unversum InnereMedizin Österreichische Gesellschaft für Innere Medizin 2/2005 Facharztprüfung Innere Medizin DIABETES MELLITUS Diabetes mellitus bezeichnet eine Gruppe von StoffPrim. ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Roden wechselerkrankungen, deren gemeinsamer Befund 1. Medizinische Abteilung, Hanusch-Krankenhaus, Wien die Blutzuckererhöhung, die Hyperglykämie, ist. Ein besonders Problem stellt die Symptomarmut dar, da erst schwere Hyperglykämie, dann aber bis hin zum Koma, klinisch auffällig wird. Bei nichtadäquater Behandlung treten im chronischen Verlauf Funktionsstörungen und Langzeitschäden verschiedener Gewebe und Organe (Augen, Nieren, Nerven, Herz und Blutgefäße) auf, die für die erhöhte Morbidität und Mortalität der Patienten bestimmend sind. Klassifikation Die frühere Einteilung nach der Insulinabhängigkeit (z. B. [Non] Insulin Dependent Diabetes Mellitus, IDDM, NIDDM) stellt keine Klassifikation dar. Die Klassifikation des Diabetes mellitus erfolgt gemäß der Pathogenese in 4 Typen: • Typ-1-Diabetes: Störung der Insulinsekretion durch überwiegend immunologisch vermittelte Zerstörung der pankreatischen β-Zellen mit meist absolutem Insulinmangel. LADA (latenter autoimmuner Diabetes der Erwachsenen) ist durch langsameren Verlust der Insulinsekretion gekennzeichnet (> Tab. 1). • Typ-2-Diabetes: vorwiegend Störung der Insulinwirkung (Insulinresistenz) mit meist relativem Insulinmangel (typischerweise Störung der Glukoseabhängigen Insulinsekretion), aber auch überwiegender Insulinmangel mit Insulinresistenz möglich. Diese Defekte sind schon lange vor der Manifestation allein oder im Rahmen des metabolischen Syndroms mit erhöhtem Risiko für makrovaskuläre Folgen vorhanden. • Andere spezifische Diabetes-Typen: Ursachen wie Erkrankungen des exokrinen Pankreas (z. B. Pankreatitis, Traumen, Operationen, Tumoren, Hämochromatose, zystische Fibrose), endokri- ner Organe (z. B. Cushing-Syndrom, Akromegalie), medikamentös-chemische (z. B. Glukokortikoide, α-Interferon), genetische Defekte der Insulinsekretion (z. B. Maturity Onset Diabetes of the Young, MODY) und der Insulinwirkung (z. B. lipoatropher Diabetes), andere genetische Syndrome (z. B. Down-, Klinefelter, Turner-Syndrom), Infektionen (z. B. kongenitale Röteln) und seltene Formen des autoimmun vermittelten Diabetes (z. B. „Stiff Man“-Syndrom). • Gestationsdiabetes (GDM): erstmals während der Schwangerschaft aufgetretene/diagnostizierte Glukosetoleranzstörung, die die Erstmanifestation eines Typ-1-, Typ-2-Diabetes oder anderer Diabetes-Typen einschließt. Tabelle 1: Differenzialdiagnostische Überlegungen zu den häufigen Diabetes-Typen (10 Kriterien) Kriterium 1. Häufigkeit 2. Manifestationsalter 3. Körpergewicht 4. 5. 6. 