Skriptum Analysis III - Katholische Universität Eichstätt

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Skriptum Höhere Analysis
Prof. Dr. René Grothmann
Wintersemester 2005/2006
2
Vorwort
Dieses Skriptum entstand für die Vorlesungen Analysis III“ und Analysis IV“
”
”
an der Katholischen Universität Eichstätt für die Diplomstudiengänge Mathematik und Wirtschaftsmathematik, und für das Lehramt an Gymnasien. Es
umfasst im Wesentlichen die Maß- und Integrationstheorie.
Es wird angenommen, dass in den vorherigen Vorlesungen über Analysis die
Differentialrechnung in einer oder mehreren Variablen, sowie die das RiemannIntegral auf R eingeführt wurde. Als weitere Voraussetzungen wird eine gewisse
Gewandtheit im Umgang mit Mengen nötig sein.
In der Analysis wird die Konvergenz und der Begriff der Kompaktheit meist
mit Folgen in Verbindung gesetzt. Wir benötigen hier allerdings die Topologie
der offenen Mengen auf Rd . Außerdem benötigen wir den Satz von Heine-Borel
über offene Überdeckungen. Deswegen ist in diesem Skript ein einführendes Kapitel über die Topologie des Rd enthalten. Es ist recht vollständig und man sollte
bekannte Teile dieses Kapitels aus Zeitgründen überspringen. Zum Beispiel werden die Anwendungen auf Normen und der Beweis des Hauptsatzes der Algebra
später nicht mehr benötigt und sind nur der Vollständigkeit halber vorhanden.
Kapitel 2 umfasst eine Einführung der Maß- und Integrationstheorie nach
Lebesgue, Borel und Carathéodory. Nach langen Diskussionen ist der Autor zur
Überzeugung gekommen, dass dies die nützlichste und letztendlich am leichtesten handhabbare Darstellung der Integralrechnung in mehreren Variablen ist.
Die Alternativen sind entweder zu stark eingeschränkt, oder die Darstellung ist
auch nicht einfacher.
Als Nachteil des Zugangs mit Hilfe der Maßtheorie erweist sich, dass die
Studierenden einen relativ sicheren Umgang und ein gutes Verständnis für Mengensysteme mitbringen müssen. Die entsprechenden Techniken und Kenntnisse
sollten in Anfängervorlesungen gelernt und eingeübt werden. Dennoch darf man
nicht erwarten, dass so früh im Studium die Details der doch recht technischen
Beweise der Maßtheorie verstanden werden. Im Allgemeinen ist es besser, einen
solchen Beweis zugunsten von Beispielen, Erklärungen und Illustrationen wegzulassen, als ihn einfach vorzulesen“.
”
Kapitel 3 behandelt die Grundlagen der Differentialgleichungen. Neben dem
Existenz- und Eindeutigkeitssatz werden nur grundlegende Lösungsmethoden,
sowie die Theorie der linearen Differentialgleichungen behandelt. Das Kapitel
enthält einen Exkurs über die Integrierbarkeit von Vektorfeldern mit Anwendungen auf exakte Differentialgleichungen.
3
4
Kapitel 4 enthält die Theorie der Oberflächenintegrale. Die Integralsätze werden in der Form des Gaußsche Integralsatzes für die Integration auf Kompakta
mit stückweise glattem Rand vorgestellt. Als Anwendung wird die Greensche
Formel gegeben und die Mittelwerteigenschaft für harmonische Funktionen bewiesen.
Lernziel dieser Vorlesung muss zunächst sein, ein Verständnis für die Definitionen und die Sätze zu schaffen, so dass die Inhalte in eigenen Worten wiedergegeben werden können. Leider sind in den heutigen Prüfungsordnungen die
mündlichen Prüfungen zugunsten von Klausuren weggefallen. Die schriftlichen
Prüfungen sollten deswegen entsprechende Aufgaben enthalten.
Der Dozent muss außerdem darauf achten, dass er nicht die Bäume erklärt
und das Erkennen des Waldes der Heimarbeit des Studenten überlässt. Sinnvoller ist es, die großen Zusammenhänge klar zu machen und Details zur Nacharbeit
zu überlassen. Die nötigen Techniken können in Einzelfällen demonstriert und
in Übungen vertieft werden.
Das zweite Ziel ist die Anwendung der Techniken auf Aufgaben und Probleme. Erst in dritter Linie steht das vollständige Verstehen und Nachvollziehen
aller Beweise. Dies wird in diesen doch recht schwierigen Bereichen der Analysis
nur bei manchen, leichter zugänglichen Beweisen zu erreichen sein.
Dieses Skript enthält eine große Anzahl von Aufgaben, die Beweise fordern.
Meist wird allerdings ein Hinweis gegeben oder die Aufgabe in geeignete Teilbereiche aufgebrochen. Viele dieser Aufgaben werden auch in der Vorlesung behandelt und gelöst. Sie sind eher als Ergänzung und Vertiefung anzusehen, als
als Übungsaufgaben. Bisweilen werden auch einfache, aber später wichtige Sachverhalte in Aufgaben gekleidet. Außerdem werden oft kleinere Beweisschritte als
Übungen gegeben.
Zu ergänzen sind die Aufgaben des Skripts durch Rechenaufgaben, bei denen
der Student die Techniken der Vorlesungen anwenden kann.
Eichstätt, 2006
R. Grothmann
Inhaltsverzeichnis
1 Topologie des Euklidschen Raums
9
1.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1.2
Metrische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
1.2.1
Metriken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10
1.2.2
Topologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
1.2.3
Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.2.4
Grenzwerte und uneigentliche Grenzwerte . . . . . . . . .
19
Kompakte Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1.3.1
Definition und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1.3.2
Folgenkompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
1.3.3
Cauchy-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1.3.4
Konvergenz von Funktionenfolgen . . . . . . . . . . . . .
31
Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
1.4.1
Operatornormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
1.4.2
Hauptsatz der Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
Suprema und Infima von Funktionenfolgen . . . . . . . . . . . . .
38
1.5.1
Indikatorfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
1.5.2
Limes Superior und Inferior . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
1.5.3
Halbstetige Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
1.6.1
Konvexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
1.6.2
Zusammenhängende Mengen . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Topologische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
5
6
INHALTSVERZEICHNIS
2 Das Lebesgue-Integral
51
2.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
2.2
Treppenfunktionen, Elementarinhalt . . . . . . . . . . . . . . . .
56
2.2.1
Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
2.2.2
Vereinigungen halboffener Quader . . . . . . . . . . . . .
61
Sigma-Algebren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
2.3.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
2.3.2
Die erzeugte Sigma-Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
2.3.3
Borel-Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
2.4.1
Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
2.4.2
Maßerweiterung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
Das Lebesgue-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2.5.1
Lebesgue-Maß
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2.5.2
Messbare Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
2.5.3
Funktionen mit Werten im Unendlichen . . . . . . . . . .
83
2.5.4
Nicht-negative, messbare Funktionen . . . . . . . . . . . .
84
2.5.5
Summierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
2.5.6
Eingeschränkte Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
2.5.7
Nullmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
2.5.8
Das Riemann-Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
2.5.9
Dichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
2.3
2.4
2.5
2.5.10 Parameterabhängige Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . 104
2.6
2.7
Mehrfache Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.6.1
Produktmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.6.2
Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
2.6.3
Das Zählmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Der Transformationssatz und das Bildmaß . . . . . . . . . . . . . 119
2.7.1
Das Bildmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
2.7.2
Der Transformationssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
INHALTSVERZEICHNIS
2.8
2.9
7
Die Lp-Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2.8.1
Die Supremumsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
2.8.2
Jensensche Ungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
2.8.3
Die Lp-Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Zusätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
2.9.1
Approximationssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
2.10 Faltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
3 Differentialgleichungen
141
3.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
3.2
Existenz und Eindeutigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
3.3
Andere Lösungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
3.4
Lineare Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
3.5
Variation der Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
3.6
Wronski-Determinante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3.7
Vektorfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
3.8
Exakte Differentialgleichungen
3.9
Ober- und Unterfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
4 Oberflächenintegrale
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
179
4.1
Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
4.2
Tangentialräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
4.3
Das Oberflächenmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
4.4
Lokale Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
4.5
Der Gaußsche Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
4.6
Harmonische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
4.7
Stückweise glatte Mannigfaltigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 204
8
INHALTSVERZEICHNIS
Kapitel 1
Topologie des Euklidschen
Raums
1.1
Einführung
Wir möchten in diesem Kapitel die Grundlagen der Topologie im Rd wiedergeben. Insbesondere werden wir stetige Abbildungen und Kompaktheit studieren.
