den Staat, vertreten durch die Unterkunftsverwaltung, abhängig. Aktivitäten zu Gunsten der
Bewohner mussten deshalb immer auch im Hinblick auf deren Durchsetzbarkeit gegenüber der Verwaltung bedacht werden. Damit bilden unterschiedliche Ziele und Interessen zwischen Unterkunftsverwaltung und Initiative nur einen Faktor dieses Verhältnisses, das sich im Kontext der Unterbringung entfaltet. Wenn aber die Unterkunftssituation vom Gegensatz
zwischen Personal und Bewohnern geprägt ist, wie verhält sich dann die
Initiative zu diesem Gegensatz und inwieweit wird ihre Aktivität von dieser
Positionierung bestimmt? Am Beispiel von Konflikten zwischen Bewohnern und Unterkunftsverwaltung soll im folgenden Kapitel dieser Frage
nachgegangen werden. Dazu wird zunächst das Konfliktpotential skizziert
werden, das aus der spezifischen Unterbringungssituation erwächst. An
zwei Fällen, einem Konflikt zwischen Initiative und Verwalterin und einer
beinahe zeitgleich stattfindenden Ungeziefer-Entwesung der Unterkunft,
der sogenannten „Kakerlakenaktion“, werden dann die Spielräume der Ini286
tiative sowie die von ihr eingenommenen Positionen gegenüber der Verwaltung exemplarisch untersucht.
1. Vermittler
Eine der ersten regelmäßigen Aktivitäten der Initiative war die Anwesenheit bei der Ausgabe von Post und Lebensmittelpaketen. Zweimal wöchentlich gab die Verwalterin der Unterkunft Essenspakete an die Bewohner aus,
anschließend konnten diese ihre Post abholen. Für die Initiative bot sich
hier die Möglichkeit, Kontakt zu einer Vielzahl von Bewohnern aufzubauen, auch war die Ausgabe der Fokus und oft Austragungsort von Streitigkeiten zwischen Flüchtlingen sowie zwischen Unterkunftsbewohnern und
Verwaltung.
„Und das allererste war halt das sich zur Verfügung zu stellen von sprachkundigen Leuten bei der Essensausgabe, um
Problemen eventuell entgegenzuwirken, Auskünfte zu geben und Hilfestellung zu bieten. Na, und dann auch sich
kundig zu machen, damit man die richtigen Auskünfte gibt,
ned. Jede Woche sind wir zweimal für zwei, drei Stunden da
rumgestanden, ob es heiß war, ob es kalt war. Um zu sehen,
was brauchen die Leute. Und dann haben die ja untereinander Streitereien gehabt, die Afrikaner gegen die Jugoslawen,
das ist ja auch in Tätlichkeiten ausgeartet. Und dann haben
wir uns auch überlegt, was wird gebraucht“ (Frau Tekla).
Jeweils zwei bis drei Frauen aus der Initiative, die ‚Tages-Gruppe’, kamen
regelmäßig zu den Ausgabezeiten der Essenspakete in die Unterkunft.
Während Frau Tekla ihre Arbeit dort eher nüchtern betrachtet, hat Frau
Gustow an die konfliktträchtigen Situationen gerade bei der Paketausgabe
gute Erinnerungen:
„Das erste war, dass wir uns als Feuerwehr fühlten. In dem
Haus waren chaotische Zustände! Die Angriffe, die zum
Teil, also sicher überspitzt waren. Aber ich konnte denen
das gar nicht übel nehmen, dass sie sich so gewehrt haben
287
gegen die damalige Leiterin da, und da bin ich einfach oft
dazwischen gesprungen als Prellbock! Und des war am Anfang wirklich sehr nötig, und da hab ich mich auch ganz,
ganz wichtig gefühlt dort! Wir sind ja da zweimal in der
Woche hingegangen, wenn die Essenspaketverteilung war.
Das waren die totalen Katastrophen manchmal, weil die
Leute überhaupt nicht begriffen haben, was man ihnen da
vorsetzt und äh, zugegebenermaßen, die Leiterin hat’s auch
nicht immer in der Hand gehabt, aber die hat auch kein
Händchen gehabt, nicht, für so was ...“ (Frau Gustow).
Während Frau Tekla in ihrer Beschreibung der Essenspaketausgabe von
allgemeinen Erfordernissen zunächst auf Streitigkeiten zwischen Afrikanern und Jugoslawen kommt, wird an der Aussage von Frau Gustow schon
die umstrittene Position der Unterkunftsleiterin deutlich, deren Verhalten
Anlass zu Streitigkeiten gab. Ungeachtet dessen hatten Konflikte in der Unterkunft meist strukturelle Ursachen. Die Unterbringungs- und Versorgungsmodalitäten für Asylsuchende sowie der Zustand des Hauses bargen
hinreichend Anlässe für Streitigkeiten. Für viele Flüchtlinge war es anfangs
ausgesprochen schwierig, sich mit dem Leben in der Unterkunft abzufinden. Die für alle geltende Kategorie Asylbewerber ignorierte die unterschiedlichen Lebensläufe und den ehemaligen Status der einzelnen Flüchtlinge. Sie sahen sich einer im Prinzip unterschiedslosen Behandlung ausgesetzt. Im Rahmen der Flüchtlingsunterbringung boten sich kaum Gelegenheiten, sich soziale Anerkennung zu verschaffen. Der Rückgriff auf früher
ausgeübte Berufe, Tätigkeiten oder Status war versperrt. Die Individuierung als Folge der Fluchtmigration wurde in der Unterkunft nicht aufgehoben, sondern eher verstärkt. Auf das enge Zusammenleben mit Menschen
aus verschiedensten Herkunftsländern reagierten die Bewohner nicht mit
Solidarisierung, sondern in der Regel mit Meidung. Vorurteile und Stereotypen wurden gegenüber Bewohnern anderer Herkunft durch die Verständigungsschwierigkeiten verstärkt zur Geltung gebracht.
288
Streitigkeiten unter den Bewohnern hatten oft geringfügige Anlässe und
konnten meist schnell beigelegt werden. Prinzipiell handelte es sich hier
um Konflikte, in denen mehr Rücksichtsnahme von den Mitbewohnern gefordert wurde, etwa bei der Lautstärke des Fernsehers oder der Musikanlage. Es gab Rangeleien um gemeinschaftlich zu nutzende Küchen, Duschen,
Waschmaschinen und ähnliches mehr. Häufig wurden diese Streits durch
die unterschiedliche Herkunft verstärkt, doch entwickelte keiner der Konflikte unter den Bewohnern die Kraft, dauerhafte Spannungen zwischen
verschiedenen Herkunftsgruppen auszulösen. Grundsätzlich blieben die
Streitigkeiten zwischen Bewohnern auf der Ebene von individuellen Konflikten oder Streitereien zwischen Familien. Ursache war vor allem der
Zwang des Zusammenlebens in außerordentlich beengten und defizitären
Wohnverhältnissen, aber auch kleine Anlässe boten Gelegenheit zum
Streit:
„Im Grunde mussten wir ja erst alle lernen, mit der Situation
umzugehen. Die Gerda hat es anders gemacht als ich. Wenn
die da vorne auf sich eingeprügelt haben, hab ich mich zurückgezogen in den Flur, hab mir gedacht, bevor dir einer
drauffällt von den baumlangen Afrikanern, da sollen die
sich doch erst mal selber ..., ned. Die Gerda ist dazwischengegangen. Die hat sich in die Mitte reingedrängelt und hat
angefangen zu schieben, und dann haben sich auch meistens
Grüppchen gebildet, die haben dann die anderen wieder
auseinander gezogen. – St.D.: worum ging es bei so Rangeleien immer? – Frau Tekla: Da hatten wir mal drei oder vier
Kerle da, das waren keine Togolesen, das waren Nigerianer,
und die waren zu stolz, sich anzustellen. Die haben so quasi
geschaut, wer der letzte ist in der Reihe und haben sich den
gemerkt, und haben sich dann unten hingestellt. Und wenn
der dann dran kam, dann sind die hingegangen, und die, die
oben gestanden sind, haben das nicht gewusst. Die haben
dann wieder gemosert, ne, was die sich erlauben. Und das
289
waren dann meistens Jugoslawen, die dann runter sind, und
dann standen die sich mit hasserfüllten Gesichtern gegenüber und hatten sich gegenseitig an der Gurgel. Und die anderen viere hast du ums Verrecken nicht dazu gebracht sich
anzustellen. ‚I don’t go in line!’, Mhm” (Frau Tekla).
Mit fortschreitendem Grad des Einlebens traten Streitigkeiten zwischen den
Bewohnern in den Hintergrund, dagegen häuften sich die Beschwerden der
Bewohner gegen das strikte Verwaltungsreglement. Den Flüchtlingen wurde zunehmend die Diskrepanz zwischen dem „normalen“ Leben der Einheimischen und auch ansässiger Migranten mit gültigem Aufenthaltsstatus
und ihrer eigenen Lagersituation deutlich. Mit steigender Aufenthaltsdauer
begriffen sie außerdem, dass die Unterbringung und sonstige Reglementierung ihrer Möglichkeiten nicht eine absehbare Übergangsphase, sondern
ein unter Umständen längerfristiger Zustand sein würde. Die Möglichkeiten
der Partizipation an gesellschaftlichen Märkten wurde durch ihre Unterbringungsumstände stark behindert, eine ihrer Selbsteinschätzung entsprechende Identitätsentwicklung blockiert. Das anfangs oft hoffnungsvolle
und überzogen positive Bild der Aufnahmegesellschaft bekam Risse.
Den Umständen ihrer Unterbringung brachten die Flüchtlinge vor allem
Unverständnis entgegen. Auch die Mitglieder der Initiative konnten ihnen
nicht erklären, warum sie in einer Unterkunft leben mussten, die überfüllt
und obendrein so schlecht ausgestattet war. Die allgemeinen Bestimmungen der Hausordnung und des Asylbewerberleistungsgesetzes boten vielfältige Anlässe für Beschwerden seitens der Bewohner. Das Sachleistungsprinzip in der Versorgung der Flüchtlinge wurde oft beklagt. Die Qualität
der gelieferten Lebensmittel und ihre Zusammenstellung forderten den
Flüchtlingen viel Geduld und Phantasie bei der Zubereitung von Speisen
ab111. Viele der Lebensmittel waren den Bewohnern unbekannt, manche für
111
Für leichtes Gruseln sorgte in der Initiative die Nachricht, dass ein Bewohner den als
Gemüse zum Essenspaket beigefügten frischen Radi in Würfel geschnitten und gekocht
hatte. Die Möglichkeit, dass man Radi auch so genießbar zubereiten könne, wurde nicht
bestritten, doch die heftige Verfremdung bayerischen Brauchtums wurde als Indiz für
die Absurdität gesehen, die Flüchtlinge mit fertigen Essenspaketen abzuspeisen. Gene-
290
sie ungenießbar, insbesondere mehrköpfige Familien bekamen regelmäßig
proportional unsinnige Mengen bestimmter Lebensmittel, während andere
Zutaten fehlten.
Die Initiative versuchte auf verschiedene Weise, die als schikanös betrachtete Versorgung mit Essenspaketen abzumildern. Es gab immer wieder Ansätze, den Flüchtlingen überzählige oder für sie nicht genießbare Lebensmittel abzukaufen, der Tausch unter den Flüchtlingen wurde angeregt, doch
blieben diese Anläufe sporadisch und auf einzelne Initiativenmitglieder wie
Bewohner beschränkt. Einzelnen Flüchtlingen, die an den Lebensmitteln
verzweifelten, wurden auch Vorschläge gemacht, was sie daraus kochen
könnten. So zum Beispiel Frau Gustow, die dank früherer Afrikareisen und
ihrer Sprachkenntnisse schnell gute Beziehungen zu afrikanischen Flüchtlingen hatte:
„... und ich hab eigentlich des Gefühl gehabt, ich muss denen zeigen, dass man auch in Europa leben kann. Wenn ich
bloß dran denke, dass der eine mal, wie hieß der denn – na,
ist auch wurscht – wütend war wegen dem Essenspaket und
sagt, äh ... aus dem kann man nichts machen. Dann hab ich
mir den Burschen geschnappt, bin rauf mit ihm in die Küche, und hab ihm was gekocht, aus Hackfleisch und so. Und
da war der begeistert! ... Das schmeckte nämlich afrikanisch!“ (Frau Gustow).
Daneben waren die Wohnverhältnisse mit steigender Verweildauer der
Flüchtlinge zunehmend eine Quelle des Ärgers. Zur allgemeinen Beengtheit – Flüchtlinge hatten im Schnitt einen Wohnraum von vier Quadratmetern zu ihrer Verfügung – kam, dass die Unterkunft nur äußerst notdürftig
für die Unterbringung von Flüchtlingen hergerichtet worden war. Die Elektrik des Hauses war zu schwach ausgelegt, und bei gleichzeitigem Betrieb mehrerer Kochplatten waren Kurzschlüsse die regelmäßige Folge. Die
rell war der Inhalt der Essenspakete billigste Ware, und der Münchner Flüchtlingsrat hat
über Jahre hinweg die Zusammensetzung der Essenspakete kritisiert, allerdings ohne
Erfolg.
291
Bewohner hatten weiter keinen Zugriff auf die Sicherungen, so dass sie außerhalb der Dienstzeiten der Verwaltung häufig stundenweise bzw. am
Wochenende ganze Tage ohne Strom verbringen mussten. Die sanitären
Einrichtungen waren zu wenige und funktionierten häufig nicht.
Frau Kersten, Mitglied der Initiative und von 1995 bis zur Schließung Sozialpädagogin in der Unterkunft, beschreibt ihre Sicht auf die Unterkunft
wie folgt:
„Furchtbar, der Flur, und der Müll und die Zimmer. Am Anfang war’s ganz schlimm, das war ja im Frühjahr, wo ich da
angefangen hab. Es war ziemlich schönes Wetter, und da
gab’s auch noch des Problem, des im Moment nicht so akut
ist mit diesem Abfall von der Gastronomie, wo dann die
Maden schon im Gang waren!112 Des war echt schlimm. Ja,
jedenfalls ist schon a ziemlich unangenehmer Geruch drin,
der allerdings nicht von den Leuten nur kommt, sondern
auch aus der Wirtschaft. Und dann geh ich dann hoch, und
meistens wird ja schon früher, bevor ich komme, die Treppe
geputzt. Also die schaut meistens schon okay aus, und dann
geh ich in mein Zimmer und dann ist das alles ziemlich
warm. Also die lüften ziemlich schlecht die Leute. Denke
ich mir jetzt, vielleicht einfach weil es ihr einziger Platz ist,
ich weiß es nicht. Ja und was schon schwierig ist, ist die
Küche, die ja zum Teil für 20 Personen herhalten muss. Die
dann zwei, weil meistens ist ja eine kaputt, drei Plattenherde
haben, und dann das Klo und die Toilette und die Dusche,
die ja eigentlich total überbeansprucht ist für soviel Leute,
weil die einfach das nicht herhält, die ganze Wärme. Meistens gibt’s kein warmes Wasser, hab ich jetzt auch schon
von den Leuten gehört, nur ganz in der Früh, also es stehen
die Leute dann, grad die jetzt zur Arbeit müssen, schon in
112
Der Wirt im Erdgeschoss der Unterkunft hatte die Angewohnheit, wegen der Enge
der Küche Kartons mit Gemüseabfällen im Hausflur zu stapeln.
292
der Nacht manchmal auf, um sich zu duschen. Grad die Afrikaner, die da ja drauf großen Wert legen, weil später das
Wasser eiskalt ist. Also die ganzen Gemeinschaftsanlagen
sind ziemlich runtergekommen, meistens gehen sie auch kaputt und werden dann abgesperrt und dann haben die Leute
noch weniger Koch- oder Bademöglichkeiten. Der Hof ist
super! Ich find das ganz toll, dass da einfach ein Auslauf da
ist für die Kinder. Und im Sommer, wenn’s Wetter schön
ist, stehen auch die Erwachsenen draußen und reden. Also
es ist dann schon fast a bissel südlich. Und sonst ist es halt
schon ein problematisches Haus, weil’s einfach sehr eng alles ist. Also man kriegt alles mit von den anderen: der eine
hört Musik, bei den anderen schreit des Kind, also es ist
keine Rückzugsmöglichkeit vorhanden. Darf halt einfach
nix auf den Gang gestellt werden, und die Zimmer sind sehr
klein. Also wenn dann was auf dem Gang steht, dann wird’s
nach mehreren Verwarnungen entweder weggeschmissen
oder es gibt halt meistens auch Streit mit dem Hausmeister.
Aber es muss einfach eine Regel da sein, die müssen sich alle danach richten, das versteh ich auch, und das ist manchmal schon schwierig, find ich. Jetzt grad wenn Frauen Kinder ham, die Wäscheständer müssen sie halt irgendwo hinstellen, und jetzt im Zimmer wollen sie es a ned haben,
stehns auf’m Gang und wenn der Hausmeister die Familie
nicht mag, dann kriegen die immer Probleme. Und die Leute, die er mag, da sagt er halt nix, und des ist halt des Problem. Des ist da oft in dem Haus so. Dass da zwei unterschiedlich behandelt werden“ (Frau Kersten).
Seitens der Verwaltung wurde nicht viel unternommen, um diesen Missständen zu begegnen. Die Unterkunftsleiterin war verpflichtet, alle Reparaturen von der Regierung genehmigen zu lassen. Diese beauftragte dann
Handwerker mit der Arbeit. Reparaturmaßnahmen wurden von der Regie293
rung von Oberbayern allerdings nur sehr langsam in Gang gesetzt. Die Initiative war deshalb permanent damit beschäftigt, kleine Verbesserungen bei
der zuständigen Regierungsstelle einzufordern. Viele Verbesserungen, wie
zum Beispiel die Installation eines Münztelefons in der Unterkunft, wurden
im Hinblick nicht auf die Bequemlichkeit, sondern auf die Sicherheit der
Bewohner formuliert. Die Initiative versuchte bei Regierung und Verwaltung den Eindruck zu vermeiden, sie stünde auf Seiten der Asylsuchenden.
Stattdessen argumentierte sie nach Möglichkeit aus der Position des besorgten Anwohners heraus. Zwei Frauen der Initiative, die durch ihre Berufstätigkeit über Erfahrung mit Behörden verfügten, übernahmen im wesentlichen den Kontakt zur Regierungsstelle.
Die Initiative war allerdings auch in der Lage, ihre Anliegen schärfer zu
formulieren. Beispielhaft sind die Schreiben an die Regierung, in denen
unter anderem ein Schild an der Außenwand der Unterkunft kritisiert wurde, welches das Haus als Sammelunterkunft für Asylbewerber kennzeichnete. Nachdem auf ein dringlich verfasstes Schreiben im Namen der Initiative keine Reaktion erfolgte, schrieb Frau Wiesner unter dem (anders lautenden) Namen ihres Ehemannes:
„Als Anwohner der Birkenstraße stehe ich dieser Unterkunft
nicht unbedingt positiv gegenüber. Andererseits sehe ich
mich – durch die steigende Zahl von Gewalttaten gegen
Ausländer im Allgemeinen und Einrichtungen dieser Art im
Besonderen – zum Handeln gezwungen. Diese Menschen
sind nun mal in unserem Land und haben gemäß unserem
Grundgesetz Anspruch auf Schutz. Dieser ist in meinen Augen jedoch in keiner Weise gegeben. Zunächst muss ich mit
gewissem Schrecken feststellen, dass das Haus mit einer Tafel versehen wurde. Regierung von Oberbayern. Sammelunterkunft für Asylbewerber. Ist dies nun die berühmte deutsche Gründlichkeit, der hier blind Folge geleistet wurde, oder ganz einfach Gedankenlosigkeit – einerseits den Haus-
294
bewohnern, andererseits den Anwohnern gegenüber? ...“
(Brief Frau Wiesner).
Einige weitere Sicherheitsmängel wurden im gleichen bissigen Stil kritisiert, und der Brief tat umgehend seine Wirkung. Das Schild wurde wenige
Tage nach Versand des Schreibens abmontiert. Deutlich wird hier weniger
die Position der Initiative gegenüber den Flüchtlingen als vielmehr das
Bewusstsein ihrer Mitglieder, gegenüber der Verwaltung eine bestimmte
Rhetorik erfolgreich anwenden zu können. Da die Bezirksregierung für eine harte Haltung gegenüber Flüchtlingen eintrat, schien es wenig erfolgversprechend, das Interesse am Wohlergehen der Flüchtlinge gegenüber der
Verwaltung herauszustellen. Vielmehr pochte die Initiative auf notwendige
Mindeststandards, betonte Sicherheits- und Ordnungsaspekte und wenn sie
sich auf Rechte berief, dann vor allem auf Rechte der Bürger und Anwohner. Auch gegenüber der Verwalterin der Unterkunft verfolgte die Initiative
eine ähnliche Strategie. Besonders die Frauen der Tages-Gruppe der Initiative, betonten ihre Rolle als Unterstützung der Leiterin in ihren Verwaltungsaufgaben und stellten auch ihre Hilfe für Flüchtlinge als Beitrag zum
Erhalt des Friedens in der Unterkunft heraus.
Bei Konflikten zwischen Verwalterin und Bewohnern bemühte die Initiative sich um eine neutrale Position. Obwohl die Initiative als unbeteiligte
Dritte häufig mäßigend auf Konflikte einwirken konnte, so waren sie nicht
immer zu verhindern. In den wenigsten Fällen waren die Konfliktursachen
zu beseitigen, deshalb beschränkte sich das Konfliktmanagement der Initiative meist darauf, die Beteiligten zu beruhigen und von Handgreiflichkeiten
abzuhalten. Von vielen Konflikten erfuhr die Initiative jedoch erst zu einem
Zeitpunkt, an dem sie kaum mehr eingreifen konnte.
„Hannah, eine togoische Bewohnerin, fand den Kinderwagen für ihre Tochter nicht am gewohnten Platz. Zunächst
ging sie davon aus, dass er gestohlen worden sei, dann erzählten ihr Mitbewohner, dass die Verwalterin den Kinderwagen in den Müllcontainer geworfen habe. Wütend stellte
Hannah die Verwalterin zur Rede, doch diese ignorierte die
295
Bewohnerin und fuhr mit der Verteilung von Essenspaketen
fort. Hannah beschuldigte die Verwalterin, ihren Kinderwagen in den Müll geworfen zu haben, und beschimpfte sie.
Die Verwalterin entgegnete, nun auch schon mit gehobener
Stimme, dass Kinderwagen nicht in den Hausfluren abgestellt werden dürften. Das sei der Bewohnerin schon mehrfach mitgeteilt worden. Wenn sie der Anordnung nicht Folge leiste, dann müsse sie auch die Konsequenzen tragen. Im
übrigen sei sie ja als Querulantin schon bekannt, sie solle
nicht frech werden, sonst rufe sie, die Verwalterin, gleich
die Polizei. Der Streit verschärfte sich rapide und die zwei
Frauen aus der Initiative, Frau Tekla und Frau Stern, konnten nicht verhindern, dass Hannah ein gefrorenes Hähnchen
aus der Essensration eines Bewohners in Richtung Verwalterin warf. Die daraufhin von der Verwalterin gerufene Polizei konnte nichts unternehmen, da die Verwalterin eine
Anzeige nicht erstatten wollte, sondern der Bewohnerin mit
dem Rauswurf drohte. Die Frauen aus der Initiative versuchten, Hannah zu beruhigen und begleiteten sie in ihr
Zimmer. Sie versprachen ihr, Ersatz für den Kinderwagen
zu beschaffen, und verließen dann die Unterkunft. Am
nächsten Tag bekam Hannah einen Bescheid, der sie zum
Verlassen der Unterkunft aufforderte. Binnen drei Tagen
habe sie sich in einer anderen Münchner Unterkunft einzufinden. Hannah weigerte sich zunächst, diesem Bescheid
Folge zu leisten, doch die Verwalterin ließ sich in ihrem
Entschluss nicht mehr umstimmen. Die Initiative konnte nur
noch den Umzug von Hannah organisieren“ (Forschungsnotizen nach Erzählung von Frau Tekla).
Die Vermittlungsversuche brachten die Initiative oft in eine schwierige Situation. Die Verwalterin lehnte eine Vermittlung häufig als Einmischung in
ihre Angelegenheiten ab, verweigerte sich Kompromissen und drohte auch
296
mit Hausverbot gegenüber Angehörigen der Initiative. Besonders die Tages-Gruppe bemühte sich deshalb darum, den Kontakt zur Verwalterin
nicht abreißen zu lassen und die Verwalterin nach Möglichkeit zu unterstützen, um auch in Streitfällen intervenieren zu können. Um die Verwalterin nicht aufzubringen, wurde auf der anderen Seite die Unterstützung,
welche die Initiative den Flüchtlingen zu teil werden ließ, häufig außerhalb
der Sichtweite der Verwaltung praktiziert.