7. Symptome Ketoazidose-Neigung Familiäre Häufung Plasma-C-Peptid 8. Inselzell-Antikörper 9. HLA-Assoziation 10. Insulintherapie Typ-1-Diabetes selten, < 10 % meist Jüngere, < 40 a (Ausnahme: LADA) meist normalgewichtig häufig ausgeprägt gering meist niedrig bis fehlend 85–95 % + (GAD, ICA, IA-2, IAA) + (HLA-DR/DQ) sofort erforderlich Typ-2-Diabetes häufig, bis 90 % meist Ältere > 40 a, zunehmend frühere Manifestation meist übergewichtig, adipös seltener fehlend oder nur gering typisch meist normal bis erhöht – – oft erst nach längerem Verlauf 1 unversum InnereMedizin Facharztprüfung Innere Medizin Tabelle 2: Diagnose des (dys)metabolischen Syndroms anhand des Vorkommens von mindestens 3 von 5 Parametern (National Cholesterol Education Program, NCEP) Parameter 1. Taillenumfang 2. Serum-Triglyzeride 3. Serum-HDLCholesterin 4. Arterieller Blutdruck 5. Plasmaglukose (Frauen/Männer) > 88 cm/> 102 cm ≥ 150 mg/dl (Frauen/Männer) < 50 mg/dl (1,3 mmol/l)/ < 40 mg/dl (1,0 mmol/l) (systolisch/diastolisch) ≥ 130/≥ 85 mmg ≥ 110 mg/dl (100 mg/dl)* * gemäß dem Vorschlag der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft für gestörte Nüchternglukose Epidemiologie und Prävention Die häufigste Form ist der Typ-2-Diabetes, der in Österreich ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer mindestens 350.000 Menschen betrifft. Epidemiologische Hochrechnungen lassen ein weiteres Ansteigen bedingt durch Zunahme geriatrischer Patienten, aber auch junger Übergewichtiger erwarten. Seine enge Assoziation mit dem InsulinresistenzSyndrom ([dys]metabolisches Syndrom) erlaubt die einfache Identifikation einer Hochrisikogruppe und den Ansatz zur Prävention (> Tab. 2). Weitere Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes sind: gestörte Nüchtern-Glukose und gestörte Glukosetoleranz (siehe unten), Frauen nach Gestationsdiabetes oder Geburt eines Kindes > 4.500 g, polyzystisches OvarSyndrom, positive Familienanamnese, niedriges Geburtsgewicht (< 2.500 g) sowie – weniger gesichert – Bewegungsmangel und Stress. In der Prävention des Typ-2-Diabetes sind primär Lebensstilmaßnahmen (Vermeiden fettreicher, ballaststoffarmer und hyperkalorischer Kost, regelmäßige körperliche Bewegung) erforderlich und wirksamer als Medikamente. Typ-1-Diabetes kann, wenn auch seltener als bei Typ-2-Diabetes, familiär gehäuft auftreten. Gehäuft assoziiert mit Typ-1-Diabetes treten andere Autoimmun-Krankheiten wie z. B. Thyreoiditis Hashimoto und Nebenniereninsuffizienz (M. Addison) auf. Besondere Risikogruppen und gezielte Maßnahmen zur Prävention für Typ-1-Diabetes können derzeit nicht definiert werden. ten, die häufig die Erstmanifestation der Erkrankung begleiten. Akute Komplikationen sind die diabetische Ketoazidose (DKA) als Ausdruck des Insulinmangels oder viel seltener das nicht-ketoazidotische hyperglykämisch-hyperosmolare Syndrom (HHS), das nur in ~ 1 % der Diabetes-Erstmanifestationen zu finden ist. Die DKA ist klinisch durch Hyperventilation (Kussmaul’sche Atmung), Azetongeruch und nicht selten abdominelle Symptone (Pseudoperitonitis) bei zunehmender Bewusstseinseintrübung mit Gefahr des Komas gekennzeichnet. Laborchemisch bestehen Hyperglykämie, metabolische Azidose und häufig Hyperkaliämie. Neurologische Symptome (Hemiparese, Hemianopsie, zerebrale Krämpfe) mit oder auch ohne Stupor bzw. Koma weisen auf ein HHS hin, das eher bei älteren Patienten mit eingeschränktem Durstgefühl bei gleichzeitigen Infekten oder schweren Erkrankungen auftritt. Laborchemisch sollen fol- Anamnese und