Es ist dabei wie immer in der Mathematik nützlich, vom konkreten Beispiel,
hier dem Rd , zu abstrahieren und zu verallgemeinern. Dadurch steht das eigentlich Wichtige im Vordergrund und es lässt sich in anderen Zusammenhängen
wieder finden. Deswegen steht hier das Konzept des metrischen Raums im Mittelpunkt. Eine weitere Verallgemeinerung in topologische Räume erwähnen wir
nur am Rande, obwohl der Begriff der Umgebung in unserer Darstellung im Mittelpunkt steht. Soweit dies sinnvoll ist, lassen sich die hier gegebenen Beweise
leicht auf topologische Räume übertragen.
Ein wesentliches Ziel und wichtig für spätere Anwendungen ist es, den Umgang mit dem ungewohnten Raum [−∞, ∞] zu erlernen. Dieser Raum ist zwar
ein metrischer Raum, aber es ist einfacher, ihn mit Hilfe von Umgebungen zu
beschreiben. Schon aus diesem Grunde sollte man die Darstellung auf dem topologischen Begriff der Umgebung gründen.
Besonderes Augenmerk gilt auf der Definition der Stetigkeit und der Kompaktheit mit Hilfe von Umgebungen. Die -δ-Definition der Stetigkeit wird von
den Studenten nicht geliebt, ist aber in der Praxis eher anwendbar als die Definition über Folgen. Wir benötigen außerdem die Definition der Kompaktheit
mit Hilfe von offenen Überdeckungen für die Maßtheorie.
1.2
Metrische Räume
In diesem Abschnitt definieren wir metrische Räume und stetige Abbildungen
auf metrischen Räumen. In metrischen Räumen spielt der Abstand von je zwei
9
10
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Punkten die Hauptrolle. Konvergenz wird über den Begriff der Umgebung definiert, der wiederum mit Hilfe von offenen Kugeln erklärt ist und damit auf den
Abstand zurückgeführt wird.
1.2.1
Metriken
Zunächst fassen wir einige bekannte Definitionen und Tatsachen über den Euklidschen Raum Rd zusammen. Beweise findet man an anderer Stelle.
Wir haben schon in der linearen Algebra die Euklidsche Norm im Rd als
v
u d
uX
kxk = t
x2n ,
x ∈ Rd ,
n=1
definiert. Eine solche Funktion x 7→ kxk heißt bekanntlich Norm auf einem reellen (oder komplexen) Vektorraum V , wenn die folgenden Eigenschaften gelten.
kxk > 0
für alle x 6= 0,
kλxk = |λ|kxk
für alle x ∈ V , λ ∈ R,
kx + yk ≤ kxk + kyk
für alle x, y ∈ V .
Die Euklidsche Norm auf dem Rd gehört zum Skalarprodukt
< x, y >=
d
X
xn yn ,
x, y ∈ Rd .
n=1
Wir erinnern an eine Ungleichung, die man Schwarzsches Lemma nennt. Es
gilt
| < x, y > | ≤ kxk · kyk,
x, y ∈ Rd .
Aus einer Norm gewinnt man eine Metrik mittels
d(x, y) = kx − yk,
x, y ∈ Rd .
Die Eigenschaften einer Metrik sind
d(x, y) = 0 ⇔ x = y
d(x, y) = d(y, x)
d(x, y) + d(y, z) ≥ d(x, z)
für alle x, y, z ∈ Rd . Einen Raum X mit einer Metrik d nennen wir metrischen
Raum. Die Norm auf dem Rd erzeugt die Euklidsche Metrik. In einem metrischen Raum X mit Metrik d schreiben wir in diesem Skript
Br (x) = {y ∈ X : d(x, y) < r}
Im Rd sind diese Mengen die Kreise bzw. Kugeln um x mit Radius r (ohne
Rand). In R handelt es sich um die Intervalle (x − r, x + r).
1.1 Aufgabe: (1) Zeigen Sie in jedem metrischen Raum X
|d(x, y) − d(y, z)| ≤ d(x, z)
für alle x, y, z ∈ X
1.2. METRISCHE RÄUME
11
Benutzen Sie zunächst die Dreiecksungleichung, um die Gleichung ohne die Beträge
auf der linken Seite zu zeigen.
(2) Folgern Sie für jede Norm kxk auf dem Rd
|kyk − kxk| ≤ ky − xk.
für alle x, y ∈ Rd .
1.2 Aufgabe: (1) Zeigen Sie in einem metrischen Raum X
Br−d(x,y) (y) ⊆ Br (x).
für alle x, y ∈ X mit d(x, y) < r. Fertigen Sie eine Zeichnung dieses Sachverhalts in
R2 und in R an.
(2) Zeigen Sie in einem metrischen Raum X
Bd(x,y)−r (y) ⊆ X \ Br (x) = {y ∈ X : d(x, y) ≥ r}
für alle x, y ∈ X mit d(x, y) > r. Fertigen Sie auch eine Zeichnung dieses Sachverhalts
in R2 und in R an.
1.3 Aufgabe: Zeigen Sie, dass auf einer beliebigen Menge X die Funktion
(
0, x = y,
d(x, y) =
1, sonst,
für x, y ∈ X eine Metrik ist. Wie sehen die Kugeln Br (x) in dieser Metrik aus? Man
nennt diese Metrik die diskrete Metrik auf X.
1.4 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die Funktion
(
kx − yk,
x, y linear abhängig,
d(x, y) =
kxk + kyk, sonst.
eine Metrik im Rd ist. Man nennt sie scherzhaft Metrik des französischen Eisenbahn”
systems“, weil man in Frankreich so oft über Paris fahren muss.
1.2.2
Topologische Grundbegriffe
Grundlage aller Begriffe in diesem Abschnitt ist der Begriff der Umgebung eines
Punktes x in einem metrischen Raum. Die Umgebungen sind dabei Obermengen
von Kugeln um x mit positivem Radius.
1.5. Definition: Sei X ein metrischer Raum mit Metrik d.
(1) Dann heißt U ⊆ X Umgebung von x ∈ U , wenn es ein > 0 gibt mit
B (x) ⊆ U.
(2) Eine Menge U ⊆ X heißt offene Menge, wenn sie Umgebung aller ihrer
Punkte ist.
12
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Abbildung 1.1: U ist Umgebung von x
(3) Das offene Innere einer Menge M ⊆ X ist die Menge
M ◦ = interior M = {x ∈ M : M ist Umgebung von x}.
(4) Eine Menge M ⊆ X heißt abgeschlossene Menge, wenn ihr Komplement
X \ M offen ist.
(5) Der Abschluss einer Menge M ⊆ X ist die Menge
M = closure M = {x ∈ X : X \ M ist nicht Umgebung von x}
(6) Der Rand einer Menge M ⊆ X ist die Menge
∂M = boundary M = M \ M ◦ .
1.6 Aufgabe: Folgern Sie aus Aufgabe 1.2, dass die Mengen Br (x) ⊆ X offen sind,
ebenso wie die Menge
{y ∈ X : d(x, y) > r}
für x ∈ X, r > 0.
1.7. Bemerkung: Aufgrund dieser Aufgabe kann man sagen, dass M genau
dann Umgebung von x ist, wenn es eine offene Menge U gibt mit
x ∈ U ⊆ M.
Wir halten außerdem fest, dass ∅ und X selbst gleichzeitig offen abgeschlossen
sind.
1.8 Aufgabe: Zeigen Sie, dass es zu je zwei Punkten x, y ∈ X, x 6= y, eine Umgebung
Ux von x und eine Umgebung Uy von y gibt, die sich nicht schneiden.
1.9 Aufgabe: (1) Zeigen Sie, dass der Schnitt zweier offenen Mengen wieder offen ist.
Folgern Sie aus
X \ (M1 ∪ M2 ) = (X \ M1 ) ∩ (X \ M2 ),
dass die Vereinigung zweier abgeschlossener Mengen abgeschlossen ist.
