Viel Karies und wenig Pflege - Dental Tribune International

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DTA0310_11-12_Cichon
26.02.2010
16:30 Uhr
Seite 1
Hygiene Tribune 11
Viel Karies und wenig Pflege
Bei Patienten/-innen mit Behinderungen bedarf es Behandlungsgrundsätze.
von Prof. Dr. Peter Cichon, Deutschland
WITTEN – Der orale Gesundheitszustand bei Patienten/
-innen mit Behinderungen ist
oft durch eine mangelnde
Zahnpflege und eine kohlenhydratreiche Ernährung beeinflusst. Zahnerhaltung steht
bei der Behandlung im Vordergrund, bei der gewisse Grundsätze beachtet werden müssen.
Viele Patienten/-innen mit
Behinderungen, die eine selbstständige Zahnpflege nur beschränkt leisten können, sind
häufig nicht willig, sich die
Zähne von Angehörigen oder Betreuern/-innen reinigen zu lassen. Dieses verursacht nicht nur
einen erheblichen Belagsbefall,
sondern es fehlt auch die schützende Wirkung der fluoridhaltigen Zahnpasten. In Verbindung
mit ungünstigen Ernährungsgewohnheiten (häufiger Konsum
von Zucker bzw. vergärbaren
Kohlenhydraten) und einer mangelhaften zahnärztlichen Versorgung können dadurch schon
nach kurzer Zeit ausgedehnte
kariöse Destruktionen entstehen. Studien über den Kariesbefall und Sanierungszustand haben gezeigt, dass viele Patienten/-innen mit Behinderungen
im Vergleich zur übrigen Bevölkerung einen deutlich erhöhten
Kariesbefall und einen weit fortgeschrittenen Zerstörungsgrad
der Zähne aufweisen und dass
der Sanierungsgrad des Gebisses
noch deutlich unter dem nicht
behinderter Patienten/-innen
der entsprechenden Altersgruppen liegt (Abb. 1). Forschungen
belegen, dass eine dauerhaft
bestehende Belagsbildung zu
schweren gingivalen Entzündungszuständen führen kann
und dass Gingivitiden ein Risikofaktor für parodontale Destruktion und Zahnverlust sind.
Besonders gefährdet für
rasch fortschreitende marginale
Parodontitiden sind wegen ihrer
gestörten Immunabwehr Patienten/-innen mit Morbus Down
(Abb. 2). Bei geistigen und/oder
mehrfachen
Behinderungen
sind aufgrund zerebraler Schädigungen und Hirnfunktionsstörungen häufig mit zerebralen
Krampfanfällen belastet. Als unerwünschte Nebenwirkungen
einer antikonvulsiven medikamentösen Therapie können bei
Langzeitbehandlungen mehr
oder weniger stark ausgeprägte
gingivale Wucherungen – etwa
durch Phenytoin – entstehen, die
in vielen Fällen Schwierigkeiten
bei therapeutischen Interventionen bereiten (Abb. 3).
ven Erkrankungen, um einen
weiteren Verfall und Funktionsverlust der (Rest-)Dentition zu
verhindern. Die Problematik der
Abb. 1: Fortgeschrittene kariöse Destruktionen bei einem zweieinhalbjährigen Kind mit geistiger Behinderung.
Abb. 2: Mangelhafte Zahnpflege und
schwere gingivale Entzündungszustände bei einer Patientin mit Morbus
Down.
Konservierende Maßnahmen
Auch bei einem erheblichen
Zerstörungsgrad können kariöse
Destruktionen durch geeignete
restaurative Maßnahmen behoben werden, sodass ein Verlust
der Zähne weitgehend vermieden wird und nur in Ausnahmesituationen tief zerstörte, nicht erhaltungswürdige Zähne entfernt
werden müssen. Entsprechend
dem Zerstörungsgrad kann die
Funktionstüchtigkeit eines kariös erkrankten Gebisses durch
eine konservierende Versorgung
mit Füllungen und endodontischen Maßnahmen wiederhergestellt werden. Einige Zähne
mit stark fortgeschrittenen kariösen Destruktionen können nur
durch die Anfertigung von Kronen erhalten werden. In einer
eigenen Longitudinalstudie aus
dem Jahr 2007 über die Entwicklung der zahnärztlichen Behandlung von Menschen mit Behinderungen in der Zahnklinik der
Universität Witten/Herdecke
zeigte sich im Verlauf der Jahre
1994 bis 2003 eine steigende Anzahl von Patienten/-innen und
Behandlungssitzungen sowie
ein zunehmender Anteil von
konservierenden und chirurgischen Leistungen wie von Behandlungen in Intubationsnarkose. Dabei lag das Verhältnis
von zahnerhaltenden Maßnahmen zu den Zahnentfernungen
konstant bei 3 zu 1. In einer früheren Studien konnte bereits
1999 nachgewiesen werden,
dass zahnerhaltende Maßnah-
men bei Patienten/-innen mit
Behinderungen trotz eines
häufig anzutreffenden unzureichenden Mundpflegezustandes
und erschwerter Behandlungsbedingungen eine identische
Prognose haben wie die der übrigen
Bevölkerungsschichten.