Klinik Erst schwere Hyperglykämie führt zu den klassischen Symptomen (Polyurie, Polydipsie, anders unerklärbarer Gewichtsverlust), Sehstörungen und Infek2 Abbildung 1: Folgeschäden des Diabetes gende Werte: Plasma-Glukose > 600 mg/dl, arterieller pH > 7,3 und effektive Serum-Osmolalität > 320 mOsmol/l vorliegen. Chronische Hyperglykämie (sowie vor allem bei Typ-2-Diabetes zusätzliche Faktoren wie erhöhte freie Fettsäuren und Inflammation) führt zu Störungen der Sekretion und/oder Wirkung von Insulin und ist assoziiert mit Langzeitschäden und Funktionsstörungen verschiedener Gewebe und Organe (Augen, Nieren, Nerven, Herz und Blutgefäße) (> Abb. 1). Klinisch auffällig werden Sehstörungen, Angina pectoris (häufig aber auch symptomlose koronare Herzkrankheit), Claudicatio intermittens, erhöhte Infektanfälligkeit, herabgesetzte Sensibilität vor allem an den distalen Extremitätenabschnitten mit der Gefahr von Ulcera an der Planta pedis. Diagnose Die Diagnose wird unabhängig von Alter und Geschlecht durch Messung mehrfach erhöhter Blut-Glukosewerte an mindestens zwei verschiedenen Tagen gestellt (> Tab. 3). Parameter der Langzeit-Blutzuckereinstellung wie HbA 1c oder Fruktosamin sind zur Diagnosestellung nicht geeignet, sondern dienen ausschließlich der Verlaufskontrolle während Therapie. Bei klinischem Verdacht und widersprüchlichen Ergebnissen erfolgt die Diagnose anhand des oralen Glukosetoleranztests (OGTT, Durchführung: nach 10–16 h Fasten, Trinken von 75 g Glukose in 250–350 ml Wasser [Kinder: 1,75 g/kg bis maximal 75 g] p. o. und Bestimmung der Plasma-Glukose mit qualitätsgesicherten Tests). Kontra- unversum InnereMedizin Facharztprüfung Innere Medizin Tabelle 3: Äquivalenz-Werte der Glukosekonzentrationen in Plasma und Vollblut venös Nüchtern-Wert Normal Gestörte Nüchtern-Glukose Diabetes 1-h-Wert (75-g-OGTT) [nur bei Gestationsdiabetes] Diabetes 2-h-Wert (75-g-OGTT) Normal Gestörte Glukosetoleranz Diabetes Plasma kapillär mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l < 100 (95*) < 5,6 (5.3*) 100–125 5,6–6,9 ≥ 126 (95*) ≥ 7,0 (5,3*) mg/dl mmol/l ≥ 180* ≥ 10,0* mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl mmol/l < 140 < 7,8 140–199 7,8–11,1 ≥ 200 (155*) ≥ 11,0 (8,6*) < 100 < 5,6 100–125 5,6–6,9 ≥ 126 ≥ 7,0 venös Vollblut kapillär < 90 < 5,0 90–109 5,0–6,1 ≥ 110 ≥ 6,1 < 90 < 5,0 90–109 5,0–6,1 ≥ 110 (90*) ≥ 6,1 (5,0*) > 180* > 10,0* < 160 < 8,9 160–219 8,9–12,1 ≥ 220 ≥ 12,2 < 120 < 6,7 120–179 6,7–9,9 ≥ 180 ≥ 10,0 < 140 < 7,8 140–199 7,8–11,1 ≥ 200 (155*) ≥ 11,1 (8,6*) * gilt nur zur Diagnose des Gestationsdiabetes (OGTT in der 24.–28.Schwangerschaftswoche)! indikationen für die Durchführung des OGTT sind interkurrente Erkrankungen, St. p. Magen-Darm-Resektion, Resorptionsstörungen, nachgewiesener Diabetes mellitus. „Normale“ GlukoseWerte sind derzeit als ≤ 100 mg/dl im venösen Plasma definiert, wobei niedrigere Werte das Vorliegen einer Glukosestoffwechselstörung nicht ausschließen. Manifester Diabetes mellitus ist definiert als: 1. Klassische Diabetes-Symptome UND Nicht-Nüchtern-Glukose ≥ 200 mg/dl) ODER 2. Nicht-Nüchtern-Glukose ≥ 200 mg/dl an 2 verschiedenen