1.2. METRISCHE RÄUME
13
(2) Zeigen Sie, dass die Vereinigung eines Systems von offenen Mengen offen ist. Folgern
Sie, dass der Schnitt eines Systems von abgeschlossenen Mengen abgeschlossen ist.
1.10 Satz:
Sei X ein metrischer Raum und M ⊆ X.
(1) x ∈ M ◦ gilt genau dann, wenn es eine Umgebung von x gibt, die keinen
Punkt aus X \ M enthält.
(1) x ∈ M gilt genau dann, wenn jede Umgebung von x einen Punkt von M
enthält.
(2) x ∈ ∂M gilt genau dann, wenn jede Umgebung von x einen Punkt aus M
und einen Punkt aus X \ M enthält.
Beweis: (1) Dies ist trivial.
(2) Sei x ∈ M , U Umgebung von x. Dann enthält U eine offene Menge Ũ mit
x ∈ Ũ ⊆ U . Da X \ M nicht Umgebung von x ist, enthält Ũ , also auch U , einen
Punkt aus M .
Wenn umgekehrt jede Umgebung von x einen Punkt aus M enthält, dann
kann X \ M nicht Umgebung von x sein. Also x ∈ M .
(3) Folgt sofort aus (1) und (2) und der Definition von ∂M .
2
1.11 Aufgabe: Sei I = [a, b) ⊂ R. Zeigen Sie, dass I weder offen, noch abgeschlossen
ist. Gegen Sie das offenen Innere, den Abschluss und den Rand von I an.
1.12 Satz:
Sei X ein metrischer Raum mit Metrik d.
(1) Für M ⊆ X gilt
[
M ◦ = {U : U ⊆ M , U offen},
\
M = {A : M ⊆ A, A abgeschlossen}.
(2) Für alle M ⊆ X gilt
M◦ ⊆ M ⊆ M.
(3) Für M ⊆ X gilt
M = X \ (X \ M )◦ ,
M◦ = X \ X \ M.
(4) Eine Menge M ⊆ X ist genau dann offen, wenn M = M ◦ gilt. Sie ist genau
dann abgeschlossen, wenn M = M gilt.
(5) Für M ⊆ X ist die Menge M ◦ offen und die Menge M abgeschlossen.
(6) Für M1 ⊆ M2 ⊆ X gilt
M1◦ ⊆ M2◦ ,
M1 ⊆ M2 .
14
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Beweis: (1) x ∈ M ◦ ist per Definition äquivalent dazu, dass es eine offene
Menge U gibt mit x ∈ U ⊆ M gibt. Also liegt x in der genannten Vereinigung.
Wenn umgekehrt x in dieser Vereinigung liegt, so gibt es ein offenes U ⊆ M mit
x ∈ U ⊆ M.
Es folgt x ∈ M ◦ .
Sei x ∈ M und A abgeschlossen mit M ⊆ A. Dann ist X \M nicht Umgebung
von x, also erst recht nicht die kleinere Menge X \ A, die aber offen ist. Es folgt
x ∈ A. Sei umgekehrt x ∈
/ M . Dann ist X \ M Umgebung von x. Also existiert
eine offene Menge U mit
x ∈ U ⊆ X \ M.
X \ U ist dann abgeschlossen und enthält M , aber nicht x. Also ist x auch nicht
im Schnitt aller abgeschlossenen Mengen, die M umfassen.
(2) Dies folgt unmittelbar aus (1).
(3) Sei x ∈ M . Dann ist das äquivalent dazu, dass X \ M keine Umgebung von
x ist, also dazu, dass x ∈
/ (X \ M )◦ ist. Setzt man für M die Menge X \ M , so
folgt
X \ M = X \ M◦
Daraus folgt die zweite Gleichung.
(4) Diese Behauptungen folgen ebenfalls aus (1), wenn man zusätzlich Aufgabe 1.9 verwendet.
(5) M ◦ ist wegen (1) offen. Außerdem ist
M = X \ (X \ M )◦ .
Also ist M Komplement einer offenen Menge, also abgeschlossen.
(6) Die erste Inklusion ist klar. Die zweite folgt zum Beispiel aus (3).
2
1.13 Aufgabe: Zeigen Sie für M ⊆ X, dass M ◦ und ∂M disjunkt sind und dass gilt
M = M ◦ ∪˙ ∂M,
M ◦ = M \ ∂M.
˙ zu schreiben.
Es ist üblich, für disjunkte Vereinigungen ∪“
”
1.14 Aufgabe: Zeigen Sie
M ◦ ⊆ (M )◦ .
Zeigen Sie, dass für M = R \ {0} hier =
6 “ gilt.
”
1.15 Aufgabe: (1) Folgern Sie aus Aufgabe 1.2 für x ∈ X und r ≥ 0
Br (x) ⊆ {y ∈ X : d(x, y) ≤ r}.
(2) Zeigen Sie, dass für r > 0 in jedem normierten Raum hier =“ gilt.
”
1.2. METRISCHE RÄUME
15
(3) Folgern Sie in jedem metrischen Raum
∂Br (x) ⊆ {y ∈ X : d(x, y) = r}.
(4) Zeigen Sie, dass für r > 0 in jedem normierten Raum hier =“ steht.
”
(5) Zeigen Sie mit Hilfe der Metrik aus Aufgabe 1.3, dass in (1) nicht =“ stehen
”
muss.
1.2.3
Stetige Funktionen
Abbildung 1.2: Stetigkeit in x
1.16. Definition: Sie X ein metrischer Raum, sowie f : X → Y eine Abbildung in einen metrischen Raum Y . Dann heißt f stetig in einem Punkt
x ∈ X, wenn es zu jeder Umgebung V von f (y) eine Umgebung U von x gibt
mit
f (U ) ⊆ V.
f heißt stetig (auf X), wenn es in allen Punkten von X stetig ist.
Der folgende Satz sagt aus, dass diese Formulierung für Stetigkeit in metrischen Räumen äquivalent zur -δ-Stetigkeit ist.
1.17 Satz: Seien X, Y metrische Räume. Eine Abbildung f : X → Y ist
genau dann stetig in x ∈ X, wenn es zu jedem > 0 ein δ > 0 gibt mit
d(x, y) < δ ⇒ d(f (x), f (y)) < .
1.18 Aufgabe: Beweisen Sie diesen Satz.
1.19. Bemerkung: Man kann die Metrik von X einfach auf A ⊆ X einschränken und erhält wieder einen metrischen Raum. Man sagt, dass dieser
Raum die Relativtopologie von X auf A trägt.
1.20. Bemerkung: Es ist oft der Fall, dass Funktionen nur auf solchen Teilmengen A ⊆ X definiert sind. Die Stetigkeit einer Funktion f : A → Y kann
16
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Abbildung 1.3: Umgebung Ũ von x in A
man mit Hilfe der Relativtopologie definieren. Es gilt natürlich, dass f : X → Y
genau dann stetig in x ∈ A ist, wenn die eingeschränkte Abbildung f |A : A → Y
stetig in x ist.
1.21 Aufgabe: (a) Zeigen Sie, dass U ⊆ A dann genau dann offen in der Relativtopologie von A ist, wenn es eine in X offenen Menge Ũ ⊆ X gibt mit
U = Ũ ∩ A.
Folglich ist U ⊆ A genau dann Umgebung von x ∈ A, wenn es eine Umgebung Ũ von
x in X gibt mit der obigen Eigenschaft. Die Situation ist in Abbildung 1.3 dargestellt.
(b) Zeigen Sie auch, dass M ⊆ A genau dann abgeschlossen in A ist, wenn es eine
abgeschlossene Menge M̃ ⊆ X gibt, so dass
M = M̃ ∩ A.
gilt.
1.22 Satz: Seien X, Y, Z metrische Räume und
f : X → Y,
g:Y →Z
Abbildungen, so dass f in x ∈ X und g in f (x) stetig ist. Dann ist g ◦ f stetig.
1.23 Aufgabe: Beweisen Sie diesen Satz.
Mit diesem und dem folgenden Satz gewinnt man eine große Menge von
stetigen Funktionen auf dem Rd . Wir verwenden die Komponenten einer Abbildung f : X → Rd . Also
f (x) = (f1 (x), . . . , fd (x)).
fn kann als n-te Projektion von f (x) auf R definiert werden, n = 1, . . . , d.