Insgesamt mussten nur 1,5 %
der wiederhergestellten Zähne
im Beobachtungszeitraum von
zehn Jahren entfernt werden. In
einer weiteren Studie aus dem
Jahr 2003 konnte gezeigt werden, dass durch eine regelmäßig
durchgeführte Erhaltungstherapie, die neben der klinischen und
radiologischen Diagnostik die
Remotivation von Patienten/-innen und ihrer Angehörigen sowie professionelle Zahnreinigungen und Fluoridierungsmaßnahmen umfasste, der Kariesbefall bei Patienten/-innen
mit Behinderungen unter Kontrolle gehalten werden konnte.
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Behandlungsgrundsätze
Grundsätzlich sind wir der
Meinung, dass sich die zahnärztliche Therapie bei Patienten/
-innen mit Behinderungen nicht
von der bei nicht behinderten
Patienten/-innen unterscheiden
darf. Das übergeordnete Behandlungsziel ist die Kontrolle
der Entwicklung von destrukti-
zahnärztlichen Versorgung eines/einer Patienten/-in mit Behinderung darf nicht allein auf
Fragen der Behandlungsmethoden und -möglichkeiten beschränkt bleiben, sondern muss
die Besonderheit seines Gesundheitszustandes berücksichtigen
und vor dem Hintergrund seines
gesellschaftlichen Umfeldes und
seiner Lebensgewohnheiten erörtert werden.
Abb. 4c: Derselbe Patient nach prothetischer Versorgung mit zwei
Frontzahnkronen und chirurgischer
Reduktion der gingivalen Wucherungen im Oberkiefer.
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Es darf nicht vergessen werden, unter welchen ungünstigen Bedingungen und Schwierigkeiten Patienten/-innen mit
Behinderungen vielfach behandelt werden können. Nur mit
einem oft großen personellen
und einem enorm gesteigerten
zeitlichen Aufwand kann ein
stark zerstörtes Gebiss bei Patienten/-innen mit Behinderungen wiederhergestellt werden
(Abb. 4 a – c).
Parodontalbehandlungen
Plaque-induzierte Gingivitis
Die Gingivits ist eine reversible Erkrankung. In den meisten
Fällen führt die mechanische
Entfernung bzw. Reduktion der
supragingivalen Mischflora zu einer Homöostase der bakteriellen
Aggression und der Wirtsabwehr
sowie zu einem Ausheilen der
bindegewebigen Entzündungszustände. Der persönlichen
Zahnpflege kommt bei der Behandlung gingivaler Entzündungszustände eine große Bedeutung zu. Bei Menschen, die
Schwierigkeiten bei der Durchführung der persönlichen Zahnpflege haben, besteht die Notwendigkeit zur Infektionskon-
trolle unterstützende Prohylaxesitzungen mit professionellen
Zahnreinigungen und Mundhygienedemonstrationen regelmäßig durchzuführen. Patienten/
-innen mit Behinderungen muss
eine Methode zur persönlichen
Belagskontrolle empfohlen werden, die ihre motorischen oder
mentalen Einschränkungen berücksichtigt und die sie und/oder
ihre Angehörigen oder Betreuer
bei ihnen auch durchführen können (Abb. 5).
Marginale Parodontitis
Problematisch bleibt die
Therapie der marginalen Parodontitiden. Das Ziel einer Parodontalbehandlung besteht in
dem Aufhalten des destruktiven Krankheitsgeschehens, dem
Verhindern von akuten Schüben
und dem Gewinn von parodontalem Attachment durch eine
supra- und subgingivale Entfernung der Hart- und Weichablagerungen, die bei aggressiv verlaufenden Formen durch eine
systemische und/oder antimikrobielle Therapie wirkungsvoll
unterstützt werden kann. Dabei
konnte die zentrale Bedeutung
der sorgfältigen Plaquekontrolle durch den/die Patienten/
-in durch Langzeituntersuchungen nach Parodontalbehandl-
Abb. 5: Mundhygienedemonstration
bei einer Patientin mit Morbus Down.
Abb. 6: Professionelle Zahnreinigung
bei einem Patienten mit geistiger Behinderung.
ungen bestätigt werden. Eine
mangelhafte oder fehlende
Mundhygiene im Anschluss an
parodontaltherapeutische Maßnahmen verhindert nicht nur
den Erfolg der Behandlung, sondern kann unter Umständen
auch zu einer Exazerbation der
parodontalen Entzündungserscheinungen führen.
die Funktionsschwäche des unspezifischen Immunsystems.