Tagen ODER 3. Nüchtern-Glukose ≥ 126 mg/dl an 2 verschiedenen Tagen ODER 4 Glukose ≥ 200 mg/dl, 2 Stunden nach 75 g Glukose (OGTT). Symptome bei Minimierung von Nebenwirkungen. Dazu wurden Zielbereiche für bestimmte Parameter entwickelt (> Tab. 4). Basistherapie Die Maßnahmen entsprechen jenen der Prävention und umfassen gesunde Ernährung (Fett < 30 % des täglichen Kalorienbedarfes, gesättigte Fette < 10 g/Tag, Ballaststoffe > 15 g/1.000 kcal, Bevorzugung von Gemüse und Fisch), regelmäßige körperliche Bewegung (30 min/Tag) sowie Verzicht auf Tabak-Konsum. Langsame Gewichtsreduktion von 5–10 % (0,5 kg/Woche) ist nur bei Übergewicht ab Body Mass Index > 25 kg/m2 erforderlich. Schulung und Ernährungsberatung sind unbedingt erforderlich. Sollte durch diese Maßnahmen das Therapieziel innerhalb von 12 Wochen nicht erreicht werden, ist eine medikamentöse Therapie zu beginnen. Eine wichtige Ausnahme stellt der absolute Insulinmangel mit Ketonurie (außer Hungerazetonurie), wie bei Typ-1-Diabetes und ausgeprägtem Verlust von Pankreasgewebe, dar, der eine sofortige Insulintherapie zwingend erfordert! BlutglukoseSenkung Da die Hyperglykämie für mikrovasukläre Komplikationen hauptverantwortlich und für makrovaskuläre Komplikationen mitverantwortlich ist, stellt sie einen wesentlichen Angriffspunkt der Therapie dar. Der Zielwert ist dabei ein HbA1c von Für den Gestationsdiabetes gelten besondere Kriterien (> Tab. 3). Tabelle 4: Zielwerte in der Therapie des Diabetes mellitus Therapie Parameter Die Ziele der Therapie sind: Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensqualität, Kompetenzsteigerung (Empowerment) der Betroffenen im Umgang mit der Erkrankung, Reduktion des Risikos für makroangiopathische Morbidität und Mortalität, Vermeidung mikrovaskulärer Folgen (Erblindung, dialysepflichtige Niereninsuffizienz, Neuropathie, diabetisches Fußsyndrom), Prävention und Therapie der HbA1c Arterieller Blutdruck Serum-LDL-Cholesterin Serum-HDL-Cholesterin Serum-Triglyzeride 3 Zielwert optimal ausreichend ≤ 6,5 % ≤ 7,0 % < 130/80 mmHg* < 130/80 mmHg* < 100 mg/dl 100–130 mg/dl > 60 mg/dl > 40–60 mg/dl < 150 mg/dl 150–200 mg/dl * Bei diabetischer Nephropathie: <120/80 mmHg unversum InnereMedizin Facharztprüfung Innere Medizin Kombinationstherapie (basal unterstützte orale Therapie) [nur bei Typ-2-Diabetes] • 1–3 x orales Antidiabetikum • 1 x Langzeitinsulin • 1 x Blutglukoseselbstkontrolle 0 2 4 6 8 10 12 16 18 20 22 24 Prandiale Insulintherapie [nur bei Typ-2-Diabetes] • Kurz wirksames Insulin (zur Mahlzeit) • < 3 x Blutglukoseselbstkontrollen Konventionelle Insulintherapie • 2–3 x Mischinsulin (z.B. 2/3 morgens, 1/3 abends) • 5–6 regelmäßige Mahlzeiten • < 3 x Blutglukoseselbstkontrollen Intensivierte konventionelle Insulintherapie • Mischinsulin oder kurz + lang wirksames Insulin • Mahlzeiten eingeschränkt variabel • < 3 x Blutglukoseselbstkontrollen Intensivierte, nahe-normoglykämische Insulintherapie (FIT, NIS) • prandiales und Basisinsulin getrennt • Mahlzeiten flexibel • 4–7 x Blutglukoseselbstkontrollen Abbildung 2: Strategien der Insulintherapie Stufenplan der oralen antidiabetischen