1.24 Satz: (1) Auf dem Rd ist die Projektion πn (x) = xn für alle n = 1, . . . , d
stetig.
1.2. METRISCHE RÄUME
17
(2) Sei X ein metrischer Raum. Eine Funktion f : X → Rd ist genau dann
stetig, wenn alle Komponenten
πn ◦ f,
n = 1, . . . , d
stetig sind.
(3) Summen, Differenzen, Produkte, Maxima und Minima von stetigen Funktionen von einem topologischen Raum X nach R sind stetig. Der Quotient f /g
ist stetig in allen Punkten, in denen g 6= 0 ist.
Beweis: (1) Es gilt für x = (x1 , . . . , xd ) ∈ Rd
πn (B (x)) = B (xi ) = (xn − , xn + ).
(Übung!).
(2) Seien alle Komponenten von f stetig und > 0. Dann existierten Umgebungen Un > 0 für n = 1, . . . , d mit
für alle t ∈ Un .
d(πn (f (x)), πn (f (t))) < Sei U = U1 ∩ . . . ∩ Ud . U ist eine Umgebung von x nach Aufgabe 1.9. Es gilt für
t∈U
v
u d
uX
2
|πn (f (x)) − πn (f (t))| ≤ .
d(f (x), f (t)) = kf (x) − f (t)k = t
n=1
Also ist f stetig. Die Umkehrung folgt aus (1) und dem Satz 1.22.
(3) Seien f, g : X → R stetig. Dann ist aufgrund von (2) die Abbildung
x ∈ X 7→ (f (x), g(x)) ∈ R2
stetig, denn ihre Komponenten sind f und g. Nun können wir zum Beispiel die
stetige Abbildung
(x1 , x2 ) 7→ x1 + x2
dahinter schalten und erhalten aus Satz 1.22, dass f + g stetig ist.
2
1.25. Beispiel: Mit diesen Sätzen lassen sich sehr viele Funktionen als stetig
erkennen. Beispiele sind die Normen
v
u d
uX
d
x ∈ R 7→ kxk = t
|xi |2 ∈ R,
i=1
x ∈ Rd 7→ kxk∞ = max |xi | ∈ R.
i=1,...,d
Der folgende Satz ist einer der Gründe, warum wir die Topologie des Rd in
diesem Kapitel genauer studieren, bevor wir Maßtheorie betrieben.
1.26 Satz: Seien X, Y metrische Räume und f : X → Y eine Abbildung.
Dann ist f genau dann stetig auf X, wenn das Urbild f −1 (U ) aller offenen
Mengen U ⊆ Y wieder offen in X ist.
18
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Beweis: Sei f stetig, V ⊆ Y offen, sowie x ∈ f −1 (V ) beliebig. Dann gilt
f (x) ∈ V und es existiert eine Umgebung U von x mit
f (U ) ⊆ V.
Also ist
U ⊆ f −1 (V ).
und es folgt, dass f −1 (V ) Umgebung von x ist. Wir haben damit gezeigt, dass
f −1 (U ) offen ist.
Sei umgekehrt das Urbild von offenen Mengen offen, sowie x ∈ X beliebig
und V eine Umgebung von f (x). Dann können wir ein offenes Ṽ finden mit
f (x) ∈ Ṽ ⊆ V.
U = f −1 (Ṽ ) ist offen und daher Umgebung von x. Außerdem gilt f (U ) = Ṽ ⊆
V . Also ist f stetig in x.
2
1.27 Aufgabe: Folgern Sie mit Hilfe von
X \ f −1 (M ) = f −1 (Y \ M ),
dass f genau dann stetig ist, wenn das Urbild von abgeschlossenen Mengen abgeschlossen ist.
1.28. Beispiel: Man kann aufgrund dieses Satzes und der Folgerung der Aufgabe viele Mengen als offen und abgeschlossen erkennen. Beispiele sind die
Niveau-Mengen
Nc = {x : f (x) ≥ c}
von stetigen Funktionen f : X → R. Denn
Nc = f −1 [c, ∞)
ist als Urbild einer abgeschlossenen Menge abgeschlossen. Wir schreiben diese
Menge kurz als
Nc = {f ≥ c}.
1.29 Aufgabe: Sei A ∈ Rm×d eine Matrix, b ∈ Rm und
M = {x ∈ Rd : Ax ≤ b}
Das ≤“ ist dabei komponentenweise gemeint. Zeigen Sie, dass M abgeschlossen ist.
”
Diese Mengen tauchen in der linearen Optimierung auf.
1.30 Aufgabe: Sei X ein metrischer Raum und x ∈ X. Zeigen Sie mit Hilfe Aufgabe 1.1, dass die Abbildung
y 7→ d(x, y)
stetig ist. Folgern Sie, dass die Mengen
Kr (x) = {y : d(x, y) ≤ r}
abgeschlossen sind.
1.31 Aufgabe: Sei X ein metrischer Raum, A ⊂ X nicht leer. Dann definiert man
d(x, A) = inf{d(x, y) : y ∈ A}
als den Abstand von x zu A. Zeigen Sie, dass d(x, A) stetig von x abhängt, indem Sie
|d(x, A) − d(y, A)| ≤ d(x, y)
nachweisen.
1.2. METRISCHE RÄUME
1.2.4
19
Grenzwerte und uneigentliche Grenzwerte
1.32. Definition: Für metrische Räume und Funktionen f : X \ {x0 } → Y
für x0 ∈ X, und y0 ∈ Y definieren wir
y0 = lim f (x),
x→x0
indem wir fordern, dass für jede Umgebung V von y0 eine Umgebung U von x
existiert mit
f (U \ {x0 }) ⊆ V.
Man sagt auch f (x) → y0 mit x → x0 und nennt y0 den Grenzwert von f bei
Annäherung an x0 .
1.33. Bemerkung: f braucht also in x0 gar nicht definiert zu sein. Wenn es
dort definiert ist, können wir aber sagen, dass f genau dann in x0 stetig ist,
wenn
f (x) = lim f (t)
t→x
ist. Anders gesagt, gilt f (x) → y0 genau dann mit x → x0 , wenn die Funktion
(
y0 ,
x = x0 ,
f˜(x) =
f (x), x 6= x0
stetig in x0 ist. f˜ heißt dann die stetige Ergänzung von f . Aufgrund dieser
Tatsache können wir Satz 1.24 unmittelbar anwenden. Es gilt also
( lim f1 (x), . . . , lim fd (x)) = lim (f1 (x), . . . , fd (x)).
x→x0
x→x0
x→x0
Genau dann, wenn die Grenzwerte auf der linken Seite für alle fn : X → R,
n = 1, . . . , d, existieren, so existiert auch der Grenzwert auf der rechten Seite. Insbesondere lässt sich lim aus Summen, Differenzen, Produkten, Maxima
und Minima herausziehen und auch aus Quotienten, wenn der Grenzwert des
Nenners nicht 0 ist.
1.34. Beispiel: Es gilt
sin x
=1
x
nach der Regel von de l’Hospital. Wir können also die Funktion f (x) = sin(x)/x
durch f (0) = 1 stetig ergänzen.
lim
x→0
1.35 Aufgabe: Weil unsere Räume metrisch sind, können wir die Konvergenz sogar
auf den Fall Y = R zurückführen. Zeigen Sie
y0 = lim f (x) ⇔
x→x0
lim d(f (x), f (x0 )) = 0.
x→x0
Wir kommen nun zu dem zweiten wichtigen Punkt, den wir in der Maßtheorie
benötigen. Wir erweitern R um die Punkte ±∞.
1.36. Definition: Für f : X → R, X ein metrischer Raum, definieren wir
lim f (x) = ∞,
x→x0
20
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
wenn es zu jedem c > 0 eine Umgebung U von x0 gibt mit
f (U ) ⊆ (c, ∞)
Analog definieren wir
lim f (x) = −∞.
x→x0
In diesem Fall heißen ±∞ uneigentliche Grenzwerte von f .