Wegen der häufig anzutreffenden unzureichenden persönlichen Zahnpflege sind wir daher bei der Durchführung der
Parodontitistherapie bei Patienten/-innen mit Behinderungen
äußerst zurückhaltend. Dieses
gilt in besonderem Maß für
Patienten/-innen mit Morbus
Down, bei denen die Wirkung
parodontal-therapeutischer
Maßnahmen noch zusätzlich ungünstig beeinflusst wird durch
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Zwar kann durch regelmäßig
durchgeführte professionelle
Entfernung harter und weicher
Ablagerungen eine Reinfektion
vermindert und eine unzureichende persönliche Belagskontrolle nach einer Parodontalbehandlung bis zu einem bestimmten Ausmaß kompensiert werden.
Inwieweit dadurch aber Langzeiterfolge gewährleistet werden
können, bleibt abzuwarten (Abb.
6). Allerdings ist eine gänzliche
Verweigerung einer notwendigen Taschentherapie wegen
einer unzureichenden Mundhygiene aus ethischen Gründen
und dem heutigen Verständnis
zur Entstehung entzündlich destruktiver Parodontalbehandlungen nicht gerechtfertigt.
Medikamentös determinierte
Gingivawucherungen
Weit ausgedehnte medikamentös-induzierte gingivale
Wucherungen können die Kaufunktion beeinträchtigen und
eine Zahnpflege erheblich erschweren. Sie werden durch ein
Ausdünnen und/oder Abtragen
der gingivalen Gewebsvermehrung in Form einer externen
Gingivektomie, verbunden mit
Gingivoplastik behandelt. In der
Regel werden diese ausgedehnten Eingriffe während einer
Intubationsnarkose ausgeführt.
Da die Aufrechterhaltung einer
guten Mundpflege die Neubildung gingivaler Wucherungen
zu einem großen Teil verhindern kann, ist nach Abschluss
der Therapie eine sorgfältige
Plaquekontrolle zur Vermeidung
von Rezidiven zwingend notwendig (Abb. 3 und 4 a–c).
Prophylaxe
Aus der oben beschriebenen
Problematik einer unzureichenden Zahnpflege konzentriert
sich unsere Arbeit hauptsächlich
auf Prophylaxemaßnahmen. Im
Rahmen von regelmäßigen Kontrollsitzungen versuchen wir,
durch professionelle Zahnreinigungen und Mundhygienedemonstrationen, die Karies und
gingivale Entzündungszustände
unter Kontrolle zu halten (Abb. 5
und 6). So zeigten die Ergebnisse
einer eigenen Studie, dass durch
regelmäßig durchgeführte Kontrollsitzungen mit professionellen Zahnreinigungen und
Mundhygienedemonstrationen
der Mundgesundheitszustand
von Patienten mit Morbus Down
günstig beeinflusst werden
konnte (Veröffentlichung in Vorbereitung). Über einen Beobachtungszeitraum von durchschnittlich 18 Jahren konnte bei diesen
Patienten/-innen ein durchschnittlicher DMF-T-Summenindizes unter dem von Erwachsenen der 4. Deutschen Mundge-
Abb. 7a: Prophylaxe vom ersten
Milchzahn an bei einer Patientin
mit Morbus Down.
Abb. 7b und c: Dieselbe Patientin im
Alter von 23 Jahren.
sundheitsstudie aus dem Jahr
2006, ein hoher Anteil von kariesfreien Dentitionen und eine hohe
Zahl von Restaurativen festgestellt werden. Weiterhin konnten
der geringe Anteil von erwachsenen Patienten/-innen mit fortgeschrittenen parodontalen Destruktionen und die niedrigen
Extraktionsraten der vorliegenden Studie die positive Wirkung
des Vorsorge- und Nachsorgeprogramms auf parodontale Erkrankungen und den Zahnverlust bei
Patienten/-innen mit Morbus
Down über einen längeren Zeitraum nachweisen (Abb. 7 a – c).
Fazit
Durch aufwendige zahnerhaltende Maßnahmen kann bei
Patienten/-innen mit Behinderungen ein stark zerstörtes
Gebiss restauriert und bis zu
einem gewissen Grad eine ausreichende Kaufunktion und eine
ansprechende Kosmetik dauerhaft (wieder) hergestellt und
weitere Destruktionen des stomatognathen Systems verhütet
werden. Voraussetzung dazu ist
ein konsequent durchgeführtes
Nachsorgeprogramm. HT
Die Literaturliste ist bei der Redaktion
erhältlich.
Kontakt
Prof. Dr. Peter Cichon
Abteilung für spezielle zahnärztliche Betreuung
Zahn-, Mund- und Kieferklinik
Universität Witten/Herdecke
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Deutschland
Tel.: +49-23 02/9 26-6 00
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