Positionen der Initiative
Die Nachbarschaftsgruppe hatte nicht von vornherein eine einheitliche Haltung gegenüber der Verwaltung. Einheitlichkeit stellte sich innerhalb der
Initiative nur schrittweise her, und so waren die Diskussionen, wie die Initiative sich zu bestimmten Verwaltungsakten stellen solle, durchaus konfliktreich. Für einen heftigen Streit sorgten z.B. die feuerpolizeilichen Auflagen in der Unterkunft. Die Sicherheit der Bewohner vor Brandanschlägen
auf die Unterkunft war der gesamten Initiative besonders in den Anfangsmonaten ein wichtiges Anliegen. Auf ihre Initiative hin wurde die städtische Brandschutzkommission mit einer Untersuchung des Gebäudes beauftragt. Diese stellte fest, dass für die Bewohner der oberen Stockwerke keine
hinreichende Fluchtmöglichkeit gegeben war und ordnete den Bau einer
Feuertreppe an. Bis zu deren Fertigstellung mussten jedoch die Zimmertüren in den oberen Stockwerken entfernt werden. Besonders Frau Kersten
fand diesen Beschluss – und darin war sie sich mit den betroffenen Bewohnern einig – unannehmbar, da den Flüchtlingen damit der letzte Rest Privatsphäre genommen würde. Andere Mitglieder der Initiative befanden jedoch, dass sie sich nicht erfolgreich gegen eine solche Anordnung wehren
könne und die Initiative im Falle einer offenen Opposition ihre Position
gegenüber der Regierung damit schwächen würde. Wenn die Initiative gegen diese Maßnahme protestierte, könne man keine weiteren Sicherheitsmaßnahmen zum Schutze der Flüchtlinge von der Regierung fordern, befand zum Beispiel Frau Tekla:
„Du kannst nie alle in gleicher Form engagiert für eine Sache gewinnen, also, dass jeder mit der gleichen Energie ar297
beitet, ned, sondern jeder halt so wie er meint, dass es seinen Bedürfnissen entspricht. Am Anfang hab ich mich zum
Beispiel wahnsinnig geärgert über die Kersten. Wie die die
Türen ausgehängt haben, aus den Brandschutzgründen heraus. Und sie dann laut verkündet hat, sie holt sich den
Hausmeister und hängt alle Türen wieder ein. Oben, in den
oberen Stockwerken die Zimmertüren zum Teil, ned. Die
mussten doch ausgehängt werden, weil keine Fluchtwege da
waren. Und wo die Kersten dann sagt, ich häng die selber
wieder ein, da hol ich mir den Hausmeister. Wo ich dann
gesagt habe, sind Sie wahnsinnig? Wollen Sie den Mann um
seinen Job bringen? Da sagt die, dann mach ich’s eben allein. Ich hab gedacht, ja gibt’s denn soviel Blödsinn auf einmal? Also dieser emotionale Überschwang! (...) Ist ja auch
recht und schön, ned. Dass ist ja auch der Sinn der Sache,
dass man sich dafür einsetzt, dass man die Türen wieder
reinkriegt. Aber dann eben mit den Mitteln, die das zulassen, ned“ (Frau Tekla).
Diese Stellungnahme macht zwei Grundpositionen innerhalb der Initiative
deutlich, die ich als „idealistisch“ und „realistisch“ bezeichnen möchte. Die
„idealistische“ Position ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich deutlicher
auf die Rechte stützt, deren Geltung auch für Flüchtlinge eingefordert wird.
Diese Position impliziert eine Hinwendung zum Einzelfall, in dessen Namen jedoch allgemeine Rechte postuliert werden. VertreterInnen dieser
Richtung identifizieren sich häufig mit den Flüchtlingen und ihrer Situation, ihre Forderung ist letztlich die Gleichbehandlung auch von Flüchtlingen. Das Aushängen von Wohnungstüren z.B. wäre in einem ‚normalen’
Mietshaus auch mit feuerpolizeilicher Begründung keine durchsetzbare
Auflage. Dass gegenüber den Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft eine
solche Anordnung ergehen konnte, war deutliches Zeichen einer Ungleichbehandlung. Die ‚idealistische’ Position mündet häufig in die Opposition
zu den bestehenden Verhältnissen in der Unterkunft, auch wenn das wenig
298
Aussicht auf Erfolg hat. Die „realistische“ Position dagegen orientiert sich
primär an der Durchsetzbarkeit von Handlungen. Werden im Grunde als
sinnvoll erachteten Forderungen keine Chancen auf Realisierung eingeräumt, sprechen sich die VertreterInnen dieser Position dagegen aus. Langfristig stabile und geordnete Verhältnisse entsprechen mehr ihren Interessen als das Beharren auf Prinzipien der Gleichheit oder Gerechtigkeit. Ihnen geht es darum, sich pragmatisch einen Freiraum für Aktivitäten innerhalb der bestehenden Struktur zu schaffen, an der sie die Erfolgsaussichten
ihres Handelns messen.
Die Vermittlung beider Positionen fand im wesentlichen auf den Treffen
der Initiative statt, wobei sich in der Regel die „realistische“ Position
durchsetzen konnte. Nicht nur war diese mehrheitlich in der Gruppe vertreten, auch die Ziele der Initiative als nachbarschaftliche Interessensgruppe
unterstützten diese Position. Als Zusammenschluss von Nachbarn, die ein
Miteinander-Leben von Nachbarn und Flüchtlingen propagierten, suchte
die Initiative Konfrontationen zu vermeiden. Auch wenn sich das Arbeitsfeld der Initiative bald von den Nachbarn zu den Flüchtlingen hin verschob,
so war dieser allgemeine Anspruch weiterhin handlungsleitend. Streitigkeiten in der Unterkunft konnten Anlass für Konflikte mit der Nachbarschaft
bieten und deren Akzeptanz der Flüchtlingsunterkunft vermindern. Insofern
speisten sich die Ordnungsvorstellungen der Initiative auch aus dem Interesse, gegenüber der weiteren Nachbarschaft geregelte Verhältnisse in der
Unterkunft zu gewährleisten. Aus der lokalen Selbstverortung der Initiative
leitet sich damit die gleichermaßen gegenüber Flüchtlingen und Verwaltung angestrebte Vermeidung von Streitigkeiten ab. So passt es nicht zu der
Aufgabenbeschreibung der Initiative, durch Eintreten für die Rechte der
Flüchtlinge Konflikte zwischen Verwaltung und Flüchtlingen zu vertiefen
oder womöglich selbst hervorzurufen. Die Initiative sieht sich vielmehr in
der Rolle, als neutrale und öffentliche Instanz sowohl von Flüchtlingen als
auch von der Verwaltung die Beachtung von Regeln einzufordern, die ein
konfliktfreies Zusammenleben absichern sollten. Die Neutralität, die ein
solches Vorgehen erfordert, war allerdings auch bei der Initiative nicht
immer gegeben. Tatsächlich lassen sich zwei Pole unterscheiden, zwischen
299
denen sich das Handeln der Initiative bewegte: zum einen die Konfrontation mit restriktivem Verwaltungshandeln, zum anderen die Annäherung an
Positionen gerade der öffentlichen Verwaltung. Dies soll exemplarisch an
zwei Situationen, einem Konflikt zwischen Initiative und Verwalterin und
einer zeitlich parallel dazu verlaufenden „Kakerlakenaktion“ ausgeführt
werden.
2. Der Konflikt
Die Initiative war in ihrem Bemühen, zwischen Verwaltung und Flüchtlingen zu vermitteln, nicht immer erfolgreich. Dies lag zum nicht geringen
Teil an der Person der Verwalterin. Viele der Reibungspunkte, die sich aus
den allgemeinen Unterbringungsbedingungen ergaben, entwickelten sich
erst wegen der Haltung der Verwalterin Frau Liebau zu handfesten Auseinandersetzungen. Auch dies kann zumindest teilweise den strukturellen
Konfliktursachen zugeschlagen werden, denn den Herausforderungen, die
mit der Verwaltung einer Flüchtlingsunterkunft verbunden waren, entsprachen weder das Anforderungsprofil noch die Vergütung der Stelle. In den
Augen der Initiative war Frau Liebau, von der Inbetriebnahme der Unterkunft 1992 bis Ende 1994 Verwalterin des Hauses, von Beginn an für diese
Stelle nicht geeignet und den Anforderungen nicht gewachsen. So heißt es
im Protokoll gleich des ersten Treffens der Initiative:
„Herr Stadtpfarrer Weininger berichtete über die Kommunikationsschwierigkeiten in der Unterkunft zwischen Frau
Liebau und den Schwarzafrikanern. Diese haben ihre Ursachen in der sprachlichen Verständigung und im zwischenmenschlichen Bereich. Berichte von Frau Marei bestätigen
dies. Aus diesem Grund wollen mehrere Frauen der Initiative bei Frau Liebau vorsprechen und ihr ihre Unterstützung
anbieten“ (Protokoll 5.10.92).
Konflikte zwischen Bewohnern und Verwalterin nach Möglichkeit abzuwenden und bei Streitigkeiten zu vermitteln war deshalb von Beginn an
eine prominente Aufgabe vor allem der Tages-Gruppe der Initiative:
300
„Die konnte ja auch nicht unterscheiden, wer da ehrenamtlich arbeitet und wer trotz allem da hauptamtlich und von
ner anderen Organisation war. Die hätte alle, wenn sie es
gekonnt hätte, als Untergebene betrachtet und eingespannt.
Also, es war mit Sicherheit gut, dass die Frau Tekla auch
noch mit im Haus war, die ja auch sehr lange Verwaltungserfahrung hat und schon versucht hat, sie mit einzubinden
oder auch so ein bisschen auszutricksen. Dass die Frau
Gustow da war, die ja auch älter war, und bei der Frau Stern
war es so, dass die Akzeptanz von da her da war, weil sie ja
wirklich so perfekt vom Übersetzen her war. Manche Sachen bringen ja doch Schwierigkeiten ...“ (Frau Astner).
Während die Unterstützung Frau Liebaus im Kontakt zu den Bewohnern
als erste Aufgabe der Initiative betrachtet wurde, konnte die Initiative langfristig nicht darüber hinwegsehen, dass die Verwalterin ihre Aufgaben nur
schlecht erfüllte. Hielt sich Frau Liebau auch in Anwesenheit von Mitgliedern der Initiative zurück, so häuften sich doch die Beschwerden der Bewohner in einem Maße, dass die Initiative sich nicht damit begnügen konnte, in Konfliktfällen beschwichtigend einzugreifen. Diese Beschwerden
umfassten verschiedene Bereiche. Insbesondere der herrische Umgangston
und rassistische Bemerkungen, vor allem gegenüber Flüchtlingen aus Afrika, waren Gegenstand wiederholter Klagen. Vom ruppigen Ton blieben
auch die Mitglieder der Initiative nicht verschont:
„Ich hab jetzt nicht mehr die ganzen Beschimpfungen da,
aber das waren massiv rassistische Äußerungen, die da abgegangen sind, und sie hat ja auch nen Kasernenhofton gehabt. Also selbst die, die dann etwas besser mit ihr zu Rande
kamen, haben diesen Ton sehr beanstandet, und für ein paar,
die neuer mit dazugekommen sind, war das so abschreckend, dass sie keine Lust hatten, so weiter mitzumachen“
(Frau Astner).
301
Diskussionsthema in der Initiative war zudem die Ungleichbehandlung der
Flüchtlinge: es gab häufige Beschwerden, dass bestimmte Flüchtlinge
durch die Verwalterin privilegiert behandelt wurden, manch andere Bewohner fühlten sich dagegen deutlich benachteiligt. Hier konnte die Initiative jedoch nur versuchen, mäßigend auf die Flüchtlinge einzuwirken, die
sich über Benachteiligungen beklagten, oder selbst für Ausgleich zu sorgen, da sich solche Vorfälle der Verwalterin in der Regel nicht nachweisen
ließen. Als handfester Konfliktstoff zeigte sich dagegen die Ausgabe von
Post und Lebensmittelpaketen. So gestattete die Verwalterin lange Zeit
nicht, dass ein Bewohner, der z.B. wegen seiner Arbeit sein Essen nicht
selbst abholen konnte, einen anderen Bewohner zur Abholung bevollmächtigte. Händigte die Verwalterin der bevollmächtigten Person das Essen
nicht aus, war der Betreffende drei bis vier Tage ohne Lebensmittel. Noch
gravierender erwiesen sich die knapp bemessenen Ausgabezeiten für die
Post. Postsendungen wurden der Unterkunftsverwaltung übergeben, bei
Bedarf von dieser abgezeichnet und galten damit als zugestellt. Die Verwalterin gab die Sendungen zu einem festen Termin an die Flüchtlinge weiter. Auch hier wurde Bevollmächtigten die Post nicht ausgehändigt, so dass
es wegen der knapp bemessenen Einspruchsfristen im Asylverfahren oft
dazu kam, dass wertvolle Zeit für einen Einspruch verstrich. Vorwürfe,
dass die Verwalterin Post für Bewohner geöffnet hätte, ließen sich nicht
belegen. Häufig kam es zu Verletzungen der Privatsphäre der Bewohner.
Die Verwalterin kontrollierte in Abwesenheit der Bewohner Spinde und
Habseligkeiten, betrat die Zimmer grundsätzlich ohne anzuklopfen und
ging bei Zimmerkontrollen ohne Rücksicht auf die Bewohner vor:
„Die konnte nicht entscheiden, was sie tun kann und was
darüber hinausgeht. Klar ist, dass bei solchen offenen Häusern zwischendrin immer auch kontrolliert werden muss,
das dient ja auch der Sicherheit der anderen Bewohner, und
wir hatten ja auch Kinder. Und wenn sich Menschen halt
auch unbefugt dort aufhalten, gibt’s ja auch immer Riesenprobleme und Polizei und weiß was. Aber dass man dann
302
reingeht in die Zimmer, ohne anzuklopfen, und den Leuten
einfach die Bettdecke wegzieht und die unter der Decke
nackt liegen. Also die hat da überhaupt kein Schamgefühl
gehabt“ (Frau Astner).
Proteste und Widerstand von Bewohnern versuchte Frau Liebau durch Polizeieinsatz und Verlegung betreffender Bewohner in andere Unterkünfte
zu unterdrücken. Die Spannungen zwischen Bewohnern der Unterkunft und
der Verwalterin stagnierten auf gleichbleibend hohem Niveau. Versuche
der Initiative, mäßigend auf die Verwalterin einzuwirken, blieben oft erfolglos. In einem Klärungsgespräch zwischen Frau Astner, der Sprecherin
der Initiative, und der Verwalterin wies letztere die Beschwerden als Unterstellungen zurück. Für den Fall weiterer Einmischung drohte die Verwalterin mit Hausverbot für die Initiative. Jedoch zeichnete sich im konkreten
Fall der Postausgabe zunächst eine Einigung ab. Die Verwalterin bot an,
den arbeitenden Flüchtlingen die Post an einem Abendtermin auszuhändigen. Eine Umsetzung dieser Regelung erfolgte aber nicht. Der Initiative
blieb nun nur noch der Beschwerdeweg. Sie hatte Erkundigungen über die
Verwalterin eingeholt und festgestellt, dass diese schon in mehreren Unterkünften tätig gewesen und durch ähnliches Verhalten aufgefallen war.
Nahmen in einer Unterkunft die Proteste und Spannungen zu sehr zu, war
Frau Liebau von der ROB in eine andere Unterkunft versetzt worden113.
Die Initiative sammelte nun die Beschwerden der Bewohner, gab sie an die
Regierung von Oberbayern als übergeordnete Behörde weiter und forderte
die Ablösung der Verwalterin. Die Beschwerde der Initiative an die Regierung von Oberbayern wurde unterstrichen durch ein weiteres Beschwerdeschreiben von Flüchtlingen, das von rund einem Drittel der Bewohner un-
113
Frau Liebau war nicht die einzige Verwalterin, deren Tätigkeit in einer staatlichen
Flüchtlingsunterkunft Kritik hervorgerufen hatte. Eine Beschwerde mit nahezu identischem Inhalt wurde gegenüber mindestens einem Verwalter in München formuliert.
Auch hier sind insbesondere Übergriffe des Verwalters auf die Privatsphäre und den
Privatbesitz von Bewohnern Gegenstand der Klage. In beiden Fällen reagierte die Regierung von Oberbayern gleich: sie versetzte die Verwaltung in gleicher Position in eine
andere Unterkunft.
303
terzeichnet worden war. Die Schreiben ließen das ohnehin problematische
Verhältnis zwischen Verwaltung und Initiative weiter abkühlen.
Im Gegensatz zur eher kompensatorischen und vermittelnden Position, die
das Verhältnis der Initiative zur Verwaltung im allgemeinen auszeichnete,
kommt es in dieser Episode zu einer offenen Konfrontation mit der Verwalterin. Allerdings versichert sich die Initiative auch hier, dass ihr Aufenthalt
innerhalb der Unterkunft weiterhin möglich ist. Besonders diejenigen Frauen der Initiative, die während der Verteilung der Essenspakete in kontinuierlichem Kontakt zur Verwalterin standen, bemühten sich darum, weiterhin mit der Verwalterin reden zu können. Die Initiative wollte vermeiden,
dass sie bei einer zu heftigen Konfrontation die Kontrolle über die Vorgänge in der Unterkunft und womöglich die Zugangserlaubnis verlor. Prinzipiell blieb die Initiative damit der Kooperation mit der Verwaltung gegenüber aufgeschlossen. Auch die Akzeptanz der Unterbringungsweise seitens
der Initiative verringerte sich nicht. Zwar gab es Stimmen, die gerade in der
Weiterbeschäftigung Frau Liebaus als Unterkunftsleiterin die zumindest
gleichgültige Haltung der Behörde feststellten, doch andere, wie Frau
Tekla, ehemals eine Verwaltungsangestellte im gehobenen Dienst, verteidigten die Haltung der Regierung von Oberbayern:
„Die Liebau war mit der ganzen Geschichte eben überfordert, ned. Damals musste halt genommen werden, was sich
angeboten hat. Wenn sich so eine Organisation aus dem
Stegreif aufbauen soll, dann kannst du keine Auswahl treffen. Wenn man Glück hat, kriegt man gute Leute, und wenn
man Pech hat, na dann muss man sich mit den anderen
nachher immer noch rumfretten. Mit denen hast ja Verträge,
hast Zusagen gemacht, und dann bleiben solche eben auch
in Amt und Würden“ (Frau Tekla).
Nicht das Verhalten von Frau Liebau, aber die Handlungsweise der ROB
wird in dieser Aussage als grundsätzlich korrekt bekräftigt. Die Kritik der
Initiative an der Verwaltung wird so auf die Person der Unterkunftsleiterin
fokussiert, die Notwendigkeit der allgemeinen Verwaltung ausdrücklich
304
affirmiert. Dies wird auch in dem Schreiben deutlich, in dem die Initiative
die Ablösung von Frau Liebau als Heimleitung fordert. Neben der Aufzählung der gesammelten Kritikpunkte an der Arbeit Frau Liebaus wird besonders auf die Bedeutung der Arbeit der Initiative und auf die potentiell
gute Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Initiative hingewiesen:
„In Zeiten, in denen sich Frau Liebau in Urlaub befindet,
entspannt sich die Lage im Haus. Dies wurde überdeutlich
bei ihrer letzten Urlaubsvertretung durch Herrn Marek. Mit
Herrn Marek konnten auch Probleme erörtert werden, ohne
dass sich dieser persönlich angegriffen fühlte. Dieser meisterte die Lage souverän. Die Polizei musste nicht gerufen
werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Bewohnern und
ihm und uns war ausgesprochen gut“ (Brief der Initiative an
ROB 8.6.93).
Der Verweis auf die besonders gute Zusammenarbeit mit dem Verwalter
Herrn Marek wurde auch aus dem Grunde unterstrichen, um diesen Verwalter nach Möglichkeit wieder zu bekommen. Dagegen wird die Zusammenarbeit der Initiative mit Frau Liebau als zermürbend dargestellt. Im
Schreiben droht die Initiative damit, sich aus der Unterkunft zurückzuziehen, weil die Aktivitäten der Mitglieder zu einem hohen Anteil durch die
Auseinandersetzungen mit Frau Liebau gebunden sind:
„Von Anfang an gab es zwischen Frau Liebau und den Bewohnern sprachliche und zwischenmenschliche Probleme.
Es gelang den Damen aber in der Anfangszeit, diese entweder zu beseitigen oder wenigstens zu verkleinern. Wie nannte es ein Mitglied meiner Gruppe: ‚ich bin Puffer und Feuerwehr zugleich, nur zu einer positiven Arbeit komme ich
eigentlich nicht’“ (Brief an ROB 8.6.93).
Ein Rückzug der Initiative aus der Unterkunft würde auch bedeuten, dass
die Sozialbetreuung der Caritas aus der Unterkunft abgezogen würde. „Für
unser Viertel“, so der Brief weiter, „wäre dies eine Katastrophe“ (Brief an
305
ROB 8.6.93). Damit wird gegenüber der Verwaltung ein Zusammenhang
zwischen der Stimmung innerhalb der Unterkunft und im Stadtviertel hergestellt. Im Brief wird dies weiter ausgeführt:
„Die Stimmung im Haus ist leider wieder sehr angespannt.
Diese Spannungen werden sehr wohl auch von Frau Liebau
durch ihr Verhalten provoziert. Es ist durchaus nicht auszuschließen, dass die Stimmung total kippt und sie einmal
massiv angegriffen wird. Was dann auf uns alle zukommt,
können wir uns wahrscheinlich überhaupt nicht vorstellen.
Für die rechtsradikale Gruppe in unserem Stadtteil wäre dies
ein ‚gefundenes Fressen’. Ausschreitungen gegen die Unterkunft wären dann durchaus im Bereich des Möglichen.
Darüber hinaus gärt es bei den ausländischen Jugendlichen,
nicht nur in unserem Stadtteil, seit Solingen verstärkt. Eine
Eskalation der Gewalt wäre dann nicht mehr auszuschließen“ (Brief an ROB 8.6.93).
Eine mögliche Eskalation der Spannungen innerhalb der Unterkunft wird
hier auf das Verhältnis von Viertelbewohnern und Flüchtlingen übertragen.
Zugleich reflektiert das Schreiben jedoch auch die gesellschaftliche Situation. Nur wenige Tage nach dem Brandanschlag auf ein mehrheitlich von
Türken bewohntes Haus in Solingen (am 29. 5. 1993), bei dem fünf türkische Frauen und Mädchen starben, ist das gesellschaftliche Klima geprägt
vom Entsetzen über den Anschlag und – wie der Brief zeigt – dem Gefühl
der Bedrohung, die von Rechtsradikalen ausgeht. Auch, dass es „gärt bei
den ausländischen Jugendlichen“ ist den Reaktionen auf den Solinger
Brandanschlag zuzurechnen. Dort hatten türkische Jugendliche in der Solinger Innenstadt Fensterscheiben eingeworfen und Geschäfte geplündert,
in Solingen und anderen deutschen Städten kam es zu Demonstrationen
und Straßenblockaden. Auch diese Bedrohung der lokalen Sicherheit und
Ordnung wird auf das eigene Viertel übertragen. Die Befürchtung, ein Anschlag wie in Solingen könnte überall, auch in Sabing erneut passieren,
wurde auch in der Initiative laut. So wird plausibel, dass ein nur die Unter306
kunft betreffender Konflikt in Beziehung gesetzt wird zur Umgebung und
zur Wahrnehmung der Unterkunft in der Nachbarschaft. Kritik an der Form
der Unterbringung von Flüchtlingen wird im Schreiben jedoch nicht geübt.