Therapie des Typ-2-Diabetes Basistherapie: Ernährung, Gewichtsreduktion, Schulung, Bewegung HbA1c-Zielwert: ≤ 6,5 % Intervention: ≥ 7,0 % HbA1c nach 3 Monaten ≥ 7,0 %* BMI ≥ 26 kg/m2 Monotherapie mit Metformin wenn Kontraindikationen: Glitatzone oder SH BMI < 26 kg/m2 Monotherapie mit Sulfonylharnstoff Weitere Optionen: Alpha-Glukosidasehemmer, Glinide HbA1c nach 3 Monaten ≥ 7,0 %* Weitere Optionen: Kombination mit Insulin, Insulintherapie Zweites orales Antidiabetikum Bei Metformintherapie: Glitazone, Alpha-Glukosidasehemmer, Sulfonylharnstoffe, Glinide Bei SH-Therapie: Metformin, Glitazone, Alpha-Glukosidasehemmer HbA1c nach 3 Monaten ≥ 7,0 % Kombination mit Insulin Insulintherapie Vorstellung in einem Diabeteszentrum oder bei einem FA für innere Medizin! Abbildung 3: Therapie des Typ-2-Diabetes 4 Weitere Optionen: Orale Dreierkombination (nicht mit Glitazonen) * bei hohem Ausgangswert sind auch längere Zeiträume möglich < 7 %, das in 3-monatlichen Abständen zur Evaluierung des Therapieerfolges kontrolliert werden soll. Insulintherapie Ist die Ursache des Diabetes mellitus ein absoluter Insulinmangel mit Ketonurie, ist die rasche Einleitung der InsulinSubstitutionstherapie unbedingt erforderlich. Weiters muss die Insulintherapie begonnen werden: bei fortschreitenden diabetesspezifischen Komplikationen (Vorsicht: Gefahr der Verschlechterung einer proliferativen Retinopathie bei zu rascher Blutglukosesenkung), perioperativ (in Abhängigkeit von der Art des Eingriffs), bei schwangeren Diabetikerinnen und Patientinnen mit Gestationsdiabetes (falls Normoglykämie durch Basistherapie nicht erreicht wird) und eventuell bei akutem Myokardinfarkt (unter engmaschiger Blutglukosekontrolle). Voraussetzungen für die Insulintherapie sind Schulung mit den Hauptzielen: Ernährungsberatung für definierte Kohlenhydratzufuhr (1 Broteinheit [BE] = 10 g Kohlenhydrate), Insulinapplikation, BlutglukoseSelbstmessung. Die Formen der Insulintherapie sind unterschiedlich aufwändig und definieren den besten erreichbaren HbA1c-Zielwert, der nur bei intensivierter Insulintherapie (Synonyme: BasisBolus-Therapie, funktionelle InsulinTherapie, FIT, nahe-normoglykämische Therapie, NIS) in > 50 % der Patienten erreichbar ist (> Abb. 2). Dabei erfolgt die Trennung von Basis-Insulin (Verzögerungs- bzw. Langzeit-Insulin) und prandialem Insulin (kurz wirksames Insulin) mit Bestimmung individueller Algorithmen zur Blutglukose-Korrektur. Diese Form ermöglicht flexibleren Lebensstil mit wechselnden Aktivitäten und ist bei Typ1-Diabetes zu bevorzugen. Nach Beginn der Insulintherapie von Typ-1-Diabetikern muss die Insulindosis oft reduziert oder kann sogar in Abhängigkeit von der Insulin-Restsekretion für Wochen bis Monate pausiert werden („honeymoon period“), danach ist die lebenslange Insulintherapie jedoch erforderlich. Orale Antidiabetika (OAD) Bei nicht ausreichender Basistherapie werden OAD zur Therapie der nicht-insulinabhängigen Diabetes-Formen, vor allem des Typ-2-Diabetes eingesetzt (> Abb. 3). Begonnen wird mit einer Monotherapie, wobei bei Übergewicht dem Biguanid Metformin, das primär die Glukoseproduktion