1.37. Bemerkung: Diese Definitionen laufen darauf hinaus, dass die Mengen
(c, ∞) bzw. (−∞, c) als Umgebungen von ∞ bzw. −∞ betrachtet werden. Tut
man das, so ist die Definition äquivalent zur Definition des Grenzwertes einer
Abbildung
f : X → [−∞, ∞],
wobei [−∞, ∞] für die um ±∞ erweiterte Zahlachse steht. Die Obermengen
der Intervalle
(c, ∞], [−∞, c)
sind also in [−∞, ∞] Umgebungen von ∞ bzw. −∞. Es ist möglich, [−∞, ∞]
zu einem metrischen Raum zu machen, indem man die Metrik
d(x, y) = d(arctan(x), arctan(y))
verwendet. Diese Metrik erzeugt auf R genau dieselben Umgebungen wie vorher.
Die Umgebungen von ±∞ sind jedoch genau die Mengen, die Intervalle (c, ∞]
bzw. [−∞, c) enthalten. Für den Umgang mit [−∞, ∞] genügt es jedoch, die
Umgebungen von ±∞ zu kennen.
1.38. Bemerkung: Beim Rechnen mit uneigentlichen Grenzwerten muss man
Vorsicht walten lassen. So kann man
c + ∞ = ∞,
c + (−∞) = −∞
für alle c ∈ R setzen, aber nicht für c = ±∞. Im Gegenteil dazu ist
0 · ∞,
∞/∞
etc. beim Berechnen von Grenzwerten nicht brauchbar.
1.39. Beispiel: Es gilt
x2 − 1
= lim (x + 1) = 2.
x→1
x→1 x − 1
lim
Man darf den Grenzwert aber nicht in den Bruch hinein ziehen, weil dort Zähler
und Nenner gegen ∞ gehen.
1.40. Bemerkung: Mit Hilfe unserer neuen Umgebungen in [−∞, ∞] können
wir auch den uneigentlichen Grenzwert
y0 = lim f (x)
x→∞
definieren. Dazu muss jede Umgebung von y0 das Bild einer Umgebung [c, ∞]
von x enthalten. Für y0 = ∞ bedeutet dies, das für alle d > 0 ein c > 0 existieren
muss mit
x > c ⇒ f (x) > c.
1.3. KOMPAKTE MENGEN
21
Also
f (d, ∞) ⊆ (c, ∞).
1.41. Bemerkung: Ein weiterer, nützlicher uneigentlicher Grenzwert ist
y0 =
lim f (x)
kxk→∞
für Funktionen f : Rd → Y , Y ein metrischer Raum. Damit ist gemeint, dass
für jede Umgebung V von y0 ein d > 0 existiert mit
kxk > d ⇒ f (x) ∈ U.
Falls y0 = ∞ ist, so heißt das entsprechend, dass zu jedem c > 0 ein d > 0
existiert mit
kxk > d ⇒ f (x) > c.
1.42 Aufgabe: Sei f (x1 , x2 ) = x21 + x22 , f : R2 → R. Zeigen Sie
lim f (x) = ∞.
kxk→∞
1.3
1.3.1
Kompakte Mengen
Definition und Eigenschaften
Wir definieren hier kompakte Mengen nicht über Folgen, obwohl dies in metrischen Räumen möglich wäre. Stattdessen verwenden wir Überdeckungen einer
Menge. Eine Überdeckung einer Menge M ist ein beliebiges Mengensystem U
mit
[
M⊆
U.
1.43. Definition: Sei X ein metrischer Raum. X heißt kompakt, wenn es zu
jeder Überdeckung mit offenen Mengen eine endliche Teilüberdeckung gibt. Das
heißt es existieren zu jeder Überdeckung U von X aus offenen Mengen endlich
viele Mengen
U1 , . . . , Un ∈ U,
so dass
X ⊆ U1 ∪ . . . ∪ Un
ist.
1.44. Bemerkung: Für Teilmengen A ⊆ X definieren wir die Kompaktheit
mit Hilfe der offenen Mengen in der Relativtopologie aus Bemerkung 1.19. Es
22
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
folgt, dass A ⊆ X genau dann kompakt ist, wenn jede Überdeckung von A aus
in X offenen Menge eine endliche Teilüberdeckung hat.
1.45. Beispiel: Die Intervalle (−r, r) ⊆ R, r > 0 bilden eine Überdeckung von
R. Es gibt aber keine endliche Teilüberdeckung. R ist also nicht kompakt.
1.46. Beispiel: Die offenen Intervalle (x − 1/n, x + 1/n) mit x ∈ R und
n ∈ N bilden eine Überdeckung von [0, 1]. Es gibt in diesem Fall die endliche
Teilüberdeckung
(−1/n, 1/n),
(0, 2/n),
...,
(1 − 1/n, 1 + 1/n).
Die beweist allerdings noch nicht, dass [0, 1] kompakt ist. Es muss für jede
Überdeckung aus offenen Mengen eine endliche Teilüberdeckung geben.
1.47 Aufgabe: Geben Sie für (0, 1) eine offene Überdeckung an, die keine endliche
Teilüberdeckung hat.
1.48 Satz: Sei X ein metrischer Raum und A ⊆ X kompakt. Dann ist A
abgeschlossen und beschränkt. Dabei bedeutet die Beschränktheit von A in dem
metrischen Raum X, dass es ein x ∈ X und ein r > 0 gibt, so dass
A ⊆ Br (x)
ist.
Beweis: Sei x ∈
/ A. Wir müssen zeigen, dass X \ A Umgebung von x ist. Die
Mengen
Mn = {y : d(x, y) > 1/n},
n∈N
bilden dann eine Überdeckung von X \{x}, also auch von A, aus offenen Mengen.
Es gilt
M1 ⊆ M2 ⊆ . . .
Wenn es eine endliche Teilüberdeckung gibt, so bedeutet das A ⊆ Mn für ein
n ∈ N. Es folgt
B1/n (x) ⊆ X \ A.
Damit ist gezeigt, dass A abgeschlossen ist.
Wir zeigen nun die Beschränktheit. Sei x ∈ X beliebig gewählt. Die Mengen
{Bn (x) : n ∈ N}
bilden eine Überdeckung von X, also auch von A, aus offenen Mengen. Wenn
es eine endliche Teilüberdeckung gibt, so bedeutet dies, dass A ⊂ Bn (x) für ein
n ∈ N sein muss.
2
1.49 Aufgabe: Verwenden Sie Aufgabe 1.2 um zu zeigen, dass A ⊆ X genau dann
beschränkt ist, wenn es für jedes x ∈ X ein r > 0 gibt mit A ⊆ Br (x).
Es ist nur für endliche Mengen offensichtlich, dass sie kompakt sind. Um
an andere kompakte Mengen heran zu kommen, verwenden wir die folgenden
Sätze.
1.50 Satz: Sei X ein metrischer Raum, A ⊆ X kompakt und B ⊆ A. Dann
ist B genau dann kompakt, wenn B abgeschlossen ist.
1.3. KOMPAKTE MENGEN
23
Beweis: Wenn B kompakt ist, ist es abgeschlossen in X aufgrund des obigen
Satzes. Sei umgekehrt B abgeschlossen und U eine Überdeckung aus offenen
Mengen von B. Dann fügen wir die offene Menge X \ B zu U hinzu und erhalten
eine Überdeckung von A. Es gibt eine endliche Teilüberdeckung. Entfernt man
2
davon X \ B wieder, so hat man eine endliche Teilüberdeckung von B.
Wir beweisen nun den Satz von Heine-Borel, der kompakte Teilmengen
des Rd charakterisiert.
1.51 Satz: Eine Menge K ⊆ Rd ist genau dann kompakt, wenn sie abgeschlossen und beschränkt ist.
Beweis: Wir haben nur noch ein Richtung zu beweisen. Sei K also abgeschlossen und beschränkt. Dann gibt es ein r > 0 mit
K ⊆ Br (0).
Es folgt
K ⊆ R = [−r, r] × . . . × [−r, r] = {x ∈ Rd : xn ∈ [−r, r] für alle n}.
Da K abgeschlossen ist, genügt es zu zeigen, dass R kompakt ist. Sei U eine
Überdeckung aus offenen Mengen.