Damit wird auch hier wieder eine schon bekannte Figur eingeführt: Nicht
die als schikanös befundene Behandlung der Flüchtlinge und Bewohner
wird beklagt, sondern die möglichen Auswirkungen auf die Stimmung und
Ordnung im Stadtviertel werden in aller Dringlichkeit geschildert. Die Initiative positioniert sich im Stadtviertel und klagt die Verantwortung der
Regierung nicht für die Flüchtlinge, sondern für die Anwohner ein. Diese
Argumentation ist in den Augen der Initiative nicht nur wirkungsvoller gegenüber der ROB, sondern führt zugleich zurück auf die Selbstverortung
der Initiative. Ansprüche werden nicht aus der Unterstützung der Flüchtlinge abgeleitet, sondern aus dem Grundsatz der Nachbarschaftsgruppe, sich
für ein „Miteinander-Leben“ im Stadtviertel einzusetzen. Das friedvolle
Zusammenleben der Nachbarn mit den Bewohnern der Unterkunft, so die
Argumentation, werde durch Spannungen innerhalb der Unterkunft gefährdet. Unterstützend wird die allgemeine politische Lage in die Beweisführung eingebaut, die gefährdete Ordnung in der Unterkunft in Beziehung
gesetzt zur gefährdeten Ordnung der Gesellschaft. Die Verwalterin wird in
dieser Argumentation zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Wenn die Verwalterin die Ordnung in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht
aufrechterhalten kann, ja sogar stört, dann bleibt der Initiative die Rolle als
Hüterin der öffentlichen Ordnung in der Unterkunft. Die Initiative versetzt
sich damit in die Position einer kontrollierenden öffentlichen Instanz gegenüber den Vorgängen in der Unterkunft und der anderweitig weitgehend
unkontrollierten Macht der Verwaltung. Sie bringt dazu alle ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen als öffentlich aktive Nachbarschaftsinitiative
zur Geltung. Gegenüber der Behörde sichert sich die Initiative ab, indem
sie die Kritik nicht auf die allgemeinen Unterkunftsbedingungen, sondern
ausschließlich auf die Person der Verwalterin bezieht.
Insgesamt zeigt der Verlauf dieses Konflikts, dass die Initiative nur unter
bestimmten Bedingungen überhaupt bereit war, eine Konfrontation mit der
Verwaltung zu riskieren. Nicht nur konnte ein Konflikt der Initiative den
307
Zugang zur Unterkunft versperren, auch mussten Vor- und Nachteile für
die Bewohner sorgfältig abgewogen werden. Im Falle von Frau Liebau sah
die Initiative schließlich keine Alternative mehr zu einer Konfrontation mit
der Verwalterin, aber selbst dieser Entschluss löste in der Initiative eine
heftige Kontroverse aus. Von einigen wurden die im Schreiben an die Behörde erhobenen Vorwürfe als zu heftig eingestuft, und manche hatten die
Befürchtung, dass sich die Situation für die Bewohner und für diejenigen
aus der Initiative, die regelmäßig die Unterkunft besuchten, verschlimmern
würde. Zwei Frauen aus der Initiative vertraten die Ansicht, dass ein solches Schreiben an die Regierung gerade zu einer Eskalation der Unterkunftssituation führen würde und schlugen stattdessen vor, noch einmal
Gespräche mit der Verwalterin zu führen. Ein Schreiben an die Regierung
würde die weitere Arbeit in der Unterkunft gefährden und das Verhältnis
zur Verwalterin weiter verschlechtern. Als in der Gruppe mehrheitlich abgelehnt wurde, den Brief zu entschärfen, traten beide Frauen aus der Initiative aus. Durch die Konfrontation wurde also auch der Zusammenhalt der
Initiative auf eine Probe gestellt.
Trotz der Spannungen zwischen Initiative und Unterkunftsleiterin kam es
nicht zu einem offenen Konflikt, auch angedrohte Hausverbote gegenüber
der Sprecherin der Gruppe und einigen anderen wurden nicht in Kraft gesetzt. Stattdessen rief die Verwalterin bei Frau Tekla an, die sich immer um
guten Kontakt zu ihr bemüht hatte, und bat die Initiative um Unterstützung.
Denn die ROB hatte beschlossen, in der Unterkunft eine UngezieferEntwesung durchführen zu lassen, die von der Initiative als „Kakerlakenaktion“ bezeichnet wurde. Die Gruppe sagte ihre Unterstützung zu.
3. Die Kakerlakenaktion
„Als ich kurz nach neun an der Unterkunft ankomme, steht
der Transporter der Kammerjäger-Firma schon vor dem
Haus. Ich bin spät dran, um neun Uhr wollte sich die Gruppe an der Unterkunft treffen. Von drinnen ist Rumoren zu
hören, laute Stimmen und Poltern, hektisches Auf- und Ab
im Treppenhaus. Ich schiebe die Türe auf und lasse erst drei
308
Bewohner passieren, die heraus wollen, bevor ich den Hausflur betrete. Drinnen kann ich den Lärm besser lokalisieren;
er kommt von oben, aus dem zweiten oder dritten Stockwerk. Während ich die Treppen hinaufsteige, kommen mir
weitere Bewohner entgegen. Im zweiten Stock treffe ich auf
das erste Mitglied der Initiative, Frau Tekla. Sie steht in der
Türe eines Viererzimmers und versucht den zwei anwesenden Bewohnern zu erklären, dass sie ihre Lebensmittel im
Kühlschrank verstauen und alle Möbel von der Wand wegrücken sollen. Claude und Jean, zwei junge Männer aus Togo, scheinen zu verstehen und schauen interessiert, machen
aber keine Anstalten, den Anweisungen von Frau Tekla
Folge zu leisten. Jean hatte offenbar noch geschlafen. Nur
mit Shorts bekleidet sitzt er auf der Bettkante. Ich hebe an,
die ganze Situation noch einmal, diesmal in Französisch zu
erklären, während Frau Tekla einen Packen blaue Müllsäcke
auf den Tisch gelegt hat und versucht, die zwei übereinandergestellten Kühlschränke von der Wand wegzuziehen. (...)
Niemand von uns hatte wirklich eine Ahnung, was da auf
uns zukommt. Wir hatten vage Informationen bekommen,
die im Kern besagten, dass die Bewohner für ungefähr vier
Stunden das Haus verlassen müssten, danach hätte sich die
Wirkung des Mittels erschöpft, zumindest sei es dann für
Menschen nicht mehr gefährlich. Dann hieß es, dass Polstermöbel und Teppiche entfernt werden sollten, eine Information, die mir absurd erschien. Wie sollten die Flüchtlinge
zur Aufgabe ihrer Einrichtung bewegt werden und vor allem: wer sollte das machen? Das übliche Durcheinander von
Koffern, Schachteln und Tüten unter den Betten, auf
Schränken und in jeder Ecke erschien mir an diesem Tag in
neuem Licht. Was sollte damit geschehen? Erwartungsgemäß wehrten sich die Flüchtlinge gegen die Anordnung,
309
Teppiche und eigene Möbelstücke in den Hof zu schaffen.
Nach Verhandlungen mit Frau Liebau und dem Chef der
Kammerjäger erzielten wir einen Kompromiss: wenigstens
die besseren Teppiche sollten draußen behandelt werden
und durften nachher wieder in die Zimmer. Die Möbel sollten zu einem späteren Termin in einem Container abtransportiert werden. Ich lief noch eine Weile durch die Zimmer
und erklärte den Flüchtlingen die Situation, half auch dem
einen oder anderen beim Aufräumen seiner Habe, fühlte
mich aber von der ganzen Aktion überrollt und ähnlich hilflos wie die meisten der Flüchtlinge. Andere Mitglieder der
Initiative waren resoluter. Sie reagierten gereizt auf die Passivität der Flüchtlinge, die ihnen angesichts der gebotenen
Eile als Widerstand erschien, und holten Flüchtlinge eigenhändig aus den Betten. Der Anblick der Desinfektionsmannschaft, die sich in mit weißen Schutzanzügen und Gasmasken von Zimmer zu Zimmer arbeiteten, und der penetrante
Geruch des versprühten Mittels überzeugte schließlich die
Flüchtlinge, dass es besser sei, die Unterkunft zu verlassen.
Nachdem das Haus geräumt war, postierte sich Frau Astner
aus der Initiative vor dem Eingang und wies die Flüchtlinge,
die vor dem Ende der Aktion wieder die Unterkunft betreten
wollten, in die Pfarrei. Als ich mit einigen Flüchtlinge dort
eintraf, bot sich das Bild eines Notlagers. Einige aus der Initiative hatten Campingliegen aufgestellt für Flüchtlinge, die
Nachtarbeit verrichtet hatten und sich hinlegen wollten.
Knapp vierzig Bewohner der Unterkunft saßen an den Tischen eines großen Raumes im Pfarrgemeindehaus, die Initiative hatte Tee und Kaffee gekocht und Brettspiele organisiert, um die sich kleine Gruppen gebildet hatten. Es
herrschte eine entspannte Stimmung, die Aktion wurde hingenommen und alle vertrieben sich die Zeit, so gut es eben
ging. Am späten Mittag konnten dann die Flüchtlinge wie310
der zurück in die Unterkunft entlassen werden“ (Forschungsnotizen 15.7.93).
Es ist Kakerlakentag. Schon bald nach der Belegung der Unterkunft hatte
sich das Ungeziefer bemerkbar gemacht und stellte für Bewohner und Besucher ein kleineres oder größeres Ärgernis dar. Manche Flüchtlinge, besonders unter den Familien, die über ein eigenes Zimmer verfügten, gingen
rigide mit Insektiziden aus der Spraydose gegen die Schaben vor, oft wütend und ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Andere nahmen es
achselzuckend hin, dass das Ungeziefer sich in ihrem Zimmer und im Haus
ausbreitete. In der Initiative waren die Kakerlaken gelegentlich Gesprächsthema gewesen, ohne dass darauf Taten folgten. Auch die Mitglieder der
Initiative nahmen die Anwesenheit des Ungeziefers hin, nur einige schüttelten nach Besuchen in der Unterkunft gründlich ihre Kleidung aus. Über
die Herkunft der Kakerlaken kursierten verschiedene Interpretationen. Die
einen sahen die Gaststätte im Erdgeschoss des Hauses als Quelle der Schaben, andere meinten, die Unterbringungsbedingungen wären die Ursache.
Wenn viele Menschen auf solch engem Raum leben müssten, ohne geregelte Lagerung von Lebensmitteln, dann sei das Erscheinen von Kakerlaken
nur eine Frage der Zeit. Die schlechte Bausubstanz des Hauses und die billige Unterteilung mit Gipskartonwänden würde eine Verbreitung sehr fördern und es fast unmöglich machen, des Ungeziefers Herr zu werden.
Die Kakerlaken weiteten sich jedoch nicht allein in dieser Unterkunft zur
Plage aus. Im Sommer 93 veranlasste die Regierung von Oberbayern in
mehreren Münchner Flüchtlingsunterkünften Entwesungsmaßnahmen
durch Privatfirmen. Diese Aktionen wurden regelmäßig wiederholt, um die
Kakerlakenplage in den Unterkünften einzudämmen. Die Regierung von
Oberbayern verzichtete darauf, für die Entwesung flankierende Maßnahmen zu ergreifen. Die Bewohner wurden lediglich mit dem Aushang eines
Schreibens auf die Aktion hingewiesen. Die Einleitung weiterer Schritte,
um die Aktionen für die Bewohner erträglich zu gestalten und gesundheitliche Schäden abzuwenden, waren der jeweiligen Unterkunftsverwaltung
anheim gestellt. Im Stadtviertel erfuhr die Initiative durch einen Anruf der
311
Verwalterin vom bevorstehenden Entseuchungstermin. Sie bat die Initiative
über Frau Tekla um Unterstützung bei der Desinfektion, da alle Bewohner
der Unterkunft das Haus für mindestens vier Stunden verlassen müssten
sowie privat (und wider die Hausordnung) angeschaffte Möbel und Einrichtungsgegenstände zu entsorgen hätten. Da bei der Räumung des Hauses
Probleme mit den Bewohnern vorhersehbar waren, sollte die Initiative mit
ihren guten Kontakten zu Flüchtlingen einen friedfertigen Verlauf der Entseuchung unterstützen:
„Ja, da ist damals dann die Frau Liebau gekommen beziehungsweise sie hat bei der Frau Tekla angerufen, ob wir irgendwie helfen können, weil sie das Haus räumen muss, ja?
Und ich meine, grade das Objekt bei uns das hatte ja nun
mehrere Eingangsmöglichkeiten und die Frau Liebau mit ihrem Hausmeister alleine ... Erst einmal konnte sie sich den
Leuten nicht richtig verständlich machen, und dann den
Leuten beizubringen, die jetzt grad mal wieder so was wie
ne Art Heimat hatten, dass sie jetzt genau in diese Heimat so
und so lang nicht reindürfen, das war also schon eine Sache,
die man gerne auf die Gruppe oder die Initiative in dem Fall
abgewälzt hat, weil eben man gesagt hat, ja gut, die Leute
haben ja zu uns mehr Vertrauen, und wir können die Aktion
ja unter Umständen vielleicht doch besser verkaufen, ne?“
(Frau Wiesner).
Auf dem Treffen der Initiative, das der Kakerlakenaktion vorausging, wurde die Durchführung nur kurz diskutiert. Niemand wusste genauer, was auf
die Gruppe zukommen würde und welche Maßnahmen zu treffen seien. Es
wurde jedoch allgemein die Beteiligung an der Aktion für notwendig erachtet, weil der häufige Einsatz der Polizei in der Unterkunft die Befürchtung nährte, dass Frau Liebau notfalls das Haus durch ein Großaufgebot
von Polizisten räumen lassen würde. Es wurde verabredet, dass ein Teil der
Gruppe dabei helfen solle, die Flüchtlinge zu informieren, ihnen beim Verpacken von Lebensmitteln zur Hand zu gehen und sie zum Verlassen des
312
Gebäudes zu bewegen. In den Räumen der Pfarrei, die für die Unterbringung der Flüchtlinge während der Aktion zur Verfügung gestellt wurden,
sollte der andere Teil der Initiative die Flüchtlinge betreuen, die sich dort
für den Vormittag einfinden würden. Da die Entseuchung schon in der folgenden Woche stattfinden sollte, wurden alle Mitglieder der Initiative aufgefordert, möglichst viele der Flüchtlinge im Vorfeld in Kenntnis zu setzen. Es wurde vermutet, dass der deutschsprachige Aushang der Regierung
von den meisten Flüchtlingen ignoriert werden würde.
Die erste Kakerlakenaktion, an der sich die Initiative (wie an den Folgeaktionen) beteiligte, stellte sich als ein besonders schwieriges Unterfangen
heraus. Die Initiative, die sich erst in der Unterkunft einfand, als die Kammerjäger schon eingetroffen waren und in ihre Schutzanzüge stiegen, sah
sich damit konfrontiert, in kürzester Zeit die Flüchtlinge aus dem Haus
bringen zu müssen. Die Mitglieder der Initiative waren mit der Aufgabe,
den Flüchtlingen all dies in kürzester Zeit zu erklären und sie zum Handeln
zu bewegen, deutlich überfordert. Die beschränkten Verständigungsmöglichkeiten und der zeitliche Druck sorgten dafür, dass sich die Flüchtlinge
von der Entwesung überrumpelt fühlten und sich vielfach weigerten, den
Anweisungen der Initiativenfrauen Folge zu leisten. Manche Frauen aus
der Initiative sahen sich infolgedessen zu resolutem Handeln genötigt:
„Wo ich also wirklich dann radikal auch in jedes Zimmer
rein bin und, ob Männlein oder Weiblein, ja, ich habe die
Herrschaften wirklich aus dem Bett geholt, ja? Es gab dann
so manche Szene, die jetzt nicht unbedingt zur Wiederholung geeignet ist, aber, wo dann die Leute schon ziemlich
heftig reagiert haben, ja? Ich meine, da hatte ich dann auch
wieder mit denen aus dem Kosovoraum oder den KosovoAlbanern da hatte ich dann mehr Probleme als mit anderen.
Die also so mit einer – gut vielleicht auch ein bisschen in
der Erziehung gegründeten – männlichen Intoleranz meinten, ich hätte ihnen gar nichts zu sagen, wo teilweise Landsleute dabei waren, die dann eingeschritten sind. Bevor das
313
Ganze dann handgreiflich ausging. Aber wir haben das
Haus regelrecht geräumt, und es mussten ja auch verschiedene Dinge raus, also seien es jetzt Teppiche und ähnliches,
wo nichts gemacht war. Ich habe also glaube ich zwei Stunden im Haus verbracht, irgendwelche Schränke noch abzukleben und solche Scherze zu machen, ja? Und dann bin ich
ja ungefähr fünf Stunden vor der Eingangstür gestanden und
habe einfach keinen mehr an mir vorbeigelassen, und nachdem ich damals, war ja auch ein Super-Wetter damals, meinen orangefarbenen Regendings anhatte, habe ich also von
der Inge dann den Spitznamen Orange Dragon weg, weil an
mir also keiner vorbeikam“ (Frau Wiesner).
Der Widerstand der Flüchtlinge, so begründet er war, wurde von den meisten Mitgliedern der Initiative übergangen. Die Initiative setzte ihre ganze
Autorität ein, um die Aktion durchführen zu können. Der Druck, unter den
sich die Mitglieder der Gruppe durch das Voranschreiten der Aktion gesetzt fühlten, wurde an die Flüchtlinge weitergegeben. Die Flüchtlinge und
insbesondere ihre persönliche Habe erwiesen sich als Störfaktor für den
reibungslosen Ablauf der Aktion, wie bei Frau Wiesner deutlich zu erkennen ist:
„Die Teppiche mussten raus. Die Teppiche mussten raus aus
den Zimmern, weil die Biester eben die Angewohnheit haben ihre Eier drin abzulegen. Das war ja eben auch eine
Konzession, die die Heimleitung schon gemacht hatte, dass
die Leute ihre Teppiche reingelegt haben, dass sie da drüber
weggeschaut hat. Als die Privatmöbel angeschafft haben,
Sofas und so weiter, dass sie da drüber weggeschaut hat.
Das waren ja alles Dinge, die laut Verordnung ja nicht erlaubt waren, ja, und da hat sie also auch sehr viel die Augen
zugemacht und hat eben auch gesagt, na ja gut, okay, ja?
Und dann war es natürlich auch so, dass man gesagt hat:
Okay, man will jetzt den Leuten nicht alles, was sie gerade
314
mühsam sich zusammengesucht oder zusammengeholt haben, wo sie quasi ihren Hausstand mühsam wieder aufgebaut haben irgendwo, man will ihnen ja nicht wieder alles
wegnehmen. Und das war auch so ne Sache, wo man gesagt
hat: gut okay, zu dieser Aktion müssen die Teppiche raus,
ja? Und wenn die also wirklich halbwegs so sind dass sie
die Prozedur aushalten, dann hatte die Heimleitung mit dem
Schädlingsbekämpfer verhandelt, dass er diese Teppiche,
wenn sie im Freien sind, mit behandelt. Weil man eben gesagt hat, okay, es bringt jetzt nichts, wir sprühen das Gift
jetzt im ganzen Haus, oder diese „biologische Substanz“
jetzt im ganzen Haus, und haben aber dann die nächste Brut
in diesen Teppichen und dem Zeug drin, und da hat man eben vereinbart, gut, man schafft dies Zeugs ins Freie, und
das wird dann auch behandelt, dass es dann wieder reinkann“ (Frau Wiesner).
Die Position Frau Wiesners ist, wie aus diesem Ausschnitt ihrer Erzählung
abzulesen ist, beinahe deckungsgleich mit der Verwaltung. Zumindest Frau
Wiesner identifizierte sich in hohem Maße mit der Notwendigkeit, die Unterkunft von Kakerlaken zu befreien und dies, wenn es schon in Angriff
genommen wird, auch gründlich zu tun. Deutlich wird zudem, dass die Position der Verwaltung auch dort übernommen wird, wo es um die Anschaffung von privaten Besitztümern und Möbeln geht. Laut Unterkunftsordnung verboten, sieht auch Frau Wiesner die Haltung der Verwalterin, über
diese Einrichtungen hinwegzugehen, als ein großzügiges Zugeständnis an
die Bewohner, ein Zugeständnis, das im Bedarfsfall jedoch wieder rückgängig gemacht werden kann. Eine der Allgemeinheit dienende Aktion wie
die Bekämpfung der Kakerlaken wird als ein solcher Bedarfsfall gewertet.
Flüchtlinge, die sich dieser Notwendigkeit nicht fügen wollen, zogen sich
den Ärger Frau Wiesners zu:
315
„Wobei das also viele Leute einfach nicht ... ja gut, ja, ... die
Räume waren größtenteils wahnsinnig eng, und dann stand
also Bett und Schrank und alles auf diesen Teppichen drauf,
und da waren halt auch manche schlicht und einfach zu faul,
das rauszutun, ja? Und da habe ich also auch einige Zimmer
auf den Kopf gestellt, ja? Da war teilweise sogar ich stinksauer, dass ich gesagt habe: verflucht noch mal, alles was
jetzt noch drin liegt, das bleibt drin, und das wird anschließend weggeschmissen. Weil man gesagt hat, es bringt
nichts, sie an Ort und Stelle zu behandeln, weil dann kommt
man an den eventuellen Zugängen am Boden nirgendwo
hin, ja, also man würde im Prinzip bloß ne Art Giftschicht
drauflegen, und das bringt nichts, also die Dinger müssen
raus. Na ja, ich mein, der Fun-Faktor am Ende war ziemlich
gering bei dieser Aktion, aber es war einfach notwendig, ja?
Und gut, es gab dann auch so einiges, wo ich dann etwas
angegriffen wurde, aber ich sag ja, als sich die Wogen dann
gelegt haben ... – Frage: Es waren viele auch durchaus froh,
dass diese Kakerlaken weniger geworden sind ... –Frau
Wiesner: Ja, auf jeden Fall. Ich mein, man hat ja irgendwo
gesagt, Menschenskind, man muss dem Viehzeugs ja Herr
werden, ne. – Frage: da haben einige Bewohner auch mit
Sprühdosen und sonst was selbst Hand angelegt und haben
ihre Ecken da ausgesprüht. – Frau Frau Wiesner: gut, wobei,
da waren also natürlich auch die Unterschiede in den Zimmern, Familien mit Kindern, Familien einfach, die anders
ausgeschaut haben dann, ich mein, Zimmer, wo also sechs,
acht Männer in einem Raum waren, die sahen also teilweise
einfach auch aus wie Zimmer, wo sechs und acht Mann drin
sind. Im Gegensatz zu den Familienzimmern. Die Familien
haben ja teilweise auch ihre Räume selber renoviert, die haben wirklich versucht, aus diesen Zimmern so was wie eben
wieder eine Heimat zu machen, während die Alleinstehen316
den, die haben das einfach als Übergangslösung gesehen“
(Frau Wiesner).
Auch wenn einige Flüchtlinge für Frau Wiesner erkennbar die Unterkunft
als zumindest vorübergehende Wohnung ansahen und sich ihre Räume
nach Möglichkeit einrichteten, so wird daraus keine besondere Schutzbedürftigkeit der Privatsphäre abgeleitet. Bei der Kakerlakenaktion wurden
alle Bewohner, ob sie sich nun wohnlich eingerichtet haben oder nicht,
samt einigem Mobiliar ‚geräumt’. In der Initiative wurde der Verlauf der
Aktion zunächst als großer Erfolg gewertet. Auch die Kammerjägerfirma
war zufrieden. Das Protokoll des Initiativentreffens am nächsten Tag beginnt mit dem Absatz:
„Frau Astner (die Sprecherin der Initiative) spricht Dank aus
für die geleistete Arbeit bei der Desinfizierung des Wohnheimes am 15.7. und überbringt das große Lob des Desinfektors, Herrn Rander, für diese in Oberbayern bisher einzigartige Aktion. Es war ohne jegliche Probleme gelungen,
das Wohnheim komplett und friedlich zu räumen, einen Teil
der Bewohner im Pfarrsaal und privat unterzubringen und
zu versorgen und Unvernünftige am Betreten des Wohnheims in der Zeit der größten Gesundheitsgefährdung zu
hindern. Fazit: es habe sich gezeigt, dass solche Großaktionen ohne Polizei durchgeführt werden können“ (Protokoll
16.7.93).
Gleichzeitig wurde auf dem Treffen die Durchführung der Aktion heftig
kritisiert. Die radikale Räumung der Unterkunft durch Mitglieder der Initiative wurde von einigen nicht gutgeheißen. Mehrere Mitglieder der Gruppe
fanden diese Form des Umgangs mit Flüchtlingen respektlos und drückten
ihre Ablehnung dieser Methoden aus. Frau Kersten distanzierte sich deutlich von der Art, wie die Räumung der Unterkunft stattfand:
317
„Und da ist dann ... da hat`s dann bei mir ausgesetzt. Nein,
des geht mich nichts an. Und dann hat der Ben hinter seinem Bett ziemlich viel so Gelump auch gehabt, und dann
haben sie über den Gelump da hinten geschimpft! Dann hab
ich mir gedacht, na und, is jedem sei Sach, des is doch
wurscht, was da dahinten liegt. Des war ... und da ist dann
bei mir aus gewesen. Dann hab‘ i gesagt, ich gehe jetzt rüber in die Kirche und schau, was die da drüben machen.