der Leber senkt, der Vorzug zu geben ist. Die Kontraindikationen: Nierenfunktionsstörungen mit Serum-Kreatinin > 1,3 mg/dl, Leberfunktionsstörungen und alle Zustände mit unversum InnereMedizin Facharztprüfung Innere Medizin Tabelle 5: Klassifikation der diabetischen Nierenschädigung Stadien der diabetischen Nephropathie Stadium 1. Nierenschädigung mit normaler Nierenfunktion a) Mikroalbuminurie b) Makroalbuminurie 2. Nierenschädigung mit Niereninsuffizienz a) leichtgradig b) mittelgradig c) hochgradig d) terminal Albuminausscheidung (mg/24 h) 30–300 > 300 > 90 > 90 > 300 60–89 30–59 15–29 < 15 abnehmend Hypoxie bzw. Gefahr der Laktatazidose, perioperativ, periinterventionell bei Kontrastmittel-Gabe sind unbedingt zu beachten. Bei Normalgewicht sind Sulfonylharnstoff-Präparate, die die Insulinsekretion steigern, vorzuziehen, wobei auf die Gefahr der Hypoglykämie besonders bei Interaktion mit anderen Arzneimitteln sowie bei Nierenfunktionsstörungen zu achten ist. Neuere Sulfonylharnstoffe wie Glimepirid und Gliclazid weisen geringere Hypoglykämien auf als ältere Präparate wie Glibenclamid. Andere OAD stellen in der Monotherapie nur Ersatzmittel dar. Für die Wirkung der Alpha-GlukosidaseHemmer (Acarbose, Miglitol) ist eine kohlenhydratreiche Ernährung Voraussetzung, sie senken das HbA1c geringer als andere OAD und weisen erhöhte gastrointestinale Unverträglichkeit auf. Für Repaglinid, das wie die Sulfonylharnstoffe die Insulinsekretion stimuliert, liegen keine Langzeitdaten vor. Die Gabe von Repaglinid mit Gemfibrozil ist kontraindiziert. „Insulinsensitizer“ (Thiazolidendione wie Pioglitazon und Rosiglitazon) modulieren die Fettgewebedifferenzierung und verbessern die Insulinwirkung indirekt. Die Blutglukosesenkung tritt erst verzögert ein, wobei ein additiver Effekt in der Kombinationstherapie mit Metformin oder Sulfonylharnstoff zu erreichen ist. Auf die fehlende Langzeiterfahrung sowie die Nebenwirkungen (Gewichtszunahme) und Kontraindikationen (Herzinsuffizienz NYHA I–IV, Leberfunktionsstörungen, Kombination mit Insulin) ist zu achten. Bei insuffizienter Monotherapie besteht die Möglichkeit der Kombinationstherapie von zwei OAD oder die Kombination mit Insulin oder der Umstieg auf Insulintherapie. Die Möglichkeiten der Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes reichen von Kombina5 Kreatinin-Clearance (ml/min) Bemerkungen Serum-Kreatinin normal, Blutdruck ev. erhöht, Dyslipidämie, raschere Progression von KHK, pAVK, cAVK, Retino- und Neuropathie Serum-Kreatinin grenzwertig oder erhöht, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, Hypoglykämie-Neigung, raschere Progression von KHK, pAVK, cAVK, Retino- und Neuropathie, renale Anämie, Störung des Elektrolyt-, Säure-Basen-, Kalzium-, Phosphat- und Knochenstoffwechsels tionen mit OAD bis zu den o. g. Formen der Insulintherapie (> Abb. 2). Bei Erwägen einer frühzeitigen Insulintherapie (statt OAD-Kombinationstherapie) ist auf die Nebenwirkungen wie stärkere Gewichtzunahme, erhöhte Hypoglykämie-Rate und mögliche Verschlechterung einer schweren diabetischen Retinopathie zu achten. Therapie der diabetischen (Prä-)Koma-Formen Diese Situation erfordert auf jeden Fall die sofortige stationäre Aufnahme mit Voraussetzungen zu einer intensivmedizinischen Betreuung einschließlich kurzfristiger Kontrolle von Vitalfunktionen, Flüssigkeitsbilanz und Laborparametern. Bei DKA steht zuerst der Ersatz des Flüssigkeitsdefizits im Vordergrund, der meist ~ 6 Liter beträgt. Initial sollte dies mit 1.000 ml isotoner Lösung (0,9 % NaCl i. v.) sowie 10–20 IE Normalinsulin s. c. erfolgen. Danach ist die Flüssigkeitstherapie an die aktuelle Plasma-Osmolalität und Serum-Elektrolyte anzupassen, z. B. mit 500 ml/h (später 250 ml/h) 0,9 % NaCl i. v. oder hypotoner Lösung (z. B. KADC i. v.), 5 IE/h Normalinsulin i. v. und bei Bedarf Kaliumsubstitution. Beim HHS ist auf das noch größere Flüssigkeitsdefizit von ~ 9 Litern zu achten, wobei initial als hypotone Lösung 0,45 % NaCl i. v. oder hypotone Lösung (z. B. KADC i. v.), verwendet werden kann. Der Flüssigkeitsersatz bewirkt das Absinken der Plasma-Osmolalität und der Konzentration Insulin-antagonistischer Hormone und reduziert so die ausgeprägte Insulinresistenz, sodass dadurch bereits der Blutzuckerspiegel sinkt und die Vorausset- Tabelle 6: Klinische Beurteilung des diabetischen Fußsyndroms Differenzialdiagnose neuropathischer oder ischämischer Fuß Diagnostisches Kriterium Haut Fußinspektion Neurologie Schmerzen Durchblutung Polyneuropathie pAVK warm, trocken, rosig, haarlos trocken, Hyperkeratose, Rhagaden, Blasen Krallen, Hammerzehe, Infekte plantar gestörte Sensibilität (Druck, Schmerz, Vibration, Temperatur) nachts in Ruhe Fußpulse +++ atroph, dünn, kühl, blass-livide Atrophie, Nekrose, Zehe, Ferse Infekte akral keine oder nur diskrete Ausfälle bei Belastung Fußpulse fehlend unversum InnereMedizin Multifaktorielle Therapie Die Behandlung vor allem des Typ-2Diabetes aufgrund seiner komplexen Pathogenese erfordert die Erreichung von Zielen jenseits der Glykämie-Kontrolle (> Tab. 4). Für die Blutdrucksenkung stehen ACE-Hemmer (und ATII-Blocker), Beta-Rezeptorenblocker, Kalziumkanalblocker und Diuretika (Reihenfolge ohne Wertung) zur Verfügung. Bei koronarer Herzkrankheit sind Beta-Rezeptorenblocker, bei Herzinsuffizienz ACE-Hemmer und bei Nephropathie ACE-Hemmer (oder ATII-Blocker) vorzuziehen. Als Lipidsenker sind Statine, außer im Falle isolierter Hypertriglyzeridämie, bei der auch Fibrate gegeben werden können, vorzuziehen. Eine antiaggregatorische Therapie mit niedrig dosierter Azetylsalizylsäure ist bei Diabetikern, die mindestens einen weiteren kardiovaskulären Risikofaktor aufweisen, von Vorteil, wobei gegebenenfalls auf eine Magenschutztherapie zu achten ist. Nachsorge und Kontrollen Die Kontrollen dienen einerseits der Therapiekontrolle und andrerseits der Prävention und Früherkennung von Folgeschäden. Bei der Erstmanifestation/Diagnose und mindestens 1-mal jährlich müssen das vaskuläre (genaue Anamnese, klinische Untersuchung, Gefäßstatus, Lipide, Mikroalbuminurie sowie bei entsprechender Symptomatik ergänzende Befunde wie Ergometrie), renale (Albuminurie, SerumKreatinin; > Tab. 5), ophthalmologische (fachärztliche Kontrolle) und neurologische Risiko (Stimmgabel, Mikrofilament, Temperatursinn-Prüfung) erhoben werden. Mindestens 1-mal jährlich ist eine Inspektion beider Füße in Hinblick auf Folgeschäden unbedingt notwendig (> Tab. 6). 