Angenommen es gibt keine endliche Teilüberdeckung. Wir können R in 2d
Produkte aus Rechtecken der Seitenlänge r aufteilen. Wir wählen das Rechteck
mit dem kleinsten Index, dass keine endliche Teilüberdeckung hat und nennen es
R1 . R1 wird nun wieder in 2d Produkte von Rechtecke der Seitenlänge r/2 aufgeteilt, und wir gewinnen ein Rechteck R2 , das keine endliche Teilüberdeckung
hat. Induktiv fortfahrend erhalten wir ineinander geschachtelte Mengen
R ⊃ R1 ⊃ R2 ⊃ . . .
die alle keine endliche Teilüberdeckung haben. Betrachtet man die k-ten Projektionen von Rn , so sind dies Intervalle
Ik,1 ⊃ Ik,2 ⊃ . . .
deren Längen gegen 0 konvergieren. Die Endpunkte der Intervalle Ik,n bilden
monoton wachsende und fallende Folgen, die einen Grenzwert xn haben.
Es folgt für x = (x1 , . . . , xn )
x∈
∞
\
Rn ,
n=1
Wegen x ∈ R gibt es ein U ∈ U mit x ∈ U . Es folgt
B (x) ∈ U ∈ U
√
für ein > 0. Sei n ∈ N so groß, dass die Seitenlänge von Rn kleiner als / d
ist. Dann folgt für y ∈ Rn
v
u d
uX
kx − yk = t
|xi − yi |2 ≤ .
i=1
24
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Abbildung 1.4: K ⊆ R mit Aufteilung in 4 Rechtecke
Also Rn ⊂ U . Dies ist ein Widerspruch dazu, dass Rn keine endliche Teilüber2
deckung besitzt.
1.52. Bemerkung: Der Satz ist in allgemeinen metrischen Räumen falsch. Als
einfachstes Beispiel sei Ω eine abzählbare Menge und d die Metrik aus Aufgabe 1.3. Dann ist Ω selbst abgeschlossen und beschränkt. Es gilt
{x} = D1/2 (x)
für alle x ∈ Ω.
Diese offenen Mengen überdecken also Ω, aber es gibt keine endliche Teilüberdeckung. Der Satz ist auch in unendlich-dimensionalen normierten Vektorräumen falsch.
Wie haben bereits festgestellt, dass das stetige Urbild von offenen Mengen
offen und von abgeschlossenen Mengen abgeschlossen ist. Über das stetige Bild
kann man im allgemeinen nichts aussagen.
1.53 Aufgabe: Zeigen Sie, dass das stetige Bild einer offenen Mengen nicht offen zu
sein braucht, und das stetige Bild einer abgeschlossenen Menge nicht abgeschlossen.
Es gilt aber der folgende Satz, der sehr nützliche Konsequenzen hat.
1.54 Satz: Das stetige Bild einer kompakten Menge ist kompakt.
Beweis: Sei f : K → Y stetig auf K ⊆ X, X, Y metrische Räume und K
kompakt. Wenn dann U eine Überdeckung aus offenen Mengen von f (A) ist, so
ist
S = {f −1 (U ) : U ∈ U }
eine Überdeckung von A aus offenen Mengen. Sei S̃ eine endliche Teilüberdeckung. Dann ist
Ũ = {U ∈ U : f −1 (U ) ∈ S̃}
eine endliche Überdeckung von f (A).
2
Die folgende Konsequenz aus diesem Satz ist die wichtigste Anwendung von
1.3. KOMPAKTE MENGEN
25
kompakten Mengen. Er besagt die Existenz eines Maximums für stetige Funktionen auf kompakten Mengen im Rd .
1.55 Satz: Jede stetige Funktion f : X → Y nimmt auf einer kompakten
Menge A ⊆ X ein Maximum und ein Minimum an.
Beweis: f (A) ist kompakt in R. Da f (A) beschränkt ist, ist
s = sup f (A) < ∞.
Jede Umgebung von s muss Punkte von A enthalten. Da f (A) abgeschlossen
ist, folgt also s ∈ f (A). s ist also in der Tat das Maximum von f (A). Analog
für das Minimum.
2
1.56. Beispiel: Für eine stetige Funktion f : Rd → R gelte
lim kf (x)k = ∞.
kxk→∞
Dies bedeutet, dass es für alle c > 0 ein rc > 0 gibt, mit
kxk > r ⇒ kf (x)k > c.
Wählt man dann c = kf (0)k, so folgt
kf (x)k > kf (0)k
für alle kxk > rc . Auf Drc (0) nimmt die stetige Funktion kf k ihr Minimum an
und es folgt
min kf (x)k = min kf (x)k.
kxk≤rc
x∈Rd
Solche Funktionen nehmen also Ihr Minimum in Rd an.
1.57 Aufgabe: Zeigen Sie, dass jedes reelle Polynom mit geradem Grad ein Minimum
in R annimmt.
1.58 Aufgabe: (1) Zeigen Sie, dass es für jede abgeschlossene Menge M ⊆ Rd und
jedes x ∈ Rd ein y0 ∈ M gibt mit
d(x, y0 ) = min d(x, y)
y∈Y
Zeigen Sie dazu, dass man sich bei der Suche nach dem Minimum auf eine beschränkte
Teilmenge von M beschränken kann. Wir schreiben für dieses Minimum d(x, M ), also
der Abstand von x zur Mengen M .
(2) Folgern Sie, dass es zu zwei abgeschlossenen Mengen M1 , M2 ⊆ Rd zwei Punkte
x1 ∈ M1 und x2 ∈ M2 gibt mit
d(x1 , x2 ) = min{d(y1 , y2 ) : y1 ∈ M1 , y2 ∈ M2 }.
Für dieses Minimum schreibt man d(M1 , M2 ). Zum Beweis weisen Sie nach, dass
d(M1 , M2 ) = d(0, M2 − M1 )
gilt.
1.59. Bemerkung: Die Umkehrabbildung einer stetigen Abbildung ist nicht
unbedingt stetig. Als wichtiges Beispiel betrachten wir die Funktion
φ(t) = (cos(t), sin(t)),
26
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
die das Intervall [0, 2π) bijektiv und stetig auf den Einheitskreis
K = {x ∈ R2 : x2 + y 2 = 1}
Die Umkehrung ist im Punkt (1, 0) nicht stetig. Es gilt aber der folgende Satz.
1.60 Satz: Seien X, Y metrische Räume und X kompakt. Wenn f : X → Y
bijektiv und stetig ist, so ist auch die Umkehrabbildung f −1 stetig.
Beweis: Sei U ⊆ X offen. Dann ist X \ U abgeschlossen, also kompakt nach
Satz 1.50. Nach Satz 1.54 ist f (X \ U ) kompakt, also abgeschlossen in Y . Weil
f bijektiv ist, gilt
f (U ) = Y \ f (X \ U ).
Also ist f (U ) offen in Y . f (U ) ist aber das Urbild von U unter der Abbildung
2
f −1 , weil f bijektiv ist. Nach Satz 1.26 ist f −1 stetig.
1.61. Beispiel: Eine injektive stetige Abbildung f : [a, b] → R hat eine stetige
Umkehrabbildung f −1 : f ([a, b]) → [a, b]. Genauer gilt in diesem Fall, dass f
streng monoton ist, genau wie die Umkehrabbildung.
1.62. Definition: Seien X, Y metrische Räume und f : X → Y . f heißt
gleichmäßig stetig auf X, wenn es zu jedem > 0 ein δ > 0 gibt, so dass gilt
d(t1 , t2 ) < δ ⇒ d(f (t1 ), f (t2 )) < für alle t1 , t2 ∈ X.
1.63. Bemerkung: Dies unterscheidet sich von der Stetigkeit in t1 dadurch,
dass zu > 0 dasselbe δ für alle Punkt t1 ∈ X gefunden werden kann. Natürlich
sind gleichmäßig stetige Funktionen stetig. Meist werden wir gleichmäßige Stetigkeit auf Teilmengen A ⊆ X verwenden.
Beachten Sie außerdem, dass dieser Begriff nur auf metrischen Räumen Sinn
macht. Mit Umgebungen lässt er sich nicht formulieren.
1.64 Satz: Sei f : X → Y stetig und K ⊆ X kompakt. Dann ist f auf K
gleichmäßig stetig.
Beweis: Sei > 0. Da f stetig ist, existiert für alle x ∈ K ein δx > 0 mit
f (Bδx (x)) ⊆ B/2 (f (x)).