Weil des schon ziemlich in die Intimsphäre ging, von den
Leuten, und des ist nicht gut. Des mog i ned” (Frau Kersten).
Die Missachtung der Privatsphäre der Flüchtlinge war der Fokus der Kritik,
die sich am Vorgehen der Initiative bei der Räumung entzündete. Die
Durchführung wurde zum Anlass genommen, generelle Zweifel an der Beteiligung der Initiative zu äußern. Die Kakerlakenaktion, so die Argumentation, sei eine Aktion der Regierung und damit müsse deshalb die Verwaltung fertig werden. Die Initiative solle keine Verwaltungsarbeit übernehmen und dürfe nicht in den Ruf geraten, sich die Methoden der Verwalterin
anzueignen. Ein anderer Teil der Gruppe verteidigte den rabiaten Umgang
mit den Flüchtlingen damit, dass die Zeit sehr gedrängt habe, die Initiative
zu schlecht informiert und vorbereitet war, und dass es unter den gegebenen Umständen keine andere Wahl gegeben hätte, als die Flüchtlinge auch
mit drastischen Methoden zum Verlassen der Unterkunft zu bewegen. Die
Beteiligung der Initiative an der Aktion sahen sie als notwendig an. Die
Verwalterin sei offensichtlich damit überfordert gewesen. Die Kakerlaken
seien eine Plage, unter der die Flüchtlinge zu leiden hätten und die darüber
hinaus womöglich ein gesundheitliches Risiko für die Bewohner darstelle.
Das Thema wurde nicht weiter erörtert. Die Spannungen innerhalb der Initiative blieben bestehen, doch die Kritik wurde umgeleitet auf die Planung
der nächsten Kakerlakenaktion, die nur 14 Tage später stattfinden sollte.
Diese Aktion sollte mit besserer Koordination und gründlicherer Information sowohl der Initiative als auch der Flüchtlinge durchgeführt werden. So
318
wurden zum Beispiel mehrsprachige Texte entworfen, die, zusätzlich mit
Bildern der Kakerlaken versehen, den Sinn der Entseuchungsaktion vermitteln sollten. Trotz der Differenzen wurden auch die weiteren Kakerlakenaktionen von einem Großteil der Initiativenmitglieder getragen und durchgeführt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Initiative aus der schlechten Erfahrung der ersten Aktion gelernt hatte und die weiteren Entseuchungstermine besser vorbereitete. So konnte Frau Wiesner feststellen, dass im Gegensatz zur ersten Kakerlakenaktion die weiteren deutlich reibungsloser
durchgeführt wurden:
„Ja gut es war eine Sache, dass man den Leuten zwar alles
mögliche aufgehängt hat und versucht hat, ihnen das klar zu
machen, aber alles, was den ROB Stempel hatte, hat bei den
Leuten ja auch eine gewisse Aversion geweckt. Was ja auch
verständlich ist, weil alles, was man ihnen verboten hat, war
ja irgendwie im Namen der Regierung, und, ich glaube, dass
wir das erst bei der zweiten Aktion effektiv dann mit den
Bildern und diesen Dingen, dass wir das dann effektiv besser hingebracht haben. Weil mit der ersten Aktion sind wir
ja auch irgendwo etwas überrumpelt worden“ (Frau Wiesner).
319
Abb. 4 Das von der Initiative angefertigte Plakat zur Kakerlakenaktion. Das Plakat wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in der Unterkunft aufgehängt. Es herrschte auch
in der Initiative Unklarheit darüber, ob Kakerlaken tatsächlich eine Gesundheitsgefährdung für die Bewohner darstellten. Zur Unterstreichung der Bedeutung der Aktion wurde es sicherheitshalber aber behauptet.
320
Allgemeinwohl und Ordnung
Auffällig an den Schilderungen der Kakerlakenaktionen durch Mitglieder
der Initiative ist, dass die Verwalterin überhaupt keine Rolle spielt. Dies ist
umso bemerkenswerter, als nur eine Woche vor der ersten Kakerlakenaktion der Konflikt zwischen Initiative und Unterkunftsleiterin seinen Höhepunkt erreichte. Nur an zwei Stellen ist die Verwaltung der Erwähnung
wert: als sie anfangs die Initiative um Unterstützung bat, und als über sie
mit dem Kammerjäger verhandelt wurde, dass die besser erhaltenen Teppiche gereinigt und dann wieder in die Zimmer gelegt werden sollten. Für die
eigentliche Aktion war die Beteiligung der Verwalterin ohne Belang. In
den Erzählungen der Frauen aus der Initiative steht die Gruppe selbst im
Mittelpunkt, ist tragende Säule und treibende Kraft der gesamten Aktion.
Wurde die Handlung auch durch die Desinfektionsmannschaft zumindest in
ihrem Tempo bestimmt, so gestaltete die Initiative doch die gesamten
Rahmenbedingungen. Sie übernahm die Räumung der Unterkunft, gemeinsam mit den Flüchtlingen die nötigen Vorbereitungen der Räume, sorgte
für die Unterbringung der Bewohner und stellte sicher, dass vor Ablauf der
Einwirkphase kein Bewohner das Haus wieder betreten konnte. Mit der
Verwaltung wurde nicht die Zusammenarbeit gesucht, sondern die als inkompetent eingestufte Verwalterin wurde bei der Kakerlakenaktion durch
die Initiative mit ihrer höheren Sozialkompetenz komplett ersetzt. Tatsächlich erlitt jedoch gerade diese Sozialkompetenz bei der ersten Aktion
Schiffbruch. Die Initiative schritt drastisch ein und verletzte die Privatsphäre der Flüchtlinge in ähnlichem Maße, wie sie dies zuvor der Verwalterin
vorgeworfen hatte. Bei den folgenden Aktionen wurde dies durch eine bessere Vorbereitung abgefedert. Auch wussten die Flüchtlinge inzwischen,
was sie erwartete und waren auf die Durchführung der Entseuchung vorbereitet. Die Haltung, mit welcher die Initiative bei den Entseuchungsterminen auftrat, war jedoch dieselbe. Generell ist festzustellen, dass die Initiative ihre zwischen Verwaltung und Flüchtlingen vermittelnde Position im
Falle der Kakerlakenaktionen vertauscht hatte mit einer Position, die mit
jener der Verwaltung deckungsgleich war und diese faktisch ersetzte.
321
Zwei Gründe bewogen die Initiative, bei dieser Aktion einzugreifen und an
den Flüchtlingen selbst einen Verwaltungsakt durchzuführen: zum Einen
wurde die Entwesung des Gebäudes als wichtig erachtet. Die Kakerlaken
wurden als Plage für die Bewohner angesehen, ein gründliches Vorgehen
gegen die Küchenschaben war also zum Wohl der Flüchtlinge, wenn nicht
der Allgemeinheit. Insofern erschien die Aktion der Gruppe unterstützenswert. Des weiteren hatte die Initiative keinen Einfluss auf die Entscheidung, ob die Entwesung durchgeführt werden sollte oder nicht. Von der
Bezirksregierung angeordnet, stellte sich der Initiative lediglich die Frage,
ob ihre Beteiligung die Durchführung vereinfachen oder verbessern konnte,
besonders im Hinblick auf die Flüchtlinge. Angesichts der zu gleicher Zeit
geübten Kritik an der Unterkunftsverwaltung konnte die Initiative diese
Frage nur bejahen. Die Beteiligung der Initiative an der Aktion konnte sich
für die Flüchtlinge nur positiv auswirken.
Hätte sich die Initiative nicht oder nicht so stark engagiert, so wären aus
Sicht der Initiative heftige Konfrontationen zwischen Verwaltung und Bewohnern absehbar, eine zwangsweise Räumung mit Hilfe der Polizei wahrscheinlich gewesen. Es erschien fraglich, ob die Aktion überhaupt durchführbar gewesen wäre. Der Aspekt, dass für die Durchführung der Aktion
ohne die Initiative eine Eskalation gedroht hätte, bewog die Nachbarschaftsgruppe ganz entscheidend dazu, die Durchführung der Entseuchung
tatkräftig in die Hand zu nehmen. Die Initiative sah wegen der mangelnden
Sozialkompetenz der Verwalterin und den ohnehin bestehenden Spannungen zwischen Verwaltung und Bewohnern nicht nur die Durchführung der
Entwesung, sondern die allgemeine Ordnung in der Unterkunft bedroht.
Das Allgemeinwohl der Flüchtlinge sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung geboten es daher der Initiative, sich an der Kakerlakenaktion zu beteiligen. Beides stimmte mit wesentlichen Elementen der Ansprüche überein,
mit denen die Initiative angetreten war. Das ‚Miteinander Leben’ im Viertel hieß für die Nachbarschaftsgruppe auch dafür Sorge zu tragen, dass der
Friede im Stadtviertel nicht gefährdet wurde und auch innerhalb der Unterkunft ein geordnetes Zusammenleben stattfand.
322
Dennoch – auch die Initiative war mit dieser Aktion deutlich überfordert.
Gerade in dieser Grenzsituation wurde offenkundig, dass die Initiative
nicht per se über ein höheres Maß an Respekt gegenüber den Bewohnern
verfügte. Die Eigendynamik, die sich mit der Durchführung der Entwesung
entfaltete, verdeutlicht das Herrschaftsverhältnis in der Unterkunft, an dem
auch die Initiative teilhatte. Die Flüchtlinge, zu deren Wohl die Aktion
durchgeführt wurde, verwandelten sich mitsamt ihrer persönlichen Habe
zum Störfaktor eines vorgegebenen Handlungsablaufes. Der Mangel an
Zeit, die Kommunikationsschwierigkeiten und das Desinteresse vieler
Flüchtlinge an der Aktion führten zu einer Situation, in der Mitglieder der
Initiative autoritär ihren Willen durchsetzten.
Die Struktur der Anstalt im Sinne Goffmans totaler Institution kommt hier
zur Geltung (vgl. Goffman 1973: 18f; 33ff). Die Unterscheidung zwischen
Personal und den der Hausordnung unterworfenen Insassen wirkt sich auch
auf die Initiative aus, sobald sie sich der Verwaltungsposition annähert. Der
Respekt vor der Privatsphäre der Bewohner, die in den sonstigen Begegnungen zwischen Initiative und Flüchtlingen durchaus geachtet wird, wird
zumindest beschränkt durch die Sichtweise auf die Flüchtlinge als bestimmte Anzahl Bewohner, die auf begrenzte Zeit zum Verlassen der Unterkunft bewegt werden muss. Die Flüchtlinge werden zur Manövriermasse, schlimmstenfalls zum Problem für die Durchführung der Kakerlakenaktion. Goffman hebt für das Personal totaler Institutionen hervor,
„... dass es bei seiner Arbeit ausschließlich mit Menschen
umgeht. Diese Arbeit mit Menschen ist nicht dasselbe wie
Personal-Arbeit oder die Arbeit von Leuten, die in einem
Dienstverhältnis stehen. Das Personal bringt keine Dienstleistungen hervor, sondern bearbeitet in erster Linie Objekte
und Produkte – doch diese Objekte und Produkte sind Menschen“ (Goffman 1973: 78).
Auch bei der Kakerlakenaktion tritt diese verdinglichende Sichtweise deutlich hervor. So bedeutete das Unverständnis oder die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft der Bewohner als auch die Ansammlungen persönlicher
323
Habseligkeiten in diesem Handlungskontext primär einen zusätzlichen
Aufwand und eine Behinderung der reibungslosen Durchführung. Als
Durchführende statteten sich die Mitglieder der Initiative zudem mit der
der Verwaltung eigenen Autorität aus, die es ihnen erlaubte, die Flüchtlinge
zum Verlassen ihrer Zimmer zu veranlassen, sie am vorzeitigen Betreten
der Unterkunft zu hindern und im Bedarfsfall auch gewaltsam nachzuhelfen. Diejenigen Flüchtlinge, die den Sinn der Aktion nicht einsahen oder
sich ihrer Notwendigkeit nicht unterwarfen, wurden als renitent oder ignorant betrachtet, als Störfaktoren eines übergeordneten Plans. Genau genommen bewies die Initiative mit den Übergriffen in die Privatsphäre und
der Missachtung der Wünsche einiger Flüchtlinge deshalb nicht mangelnde
Sozialkompetenz, vielmehr ist diese von der Initiative an den Tag gelegte
Haltung Indiz dafür, dass bei der Kakerlakenaktion auch die Initiative die
Bewohner nach den in totalen Institutionen oder Lagern geltenden Prinzipien behandelte. Die Initiative, von der Verwalterin um Unterstützung gebeten, rutschte dank der Inkompetenz der Unterkunftsleiterin in die Position der Verwaltung und übernahm damit auch die Eigenschaften, die das
Verhältnis zwischen Verwaltung und Bewohnern kennzeichneten. Damit
soll nicht unterstellt werden, dass der Initiative daran gelegen gewesen wäre, die Position der Verwaltung einzunehmen. Vielmehr zeigt sich in der
Leichtigkeit, mit der die Initiative den Positionswechsel vollzog, dass ihre
Haltung keineswegs als Opposition zum Verwaltungshandeln zu verstehen
ist, sondern dass fallweise kooperatives Handeln im Bereich des Möglichen
lag. Bedingung für die Initiative war– dies zeigte sich deutlich auch an der
Auseinandersetzung nach der ersten Kakerlakenaktion – dass die Aktion zu
einem Zweck stattfand, den die Initiative als dem Wohle der Allgemeinheit
der Flüchtlinge dienend einstufte.
Das Verhalten der Initiative ist dennoch nicht deckungsgleich mit dem der
Unterkunftsverwaltung. Während sich die Regierung von Oberbayern damit begnügte, auf die Entwesungsaktion mittels eines Schreibens hinzuweisen, das im Hausflur aufgehängt wurde, und es nicht in ihrem Interesse lag,
die Flüchtlinge eingehender zu informieren oder zur Mithilfe aufzufordern,
legte die Initiative gerade hierauf großen Wert. Schon bei der ersten Kaker324
lakenaktion wurden die Flüchtlinge so gut es in der kurzen Zeit ging, über
die bevorstehende Entwesung unterrichtet und gebeten, sich den Erfordernissen anzupassen. Nach der ersten, nicht sehr erfolgreichen Aktion wurde
ein Flugblatt mit Bildern der Hausschaben und Verhaltensregeln erstellt,
das ebenfalls im Korridor aufgehängt wurde und außerdem einer Reihe von
Flüchtlingen ausgehändigt und erklärt wurde. Die Flüchtlinge sollten den
Sinn der Aktion begreifen und ebenfalls, dass sie sich ihr im Interesse der
Allgemeinheit zu fügen hatten. Die Aufklärungsarbeit der Initiative ist ein
wesentlicher Schritt, mit dem sie über die Haltung der Verwaltung hinausgeht und einen anderen Akzent setzt. Während die Regierung die Entwesung anordnet und der Verwalterin und der Kammerjägerfirma die Durchführung überlässt, orientieren sich die Mitglieder der Initiative trotz allem
auch an den Bewohnern und versuchen, sie belehrend in die Aktion einzubeziehen. Wo dies, wie bei der beschriebenen ersten Kakerlakenaktion,
nicht bei allen Flüchtlingen auf Resonanz stößt, setzt sich aber auch die Initiative über die Bewohner hinweg, um den Erfolg der Aktion zu gewährleisten.
4. Engagement und Kontrolle
Am Anfang des Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, ob sich die Initiative nicht im Einklang mit ihren Zielen einer Unterstützung der Flüchtlinge
und eines friedfertigen Zusammenlebens im Stadtviertel gegen die ausgrenzende Unterbringungspraxis im allgemeinen hätte stellen müssen. Wäre es nicht plausibel, dass die Nachbarschaftsgruppe sich gegenüber der
Unterkunftsverwaltung klar auf die Seite der Flüchtlinge stellte? Die beschriebenen Aktivitäten, mit welchen die Initiative sich im Kontext der Unterkunft gegenüber Verwaltung und Flüchtlingen positionierte, verlangen
eine Differenzierung dieser Fragestellung. Insbesondere die Aktivitäten
innerhalb der Unterkunft fanden in einem reglementierten Raum statt, an
den sich die Initiative anpassen musste. Dies ist jedoch nicht die einzige
Ursache für die spezifische Haltung, welche sich die Initiative im Umgang
mit der Unterkunft und der Verwaltung aneignete.
325
Das Repertoire der Umgangsweisen der Initiative gegenüber der Unterkunftsverwaltung weist eine beachtliche Spannweite auf. Betrachten wir
das alltägliche, auf Vermittlung und Konfliktvermeidung ausgerichtete
Handeln der Initiative, die Phase des Konflikts mit der Verwalterin und die
Kakerlakenbekämpfung, so bleibt zunächst festzuhalten, dass die Initiative
keineswegs spontan ‚auf der Seite der Flüchtlinge’ stand oder nur neutral
vermittelnd zwischen Verwaltung und Bewohnern tätig war, sondern
durchaus auch mit der Verwaltung ‚gemeinsame Sache’ machte. Im Fall
der Kakerlakenaktion ist bemerkenswert, dass die Initiative (oder zumindest: ein Teil ihrer Mitglieder) sich die der Verwaltung eigene Sichtweise
und Autorität aneignete. Die Initiative engagierte sich also durchaus für die
Flüchtlinge, nahm aber zugleich einen dezidiert eigenen Standpunkt ein,
der sich nicht auf dieses Engagement reduzieren lässt, sondern den Versuch
einschloss, gegenüber Flüchtlingen und Verwaltung auch eine kontrollierende Funktion auszuüben. Soziales Engagement und soziale Kontrolle
markieren damit das Handlungsfeld der Initiative.
Das ‚doppelte Mandat’ der sozialen Arbeit
Die Haltung, welche die Initiative gegenüber der Verwaltung an den Tag
legt, deckt sich in verschiedenen Punkten mit der Position und den Problemen professioneller Flüchtlingssozialberatung. In der Sozialpädagogik wird
von einem ‚doppelten Mandat’ gesprochen, um den Dualismus zwischen
kontrollierenden und unterstützenden Aufgaben der Sozialarbeit zu benennen, die sich aus den unterschiedlichen Ansprüchen der Klienten und der
Einrichtungsträger ergeben (vgl. Wurzbacher 1997: 136f).
Angesichts der restriktiven Rahmenbedingungen, die ihren abschreckenden
Charakter gerade bei der Unterbringung entfalten sollen, sind in der Flüchtlingssozialarbeit soziales Engagement und soziale Kontrolle kaum unter
einen Hut zu bringen, sondern bilden einen Widerspruch, innerhalb dessen
sich die professionelle Flüchtlingssozialarbeit entfaltet. Neben einer zunehmenden Konfrontation mit restriktivem Verwaltungshandeln macht
Wurzbacher die Tendenz aus, dass sich besonders Flüchtlingsberatungsstellen in staatlicher Trägerschaft gegen fortlaufende Vereinnahmungsversuche
326
der Verwaltung zur Wehr setzen müssen (Wurzbacher 1997: 136ff). Seitens der Verwaltung wird versucht, die in der Flüchtlingssozialarbeit Tätigen in restriktives Verwaltungshandeln einzubinden und ihnen zugleich die
Möglichkeit zur Kritik abzuschneiden. Dies greift laut Wurzbacher die
Grundsätze sozialpädagogischen Handelns an, die insbesondere die Parteinahme und das emanzipatorische Engagement für benachteiligte Menschen
beinhalten sowie als Ziel dieses Engagements, die Handlungsautonomie der
Betroffenen herzustellen und soziale Unterstützung überflüssig zu machen
(vgl. Wurzbacher 1997: 99; 142). Die Bedingungen für ein solches emanzipatorisches Engagement für die Flüchtlinge sieht Wurzbacher bei zunehmender sozialer Ausgrenzung durch die staatliche Verwaltungspraxis kaum
mehr gegeben. Für ihn stellt sich die Frage,
„... ob das Theorem vom ‚doppelten Mandat’ in diesem Arbeitsfeld noch Geltung beanspruchen kann. Sie ist dahingehend zu beantworten, dass unter den gegebenen Umständen
die Flüchtlingssozialarbeit schwerlich in der Lage sein wird,
eine ‚MittlerInnenposition’ zu übernehmen. Zu gegensätzlich stellen sich die Interessen der ausländischen Flüchtlinge
einerseits und der öffentlichen Verwaltung andererseits dar.
Es kann – etwas überspitzt formuliert – von einem ‚schizophrenen’ Grundmuster gesprochen werden, dessen widerstreitende Elemente sich letztlich unversöhnlich gegenüber
stehen“ (Wurzbacher 1997: 142).
Wurzbacher plädiert angesichts dieser Situation für eine grundsätzliche
Neubestimmung der Position der Flüchtlingssozialarbeit, die sich deutlicher an den sozialpädagogischen Paradigmen ausrichtet (Wurzbacher 1997:
142). Da die Rahmenbedingungen der Behandlung von Flüchtlingen durch
die einzelnen Sozialberater kaum verändert werden können, tendieren die
Berater außerdem angesichts der Probleme der Flüchtlinge häufig zu einer
exzessiven Einzelfallarbeit. Die Problemursache wird dabei oft auf die
Flüchtlinge verlagert: Nicht die behördlicherseits bewusst herbeigeführte
defizitäre soziale Situation der Flüchtlinge, sondern einzelne Flüchtlinge
327
bringen Probleme hervor (Zepf 1986: 143) Statt dieser Tendenz nachzugeben, plädiert Zepf, sollten in der Flüchtlingsarbeit Tätige die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen stärker in die Sozialarbeit einzubeziehen:
„Neben der anhaltenden Kritik der in ihren Auswirkungen
auf die Flüchtlinge inhumanen Asylpolitik aus der pädagogischen Praxis heraus, beinhaltet m.E. die pädagogische
Aufarbeitung ebenso die Initiierung eines politischen und
gesellschaftlichen Diskussionsprozesses über die soziokulturellen und politischen Hintergründe der bundesdeutschen
Abschreckungspolitik (...). Damit verschränkt ist m.E. die
Erfordernis einer sich als kritisch-emanzipatorisch definierenden Sozialpädagogik/Sozialarbeit, die aktive Auseinandersetzung mit dem Aspekt der sozialen Kontrolle, die
durch Sozialarbeit für Administration und Politik ausgeübt
wird, aufzunehmen. Die soziale Kontrollfunktion der Sozialarbeit/Sozialpädagogik gilt es nach Ansicht des Verfassers
nach und nach zurückzudrängen“ (Zepf 1986: 143).
So sehr ich Zepfs und Wurzbachers Folgerungen zustimme: Was sich hier
als zentraler Rollenkonflikt der professionellen Sozialarbeit darstellt (Zepf
1986: 141), der in der Flüchtlingssozialarbeit antagonistische Züge annimmt, sieht aus der Perspektive der Nachbarschaftsgruppe anders aus.
Werden in der Flüchtlingssozialarbeit die Ansprüche von Klienten und Arbeitgebern von außen an die in der Sozialberatung Tätigen herangetragen,
so agiert die Nachbarschaftsgruppe gegenüber der Unterkunftsverwaltung
oder anderen Trägern relativ ungebunden. Der Aspekt der sozialen Kontrolle, den Zepf als Anspruch des Trägers bestimmt, wird von der Nachbarschaftsgruppe zwanglos übernommen.
Gemeinsam ist Professionellen und Initiativen allerdings, dass sie innerhalb
der Flüchtlingsunterkunft arbeiten und sich deshalb im Spannungsfeld zwischen Unterkunftsverwaltung und Flüchtlingen, oder in der Diktion Goffmans, zwischen Personal und Insassen positionieren müssen. Die Flücht328
lingsunterkunft, die Züge der totalen Institution nach Goffman trägt, ist gekennzeichnet von übergroßer Machtfülle der Verwaltung und entsprechend
stark eingeschränkten Rechten und Möglichkeiten der Flüchtlinge. Die Lagersituation wird weiter charakterisiert durch eine Reihe struktureller Konfliktursachen, die zum Einen auf die baulichen Mängel und die dichte Belegung der Unterkunft, zum Anderen auf die restriktiven Unterbringungsvorschriften zurückzuführen sind.