6 Musterfragen zum Thema „Diabetes mellitus“ A. Bei einer Frau wird in der 26. Schwangerschaftswoche ein OGTT mit 75 g Glukose durchgeführt. Folgende Glukose-Werte werden im venösen Plasma erhoben: nüchtern 88 mg/dl, 1. Stunde: 171 mg/l, 2. Stunde: 162 mg/dl. Die Diagnose lautet: 1) gestörte Nüchternglukose 2) Typ-1-Diabetes mellitus 3) gestörte Glukosetoleranz 4) Gestationsdiabetes B. Ein metabolisches Syndrom (gemäß NCEP) mit erhöhtem DiabetesRisiko liegt bei Männern mit sonst unauffälligen Befunden vor: 1) Blutdruck: 150/90 mmHg, Triglyzeride: 195 mg/dl, BMI 26 kg/m2 2) Gesamt-Cholesterin 225 mg/dl, LDL-Cholesterin 130 mg/dl, Blutdruck: 150/90 mmHg 3) Blutdruck: 150/90 mmHg, Bauchumfang: 104 cm, Triglyzeride: 195 mg/dl 4) Triglyzeride: 195 mg/dl, HDL-Cholesterin 38 mg/dl, Bauchumfang: 104 cm 5) Bauchumfang: 104 cm, HDL-Cholesterin 38 mg/dl, Blutglukose 94 mg/dl C. Nach Gewichtsabnahme von 4 kg während einer 6-monatigen Diät und Bewegungstherapie werden bei einer Typ-2-Diabetikerin ohne Spätkomplikationen folgende Befunde erhoben: BMI 29 kg/m2, HbA1c 7,8 %, Serum-Kreatinin 1,2 mg/dl, RR 145/95 mmHg. Welche Maßnahmen sind erforderlich? 1) nochmalige Diätberatung und Schulung, keine weitere Therapie 2) Beginn einer Therapie mit einem Kalziumkanalblocker und einem Statin 3) Beginn einer Therapie mit einem niedrig dosierten Sulfonylharnstoff 4) Beginn einer Therapie mit Metformin plus einem Alpha-Glukosidase-Hemmer 5) Beginn einer Therapie mit Metformin plus einem Kalziumkanalblocker D. Eine funktionelle (nahe-normoglykämische) Insulintherapie: 1) ist für geriatrische Patienten geeignet 2) erfordert nicht mehr als 2 Blutglukose-Selbstkontrollen pro Tag 3) kann mit Misch- und Mix-Insulinpräparaten durchgeführt werden 4) erlaubt Flexibilität in der Nahrungszufuhr 5) ist bei jungen Erwachsenen nicht zu empfehlen E. Welche der folgenden Kontrollen müssen bei Diabetikern auch ohne bekannte Spätkomplikationen mindestens einmal jährlich erfolgen: 1. Koronarangiographie, 2. Mikroalbuminurie, 3. HbA1c, 4. Fußinspektion und Sensibilitätsprüfung, 5. Oberbauch-Ultraschall, 6. fachärztliche Augenuntersuchung? 1) 1. + 3. + 4. + 6. 2) 3. + 4. + 5. + 6. 3) 2. + 3. + 4. + 6. 4) 2. + 4. +5. + 6. 5) 1. + 2. + 3. + 5. Richtige Antwort: A 4, B 3, 4, 5 C 5, D 4, E 3 zung für die Wirkung von Insulin wiederhergestellt wird. Unter diesen Bedingungen ist eine niedrig dosierte i. v. Insulintherapie (0,1 U/kg/h) ausreichend, um die Blutglukose um < 50 mg/dl pro Stunde zu senken. Die langsame Blutzuckersenkung dient der Vermeidung des Hirnödems, einer gefürchteten Komplikation der Therapie des diabetischen Komas. Weiters soll eine nicht zu rasche Flüssigkeitssubstitution in den ersten 4 h zu dessen Verhinderung beitragen. Auf andere Komplikationen vor allem bei HHS wie Thromboembolien, Blutungen bei disseminierter intravasaler Gerinnung oder Pankreatitis ist zu achten (Prophylaxe: Heparin). Facharztprüfung Innere Medizin