Ici et ailleurs S. 22 Über Preußen und Deutschland (XLIX) Europäische Faschismen Tino Ronchail Um 1925 bezeichneten sich in den europäischen Staaten etwa 40 Parteien als faschistisch. Sie waren in Aufbau und Ziel sehr verschieden, hatten aber, nach dem deutschen Historiker Nolte, ein „faschistisches Minimum“, dessen Kennzeichen der Antimarxismus, Antiliberalismus und Antikonservatismus, das Führerprinzip, eine Parteiarmee und ein Totalitätsanspruch war. Ein weiterer Charakteristikum war der ausgeprägte Nationalismus aller faschistischen Bewegungen, der im Grunde genommen eine supranationale Zusammenarbeit, und somit das Konzept einer „Faschistischen Internationale“ erschweren musste. Der faschistische Anspruch, in Europa eine neue Zivilisation, ja einen neuen „Menschen“ zu schaffen, war ein Hirngespinst ohne Zukunft. Die allgemein schlechte Lage im Europa der Nachkriegszeit ermöglichte einen schnellen Erfolg des Faschismus. Erst ab 1925 erreichten die kriegführenden europäischen Länder wieder ihr wirtschaftliches Vorkriegsniveau. Die Hauptstreitfrage wurde nach dem 1. Weltkrieg die Regelung der Kriegsschulden und Reparationen, die der Versailler Vertrag und die anderen Vorortsfriedensverträgen mehr schlecht als recht zwischen den Gewinnern und Verlierern des Kriegs festgelegt hatten. Darüber hinaus blieben die Kriegsschuldzahlungen zwischen den europäischen Alliierten und den USA zu klären. Frankreich war als größter einzelner Nettoschuldner in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar am stärksten von diesem Problem betroffen. Der Vorschlag des Ökonomisten Keynes, alle Kriegsschulden zu streichen, war von den Amerikanern in der ersten Phase schroff abgewiesen worden. Die Fransozen versuchten daraufhin ihre Kriegsschulden mit den deutschen Reparationszahlungen zu begleichen; die Rechnung ging nicht auf, da diese Zahlungen unregelmäßig erfolgten. So kam es, vereinfacht gesagt, zur absurden Situation, dass die USA Kapitalanleihen an Deutschland weitergaben, das somit die Reparationen an Frankreich zahlen konnte, das seinerseits damit die Kriegsschulden an die USA zurückzahlte. Das Ganze endete mit der Erlassung eines Teils der Kriegsschulden durch die USA. Die Wurzeln des Faschismus lagen im Photo: Google, Bilder Das kurze Zeitalter zwischen den zwei Weltkriegen war die Blütezeit des europäischen Faschismus. Frankreich des Bonapartismus, der politisch „weder rechts noch links“ sein wollte. Nach dem Krieg von 1870 zwischen Frankreich und dem vereinten Deutschland kehrte Frankreich zur republikanischen Regierungsform zurück (Dritte Republik von 1871-1940). Ende des 19. Jahrhunderts machten sich starke chauvinistische Tendenzen mit einem ultramontanen Klerikalismus und einem wachsenden Antisemitismus breit. Ihr Symbol war 1886 die Edition des Machwerks „La France juive“ von E. Drumont, dessen Erfolg man an der Zahl der Auflagen ahnen kann (mein Exemplar stammt aus der 57. Auflage). Wortführer dieser Richtung war der Schriftsteller Charles Maurras mit seiner „Action française“. Er war Royalist, extremer Nationalist, ab 1938 Mitglied der Académie française, wurde nach der „Libération“ zu lebenslänglicher Haft verurteilt und 1952, wenige Monate vor seinem Tod, begnadigt. Der Dreyfusprozess gegen den zu Unrecht wegen Spionage verurteilten jüdischen Offizier, der erst 1906 definitiv freigesprochen wurde, verstärkte die antisemitische Haltung in Frankreich. Ein positives Ergebnis der das Land aufwühlenden Debatte war die Formierung von neuen linken Parteien, dem Parti radical (1901) und dem SFIO („Section française de l’Internationale Ouvrière“, 1905). Georges Gressent-Valois, ein führendes Mitglied der „Action française“, gründete 1925 den „Faisceau“. Er stand dem italienischen Faschismus nahe, war kein Antisemit und ein Verfechter von Barrès Konzeption der „diverses familles spirituelles de la France“. Noch vor dem 2. Weltkrieg wandte er sich der Linken zu und näherte sich dem Antifaschismus. Er kam in einem deutschen KZ um. In den folgenden Jahren entstanden diverse faschistische Organisationen, öfter sehr kurzlebig und mit niedrigen Mitgliederzahlen. Ausnahme war der Frontkämpferbund der „Croix de Feu“ von Colonel de La Rocque, mit Hunderttausenden Mitgliedern, der im Februar 1934 bei einem Putschversuch scheiterte. Dann gab es die „Solidarité française“ des Parfümeurs Coty und den „Francisme“ von Marcel Bucard. Die größte faschistische Organisation war der „Parti populaire français“, entstanden aus dem Zusammenschluss politischer Organisationen von Jacques Doriot, früherer Kommunist, und Marcel Déat, früherer Sozialist. Prominente Mitglieder dieser Partei, die etwa 100.000 Faschisten umfasste, waren Alfred Fabre-Luce, Bertrand de Jouvenel und Drieu la Rochelle. Doriot und Déat verblieben hochrangige Kolloborateure in der Vichy-Regierung Pétains. Doriot wurde 1945 bei einem Tieffliegerangriff in der Nähe von Sigmaringen, dem Fluchtort Pétains, getötet; Déat starb 1955 unbehellligt in einem Kloster bei Turin. Im März 1935 wurden die „Chemises vertes“, mit einer Jugendabteilung, von dem Journalisten mit dem Pseudonyme Henri Dorgères gegründet, um die „Défense paysanne“ in eine „Dictature paysanne“ umzuwandeln. Zwischen 1936-38 erreichte die Bewegung mit vielleicht 50.000 Migliedern ihren Höhepunkt, vor allem im Westen und Norden des Landes, in der Pariser Region und der Côte d’Azur. FORTSETZUNG in der nächsten Ausgabe