Mehr als die professionelle Sozialarbeit hat die Initiative gegenüber der
Verwaltung einen labilen Stand. Die Anwesenheit der Initiative in der Unterkunft ist abhängig von der Duldung durch die das Hausrecht ausübende
Verwaltung. Dies wird von der Initiative teilweise aufgewogen durch ihre
Vermittlungs- und Übersetzungskompetenz, die nicht zuletzt die Verwaltung in ihren Aufgaben unterstützt. Eine konfrontative Haltung gegenüber
der Verwaltung hätte jedoch die Handlungsmöglichkeiten der Initiative reduziert und langfristig in Frage gestellt. Besonders im direkten Kontakt mit
der Verwaltung ergab sich daraus der weitgehende Verzicht auf offene Kritik des Verwaltungshandelns. Die Unterstützung für Flüchtlinge wird in
vielen Fällen verdeckt gehandhabt. Auch der Handlungsaspekt einer Individuierung von Problemlagen ist bei der Nachbarschaftsinitiative deutlich
ausgeprägt. Wenngleich das Konfliktpotential, das durch die Unterbringungsmodalitäten hervorgebracht wurde, von der Initiative in der Regel
richtig zugeordnet wurde, erschöpfte sich doch die Konfliktbearbeitung
häufig darin, mangels durchsetzbarer Alternativen den einzelnen Insassen
andere Umgangsweisen mit der Problematik nahe zu legen. Die professionelle Sozialarbeit hat eine vergleichsweise stabilere Position in der Unterkunft, ist jedoch je nach Träger nicht immer frei von Verwaltungsaufgaben.
Als ein erster, für Initiative wie für professionelle Sozialarbeit geltender
eingrenzender Rahmen ist also die Lagersituation festzuhalten.
Allgemeinwohl und Verantwortung
Als ebenso relevanter Aspekt für das Handeln der Initiative erweist sich
ihre Selbstverortung zwischen Unterkunft und Stadtviertel. Weit entfernt
davon, gegen die Unterbringung von Asylsuchenden in Gemeinschaftsun329
terkünften zu opponieren, fand die Initiative zu einer Haltung, in der die
Form der verwalteten Unterbringung als gegebener Bezugsrahmen akzeptiert wird. Eine Akzeptanz der Flüchtlinge im Stadtviertel schloss auch die
grundlegende Akzeptanz der Unterbringungsform ein, zumal in der Gruppe
die Meinung verbreitet war, dass angesichts der damaligen Flüchtlingszahlen eine Unterbringung in Sammelunterkünften auch sachlich gerechtfertigt
war. In der Gruppe dominierte überdies die Einsicht, dass an der generellen
Form der Unterbringung in Sammelunterkünften nichts zu ändern sei und
sich die lokale Initiative nicht gegen die staatliche Verfügung dieser Unterbringung zur Wehr setzen könne. Die Akzeptanz der Unterbringung in einer Sammelunterkunft schloss die Bejahung der Verwaltung als notwendig
zur Organisation der Abläufe und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in
der Unterkunft mit ein. Bei aller Kritik an einzelnen Konsequenzen für
Flüchtlinge bewirkte dies eine weitgehende Zustimmung der Initiative zur
Unterbringungsweise inklusive der Verwaltung dieser Unterkünfte. Die
Kritik an den Unterbringungsmodalitäten, die im Kontext der Exklusion
und Abschreckung von Asylsuchenden standen, wurde von der Initiative
zwar gelegentlich thematisiert, hatte jedoch im Handeln der Initiative innerhalb wie außerhalb der Unterkunft nur einen marginalen Stellenwert.
Dies bedeutete, dass Aktionen der Initiative innerhalb des Rahmens der allgemeinen Unterbringungsmodalitäten anzusiedeln waren. Die damit einhergehende Einschränkung der individuellen Rechte der Flüchtlinge wurde
in Kauf genommen.
Unterstützt wurde dies auch durch die schon im vorangegangenen Kapitel
angesprochene enge Verbundenheit der Initiative mit der Nachbarschaft.
Die Initiative, die aus dem Miteinander-Leben im Viertel die Legitimation
ihres Mandats bezog, sah sich gegenüber den Viertelbewohnern verpflichtet, für geordnete Verhältnisse auch innerhalb der Unterkunft zu sorgen.
Diese Haltung setzte sich innerhalb der Initiative unter Bezug auf die Verantwortung der Gruppe gegenüber den Bewohnern des Viertels und der
Unterkunft durch. Die Sorge um das Allgemeinwohl und das geregelte Zusammenleben nahmen einen hohen Stellenwert ein. Allzu idealistisch motivierte Handlungen wurden als unverantwortlich kritisiert. Das verantwort330
liche Handeln dagegen zeichnet die „realistische“ Haltung aus. Verantwortung im Kontext Nachbarn, Bewohner und Verwaltung kann übersetzt werden mit der Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und des „Hausfriedens“.
Dieses wird verstärkt durch die spezifische Situation des Lagers, die die
Lagerinsassen als potentiell gefährlich für die soziale Ordnung des Gemeinwesens erscheinen lässt. Aus dem Anspruch der Initiative, sich um das
Wohl der Flüchtlinge im Besonderen und um das ‚Miteinander Leben’ im
Viertel im Allgemeinen zu kümmern, leitet sich damit auch der Aspekt der
sozialen Kontrolle ab. Dies impliziert wiederum das Eintreten für die Aufrechterhaltung der Ordnung auch innerhalb der Unterkunft und damit auch
die Akzeptanz, wenn nicht Unterstützung der Unterkunftsverwaltung. Indem sich die Initiative allein auf die lokale Unterkunft konzentrierte, konnten die Ordnungs- und Kontrollaspekte des Initiativenhandelns über dieses
lokale Interesse legitimiert werden.
Gerade bei der Kakerlakenaktion wird die Selbstbeschränkung des Handlungsrahmens der Initiative deutlich. Die Initiative sah eine doppelte Notwendigkeit der Aktion: Eine Entwesung der Unterkunft erschien sinnvoll
hinsichtlich der hygienischen Zustände in der Unterkunft, und die Aktion
wurde durchgeführt, ohne dass die Initiative hätte mitentscheiden können.
Der dadurch geschaffene ‚Sachzwang’ verlangte von der Initiative, sich im
Rahmen der Aktion zu verhalten. Kriterium dieses Verhaltens war für die
Mehrheit der Initiative, die Kakerlakenaktion möglichst reibungslos vonstatten gehen zu lassen. Von dieser Warte heraus erscheint es als beinahe
nebensächlich, dass die Initiative bei der Kakerlakenaktion die Verwaltung
bis hin zur Substitution unterstützt hat. In den Erzählungen der Initiative
zur Kakerlakenaktion spielt die Verwalterin kaum eine Rolle. Dies verdeutlicht, bis zu welchem Grad die Initiative nicht die Unterstützung der Verwaltung als ihr Ziel sah, sondern sich die Kakerlakenaktion und die damit
verbundenen Ziele zu eigen gemacht hatte. Für die Initiative (oder zumindest für die Mehrzahl ihrer Mitglieder) stehen bei der Kakerlakenaktion
soziales Engagement und soziale Kontrolle nicht in Widerspruch zueinander, sondern fallen zusammen. Dies erzeugte bei der Initiative eine starke
331
Motivation, sich für die Aktionen einzusetzen und sie erfolgreich durchzuführen.
Verantwortlichkeit als Handlungsgrundsatz der Initiative wird auch als
Rücksicht gegenüber den Bewohnern eingefordert. Diese sind durch Aktionen der Initiative nicht den Gegenmaßnahmen der Verwaltung auszusetzen.
Die Handlungsweisen der Initiative werden deshalb auch danach gewichtet,
ob die Initiative durch unbedachte Aktivitäten die Verwaltung zu Schritten
motivieren könnte, die sich für die Flüchtlinge negativ auswirken. Doch
auch in der Haltung der Initiative gegenüber den Flüchtlingen wird deutlich, dass „Vernunft“ und „Verantwortung“ als Kriterien des Handelns innerhalb der von außen gesetzten Bedingungen verstanden werden. Mitgliedern der Initiative wie auch Flüchtlingen, die aus der Kakerlaken-Aktion
ausscheren, wird ein Mangel an Vernunft unterstellt. Die nötige Verantwortung wird den Familien unter den Bewohnern attestiert, die selbständig für
die Reinlichkeit ihrer Räume Sorge tragen. Da dies bei den anderen Flüchtlingen nicht der Fall ist, fühlt sich die Initiative legitimiert, für die Flüchtlinge Verantwortung zu übernehmen und diese unter Einsatz verfügbarer
Mittel zum Gehorsam zu zwingen.
Auf den ersten Blick scheint sich ein Widerspruch aufzutun zwischen z.B.
der Hochachtung, mit der Frau Wiesner das muslimische Fest schildert, zu
dem sie von einem ihrer ‚Schützlinge’ in die Unterkunft eingeladen worden
war, und der rücksichtslosen Räumung persönlicher Habe anlässlich der
Kakerlakenaktion, an der gerade auch Frau Wiesner beteiligt war. Dieser
Widerspruch lässt sich erklären, bedenkt man, dass die Initiative ihr Handeln strikt im Kontext von Außen gesetzter Bedingungen ansiedelt. Die
Devise ist nicht, die Verhältnisse zugunsten der Flüchtlinge zu verändern,
sondern, die Spielräume innerhalb dieser Umstände optimal zu nutzen. Was
wie z.B. die Kakerlakenaktion von der Regierung angeordnet wird, wird
nicht in Frage gestellt, sondern möglichst günstig für die Flüchtlinge ausgestaltet, auch über die Interessen einzelner Flüchtlinge hinweg. Das Beispiel verweist allerdings auch nochmals auf den Kontext des Lagers als totaler Institution. Erst die Lagerunterbringung und die damit verbundenen
Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte legitimiert die Initiative, sich
332
solcherart in die Belange der Flüchtlingen einzumischen. Von den Flüchtlingen wird unter diesen Bedingungen von der Initiative erwartet, dass sie
sich den Gegebenheiten fügen, zugleich wird ihnen Achtung gezollt, wenn
sie unter widrigen Umständen dennoch nicht den Mut verlieren.
Generell können wir zwei Ursachen für die Form ansetzen, die das Handeln
der Initiative schließlich angenommen hat. Die eine ist in Anspruch und
Selbstbestimmung der Initiative begründet. Ausgangspunkt für die Initiative und Handlungsgrundlage war die Existenz der Unterkunft und die Anerkennung einer notwendigen Verwaltung derselben. Zwei Ansprüche der
Initiative mussten miteinander verbunden werden: zum Einen die Unterstützung der Flüchtlinge, zum Anderen der Wunsch, im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens im Viertel ein wachsames Auge auf die Vorgänge
im Haus zu werfen. Vom ersten Augenblick an war der konfliktbeladene
Kontakt zwischen Verwaltung und Flüchtlingen der soziale Ort, an dem
beide Ansprüche in die Tat umgesetzt werden konnten. Die Entschärfung
von Konflikten durch Vermittlung trug zugleich zum Wohlbefinden der
Flüchtlinge als auch zur sozialen Kontrolle über beide Konfliktparteien bei.
Die andere ist struktureller Art. Die relativ schwache Position der Initiative,
die von außen in die hierarchische Opposition zwischen Bewohnern und
Verwaltung eingreift, lenkt die Vermittlungsbemühungen auf die Flüchtlinge um. Die Initiative, deren Handlungsmöglichkeit und Spielraum in hohem Grade von der Duldung durch die Verwaltung abhängig ist, kann eine
Unterstützung von Flüchtlingen nur in den Fällen realisieren, in denen diese sich nicht offen gegen die Interessen der Verwaltung richtet. Die Folge
ist eine zum Teil verdeckte Unterstützung der Bewohner, zum anderen Teil
jedoch auch das verstärkte Einwirken auf Bewohner, sich mit der Situation
in der Unterkunft zu arrangieren. Ein nicht unerheblicher Teil der Aktivitäten der Initiative, die sich auf die Vermittlung zwischen Verwaltung und
Bewohnern richtet, besteht darin, den Bewohnern das Leben unter den vorgegebenen Umständen „schmackhaft“ zu machen.
Wie steht es denn nun um das sozialarbeiterische Paradigma der Emanzipation und Unterstützung der Flüchtlinge? Die Initiative ist mehrheitlich nicht
an politischer Aktivität interessiert und überdies der Ansicht, für ‚ihre’
333
Flüchtlinge politisch nichts erreichen zu können. Die beschriebenen Kontexte, in die die Nachbarschaftsgruppe ihre Aktivitäten stellt, das nachbarschaftliche Mandat, sich auch für Ordnung in der Unterkunft einzusetzen,
die Maxime des verantwortlichen Handelns gegenüber Nachbarn und
Flüchtlingen ließen tatsächlich innerhalb der Unterkunft kaum ein anderes
Handeln zu. Zepf und Wurzbacher (die beide über Erfahrung in der Flüchtlingssozialarbeit verfügen), scheinen bezüglich der Spielräume von sozialer
Arbeit innerhalb der Unterkunft nicht ganz realistische Vorstellungen zu
hegen. Auf der anderen Seite ist jedoch das frühzeitige Ausblenden von
Handlungsalternativen und die Ausrichtung auf das situativ jeweils ‚Beste’
für die Flüchtlinge ebenso eine Vergabe von Möglichkeiten.
Wie sehr die Initiative ihr Handeln einschränkt, indem sie es ausschließlich
an die lokale Gegebenheit anpasst, läßt sich gerade am Beispiel der Kakerlakenaktion verdeutlichen. In der Sabinger Unterkunft gab es insgesamt
sechs solcher Entwesungen, von denen je zwei im Abstand weniger Wochen stattfinden mussten. Dann wurden die Entwesungen eingestellt, weil
es heftige Diskussionen um das dabei eingesetzte Mittel ‚Lindan’ gab. Verschiedene Bewohner hatten über Beschwerden geklagt, und Experten bescheinigten dem eingesetzten Mittel, dass negative Wirkungen für die Gesundheit der Bewohner und insbesondere für die Kinder nicht ausgeschlossen werden konnten. Breite Proteste, Medienberichte, ein Expertenhearing
gegen die Entwesungen waren die Folge. Die Regierung dementierte zwar
mögliche Gesundheitsschäden, stellte die Entseuchungen jedoch ein. Stattdessen wurden mit Hormonen präparierte Klebefallen eingesetzt, die nicht
nur die aufwändigen Aktionen überflüssig machten, sondern auch – zumindest in der Sabinger Unterkunft – wesentlich effektiver wirkten. In der Initiative wurde die Diskussion um das Schädlingsbekämpfungsmittel aufgenommen und diente dazu, die Aktionen und die umstrittene Beteiligung der
Initiative in Frage zu stellen.
Es zeigte sich, dass es zum Handeln der Initiative, die sich den staatlich
angeordneten Entwesungen gebeugt und sie durch ihre Beteiligung erst realisierbar gemacht hatte, durchaus Alternativen gegeben hätte. Hätte die Initiative stattdessen gegen die unsachgemäße und sowohl für Flüchtlinge als
334
auch für die Mitglieder der Initiative potentiell gesundheitsgefährdende
Durchführung der Aktion protestiert, wäre ein Umdenken der Staatsregierung unter Umständen früher erfolgt und man wäre schneller auf alternative
Methoden der Schädlingsbekämpfung ausgewichen. Die Auseinandersetzungen führten in der Initiative jedoch lediglich zu dem Ergebnis, dass sich
die Kritiker der Aktionen bestätigt sahen, und die Mehrzahl der Befürworter darauf beharrten, dass der Initiative unter den in der Unterkunft gegebenen Umständen keine andere Wahl geblieben war als an der Aktion teilzunehmen. Die Initiative hatte in ihrer Beschränkung allein auf die Unterkunft im Viertel keinen Blick für den weiteren Kontext der Flüchtlingsunterbringung übrig. Das direkte Engagement für die Flüchtlinge und die enge Verbundenheit mit dem Viertel, deutliche Stärken der Nachbarschaftsinitiative, erwiesen sich so auch als Hemmschuh.
335
8. Pädagogik der Anpassung
Die Bundesrepublik ist faktisch ein Einwanderungsland und knüpft damit
an eine lange Geschichte der Einwanderungen nach Deutschland an. Als
Staat, in den es in nennenswerter Weise Einwanderung gibt, hat die Bundesrepublik nicht nur politisch, sondern auch kulturell spezifische Umgangsweisen mit den Fremden im eigenen Land entwickelt. Diese kulturelle Haltung gegenüber Fremden, so die These dieser Arbeit, läßt sich als im
wesentlichen pädagogische Hinwendung zum Fremden verstehen, dem eine
Integration und Anerkennung in Aussicht gestellt wird, so er sich zur Anpassung an die Aufnahmegesellschaft und insbesondere deren Umgang mit
Einwanderern bereit zeigt. Am Beispiel der Nachbarschaftsinitiative ‚Miteinander Leben in Sabing’ wurde dieser Ausgangsthese in drei Fallstudien
nachgegangen. Diese zeigten zugleich den Prozess auf, in welchem die Initiative eine bestimmte Haltung gegenüber den Flüchtlingen, der Nachbarschaft und der Verwaltung erst herausbildete.
Als Reaktion auf die Errichtung einer lokalen Flüchtlingsunterkunft und in
der Opposition gegen ein rassistisches gesellschaftliches Klima entstanden,
führte erst die praktische Tätigkeit die Initiative zu einer konkreteren Bestimmung ihrer Handlungsmotive und Ziele. Mit diesem Verlauf der Orientierung innerhalb eines Spektrums möglicher Handlungsspielräume ging
die Entwicklung eines Selbstbildes der Initiative einher. Beides verlief über
einen manchmal tastenden Prozess von Aktivitäten und gruppeninternen
Diskussionen, in welchem die Grenzen der Handlungsoptionen von der
Gruppe bestimmt wurden.
Wurde anfangs die Flüchtlingsunterbringung als möglicher Konfliktherd im
Viertel betrachtet, an dem sich die aufgeheizte Stimmung mancher Einheimischer entladen könnte, so geriet dies im Verlauf der Aktivitäten aus dem
Blickfeld der Initiative und es fand eine Wende hin zur Betreuung der Unterkunft und ihrer Bewohner statt. Seitens der Initiative wurde dies mit der
Notwendigkeit begründet, die Vorgänge in der Unterkunft zu flankieren
und praktische Unterstützung zu leisten. In der Tendenz zur ‚praktischen’
337
Tätigkeit schien der Wunsch durch, etwas zu tun. Die Unterkunft und ihre
Bewohner gaben Ansatzpunkte, an denen das Engagement einhaken konnte. Doch ‚zu Tun’ gab es auch in der Nachbarschaft. Die einseitige Fokussierung ist nur zum Teil damit zu erläutern, dass die gesellschaftliche Aufmerksamkeit jener Zeit auf Asylsuchende und ihre Unterkünfte gerichtet
war. Die von mir vertretene These ist, dass die Hinwendung zu den Flüchtlingen Ausdruck eines pädagogischen Habitus der Einheimischen ist, denen
es weniger darum geht, die Verhältnisse für Flüchtlinge zu verbessern als
vielmehr darum, die Flüchtlinge bei der Integration in bestehende Verhältnisse zu unterstützen.
Die Aktivitäten der Nachbarschaftsinitiative auf einen pädagogischen Habitus der Einheimischen zu beziehen heißt zu behaupten, dass es nicht die
Kultur der Fremden ist, die spezifische Reaktionsweisen der Einheimischen
evoziert, sondern dass sich im Umgang mit den Fremden Haltungen und
Verhaltensweisen der eigenen Kultur manifestieren. Um diese These zu
belegen, soll zunächst rekapituliert werden, welche spezifischen Handlungsweisen die Initiative entwickelte und wie diese mit einer allgemeinen
Disposition gegenüber Fremden in Einklang stehen. Anschließend werden
die situativen Kontexte des Initiativenhandelns aufgegriffen, welche gemeinsam den Rahmen für die Arbeit der Initiativen formten. Schließlich
kehre ich noch einmal zum Habitus zurück und vergleiche das Initiativenhandeln mit weiteren integrativ orientierten Umgangsweisen gegenüber
Fremden in Deutschland.
1. Der pädagogische Habitus 1
Eingangs wurde der Begriff des pädagogischen Habitus eingeführt mit der
These, dass das Handeln der Initiative Ausdruck spezifischer handlungsleitender Dispositionen ist, die sich in Deutschland hinsichtlich der Integration von Fremden eingespielt haben. Diesen pädagogischen Habitus habe ich
mit verschiedenen Schlüsselbegriffen präzisiert: der Dualität von sozialem
Engagement und sozialer Kontrolle sowie der Schiffauer entlehnten Einsicht, dass in Deutschland Freiheit in besonderem Maße mit Verantwortung
gleichgesetzt wird. Zudem scheint mir der pädagogische Habitus dadurch
338
charakterisiert, dass er vor allem im Zusammenspiel mit einer restriktiven
Politik hervortritt, welche die Assimilation als Vorausbedingung für die
Anerkennung des Fremden betrachtet. Einschränkend habe ich geltend gemacht, dass diese Haltung insbesondere dann deutlich hervortritt, wenn in
der Gesellschaft die Frage der Integration der jeweils Fremden thematisiert
wird. Auch ist der pädagogisch-integrative Gestus nicht „die“ gesellschaftliche Haltung gegenüber den Fremden, sondern ist auf den Teil der Bevölkerung zu beschränken, der Fremden grundsätzlich wohlwollend entgegentritt - wenn auch nicht ohne Misstrauen. Fremdheitsverhältnisse, so habe
ich Bauman folgend argumentiert, bergen spezifische Unsicherheiten, weil
Fremde die eingespielten Regeln und Verhaltensweisen unwirksam werden
lassen. Insofern ist es ein Bestreben, die grundsätzliche Offenheit des
Fremdheitsverhältnisses in eine wenn nicht geschlossene, so doch in eine
durch Regeln und Vorschriften organisierte Beziehung umzuwandeln.
Funktionalisierung, Territorialisierung und als drittes, dynamisches Muster
die Assimilation sind allgemeine Formen der Organisation eines Fremdheitsverhältnisses, für dessen Ausgestaltung aber Spielräume bleiben.
Der pädagogische Habitus, der als eine spezifisch deutsche Umgangsweise
mit Fremden angesehen werden kann, drückt sich bei Betrachtung des
Handelns der Initiative unterschiedlich aus, je nachdem, ob die Beziehung
zu Flüchtlingen, zur Verwaltung oder zur Nachbarschaft im Vordergrund
steht. Das Verhältnis der Initiative zu Flüchtlingen, das als zentrales Thema
der Arbeit in allen drei Fallstudien, besonders jedoch im Kapitel Sozialraum behandelt wurde, ist facettenreich. Deutlich wurde jedoch das Bestreben der Initiative, das Verhältnis zu Flüchtlingen in geregelte Bahnen zu
lenken. Die offenen und teils spontanen Begegnungen zwischen Mitgliedern der Initiative und Flüchtlingen wurden seitens der Gruppenmitglieder
oft als belastend empfunden, da die beiderseitigen Ansprüche an diese
Kontakte häufig differierten und zu Missverständnissen Anlass gaben.
Obendrein entsprach es nicht dem Interesse der Initiative, singuläre Kontakte zu pflegen, sondern Anspruch war eine breite Unterstützung, die
möglichst allen Bewohnern der Unterkunft zugute kommen sollte. Nach
einer Phase der Kontaktaufnahme versuchte die Initiative deshalb, ein sys339
tematisches Angebot an die Flüchtlinge zu richten. Diese Entwicklung ist
Ausdruck der Bewegung vom individuellen Kontakt hin zu einem allgemeinen Verhältnis, das nicht mehr von persönlichen Interessen und Bedürfnissen, sondern von grundsätzlichen Erwägungen bestimmt wird. Erst
in dieser Bewegung und der Form, die das Verhältnis zu Flüchtlingen annahm, konkretisiert sich die pädagogische Haltung als Ausdruck eines
Fremdheitsverhältnisses. Die Initiative nahm innerhalb des Viertels eine
quasi öffentliche Rolle ein, in der sie die wohlwollenden Erwartungen der
Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Flüchtlingen repräsentierte.
Diese Institutionalisierung der Kontakte zwischen Initiative und Flüchtlingen fand seinen direkten Ausdruck in der Gestaltung des Sozialraums. Der
Sozialraum wurde zunehmend zum Klassenzimmer, doch die Flüchtlinge
schlugen die wohlmeinenden Angebote der Initiative aus oder nahmen sie
nicht adäquat wahr. Dies war für die Initiative eine herbe Enttäuschung.
Der direkte Weg zur Integration war damit fehlgeschlagen - die Initiative
blieb im Klassenzimmer allein.