Also ist
U = {Bδ (x) : δ > 0, x ∈ K, f (B2δ ) ⊆ B/2 (f (x))}
eine Überdeckung von K aus offenen Mengen. Diese Überdeckung hat eine endliche Teilüberdeckung. Sei δ der minimale Radius aller Kugeln aus dieser Teilüberdeckung. Seien t1 , t2 ∈ K mit d(t1 , t2 ) < δ. Dann existiert also ein x ∈ K mit
t1 ∈ Bδ (x) ∈ U.
Es folgt t2 ∈ B2δ (x). Also
d(f (t1 ), f (t2 )) ≤ d(f (x), f (t1 )) + d(f (x), f (t2 )) < .
Damit ist gezeigt, dass f gleichmäßig stetig auf K ist.
2
1.3. KOMPAKTE MENGEN
1.3.2
27
Folgenkompaktheit
1.65. Bemerkung: Man kann metrische Räume auch mit Folgen behandeln,
muss dann aber das abzählbare Auswahlaxiom anwenden, um die praktisch
wichtige -δ-Definition zu erhalten. Das Axiom besagt, dass zu einer Folge
A1 , A2 , . . . von Mengen in einer Menge X eine Folge xn , n ∈ N, existiert mit
xn ∈ An
für alle n ∈ N.
Dieses Axiom wird allgemein akzeptiert und genutzt. Wir werden das Axiom
ohnehin in der Maßtheorie anwenden. Man beachte, dass man für endliche viele
Mengen das Axiom nicht benötigt, da man in diesem Fall die Existenz des Tupels
x1 , . . . , xn per Induktion nach n beweisen kann.
1.66. Definition: Für eine Folge xn , n ∈ N, in einem metrischen Raum definiert man
x = lim xn ⇔ lim d(x, xn ) = 0.
n→∞
n→∞
x heißt dann der Grenzwert der Folge. Wir schreiben auch xn → x. Ein
Häufungspunkt a einer Folge ist dadurch charakterisiert, dass eine Teilfolge
k1 < k2 < . . . in N existiert mit
a = lim xkn .
n→∞
1.67. Bemerkung: Man kann die Konvergenz xn → x auch dadurch beschreiben, dass in jeder Umgebung von x alle, bis auf endlich viele Folgenglieder
liegen.
1.68 Aufgabe: Zeigen Sie, dass a genau dann Häufungspunkt einer Folge xn , n ∈ N
ist, wenn in jeder Umgebung von a unendlich viele Folgenglieder liegen. Das heißt, zu
jedem > 0 und n ∈ N existiert ein m > n mit d(x, xm ) < . Dazu benötigt man
übrigens das abzählbare Auswahlaxiom nicht.
1.69. Definition: Seien X, Y metrische Räume und f : X → Y eine Abbildung. Dann heißt f folgenstetig in x, wenn für alle Folgen xn , n ∈ N, in X
gilt
lim xn = x ⇒ lim f (xn ) = f (x).
n→∞
1.70 Satz:
n→∞
Wenn f : X → Y stetig in x ist, ist es folgenstetig in x.
Beweis: Sei > 0 und xn → x. Dann existiert ein δ > 0 mit
d(x, y) < δ ⇒ d(f (x), f (y)) < .
Es existiert weiter ein ein N ∈ N mit
d(x, xn ) < δ
für alle n ≥ N .
Also
d(f (xn ), f (x)) < Es folgt die Behauptung.
für alle n ≥ N .
2
28
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
1.71. Bemerkung: Um umgekehrt zu beweisen, dass folgenstetige Funktionen
stetig sind, benötigt man das abzählbare Auswahlaxiom. Es sei wieder > 0.
Angenommen es existiert kein δ > 0 mit
d(x, y) < δ ⇒ d(f (x), f (y)) < .
Dann wählen wir für alle n ∈ N eine Element xn ∈ X mit
d(xn , x) <
1
,
n
d(f (xn ), f (x)) ≥ .
Es folgt xn → x, aber f (xn ) 6→ f (x). Das ist ein Widerspruch zur Folgenstetigkeit.
1.72 Satz: Sei X ein kompakter metrischer Raum. Dann hat jede Folge in X
einen Häufungspunkt.
Beweis: Angenommen es gibt keinen Häufungspunkt. Dann gibt es zu jedem
Punkt x ∈ X eine offene Umgebung, die nur endlich viele Häufungspunkte
enthält. Das System aller offenen Mengen, die nur endlich viele Folgenglieder
enthalten, ist also eine Überdeckung von X. Diese Überdeckung kann aber keine
endliche Teilüberdeckung haben, da es unendlich viele Folgenglieder gibt. Es
2
folgt ein Widerspruch zur Annahme.
Man nennt Mengen, in denen jede Folge einen Häufungspunkt hat folgenkompakt.
1.73. Bemerkung: Mit dem abzählbaren Auswahlaxiom gilt auch die Umkehrung des obigen Satzes. Der Beweis ist allerdings etwas trickreich. Dazu sei
U eine offene Überdeckung von X und X folgenkompakt.
Wir zeigen zuerst, dass es ein > 0 gibt, so dass für alle x ∈ X ein U ∈ U
existiert mit B (x) ⊆ U . Angenommen, dies ist nicht der Fall. Dann existiert
eine Folge xn , n ∈ N, in K so dass B1/n (xn ) in keinem U ∈ U enthalten ist.
Dies ist aber nicht möglich, weil die Folge einen Häufungspunkt a ∈ X hat, der
in einem U enthalten ist, und folglich
B1/n (xn ) ⊆ Br (a) ⊆ U
für ein r > 0 und n ∈ N gelten muss.
Angenommen, es gibt keine endliche Teilüberdeckung. Sei unser > 0 entsprechend gewählt. Dann wählen wir ein x1 ∈ X und B (x1 ) ⊆ U1 ∈ U. Da U1
die Menge X nicht überdeckt, wählen wir ein x2 in X \ U1 und dazu U2 ∈ U
mit B (x2 ) ⊆ U2 . Induktiv entsteht eine Folge mit
d(xk , xl ) > für alle k 6= l. Diese Folge kann keinen Häufungspunkt haben, was ein Widerspruch ist.
1.74 Aufgabe: Sei l∞ der Raum der beschränkten Folgen in R und
k(xn )n∈N k∞ = sup |xn |
n∈N
1.3. KOMPAKTE MENGEN
29
Zeigen Sie, dass dies eine Norm auf l∞ ist. Sei
D = B1 (0).
Zeigen Sie, dass die Folge der Folgen
x1 = (1/2, 0, 0, 0, . . .),
x2 = (0, 1/2, 0, 0, . . .),
...
keinen Häufungspunkt in l∞ hat. D ist also nicht kompakt.
1.75. Bemerkung: Der Raum [−∞, ∞] ist ebenfalls folgenkompakt. Denn
entweder ist eine Folge in R beschränkt und hat deswegen einen Häufungspunkt
oder nicht. In diesem Fall hat sie ∞ oder −∞ als Häufungspunkt. Dieser Raum
ist übrigens auch als metrischer Raum mit der Metrik aus Bemerkung 1.37
kompakt, so dass die Folgenkompaktheit aus dem obigen Satz folgt.
1.3.3
Cauchy-Folgen
Wir können den Begriff der Cauchy-Folge auch unmittelbar auf allgemeine metrische Räume übertragen.
1.76. Definition: Eine Folge xn , n ∈ N, in einem metrischen Raum X heißt
Cauchy-Folge, wenn es zu jedem > 0 ein N ∈ N gibt mit
d(xn , xm ) < für alle n, m ≥ N .
Ein metrischer Raum heißt vollständig, wenn jede Cauchy-Folge konvergiert.
1.77 Aufgabe: Zeigen Sie, dass jede Cauchy-Folge, die einen Häufungspunkt hat,
konvergiert.
1.78 Satz:
Ein kompakter metrischer Raum ist vollständig.
Beweis: Jede Cauchy-Folge hat nach Satz 1.72 einen Häufungspunkt und
konvergiert aufgrund der obigen Aufgabe.
2
Die folgende wichtige Folgerung halten wir separat fest. Sie folgt unmittelbar
aus dem Satz von Heine-Borel, nachdem man zeigt, dass eine Cauchy-Folge im
Rd beschränkt ist (Übung!).