Ein Aspekt hinsichtlich des Sozialraums verdient besondere Aufmerksamkeit, ist er doch exemplarischer Ausdruck des hierarchischen Verhältnisses,
das die Initiative zu Flüchtlingen etablieren wollte. Die Schlüsselgewalt
über den Sozialraum blieb immer, auch zu der Zeit, als die meisten Angebote der Gruppe eingestellt worden waren, in der Hand der Initiative. Den
Flüchtlingen wurde nicht zugetraut, dass sie den Raum in verantwortlicher
Weise selbst nutzen könnten. Hier bestätigt sich die These Schiffauers im
Vergleich von vier westlichen Einwanderungsländern, dass nämlich in
Deutschland Freiheit insbesondere mit Verantwortung übersetzt wird. Geöffnet wurde der Sozialraum nur vereinzelten Flüchtlingen, die darin Ruhe
finden sollten, um Deutsch lernen zu können. Nirgendwo ist das Pädagogische des Initiativenhandelns so greifbar wie bei den Angeboten im Sozialraum. Wenn Schiffauer konstatiert: “In den freiheitlichen Austausch, in
dem die volonté générale herauskristallisiert, sollte nur derjenige eintreten,
der zur Verantwortung fähig ist” (Schiffauer 1993: 195), dann kann hinsichtlich des Sozialraums festgestellt werden, dass die Flüchtlinge gerade
zu diesem freiheitlichen Austausch nicht zugelassen wurden: was volonté
340
générale und bien commun ist, wurde ihnen wohlwollend durch die Initiative bestimmt. Die Initiative erfand dabei die Angebote und deren Organisation nicht neu; die von der Nachbarschaftsgruppe dargebotene Unterstützung ist in ähnlichen Formen Bestandteil der Migrationssozialarbeit. Seit
den siebziger Jahren gibt es einen festen Bestand an Praktiken, die als adäquate Angebote gegenüber Eingewanderten gelten. Gerade in der Entwicklung des Sozialraums zeigt sich die Bewegung der Initiative von partikularen und singulären Zugängen und Kontakten hin zu einer allgemeinen und
verallgemeinerten Haltung gegenüber den Flüchtlingen, die sich zugleich
an gesellschaftlichen Vorstellungen gegenüber dem Fremden ausrichtete.
Diese Orientierung an eingespielten Verhaltensweisen, die das Handeln der
Initiative im Kontext der Flüchtlingsunterkunft bestimmte, prägte auch ihr
Verhältnis zu Bewohnern und Institutionen des Viertels. Mit den multikulturellen Festen für Nachbarschaft und Flüchtlinge wurde eine etablierte
Form der Verständigung gesucht, die wohltätigen Kleidersammlungen
wurden mit Bezug auf die grundsätzliche Notlage von Flüchtlingen begründet. Sie entfalteten ihre Wirkung nicht primär im Bereich des praktischen Nutzens, sondern in der symbolischen Vermittlung. Dies macht die
Kleidersammlung besonders interessant, denn erst im Kontext des symbolischen Tausches werden aus den einen die Wohltäter, aus den anderen die
Bedürftigen gemacht und beide über die Gabe aneinander gebunden. Die
Reziprozitätsnorm macht gerade den Bindungseffekt des Tausches offenkundig. Über die Kleidersammlung wurde die Anwesenheit der Flüchtlinge
im Viertel bekräftigt und zugleich die lokale Solidarität der Viertelbewohner für die Flüchtlinge eingefordert. Die Einseitigkeit der Gabe legte die
hierarchische Form der Beziehung fest, die durch den Tausch etabliert
wurde.
Die Flüchtlinge im Viertel wurden als soziale Außenseiter markiert, von
denen als Gegenleistung Dankbarkeit und Gehorsam erwartet wurde. Darüber hinaus erreichte die Initiative durch die Kleiderspende, dass das offene
und ambivalente Verhältnis zu den Fremden im Viertel in eine fest definierte Beziehung überführt wurde. Die Bedrohlichkeit, die von den fremden Flüchtlingen ausging, wurde sowohl dadurch abgemildert, dass ihm
341
eine im Verhältnis zu den Einheimischen inferiore Position zugewiesen
wurde, als auch, dass durch die Kleidergabe eine feste Beziehungsform etabliert wurde, die den Einheimischen den gebenden Part, den Flüchtlingen
die annehmende Rolle zuordnete. Schließlich konstituierte sich die Nachbarschaftsgruppe selbst als vermittelnde Instanz zwischen Stadtviertel und
Flüchtlingen, so dass die Einrichtungen und Bewohner des Viertels wiederum die Verantwortung für die Flüchtlinge an eine einheimische Institution delegieren konnten. In der Konstitution als soziale Randgruppe hatte
die symbolische Transaktion den zusätzlichen Effekt, die Flüchtlinge kollektiv zum Objekt der Verantwortung der Viertelbewohner zu machen. Alternative Wahrnehmungsweisen des Fremden - wie die als Konkurrenz um
knappe Arbeitsplätze oder als unwillkommene Eindringlinge – wurden damit entkräftet. Die Ordnung des Viertels und die Sicherheit der Flüchtlinge
wurde dadurch gestärkt, allerdings um den Preis der gleichzeitigen Unterordnung der Flüchtlinge unter das Schema der Bedürftigkeit. Diese ganze
Transaktion, darauf sei hier noch einmal hingewiesen, verlief im wesentlichen zwischen der Nachbarschaftsinitiative und der Bevölkerung des Viertels. Vergleichbar der Installation von Wohlfahrtsverbänden als ‚Anwalt’
oder ‚Stellvertreter’ der Arbeitsmigranten nahm die Nachbarschaftsgruppe
in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit des Viertels eine Rolle ein,
welche sie zu ‚Fürsprechern’ der Flüchtlinge machte.
Basierten die Angebote im Sozialraum und bei der Kleidersammlung noch
darauf, dass es den Flüchtlingen freigestellt war, diese Offerten wahrzunehmen, so zeigt die Kakerlakenaktion, dass die Nachbarschaftsgruppe das
von ihr vertretenen Allgemeinwohl im Zweifel auch gegen Flüchtlinge
durchzusetzen bereit war. Hier spielt das Thema der Verantwortung wieder
eine zentrale Rolle. Wer unter den Flüchtlingen die Autorität der Initiative
nicht anerkannte und die Mitwirkung an der Aktion verweigerte, galt in den
Augen der Nachbarschaftsgruppe als verantwortungslos und wurde zum
Verlassen der Unterkunft gezwungen. Auch wenn sich die Initiative durch
die von der Regierung angesetzten Entwesungen selbst unter Druck setzen
ließ, beharrte sie auf der Durchführung und setzte das, was sie als ihren
Teil der Aktion betrachtete, rigoros um. Am Verlauf der Kakerlakenaktion
342
wie auch im Verlauf der Sozialraumnutzung wird erkennbar, dass eine Diskussion mit den Flüchtlingen um Mittel und Wege, das Allgemeinwohl zu
bestimmen, nicht stattfand und auch seitens der Initiative nicht wirklich
erwünscht war. Die Initiative unterwarf sich vielmehr der von oben angeordneten Aktion und erwartete dies auch von den Flüchtlingen. Das verantwortliche Handeln und der Gehorsam gegenüber der Behörde verschmelzen in der Kakerlakenaktion zu einer handlungsleitenden Norm.
Wenn in Anlehnung an Schiffauers These Verantwortung als Bedingung
für Freiheit (des individuellen Handelns) gesetzt wird, dann führt das hier
zu der Schlussfolgerung, dass auch Gehorsam und Unterordnung als Bedingung für Freiheit stehen können.
Was für die Flüchtlinge gilt, trifft in ähnlicher Weise auch auf die Initiative
selbst zu. Innerhalb der Gruppe wurden Mitglieder gerügt, die sich Behördenanweisungen widersetzen wollten. Was im Interesse der Flüchtlinge
artikuliert wurde, um ihnen einen Rest Privatsphäre zu erhalten, wurde von
anderen aus der Initiative als verantwortungsloses Handeln kritisiert. Handeln, das als verantwortlich eingestuft wurde, fand innerhalb der behördlichen Setzungen statt. Dementsprechend war es Maxime der Initiative, nicht
gegen manche unsinnigen und repressiven Anordnungen zu opponieren,
sondern nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Flüchtlinge das Beste aus
ihrer Situation machen konnten. Auch hinsichtlich des besten Umgangs mit
einer einhellig als inkompetent eingeschätzten Unterkunftsverwalterin gab
es Auseinandersetzungen innerhalb der Initiative. Die schließlich adaptierte
Vorgehensweise war konsequent zweigleisig: Die allgemeinen Unterbringungsmodalitäten wurden seitens der Initiative bestätigt, und noch während
ein scharf formuliertes Protestschreiben über die persönliche Unfähigkeit
der Verwalterin an die Regierung ging, wurde beschlossen, den Kontakt zu
ihr nach Möglichkeit nicht abreißen zu lassen.
Diese Auseinandersetzungen innerhalb der Initiative, wie ein im Sinne des
Wohls der Flüchtlinge verstandenes verantwortliches Handeln am besten
umzusetzen sei, weisen noch einen weiteren Aspekt des Verständnisses von
Freiheit des Handelns auf: ein nicht unbeträchtlicher Teil der Aktivitäten
der Gruppe war darauf gerichtet, Konflikte zwischen Verwaltung und
343
Flüchtlingen zu befrieden und damit die Ordnung in der Unterkunft aufrecht zu erhalten. Diese Kontrollfunktion galt zum Teil der Unterkunftsverwaltung, richtete sich in den Aktivitäten der Initiative aber hauptsächlich auf die Flüchtlinge. Das soziale Engagement, das die Initiative mit zum
Teil hohem persönlichen Einsatz den Flüchtlingen entgegenbrachte, war
stets begleitet von der Überwachung des normkonformen Verhaltens der
Flüchtlinge. Die Initiative übernahm die Kontrolle, weil sie den Flüchtlingen misstraute, dass sie allein mit ihrer Situation so zurechtkommen und
umgehen würden, wie es der Initiative im Interesse des Viertels und auch
der Flüchtlinge vorschwebte. Dass die Initiative ihre Bemühungen vor allem auf die Flüchtlinge richtete, ist Ausdruck des Machtgefälles, das in Bezug auf die Unterkunft bestand. Pragmatisch entschied die Initiative, dass
nicht die Situation an die Interessen der Flüchtlinge angepasst werden
konnte, sondern dass sich die Flüchtlinge mit ihrer Situation abfinden
müssten. Gleichzeitig kommt hier aber zum Ausdruck, dass nicht die Verwaltung, sondern primär die Flüchtlinge als potentielle Gefährdung der
Ordnung gesehen wurden. Der Grund des Misstrauens, das den Flüchtlingen hier entgegengebracht wurde, ist mit Schiffauer in der spezifisch deutschen Frage zu sehen, ob der Fremde die Umgangsweisen der Gesellschaft
je hinreichend verinnerlichen kann, dass er zu einem “dem Gemeinwesen
verpflichteten” (Schiffauer 1993: 198) Handeln bereit ist. Dementsprechend schließt das Motto des ‚Miteinander Lebens in Sabing’ den Aspekt
einer Kontrolle der Flüchtlinge gerade im Interesse des Gemeinwesens mit
ein.
In sofern deckten sich im Kontext der Flüchtlingsunterkunft auch manche
Interessen der Verwaltung mit jenen der Initiative. Die Durchführung der
Kakerlakenaktion durch die Initiative zeigt, dass die Nachbarschaftsgruppe
bereit war, originäre Verwaltungsaufgaben zu erfüllen, sofern es dem Allgemeinwohl diente und damit eine Störung der Ordnung vermieden werden
konnte. Die Dualität von sozialem Engagement und sozialer Kontrolle tritt
im Vergleich mit professioneller Flüchtlingssozialarbeit ebenfalls deutlich
hervor: was dort als ‚doppeltes Mandat’ und Rollenkonflikt geschildert
wird, die gegenläufigen Interessen der Klienten und der Träger miteinander
344
in Deckung zu bringen, findet sich bei der Initiative zwanglos vereint im
Selbstbild der Gruppe.
Die Kakerlakenaktion zeigt jedoch zugleich auch die Grenzen des Pädagogischen auf. Kann man Aspekte der Haltung der Nachbarschaftsgruppe im
Verlauf der Kakerlakenaktion noch als pädagogisch fassen, so zeigt doch
die Art und Weise der Beteiligung der Initiative stark den Einfluss der Lagersituation als totaler Institution, die insbesondere die Flüchtlinge ihrer
Identität entkleidete und zu bloßen Insassen degradierte (Goffman 1973).
Je enger sich die Initiative der Verwaltungsposition annäherte, desto stärker
wurden die Flüchtlinge mitsamt ihrer Habe als bloße Störfaktoren bei der
Durchführung dieser Verwaltungsakte wahrgenommen. Die Übergriffe,
welche sich Mitglieder der Initiative im Verlauf der Aktion gegenüber den
Flüchtlingen erlaubten, erschrecken wegen der Leichtigkeit, mit der das
Machtgefälle innerhalb des Lagers auf das Verhalten der Mitglieder abfärbte.
Betrachten wir die drei Fallstudien unter dem Aspekt der Haltung, welche
die Initiative gegenüber den Flüchtlingen an den Tag legte, so kann als
grundlegendes Muster festgestellt werden, dass den Flüchtlingen seitens
der Nachbarschaftsgruppe mangelnde Verantwortung zugeschrieben wurde
und deshalb die Initiative Verantwortung auch für die Flüchtlinge übernahm. An das „Kindchenschema“ Strecks (1997) sei hier erinnert, ebenso
an die Ausführungen Gouldners zum ungleichen Tausch (Gouldner 1984).
Dieses Defizit, das bei den Flüchtlingen festgestellt wurde, diente der
Nachbarschaftsgruppe als Legitimation, sich ihrer in einer zwar unterstützenden aber insbesondere belehrenden Weise anzunehmen. Von der Ausgangslage bei der Gründungssituation der Initiative, in der es auch galt, für
Flüchtlinge und gegen Abwehrhaltungen und Aggressionen der Viertelbewohner Stellung zu beziehen, hat sich die Initiative also im Laufe ihrer Aktivitäten weg bewegt hin zu einer Position, in der sie die wohlwollende Unterstützung der Flüchtlinge bei ihrer Integration in das Viertel als ihre zentrale Aufgabe begriff. Sowohl der direkte Kontakt zwischen Initiative und
Flüchtlingen als auch der über Verwaltung oder Nachbarschaft vermittelte
Bezug führte zu einem Verhältnis, das durch ein den Flüchtlingen angela345
stetes Defizit geprägt war. Zwar war die Initiative keineswegs blind gegenüber inadäquatem Verhalten seitens der Einheimischen. Dennoch nahm die
Gruppe weder gegenüber der Verwaltung noch gegenüber den Einheimischen eine vergleichbar bevormundende und belehrende Position ein. Hinsichtlich der Nachbarschaft lässt sich dies zum einen damit begründen, dass
sich die Viertelbewohner den Überzeugungsangeboten der Initiative leicht
entziehen konnten. Darüber hinaus scheint jedoch für den Schwenk der Initiative von der Nachbarschaft hin zu den Bewohnern der Unterkunft die
grundsätzliche Einstellung der Initiative von Bedeutung. Die Gruppe identifizierte sich mit der Nachbarschaft und sah sich selbst als Repräsentantin
des Viertels gegenüber der Flüchtlingsunterkunft und ihrer Bewohner.
Während gegenüber den Flüchtlingen der Weg zur Freiheit über den Beweis der Befähigung zu verantwortlichem Handeln führte, schließt die
Voraussetzung der Freiheit bei den Einheimischen auch die Freiheit zu unverantwortlichem Handeln ein.
2. Kontexte
Ob ein Handeln als adäquat angesehen wird, hängt stark vom jeweiligen
situativen, gesellschaftlichen und historischen Kontext ab. Kontexte sind
mehr als nur der Hintergrund, vor dem sich soziales Handeln ereignet oder
der Rahmen, in dem es interpretiert wird. Indem sie explizit oder implizit
bei den Aktivitäten bedacht werden, diese Aktivitäten objektiv oder subjektiv zugleich erlauben und begrenzen und ihrerseits handelnd verändert werden können, sind Kontexte vom Handeln nicht zu trennen. Handlungen und
Kontexte stehen nicht nur in einem gegenseitigen Verweisungszusammenhang, sondern sind einander praktisch wie auch diskursiv durchdringende
Ebenen von Handlungsabläufen.
Doch diesbezüglich auch strukturelle und situative Einflüsse zu berücksichtigen. Drei Aspekte möchte ich hier noch einmal aufgreifen: den lokale Bezugsrahmen der Initiative, der einen Schlüssel zum Verständnis des Initiativenhandelns bietet, die Lagersituation, die einen spezifischen Kontext für
das Handeln der Initiative darstellt, und die Asylpolitik mit ihrer Zuspitzung zu Beginn der 90er Jahre.
346
Lokalität – die lokale Orientierung des Initiativenhandelns
Die Nachbarschaftsinitiative nahm zwar die allgemeine asylpolitische Lage
zur Kenntnis, agierte jedoch ausschließlich auf das ‚eigene’ Viertel und die
‚eigene’ Flüchtlingsunterkunft bezogen. Der deutlichste Ausdruck davon
findet sich in der Selbstbeschreibung der Initiative, die sich - ähnlich vielen
anderen Gruppen - Miteinander Leben in Sabing’ nannte und damit die dortige Unterkunft in den Verantwortungsbereich des Stadtviertels inkorporierte. Die Antwort auf die latente und allgegenwärtige Bedrohung Asylsuchender durch rassistische Angriffe an scheinbar beliebigen Orten wurde
lokal konkretisiert: In Sabing sollte so etwas nicht vorkommen. Die Einrichtung der Unterkunft rief bei den Mitgliedern der Initiative eine Betroffenheit hervor, die das Viertel in den Mittelpunkt stellte und die Flüchtlinge
als Bestandteil des Viertellebens wahrnahm. Das „Flüchtlingsproblem“ war
vor Ort angekommen und die Bewohner des Viertels waren damit aufgefordert, sich dieses Themas anzunehmen. Die Nachbarschaftsgruppe sah
anfangs die Notwendigkeit, etwaigen Gegenstimmen vorzubeugen und die
Entstehung einer Gruppierung, die sich gegen die Anwesenheit der Flüchtlinge im Viertel stellte, zu verhindern. Dass dies ausblieb, schrieb die Initiative zum Teil ihrem eigenen resoluten Auftreten zu.
Dieser lokale Bezug betraf auch die Ressourcen, welche sich die Nachbarschaftsgruppe für ihre Aktivitäten erschloss: Fast alle Mitglieder der Gruppe stammten aus dem Viertel, auch die Zusammenarbeit mit Institutionen
wie Kirche oder Parteien wurde primär auf lokaler Ebene gesucht und dort
erfolgreich mobilisiert. Gleiches galt für potentielle Spender. Dadurch
stärkte die Initiative ihren Einfluss im Viertel, entsagte aber gleichzeitig der
Möglichkeit, über breitere regionale oder nationale Netzwerke Einfluss auf
die Flüchtlingspolitik zu nehmen. Die Lokalisierung des Flüchtlingsproblems im Viertel stand deutlich im Vordergrund. Asylrecht und Asylpolitik
verschwanden aus dem Blickfeld. Dies führte letztlich zu einer Einschränkung des Handlungsspektrums der Initative114. Die staatliche Verwaltungs114
Tatsächlich gab es in München und in der Bundesrepublik Initiativen, die eng mit
den Flüchtlingsräten oder der bundesweiten Dachorganisation Pro Asyl zusammenar-
347
praxis gehörte nicht zu dem Bereich, der seitens der Initiative als veränderbar eingestuft wurde. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten sah die Initiative also
nicht bei den Rahmenbedingungen, sondern nur innerhalb des davon gesetzten Kontextes. Die Haltung der Nachbarschaftsgruppe, die Verantwortlichkeit für die Flüchtlinge im Viertel zu übernehmen, wurde von der Initiative aktiv ins Viertel hineingetragen. Die konkrete Hilfe, welche für die
Flüchtlinge geleistet wurde, war eine Form der lokalen Solidarität, die nicht
auf Gleichheit, sondern gerade auf der Hierarchie von Hilfeleistenden und
Hilfsbedürftigen basierte.
Lager
Die Phase der Errichtung der Sabinger Unterkunft kann bezüglich des gegenüber Asylsuchenden herrschenden gesellschaftlichen Klimas durchaus
als Ausnahmezustand im Viertel betrachtet werden. Erst die Sammelunterbringung der Flüchtlinge in einem Lager verwies auf die Asylsuchenden als
‚Problem’ und forderte die Nachbarschaft heraus, Stellung zu nehmen.
Zwar entsprach die Sabinger Unterkunft nicht den gebräuchlichen Unterbringungsformen für Flüchtlinge. Es war kein Baracken- oder Containerlager, sondern ein heruntergekommenes Mietshaus, das verhältnismäßig
zentral im Stadtviertel gelegen war. Dennoch zeigte sich in dieser kollektiven Form der Flüchtlingsunterbringung im Viertel und in den internen
Strukturen im Haus ein Lagercharakter, welcher das Verhalten der Nachbarschaftsinitiative gegenüber den Flüchtlingen deutlich beeinflusste.
Der Umgang der Staatsregierung, welche dem Viertel die Unterkunft über
Nacht ‚vor die Nase setzte’, wurde von der Initiative als Zumutung sowohl
für die Insassen als auch für die Viertelbewohner erfahren: Das Misstrauen,
das dem Fremden generell entgegengebracht wurde, verstärkte sich durch
die Form der Unterbringung. Die dichte Belegung und die ethnische Heterogenität der Bewohner ließen die Initiative Spannungen zwischen den Unbeiteten, doch waren dies Einzelfälle. Die Aktivitäten der meisten Initiativen entfalteten
sich beinah ausschließlich auf je lokaler Ebene. Diese Einschätzung stützt sich auf meine Erfahrungen mit anderen Initiativen in München, auf Kontakte zu anderen Initiativen
im Bundesgebiet sowie auf die Beurteilungen durch die Flüchtlingsräte.
348
terkunftsbewohnern und Beschwerden aus der Nachbarschaft befürchten.
Wachsamkeit und Misstrauen gegenüber den Insassen wie auch gegenüber
den Viertelbewohnern prägte deshalb vor allem die Anfangsphase. Schließlich verstärkte die Sammelunterbringung der Flüchtlinge die Tendenz der
Initiative, sich auf die Unterkunft im Ganzen zu beziehen und ihre Angebote auf die Gesamtheit der Bewohner auszurichten. Die staatliche Ausgrenzung der Flüchtlinge durch Sammelunterbringung und Sachleistungen
schob die Asylsuchenden erst in den Status einer sozial bedürftigen Gruppe. Hingegen verstetigte und ‚normalisierte’ sich jedoch der Umgang mit
Flüchtlingen und ihrer Unterbringung. Die Mitglieder der Initiative gewöhnten sich an eine Unterkunftsform, die zumindest nach innen deutliche
Züge eines Lagers bzw. einer totalen Institution nach Goffman trug (Goffmann 1973). Die ursprüngliche Haltung der Nachbarschaftsgruppe, konkrete Hilfe für Flüchtlinge zu leisten, wurde dadurch einseitig unterstützt und
in ihrer Bedeutung zusätzlich aufgeladen.
Den stärksten Ausdruck fand die Wirkung der Unterkunft als totaler Institution insbesondere im Zusammenhang mit der Kakerlakenaktion. Exemplarisch zeigte diese Aktion, dass sich auch Mitglieder der Nachbarschaftsgruppe verleiten ließen, die Flüchtlinge als Insassen im Sinne Goffmans zu
behandeln und dabei auf elementare Rechte der Flüchtlinge keine Rücksicht nahmen. Vor allem die aktive Rolle, die von der Initiative bei der Kakerlakenaktion übernommen wurde, markieren, wie der Kontext des Lagers
von Mitgliedern der Initiative als Handlungsrahmen akzeptiert wurde. Das
Verhalten der Initiative in diesen Situationen lässt sich interpretativ zwar
sinnvoll auf einen pädagogischen Habitus beziehen. Das Pädagogische
reicht jedoch nicht aus, um die Beteiligung und die Art der Durchführung
der Kakerlakenaktion zu erklären. Hier übte vielmehr die Lagersituation
bestimmenden Einfluss auch auf die Mitglieder der Initiative aus, was dazu
führte, dass auch die Initiative die üblichen Grenzen der Privatsphäre der
Flüchtlinge überschritt.
Der Einfluss der Lagersituation zeigte sich jedoch nicht nur darin, dass
auch die Nachbarschaftsgruppe die Flüchtlinge als ‚Insassen’ wahrnahm,
sondern in ähnlicher Weise führte er auch dazu, dass sich Mitglieder der
349
Initiative mit den Flüchtlingen gegenüber der Verwaltung solidarisch zeigten. Ansätze zu einem gemeinsamen Protest gegen die Übergriffe der Verwalterin und sympathisierende Gesten gegenüber den Flüchtlingen prägten
ebenfalls das Handeln der Initiative innerhalb der Unterkunft. Gerade im
Verhältnis zur Verwaltung zeigt sich so die Spannbreite unterschiedlicher
Positionierungen der Initiative (respektive von Fraktionen innerhalb der
Gruppe), die von Fraternisierung mit Flüchtlingen bis zur Durchsetzung
von Verwaltungsakten gegen die Interessen der Unterkunftsbewohner
reicht. Das Pädagogische nimmt gegenüber diesen Extremen eine Mittelposition ein. Ihre Dominanz gewinnt die pädagogische Haltung dadurch, dass
sie die kontinuierliche Grundlage des Initiativenhandelns darstellte und
darüber hinaus eine Position ist, die sich nicht nur innerhalb der Unterkunft
entfaltete, sondern vor allem auch gegenüber den Bewohnern im Stadtviertel eine hohe Legitimität beanspruchen konnte.
Asyl
Der Status von Asylsuchenden beeinflusste die Situation der Unterkunftsbewohner auch über die Unterbringungsmodalitäten hinaus. Vergleichen
wir die Bedingungen für Asylsuchende Anfang der 90er Jahre mit der Referenzsituation der Integration von Arbeitsmigranten und ihren Nachkommen in den 70er und 80er Jahren, so sind zunächst gegenläufige Tendenzen
festzustellen. Die Aufenthaltsverfestigung Asylsuchender ist politisch nicht
gewollt und wird mit aufwändigen Maßnahmen zu verhindern versucht.
Das Verhalten der Nachbarschaftsgruppe in dieser Situation ist erstaunlich.
Die Ausgrenzungspolitik gegenüber Asylsuchenden wurde zwar in ihren
Effekten zur Kenntnis genommen und kritisiert, dass es sich dabei jedoch
um eine gezielte Politik handelte, wurde seitens der Initiative ausgeklammert. Den Flüchtlingen wurden von der Initiative Integrationshilfen angeboten, als wäre ihnen seitens des Staates eine Bleibeperspektive in Aussicht
gestellt worden. In den behördlichen Bestimmungen der Unterbringung von
Asylsuchenden wurde nicht der politische Wille zur Ausgrenzung identifiziert, sondern ein bloßes Verwaltungshandeln gesehen, das für eine angemessene Unterbringung der Flüchtlinge zu sorgen und unnötige Härten zu
350
vermeiden hatte. Im Effekt wurden die Asylsuchenden von der Nachbarschaftsgruppe nicht anders behandelt als Arbeitsmigranten. Die gegenüber
Asylsuchenden praktizierte Exklusionspolitik wurde von der Nachbarschaftsgruppe ausgeblendet. Stattdessen wurden probate Strategien und
Maßnahmen der Integration gewählt, von offeneren Angeboten wie Teestuben und Kontaktmöglichkeiten bis zu direkten Maßnahmen wie
Deutschkursen und Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Eine klare Kontinuität hinsichtlich der gegenüber Arbeitsmigranten und ihren Nachkommen
entwickelten Haltungen und Maßnahmen wird hier sichtbar.
3. Der pädagogische Habitus 2
Was spricht nun dafür, dass die Adaption dieser Vorgehensweise nicht allein der spezifischen Situation und ihren Erfordernissen, sondern vielmehr
einer allgemeineren, typisch deutschen Disposition gegenüber Migranten
oder Fremden, einem pädagogischen Habitus geschuldet ist? Dass die Ausrichtung der Aktivitäten der Initiative trotz ihrer lokalen Orientierung auf
allgemeine Dispositionen im Umgang mit Migranten zurückzuführen ist,
dafür spricht insbesondere die Tendenz der Initiative, die Beziehung zu den
Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft an bekannte Verhältnisse anzulehnen. Nicht allein die Übernahme von Handlungsweisen aus dem Arsenal
sozialpädagogischer Maßnahmen ist Merkmal einer von der Initiative angestrebten Kontinuität. Dieser Adaption geht die Wahrnehmung der Flüchtlinge und die Gewichtung ihrer mutmaßlichen Probleme durch die Initiative voraus. Weniger die von den Flüchtlingen geäußerten Interessen und
Erfordernisse als vielmehr das, was die Initiative als notwendige und sinnvolle, der Situation der Flüchtlinge adäquate Maßnahmen begriff, gab den
Ausschlag für die zu ergreifenden Aktivitäten. Die Initiative verfuhr im
großen und ganzen nach Handlungskonzepten, die, mochten sie mehr ‚idealistisch’ oder mehr ‚realistisch’ motiviert gewesen sein, anknüpften an die
Kontinuitäten der Wahrnehmung von Migranten als defizitäre und deshalb
zu unterstützende Minderheit.
Vergleicht man die Haltung der Initiative mit den Handlungsweisen, die
sich während der siebziger Jahre gegenüber Arbeitsmigranten einspielten,
351
so treten trotz Unterschieden auch Parallelen hervor. Ähnlich der Sozialberatung der Wohlfahrtsverbände, die sich während der 70er Jahre einspielte,
nahm die Initiative eine vermittelnde Position ein, eine Übersetzerfunktion,
welche die Interessensvertretung für die Migranten einschloss, ohne deshalb ihre Ausrichtung auf die Mehrheitsgesellschaft in Frage zu stellen. Die
Initiative achtete darauf, dass ihr Handeln weder zur Unterkunftsverwaltung noch zur Nachbarschaft in offene Opposition geriet. Auch der Effekt,
den die Einnahme einer solchen vermittelnden Haltung auf die soziale Position der Eingewanderten hat, ist durchaus vergleichbar. Probleme von
Migranten werden durch die Existenz und Ausrichtung der Beratungsinstanz generalisiert, die Betonung der Notwendigkeit einer spezifischen
Betreuung unterstreicht die Bedürftigkeit der Migranten ebenso wie die
Kompetenz der Vermittler.
Integrationsofferten
Auch der pädagogische Impetus der Initiative ist mit den Bemühungen um
die Migranten der 70er und 80er Jahre vergleichbar. Die Integrationsdefizite der Flüchtlinge wurden von der Initiative nicht systematisch auf die Kultur der Migranten zurückgeführt, wie dies in der Ausländerberatung und pädagogik der 70er und 80er Jahre der Fall war. Eher wurde ein übersteigertes, den Möglichkeiten der Initiative und dem sozialen Status der
Flüchtlinge unangemessenes Anspruchsdenken konstatiert. Defizite im adäquaten Handeln wurden eher auf die Situation der Flüchtlinge und die
Fluchterfahrung bezogen als auf spezifische Kulturen der Herkunftsländer.
Deutlich tritt bei hierbei das Bemühen der Nachbarschaftsinitiative hervor,
die Flüchtlinge zu leitende und zu belehren. Dies ist gegenüber gesellschaftlichen Neuankömmlingen nicht unbedingt verwunderlich, sind ihnen
doch die Regeln der Aufnahmegesellschaft nicht vertraut und verfügen sie
über unterschiedliche Fähigkeiten, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden. Es ist jedoch nicht nur die Unvertrautheit mit den gesellschaftlichen
Umgangsweisen, sondern in der Haltung der Initiative drückt sich auch das
Misstrauen aus, ob die Flüchtlinge bereit sind, die gesellschaftlichen Regeln anzuerkennen und handelnd zu beherzigen. Zu dieser Anerkennung
352
der Regeln gehört auch die Akzeptanz des Status des nicht Integrierten und
Diskriminierten. Der ‚Realismus’ der Nachbarschaftsinitiative verlangt von
den Flüchtlingen die Einsicht, dass sie nicht viele Partizipationschancen
haben und dennoch alles unternehmen sollen, um ihre kärglichen Möglichkeiten wahrzunehmen.
So ist das Handeln der Initiative darauf ausgerichtet, den Flüchtlingen trotz
fehlender Integrationschancen eine Integrationsperspektive aufzuzeigen.
Hier wiederholt sich das schon bei der Migrationspädagogik der 70er anzutreffende Muster, dass zunächst die Integrationsbemühung der Fremden als
Vorleistung verlangt wird, und Rechte auf Partizipation wenn überhaupt
erst später in Aussicht gestellt werden. Von den Fremden wird Anpassung
gefordert, ohne dass diese Gewissheit darüber haben, dass diese Anpassungsleistungen von der Gesellschaft durch Partizipationsrechte und Anerkennung honoriert werden. Den Migranten bleibt es überlassen, mit einer
dauerhaften Assimilationsforderung und gleichzeitiger Unsicherheit über
das Ende dieses Prozesses zu leben.
Die breite Akzeptanz, die das Initiativenhandeln bei der Nachbarschaft
fand, zeigt, dass sich die Nachbarschaftsgruppe sicher innerhalb der Grenzen allgemein akzeptierter Verhaltensweisen gegenüber den Asylsuchenden bewegte. Nicht nur in dieser Akzeptanz, sondern auch im Vergleich
des Initiativenhandelns mit vorausliegenden Umgangsweisen mit Migranten zeigt sich die Wirkung eines pädagogischen Habitus, der die Auswahl
probater Handlungsweisen durch die Gruppe strukturierte und mit Sichtweisen auch außerhalb der Initiative korrespondierte. Diese Dispositionen
sind nicht die allein bestimmenden Faktoren für das Handeln der Initiative.
Wie mit Bezug auf Bourdieu dargelegt wurde, treten Habitus und Situation
in eine Wechselwirkung ein. Die resultierende Praxis als Produkt dieses
Zusammenspiels ist damit singulär und zugleich strukturiert durch die im
Habitus zusammenwirkenden Dispositionen, die bestimmte Handlungsweisen nahe legen. Der Habitus ist damit ein Handlungsmuster, das vorhergehende Erfahrungen, Diskurse und Praktiken integriert und in jeweiligen
Situationen neu ins Spiel bringt.
353
Kultur als Modus der politischen Sozialisation
Um die These eines pädagogischen Habitus im deutschen Umgang mit
Fremden zu erhärten, möchte ich zunächst auf die Schule als einen der Orte
gesellschaftlicher Sozialisation und Enkulturation zurückkommen.
Der Umgang mit Arbeitsmigranten der 70er Jahre war geprägt von einer
reservierten Politik, die den Rückkehrgedanken favorisierte und unterstützte, und gleichzeitigen Integrationsbemühungen seitens der Wohlfahrtsverbände wie auch in der Schule. Die Gesellschaft sendete gleichzeitig Signale
der Inklusion und der Exklusion an die Fremden aus, wobei auch die Inklusion unter dem Vorbehalt stand, dass sich der Eingewanderte, nicht die Gesellschaft zu ändern habe. Eine jüngere Studie zu türkischen Schülerinnen
und Schülern in vier europäischen Ländern verdeutlicht, dass sich hieran
nichts Wesentliches geändert hat. Der kulturspezifische Umgang mit dem
Fremden ist eine der Fragestellungen der Studie, die Ende der 90er Jahre
mit ethnologischen Methoden im Kernbereich der Pädagogik ‚wildert’
(Schiffauer u.a. 2002). Die Autoren dieser Studie betrachten die Schule und
die Handlungsweisen türkischer Schüler aus der Perspektive, dass letztere
sich Kompetenzen einer spezifischen politischen Kultur des Aufnahmelandes aneignen müssen. Nicht die Kultur der Eingewanderten, sondern die
Kultur der Mehrheitsgesellschaft und der in ihr verorteten Institution Schule wird damit in den Mittelpunkt gerückt. Die Schule nimmt als zentrale
Institution von Erziehung und Bildung eine Schlüsselrolle hinsichtlich der
gesellschaftlichen Integration ein. An den Versuchen, der Integration von
Migrantenkindern in die Gesellschaft gerecht zu werden, tritt auch die Rolle der Schule als Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Normen und Werte
deutlich hervor. Politische Kultur umfasst nach dem Verständnis der Autoren dreierlei:
“Die Kompetenz – d.h. Wissen und praktische Handlungsfähigkeit – hinsichtlich des Funktionierens der Zivilgesellschaft eines jeweiligen Landes einschließlich der Kenntnis
der zivilgesellschaftlichen Umgangsformen; das Beherrschen der nationalspezifischen staatsbürgerlichen Kultur,
354
also des Umgangs mit Institutionen; schließlich die Vertrautheit mit dem vorherrschenden nationalen Selbstverständnis” (Schiffauer 2002: 3f; Kursivsetzung im Original).
Das Gewicht liegt damit nicht auf der Frage nach der kulturellen Identität,
sondern nach der Aneignung von Wissen und Handlungskompetenz innerhalb der Felder des zivilgesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Umgangs
im Rahmen des nationalen Selbstverständnisses. Letzteres versuchen die
Autoren zu ermitteln, indem sie im Vergleich niederländischer, französischer, britischer und deutscher Schulen die jeweiligen Leitbilder des gesellschaftlichen Selbstverständnisses hinsichtlich der ethnisch heterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft und Schule herausarbeiten. Die Autoren
gehen von der Möglichkeit aus, nationale Besonderheiten in diesen Leitbildern feststellen zu können. Auch wenn das Nationale in westlichen Gesellschaften keine ostentative Hervorhebung mehr erfährt, (Schiffauer spricht
von einem “Übergang von einem expliziten zu einem impliziten Nationalismus” (2002: 3)), so ist es doch im Bereich der selbstverständlich angenommenen Denk- und Handlungsmuster als Folie einer imaginierten Gemeinschaft (Anderson 1993) präsent. Schiffauer betont, dass dies nur nachrangig mit der Frage der Staatsangehörigkeit zu tun hat und vielmehr “...
auf der Ebene diskursiver Grundannahmen und impliziter Wertungen”
(2002: 9) anzusiedeln ist, “... die gerade deshalb so effektiv ‚Selbstverständlichkeiten’ prägen, weil sie so sublim sind.“ (Schiffauer 2002: 9).
Besonders im Vergleich zur französischen, aber auch zur britischen und
niederländischen Schule stellen die Autoren fest, dass an der deutschen
Schule der Umgang miteinander und insbesondere der Umgang mit dem
Thema ethnischer Minderheiten kaum explizit geregelt ist. Dies steht in
komplementärem Verhältnis zur Betonung des Einzelnen, seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln. Nach Mannitz
lässt sich dies aus den Lehren ableiten, die aus der Nazizeit gezogen worden sind (Mannitz 2002: 173). Der staatlich kontrollierten Ordnung wird
mit einem gewissen Misstrauen begegnet. Das Erziehungsziel ist insofern
355
nicht äußerliche Regelbeachtung und Gehorsam, sondern wird in das Innere der Person hinein verlagert:
“Ein ‚gleich machendes’ System äußerlich kontrollierter
Ordnung, welches das Regelverständnis in der französischen Schule ausmacht, würde angesichts dieser Programmatik von Bildung und Erziehung im deutschen Fall keinen
Sinn ergeben, denn (bloß) äußerlicher Gehorsam steht in der
bundesdeutschen politischen Kultur im Ruch autoritärer Unterdrückung und widerspricht dem Ideal des engagierten
Bürgers, der seine individuellen Interessen im demokratischen Forum verantwortlich vertritt. (...) Das Ziel ist nichts
weniger als die ethisch voll entwickelte Persönlichkeit, deren verinnerlichte Verantwortung für das Gemeinwohl gesellschaftliche Solidarität sichert” (Mannitz 2002: 173).
Charakteristisch für den Umgang der deutschen Schule mit Migrantenjugendlichen ist schließlich das ungeklärte Verhältnis hinsichtlich der multikulturellen Wirklichkeit der Gesellschaft. Weder die Gesellschaft noch die
Schule konnten sich bislang zu einem positiven Verhältnis zur ethnischen
Heterogenität der Bevölkerung durchringen. Dies hängt nach Ansicht von
Schiffauer und Mannitz insbesondere damit zusammen, dass sich die Bundesrepublik in ihrem Selbstverständnis zusätzlich zum ethnischen Volksbegriff auf die gemeinsame Verantwortung gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit bezieht.
“Die Inkonsistenz von Staatsangehörigkeitsrecht und vorgestellter Gemeinschaft verkompliziert die Option, ‚Vollmitglied’ zu werden, bzw. erweckt zum Teil sogar den Eindruck der Unmöglichkeit. Von Einwanderern wird kulturelle Assimilation gefordert. Wie aber soll diese gelingen,
wenn Kultur als kollektive ‚Mentalität’ aufgefasst wird, das
deutsche Volk zugleich als kulturelle, historische Verantwortungs- und Abstammungsgemeinschaft verstanden
wird?” (Mannitz 2002a: 318).
356
Die Widersprüche im nationalen Selbstbild führen zu Unsicherheiten hinsichtlich dessen, was von Migrantenjugendlichen erwartet wird und wie die
Erfüllung dieser Erwartungen honoriert wird. Plastisch wird dies wiederum
am Beispiel der Sprachverwendung in der Schule. An der deutschen Schule
wird
“... eine spezifische Widersprüchlichkeit dadurch erzeugt,
dass Anpassungsleistungen kaum honoriert werden. Als eine Nation, die (noch immer) mit ethnischer und sprachlicher
Homogenität assoziiert wird, verschließt sich das ‚deutsche
Volk’ gegenüber den ‚Ausländern’ auch dann noch, wenn
diese ausschließlich Deutsch sprechen. Mit anderen Worten:
Wer der ethnischen Herkunft nach Türke ist, wird unabhängig von der Wahl seines Idioms nachhaltig als Ausländer
betrachtet. Zwar wird eine Anpassung gefordert, das daran
geknüpfte Versprechen aber nicht gehalten” (Sunier 2002:
158).
Für die Situation an der deutschen Schule ist festzustellen: Die ungeklärte
Frage nationaler Identität und Integration führt zu einer Betonung des Einzelfalles und zu einem Misstrauen gegenüber allgemeingültigen Regeln.
Dies hat als Konsequenz, dass kaum allgemeine Verhaltensvorschriften bestehen und stark situativ entschieden wird, was als adäquates Verhalten zu
werten ist. Vage bleiben auch Möglichkeiten und Bedingungen einer
gleichberechtigten Anerkennung. Migrantenjugendlichen wird keine explizite und allgemein anerkannte Perspektive der Akzeptanz geboten. Anpassungsforderungen stehen keine Modelle der Anerkennung gegenüber, die
auch eingelöst werden könnten. Das Erziehungsmodell, das die Eltern in
die Bildung der ‚verantwortungsvollen Persönlichkeit’ der Schüler einbezieht, perpetuiert sowohl Statusunterschiede als auch Vorstellungen kultureller Differenz, die für das defizitäre Abschneiden von Migrantenjugendlichen in der Schule verantwortlich gemacht wird. Zwar wird die Förderung
einer Rückkehrperspektive der Migrantenjugendlichen heute nicht mehr als
gleichrangiges Erziehungsziel formuliert, wie dies in den siebziger und
357
achtziger Jahren der Fall war, ein explizites Integrationsmodell, das Bedingungen und Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe benennt, ist jedoch
weder Teil des schulischen noch des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik.
Pädagogik in der Gesellschaft
Wenn auch die Ergebnisse der Studie von Schiffauer u.a. nicht uneingeschränkt auf die Gesellschaft übertragbar sind, so gelten sie andererseits
nicht nur in der Klasse und auf dem Pausenhof. Was die Autoren für die
Schule feststellen, wirkt deutlich in die Gesellschaft hinein. Als Beispiel
können die Effekte der Hausaufgaben-Initiative gelten, die von der damaligen Bundesregierung im Erziehungsjahr 1970 ins Leben gerufen worden
ist. Unter dem Vorsitz des damaligen Bundeskanzler Willi Brandt wurde
eine Kommission eingerichtet, die eine “... Kampagne zur Mobilisierung
ehrenamtlicher deutscher Hausaufgaben-Helfer für Ausländerkinder” startete115. Initiativgruppen von engagierten Lehrern, Mitschülern, Studenten
und Eltern sollten gewährleisten, dass die Kinder von Arbeitsmigrantinnen
und Arbeitsmigranten mit dem deutschen Schulsystem zurechtkamen. In
der durchaus erfolgreichen Durchführung dieser Kampagne waren die
Strukturen angelegt, die in den folgenden dreißig Jahren das Verhältnis zu
Migranten grundlegend mitbestimmten. Die Politik hält sich mit Maßnahmen, die insbesondere eine Umorientierung des Schulsystems auf die neue
Situation umfasst hätten, zurück, und reicht das Problem an die Gesellschaft weiter. Zugleich werden Gegenstand und Methode der Anpassungsmaßnahme bestimmt. Nicht die Schule hat ein Anpassungsproblem an die
Situation, dass ein wachsender Anteil der Schüler nicht Deutsch als Muttersprache gelernt hat, sondern die Kinder der Migranten haben ein Anpas115
Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, zit. n. Kowalski 1984: 138. Die
Kampagne hatte eine breite Wirkung, die wohl in diesem Sinne von den Initiatoren
nicht intendiert worden war. Die Initiativgruppen, die sich zur Hausaufgabenhilfe gegründet hatten, weiteten ihre Arbeitsfelder zunehmend aus und etablierten sich als bedeutsame zivilgesellschaftliche Kraft im Bereich der Integration und Migrationssozialarbeit. Viele der heute bestehenden Vereine und Gruppen in diesem Bereich können
ihre Ursprünge auf die Kampagne zur Hausaufgabenhilfe zurückführen.
358
sungsproblem an die Schule. Dies soll dadurch gelöst werden, dass diese
Kinder und Jugendlichen in der Anpassung ehrenamtlich und möglichst
kostengünstig unterstützt werden.
Etwa zeitgleich begriffen Initiativgruppen, Schulpädagogen und die sich
entwickelnde wissenschaftliche Disziplin der Ausländerpädagogik, dass
ihre Anstrengungen um die Integration der Migranten und ihrer Kinder von
einer staatlichen Ausländerpolitik nicht mit getragen wurde, sondern die
politisch ausgrenzende Praxis ihren kleinen Integrationserfolgen oft genug
entgegenstand. Das gleichzeitige Nebeneinander einer Politik, die in den
achtziger Jahren auf die “Rückkehr” der Arbeitsmigranten drängte und einer pädagogisch getragenen, gesellschaftlichen Anstrengung zur Integration trat Mitte der achtziger Jahre besonders deutlich hervor. Kowalski
kommt beim Vergleich der Haltung von Initiativgruppen in der Ausländerarbeit zu dem Schluss, dass sich das “Verhältnis der Initiativen zum Staat
in Gestalt seiner Regierung” (1984: 135) gewandelt hat:
“Waren 1970/71 diese Gruppen noch unter hohem persönlichen Einsatz bereit, in kooperativer Weise die Bemühungen
der Regierung zu unterstützen, die Kinder der angeworbenen Arbeiter in eine ihnen total fremde Gesellschaft einzuführen, so steht das Gros der heute tätigen Initiativen einer
Ausländerpolitik ablehnend, ja kämpferisch gegenüber
(Kowalski 1984: 135).
Die starke Beteiligung von Ehrenamtlichen, Eltern oder Studenten in Initiativgruppen zeigt, dass eine inklusive Erziehung bei exkludierender Tendenz
der Politik nicht auf die Pädagogik als Institution und die Schule als Ort
beschränkt war, sondern breitere Teile der Bevölkerung einbezog, deren
Motivation und vorherrschende Praxis pädagogisch-integrativ geprägt war.
In den achtziger Jahren kommt es in der Bundesrepublik gegenüber Eingewanderten zu Ansätzen einer Konvergenz von Schulpädagogik, Sozialpä-
359
dagogik und pädagogisch inspirierten Teilen der Bevölkerung116. Erst die
Enttäuschung, dass ihre pädagogischen Leistungen nicht durch staatliches
Handeln gedeckt wurden, sondern zunehmend in Opposition zur staatlichen
Ausländerpolitik gerieten, motivierte zu expliziten politischen Stellungnahmen. Vom Staat wurde erwartet, dass er die einmal eingeleitete Eingliederung der Arbeitsmigranten und ihrer Familien unterstützt. Doch auch
der Unwillen staatlicher Instanzen, im Bereich der Integrationspolitik ihren
Gestaltungsaufgaben nachzukommen, konnte das pädagogische Projekt
nicht bremsen. So etablierte sich eine eigentümliche Ambivalenz in der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Eingewanderten, die durch Abwehrrhetorik und Exklusionsbestrebungen einerseits, Integrationsforderungen und
pädagogischen Bemühungen andererseits charakterisiert ist.
Pädagogik als Weg zur Emanzipation
In der Geschichte der Bundesrepublik setzte das pädagogisch geprägte
Verhältnis zum Fremden ein, als die Anwesenheit der Arbeitsmigranten
nicht mehr als vorübergehende Episode betrachtet und deshalb integrativ
begleitet wurde. Doch auch die ‚pädagogische Wende’ in der Haltung gegenüber Zuwanderern in den 70er Jahren hatte ihre Vorläufer. Der Präzedenzfall der pädagogischen als spezifisch deutscher Umgangsweise mit
Minderheiten trat vielleicht mit der ‚Judenemanzipation’ ein, die ab etwa
1780 seitens der liberalen deutschen Bürgerschaft angestrebt wurde. Mit
dem Vormarsch republikanischer Werte, insbesondere dem bürgerlichen
Gleichheitsgedanken, wurde der Blick geschärft für bestehende Ausgrenzungsverhältnisse:
“Das Selbstverständnis der bürgerlich aufgeklärten Bewegung ließ es nicht zu, dass eine Bevölkerungsgruppe dauerhaft vom gesellschaftlichen Umgestaltungs- und Emanzipationsprozess ausgeschlossen wurde. Doch sollten nicht nur
116
Sammelbände wie z.B. Stüwe und Peters: Lebenszusammenhänge von Ausländern
und pädagogische Problematik (1984) deuten darauf hin, dass die Integration von Eingewanderten die Schule in den Achtzigern verlassen hatte und als Gemeinwesenarbeit,
Stadtteilsozialarbeit auch den Wohnbereich der Eingewanderten umfasste.
360
die Bedingungen, unter denen Juden lebten, verändert werden, sondern auch diese selbst”,
schreibt Kiesel (1991: 60). Da aber geargwöhnt wurde, dass den Juden die
“bürgerliche Reife” (Kiesel 1991: 60) fehle, sollten ihnen nicht, wie etwa
zur gleichen Zeit in Frankreich, die vollen Bürgerrechte übertragen werden:
“Während man sich in Frankreich mit einem einzigen Emanzipationsakt begnügt hatte und den sozialen Ausgleich
dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überließ, hielt
man in Deutschland auch weiterhin daran fest, dass der
Staat nicht nur ein Rechts-, sondern auch ein Erziehungsinstitut sei und seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft auch hinsichtlich der Juden wahrzunehmen habe. Das
Vertrauen, das man in Frankreich der integrierenden Kraft
der Gesellschaft entgegenbrachte, setzte man in Deutschland auf den Staat. Emanzipation sollte hier nicht ein einmaliger Akt, sondern ein langwieriger Prozess sein. Die volle
Gleichstellung sollte erst Abschluss und Krönung des gesellschaftlichen Integrationsprozesses sein” (Rürup 1975:
17f.).
Hierin lässt sich eine fast idealtypische Konstellation erkennen, die auch im
20. Jahrhundert die Integration von Fremden in die deutsche Gesellschaft
prägen sollte. Auch wenn Analogien eine gewisse Vorsicht entgegen zu
bringen ist, sind hier gewisse Parallelen doch bemerkenswert. Gegenüber
den Juden ist es die liberale Bürgerschaft, die einerseits auf Gleichberechtigung dringt, diese aber an die Bedingung einer Erziehung zum mündigen
Bürger knüpft. Da es sich aber andererseits bei dem gegenüber der Gesellschaft verantwortungsvoll handelnden Bürger um eine weitgehend verinnerlichte Haltung handelt, die nicht an feste Kriterien gebunden ist, kann
auch das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung fast beliebig hinausgeschoben werden. Hinsichtlich der Arbeitsmigranten richtete
sich das wohlmeinende pädagogische Interesse vor allem auf die zweite,
zum Teil in der Bundesrepublik geborene Generation, deren Angehörige
361
mittels einer speziellen, zu diesem Zweck eingeführten Ausländerpädagogik zu handlungsfähigen Individuen erzogen werden sollten – ohne dass
dies vorerst an ihrem Status als Ausländer etwas änderte. Auch die Konsequenzen für den Gleichstellungs- bzw. Emanzipationsprozess bleiben vergleichbar. Sowohl gegenüber den Juden als auch gegenüber den Arbeitsmigranten bzw. gegenüber ihren Nachkommen hatte die pädagogische Haltung zur Folge, dass eine rechtliche Gleichstellung hinausgeschoben wurde,
der gesellschaftlichen Emanzipation eine unbestimmt gehaltene kulturelle
Assimilation vorauszugehen hatte.
Die legitimatorische Kluft zwischen einer faktischen Diskriminierung und
einem gesellschaftlichen Selbstbild, das diese Diskriminierung nicht rechtfertigte, wurde so durch das Zwischenglied der Pädagogik in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt und damit entschärft. Zwar findet weiterhin
eine Ausgrenzung der Fremden statt, die gleichberechtigte Anerkennung
wird jedoch in Aussicht gestellt, sobald die Fremden ihre kulturelle Differenz überwunden haben werden. Damit wird zugleich den Fremden die
Beweislast auferlegt, dass sie die endgültige Aufnahme in die Gesellschaft
auch verdienen.
Das Motiv ist jedoch nicht ausschließlich im Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des Fremden zu sehen, sich als gesellschaftlich verantwortliches
Individuum zu verhalten. Schon im Zusammenhang mit der Diskussion, ob
man den Juden nach französischem Vorbild die Gleichheit sofort oder
vielmehr nur schrittweise zuerkennen sollte, wurde als ein wichtiges Argument nicht der Vorbehalt gegenüber den Fremden (derer es auch unter
den Liberalen genügend gab, vgl. Rürup 1975: 14f.), sondern das Misstrauen gegenüber der eigenen Gesellschaft angeführt. Eine Gleichstellung würde nicht die Juden, sondern die deutsche Gesellschaft unvorbereitet treffen,
stellte F. von Schuckmann fest:
“So lange also das Ganze der Nation die Juden noch für eine
schlechtere Menschenart und sich durch ihre Gleichmachung beleidigt hält, so lange das Vorurteil wider sie noch
in den Herzen des größten Teils der christlichen Obrigkeit
362
und der das Volk lenkenden Geistlichkeit herrscht; solange
ist es unmöglich, sie durch Gesetze allgemein vor Unterdrückung zu schützen, weil man den inneren Gehalt menschlicher Handlungen, Ton und Gebärden nicht vor Gericht führen kann ...” (zit. n. Rürup 1975: 17).
Es ist also nicht allein die Skepsis, ob sich der Fremde hinreichend verantwortlich und loyal gegenüber dem Gemeinwesen verhalten wird. In ähnlichem Maße scheint ein Mangel an Vertrauen gegenüber den Einheimischen, die alle Rechte und Freiheiten besitzen, eine nur schrittweise Aufhebung der Diskriminierung zu begründen. Interessant ist auch die Argumentation, dass Unterdrückung nicht bekämpft werden kann, weil sie auf einer
verinnerlichten Haltung beruht. Sanktionen, die an den manifesten Auswirkungen dieser Haltung ansetzen, scheinen für von Schuckmann nicht in
Frage zu kommen. So ist das bei den Deutschen in besonderem Maße verinnerlichte Verhältnis des Inidividuums zur Gesellschaft nicht allein Grund
für die Schwierigkeit, einem Fremden verantwortliches Handeln zuzutrauen, sondern auch Ursache dafür, dass sich in Deutschland die Umsetzung
allgemeiner Regeln wie etwa Anti-Diskriminierungsricht-linien besonders
zäh gestaltet (vgl. Schiffauer 1993: 196f).
Rürup konstatiert trocken, dass die Sorge um das Verhalten der Deutschen
im Falle einer Judenemanzipation keineswegs unberechtigt war, wie der
Nationalsozialismus zeigen sollte (Rürup 1975: 17). Auch hinsichtlich der
rassistischen Ausschreitungen der 1990er Jahre war die Haltung der Initiative von Befürchtungen gegenüber der Nachbarschaft geprägt. So scheint
es nicht zu weit hergeholt, die pädagogische Hinwendung der Nachbarschaftsgruppe zu den Flüchtlingen als aus der Warte der Initiative nicht nur
erfolgversprechendere und durchsetzbare, sondern auch legitime Maßnahme zum Abbau möglicher Spannungen zwischen Einheimischen und
Fremden zu interpretieren. Dies erklärt weiter sowohl den weitgehenden
Verzicht auf eigene politische Aktivität als auch die gleichzeitige Akzeptanz staatlicher Ausgrenzung gegenüber Flüchtlingen. Die Mitglieder der
Initiative sahen zwar den Staat in der Pflicht, das Verhältnis zum Fremden
363
zumindest grundsätzlich zu regeln. Im Gegensatz zum aufgeklärten Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts aber ergriff die Nachbarschaftsgruppe
hinsichtlich der Integration selbst die Initiative. Dies lässt sich unter Umständen auf eine veränderte Sichtweise staatlicher Aufgaben zurückführen
– möglicherweise trifft hier auch das Argument von Mannitz zu, dass sich
in der Bundesrepublik als Lehre aus der Nazi-Zeit eine Skepsis gegenüber
dem Staat als Erziehungsinstitut entwickelt hat (Mannitz 2002: 173).
Vor diesem historischen Hintergrund muss das pädagogische Engagement
der Initiative auf die Asylsituation der frühen 90er Jahre bezogen werden,
die von einer offenkundigen Handlungsschwäche des Staates gekennzeichnet war. Hier setzt das lokale Engagement der Initiative ein, die befürchtet,
dass bestimmte Aufgaben vom fernen Nationalstaat nicht bzw. nicht im
lokalen Sinne übernommen werden. Dieses Engagement ist durchaus von
dem Bewusstsein getragen, dem Allgemeinwohl zu dienen, und auch dieser
Aspekt scheint mir ein Grund dafür zu sein, dass sich die Initiative nicht
deutlicher mit der staatlichen Ausgrenzungspolitik auseinandersetzt. Nicht
die Unterstützung der Flüchtlinge ist primäres Motiv der Initiative, sondern
die Sorge um Flüchtlinge in Verbindung mit dem Stadtviertel. Eingangs
haben ich festgestellt, dass in der Gründung von Nachbarschaftsinitiativen
keine Form der „neuen sozialen Bewegung“ zu sehen ist. Klassische Momente wie Vernetzung oder das Ziel gesellschaftlichen Wandels fehlen bei
den Initiativen, die in lediglich lokalen Kontexten agieren. Stellt man dies
jedoch in Beziehung zur Gesamtgesellschaft und zum staatlichen Handeln,
so ist in dieser Form der lokal praktizierten Solidarität, welche die Flüchtlinge einschließt, durchaus die Errichtung einer lokalen Autorität zu sehen.
Diese stellt sich nicht herausfordernd gegen die staatliche Macht, sondern
schiebt sich in ein eigentlich dem staatlichen Handeln vorbehaltenes Ressort hinein und entwickelt innerhalb der dortigen Strukturen ein Eigenleben. Die Arbeit der Initiativen hat darin über das rein Supplementäre hinaus etwas Widerständiges und subtil Herausforderndes.
364
4. Ausblick
Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn ein Teil der Bevölkerung systematisch zum Zweck der Abschreckung in Lager eingewiesen wird? Ungeachtet dessen, dass eine Erfolgskontrolle eines solchen Abschreckungskonzeptes gegenüber neuen Fluchtmigranten kaum zu leisten ist, sendet
eine derartige Politik Signale an die eigene Bevölkerung. Mit der zunehmenden Ausgrenzung von Asylsuchenden vermittelt die Politik die Botschaft, dass sie das ‚Problem’ der Zuwanderung im Griff hat, dass sie
Maßnahmen trifft, die Grenzen zwischen den Eigenen und den Fremden
aufrechtzuerhalten. Begründet wird dies immer wieder damit, dass die ‚Belastungsgrenze’ der Gesellschaft überschritten sei. Ausländerfeindlichkeit
der Bevölkerung wird gewendet als Motiv für Ausgrenzungspolitik. Es gilt
auch das Gegenteil: Ausgrenzungspolitik produziert Ausländerfeindlichkeit. Die Einrichtung von Lagern für Flüchtlinge gab rassistischen Übergriffen ein sichtbares Ziel, und je drastischer sich die Unterbringung von
den Vierteln der Wohnbevölkerung unterschied, desto stärker wuchsen in
benachbarten Vierteln die Befürchtungen und Vorbehalte gegenüber den
Insassen. Die Gründung und Arbeit von Initiativen wie der Sabinger Gruppe, die sich unter diesen Bedingungen für Flüchtlinge und ihre Integration
in das Viertel einsetzten, ist ein ermutigendes Zeichen dafür, dass Fremdenfeindlichkeit nicht das einzige, nicht einmal das hervorstechendste
Merkmal der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Eingewanderten ist. Ob
die Haltung der Nachbarschaftsgruppe auch Hinweise darauf enthält, dass
sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Fremden zum Positiven
ändert, ist allerdings zweifelhaft.
Weder die Diskussion um Asyl noch die Untersuchung der Nachbarschaftsgruppe lädt zu Optimismus hinsichtlich einer grundsätzlichen Verbesserung des Verhältnisses zu Flüchtlingen ein. Vielmehr haben die Fallbeispiele verdeutlicht, dass auch die Haltung der Bevölkerungsteile, welche
Flüchtlingen wohlwollend gegenüberstehen, sich nicht zwangsläufig gegen
eine ausgrenzende Politik richtet. Die restriktive Haltung der Politik und
der pädagogische Habitus, den die Initiative an den Tag legte, stehen miteinander in Wechselwirkung und sind Ausdruck der Komplementarität sta365
biler und längerfristig wirksamer Dispositionen. Beide gründen in einem
Mißtrauen gegenüber dem Fremden wie auch gegenüber den Einheimischen. Abgesehen davon, dass gegenüber Asylsuchenden Rechtsgleichheit
nicht angestrebt wird, erscheint es in Deutschland zu gewagt, die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Einheimischen und Eingewanderten der
Zivilgesellschaft zu überlassen. Dass diese Auffassung durch die Erfahrung
des Nationalsozialismus bekräftigt wurde, aber durchaus ältere Wurzeln
hat, zeigt die Diskussion um die Judenemanzipation des 18. und 19. Jahrhunderts. Deshalb kann man zwar argumentieren, dass eine Veränderung
der Politik – Aufhebung der exkludierenden Maßnahmen gegenüber Asylsuchenden – die Situation für die Flüchtlinge rapide verbessern würde.
Wenn die Untersuchung der Nachbarschaftsgruppe aber zugleich zeigt,
dass selbst diejenigen, die sich wie die Initiative aktiv für Flüchtlinge einsetzen, einen Wandel der Politik nicht als wichtigen Teil ihres Handelns
betrachten, so darf man skeptisch sein, wann die Bedingungen für einen
Politikwechsel gegeben sein werden.
Zentrales Moment der migrationspolitischen Persistenz ist die Konstruktion
auch langjährig in der Bundesrepublik lebender Einwanderer als Fremde,
als Personen, die nicht oder nicht ganz dazugehören. Dazu zählt, dass die
Loyalität der Eingewanderten im Sinne eines verantwortungsvollen Handelns gegenüber der Gesellschaft in Zweifel gezogen wird und die Eingewanderten zugleich haftbar gemacht werden für mögliche weitere Zuwanderer. Gerade beim Abschreckungsprinzip gegenüber Asylsuchenden soll
an den inländischen Flüchtlingen demonstriert werden, dass sich die Flucht
in die Bundesrepublik nicht lohnt. Die erste Hälfte der neunziger Jahre war
gewiss herausragend, sowohl, was die Zahl der Angriffe auf Flüchtlinge
und Migranten, die eingefrorene Haltung der Politik, aber auch die großzügige Unterstützung von Flüchtlingen durch lokale Initiativen betrifft. Im
Kontext des gesellschaftlichen Verhältnisses zu Fremden betrachtet, zeugt
jedoch auch diese Phase von einer Kontinuität von Haltungen, die sich
mindestens seit den siebziger Jahren eingespielt haben und die sich auch
seit den 90ern in die gleiche Richtung weiter entwickeln. Eine schrittweise
Akzeptanz der seit den 50er Jahren eingewanderten Arbeitsmigranten und
366
ihrer Nachkommen wird begleitet von einem grundsätzlichen Misstrauen
gegenüber neuen Einwanderern. Das im Sommer 2004 verabschiedete Zuwanderungsgesetz sieht weiterhin als Nadelöhr für künftige Immigration
die Nützlichkeit des Fremden für die Gesellschaft vor. Verknüpft wird das
Angebot zugleich mit der Pflicht der Neuankömmlinge, mittels sogenannter
Integrationskurse das Interesse an einer Eingliederung unter Beweis zu stellen. Einwanderung aus sogenannten humanitären Gründen (dies umfasst im
wesentlichen die rechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik auf der
Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer internationaler
Verträge; das deutsche Grundrecht auf Asyl wird zunehmend bedeutungslos) wird weiterhin konsequent restriktiv gehandhabt117. Zwar eingereist
und in der Bundesrepublik lebend, wird Flüchtlingen und Migranten die
Chance auf Anerkennung und selbst die Wahrnehmung grundlegender
Rechte verweigert. Gerade diese Migranten sind deshalb auch weiterhin in
erheblichem Maße auf die Unterstützung angewiesen, den ethnische Netzwerke und wohlwollende Einheimische zu bieten haben. Eine Änderung ist
nicht in Sicht.
Lehren
Hätte die Initiative denn in dem gegebenen politischen und gesellschaftlichen Kontext anders, besser handeln können? Um eine solche Frage aufzuwerfen, muss die Unterschiedlichkeit der Initiativenmitglieder vergegenwärtigt werden, die ein breites Spektrum verschiedener Ansichten in die
117
Symbol für diese Kontinuität sind ca. 230.000 Migranten, die Anfang des Jahres
2005 den Status einer Duldung haben und ausreisepflichtig sind, obwohl sie schon zum
Teil seit zehn und mehr Jahren in der Bundesrepublik leben. Weiteres Indiz ist die weitaus höhergeschätzte Zahl Migranten, die ohne Aufenthaltsstatus ‚illegal’ in der Bundesrepublik leben (Vgl. Vogel 1999; Alt 1999; Kein Mensch ist illegal 2000). Hinsichtlich
der ‚Illegalen’ wird konsequent so getan, als seien sie nicht vorhanden. Vorstöße engagierter gesellschaftlicher Gruppen (wie auch die Empfehlungen der Zuwanderungskommission), zumindest minimale rechtliche Standards für diese Personen durchzusetzen, werden ignoriert. Eine Legalisierung für wenigstens einen Teil dieser Personen,
wie sie in anderen europäischen Staaten stattfanden, wird auch von Menschenrechtsorganisationen als unrealistisch eingeschätzt (mündliche Mitteilung Jörg Alt 2002, Jesuit
Refugee Service).
367
Arbeit der Gruppe einbrachten. Diese Heterogenität gab der Gruppe einen
stabilen Halt innerhalb des Viertels, unterschiedliche Zugänge zu Flüchtlingen und zur Verwaltung, erschwerte jedoch zugleich das Auffinden eines gemeinsamen Nenners. Auch die begrenzten Ressourcen, über welche
die Initiative verfügte, ließen keine beliebige Ausweitung des Engagements
zu. Angesichts dieser Einschränkungen hat die Nachbarschaftsgruppe sich
nicht nur erstaunlich hartnäckig und kompetent für die Flüchtlinge und ein
besseres Zusammenleben im Viertel eingesetzt, sondern vor allem in der
Suche nach direktem Kontakt zu Flüchtlingen Barrieren überwunden.
Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Initiative und Flüchtlingen ist
ein Prozess von der partikularen Begegnung zur systematischen Gestaltung
eines allgemeinen Verhältnisses. Als die Initiative gewahr wurde, dass das
von ihr angestrebte Verhältnis bei den Flüchtlingen nicht auf große Resonanz stieß, erwies sich die Gruppe zu unflexibel, um eine andersartige
Form des Kontaktes zu entwickeln, und kehrte teilweise zu Formen der individuellen Unterstützung zurück. Eine deutlichere Berücksichtigung der
Flüchtlingsinteressen mit einem allgemeinen Verhältnis zu verbinden, wäre
angesichts der Individuierung der Flüchtlinge und der ethnischen Zergliederung der Unterkunftsbewohner, aber auch wegen des Selbstbildes der
Initiative kaum zu leisten gewesen.
Die Initiative durchlief im Kontakt mit Flüchtlingen einen Lernprozess. Sie
lernte ihre Möglichkeiten besser einzuschätzen und wurde gewahr, dass
Flüchtlinge nicht alle wohlgemeinten Angebote plausibel fanden. Darüber
gelangten die Mitglieder der Initiative zu einem sachlichen Umgang mit
den Flüchtlingen, der weniger von allgemeinen Bildern und Vorurteilen
geprägt war. Das Verhalten der Initiative gegenüber der Nachbarschaft war
jedoch darauf gerichtet, gerade an bestehenden Bildern über Flüchtlinge
und an bekannte Vorstellungen anzuknüpfen. Lernerfolge und AhaErlebnisse wurden von der Initiative nicht an die Nachbarn weitergegeben,
sondern, wie das Beispiel der Kleidersammlung zeigte, von der Initiative
tendenziell verdeckt. Ein offensiveres Eintreten der Initiative für die
Flüchtlinge hätte unter Umständen auch im Viertel Diskussionsprozesse
vorangetrieben und bei Teilen der Bevölkerung eine stärkere Anteilnahme
368
an der Situation der Flüchtlinge hervorgerufen. Es hätte allerdings wohl
auch Spannungen im Viertel verstärkt, was aus Sicht der Initiative weder
im eigenen Interesse noch in dem der Flüchtlinge lag.
Hinsichtlich der lokalen Bevölkerung verzichtete die Initiative weitgehend
auf politische Belehrungen und auf Forderungen, die sich auf Gleichheitsprinzipien stützten. Die Initiative appellierte an die Generosität der Viertelbewohner, nicht an ihr Gerechtigkeitsempfinden. Hier ist ein wesentlicher
Unterschied zu Organisationen wie Pro Asyl oder Flüchtlingsrat festzustellen, die sich primär auf die Rechte von Flüchtlingen berufen. Mit dieser
Position hat sich die Flüchtlingslobby, wie schon Wolken für die achtziger
Jahre feststellte, von der Entwicklung der Asyldiskussion abgesondert. Die
Nachbarschaftsgruppe vermied eine solche Haltung, für die sich auch
gruppenintern kaum eine Mehrheit hätte finden lassen, und verzichtete auf
ein offensives Eintreten für die Rechte von Flüchtlingen. Dies verschaffte
der Initiative zwar ein hohes Ansehen und Rückhalt in der Nachbarschaft,
verhinderte jedoch zugleich, dass die Erfahrungen, welche die Initiative im
Umgang mit Flüchtlingen und Unterkunftsverwaltung machte, auch Wirkungen in einem größeren Kreis der ansässigen Bevölkerung entfalten
konnten.
Dieselbe Zurückhaltung zeigte sich auch im Verhalten der Initiative gegenüber der staatlichen Unterkunftsverwaltung. Die Beispiele demonstrierten,
dass ein energisches Auftreten gegenüber der Regierung zwar keine Änderung der Politik, aber durchaus konkrete Verbesserungen für die Flüchtlinge erwirken konnte. Die Initiative nahm nicht generell Anstoß an der Unterbringungsweise der Flüchtlinge. Sie befürwortete trotz interner Auseinandersetzungen auch die seitens der Behörden angeordneten Kakerlakenaktionen, versuchten sie für die Flüchtlinge erträglich zu gestalten. Insgesamt besehen betrachteten die Mitglieder politischen Protest gegen staatliche Maßnahmen mehrheitlich weder als Teil ihres Engagements noch als
ihre Aufgabe. Es wäre sicherlich wünschenswert gewesen, wenn sich Initiativen und Flüchtlingsräte zu gemeinsamen Aktionen zusammengefunden
hätten, doch war die Initiative weit weniger an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung interessiert als vielmehr an der Integration der Flüchtlinge
369
in die bestehende gesellschaftliche Ordnung, welche ein hierarchisches
Verhältnis zu Fremden einschließt.
In Bezug auf die pädagogisch begleitete Assimilation der deutschen Juden
konstatiert Rürup 1975, dass das Aufschieben der Emanzipation die bestehende Diskriminierung nicht aufhob:
„Im Gegenteil: in den verbleibenden Rechtsungleichheiten
vermochten die Vorurteile eine immer erneute Bestätigung
zu finden. Der allmähliche, stufenweise Emanzipationsvorgang reproduzierte ständig die Schwierigkeiten, die zu
überwinden seine Aufgabe sein sollte“ (Rürup 1975: 17).
Ob Rürup hier auch die Migranten der 70er Jahre vor Augen hatte, ist nicht
ersichtlich. Diese Feststellung für wesentliche Züge des deutschen Verhältnisses zum Fremden ist jedoch nach wie vor gültig.
370
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