1.79 Satz:
Rd ist ein vollständiger metrischer Raum.
Wir werden später andere normierte Räume kennen lernen, die vollständig
sind.
1.80. Definition: Ein normierter, vollständiger Raum heißt Banachraum.
Wenn die Norm von einem Skalarprodukt stammt, so nennt man ihn Hilbertraum.
1.81. Definition: Sei an , n ∈ N, eine Folge in dem normierten Raum. Dann
heißt die Reihe
∞
X
an
n=1
30
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
absolut konvergent, wenn die Reihe
∞
X
kan k
n=1
in R konvergiert.
1.82. Beispiel: Absolute Konvergenz bedeutet nicht, dass die Reihe konvergiert. Ein Gegenbeispiel ist der Raum lc der Folgen in R, die nur endlich viele
Glieder ungleich 0 haben. Dieser Raum kann durch
k(xn )n∈N k =
∞
X
|xn |2
n=1
normiert werden (Übung!). Man beachte, dass die Summe in Wirklichkeit endlich ist. Wir nehmen nun die Folge
a1 = (1, 0, . . .),
a2 = (0, 1/2, 0, . . .),
a3 = (0, 0, 1/4, 0, . . . ,
...
Wegen kan k = 1/2n−1 ist diese Reihe absolut konvergent. Aber sie ist nicht
konvergent. Um diese Folge konvergent zu machen, benötigt man den Raum l2
aller Folgen in R mit
∞
X
k(xn )n∈N k =
|xn |2 < ∞.
n=1
Dieser Raum wäre dann die Vervollständigung von lc .
1.83 Satz: Ein normierter Raum ist genau dann ein Banachraum, wenn jede
absolut konvergente Reihe konvergiert.
P∞
Beweis: Sei X ein Banachraum und n=1 an absolut konvergent. Wir setzen
xn =
n
X
ak .
k=1
Dann gilt für n ≤ m
kxn − xm k ≤
m
X
k=n+1
∞
X
kak k ≤
kak k.
k=n+1
Deswegen zeigt man leicht, dass die xn eine Cauchy-Folge in X bilden, die dann
also konvergiert.
Umgekehrt konvergiere jede absolut konvergente Reihe in X. Für eine beliebige Cauchy-Folge xn , n ∈ N, gibt es dann zu jedem k ∈ N ein minimales
nk ∈ N, so dass
1
kxm − xnk k < k
für alle m ≥ nk .
2
nk , k ∈ N, ist eine monoton wachsende Folge. Dann setzen wir
ak = xnk − xnk−1 .
1.3. KOMPAKTE MENGEN
31
Es folgt
xnk = xn1 +
k
X
ak .
n=1
Wegen kak k ≤ 1/2k−1 konvergiert diese Reihe absolut. Also konvergiert sie.
Damit hat xn , n ∈ N, die konvergente Teilfolge xnk , k ∈ N. Also konvergiert
2
diese Cauchy-Folge.
1.84. Beispiel: Neben den endlich dimensionalen Räumen sind die wichtigsten
Banachräume Funktionenräume. Sei etwa X ein metrischer Raum, so bezeichnen
wir mit L∞ (X) den Raum der beschränkten Funktionen nach R mit der Norm
kf k∞ = sup{|f (x)| : x ∈ X}.
Dies ist in der Tat eine Norm auf X
1.85 Aufgabe: Man zeige, dass L∞ (X) ein Banachraum ist.
1.3.4
Konvergenz von Funktionenfolgen
Wir betrachten in der Maßtheorie sehr oft Folgen von Funktionen
fn : X → Y,
wobei X, Y metrische Räume sind. Meist ist Y = R. Wenn dann
lim fn (x) = f (x)
n→∞
für alle x ∈ X gilt, so sagt man fn konvergiert punktweise gegen f . Wenn
allerdings
lim sup d(fn (x), f (x)) = 0
n→∞ x∈X
ist, so sagt man, fn konvergiert gleichmäßig gegen f .
1.86 Satz: Wenn eine Folge fn : X → Y , n ∈ N, von stetigen Funktionen
gleichmäßig gegen eine Funktion f : X → Y konvergiert, so ist f stetig.
Beweis: Sei x ∈ X und > 0. Dann existiert ein N ∈ N, so dass
sup d(fn (x), f (x)) <
x∈X
3
für alle n ≥ N .
Da fN stetig ist, gibt es ein δ > 0 mit
d(x, y) < δ ⇒ d(fN (x), fN (y)) <
3
für alle y ∈ X. Es folgt für d(x, y) < δ
d(f (x), f (y)) ≤ d(f (x), fN (x)) + d(fN (x), fN (y)) + d(fN (y), f (y)) < .
2
32
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Als Anwendung zeigen wir den Fortsetzungssatz von Tietze für metrische
Räume.
1.87 Satz: Sei X ein metrischer Raum und A ⊆ X abgeschlossen, f : A →
[a, b] stetig. Dann kann man f zu einer stetigen Abbildung f : X → [a, b] fortsetzen.
Beweis: Ohne Einschränkung der Allgemeinheit sei [a, b] = [−1, 1]. Wir setzen
A1 = {x ∈ A : f (x) ≥ 1/3},
A2 = {x ∈ A : f (x) ≤ −1/3}.
Dann setzen wir
g1 (x) =
1 2
d(x, A1 )
−
,
3 3 d(x, A1 ) + d(x, A2 )
wobei d(x, A) die Wir müssen zeigen, dass der Nenner hier nicht gleich 0 werden
kann. Falls x ∈
/ A ist, so gilt d(x, A1 ) > d(x, A) > 0, da A abgeschlossen ist. Für
x ∈ A kann auch nicht d(x, A1 ) = d(x, A2 ) = 0 gelten, weil f stetig auf A ist.
g1 ist also eine stetige Funktion, die auf A1 gleich 1/3 und auf A2 gleich −1/3
ist, so dass also
2
für alle x ∈ A
|f (x) − g1 (x)| ≤
3
gilt. Außerdem gilt
1
|g1 (x)| ≤ .
3
Wir setzen f1 = f − g1 und wiederholen diese Prozedur mit dem Intervall
[−2/3, 2/3] anstelle von [−1, 1]. Dabei erhalten wir eine Funktion g2 mit
2
2
4
|f (x) − (g1 (x) + g2 (x))| = |f1 (x) − g2 (x)| ≤ =
.
9
3
Dabei gilt
|g2 (x)| ≤
2
1
.
3
Fortfahrend erhalten wir eine Folge gk , k ∈ N, und setzen
sn (x) =
n
X
gk (x).
k=1
Wegen
n
2
|f (x) − sn (x)| ≤
3
ist klar, dass sn auf A gleichmäßig gegen f konvergiert. Insgesamt konvergiert
die Reihe der sn absolut wegen
k
1
|gk (x)| ≤
für alle x ∈ K
3
in L∞ (X). Da dieser Raum ein Banachraum ist, konvergiert sie also gegen eine
Fortsetzung von f .
2
1.4. ANWENDUNGEN
1.4
33
Anwendungen
1.4.1
Operatornormen
1.88. Definition: Seien V, W normierte Vektorräume. Wir bezeichnen beide
Normen mit k · k. Für eine lineare Abbildung φ : V → W definiert man
kφk = sup{kφ(x)k : kxk = 1}.
Diese Norm heißt die Operatornorm von φ.
1.89. Bemerkung: Die Operatornorm hängt von den vorgegebenen Normen
ab. Sie heißt deswegen auch zugehörige Operatornorm.
1.90 Aufgabe: Zeigen Sie für alle x ∈ V
kφ(x)k ≤ kφk kxk.
Zeigen Sie
kφk = sup
x6=0
kφ(x)k
.
kxk
1.91. Bemerkung: Jede lineare Abbildung φ : Rm → Rd wird durch eine
Matrix dargestellt. Es gilt also φ(x) = Ax für alle x. Aufgrund von Satz 1.24 ist
jede solche lineare Abbildung φ stetig. Da die Menge aller Punkte mit kxk = 1
im Rd kompakt ist, ist in diesem Fall das Supremum in der Definition von φ
kleiner ∞ und eigentlich ein Maximum. Wir setzen auch
kAk = kφk.
1.92 Satz: Seien V, W normierte Vektorräume und φ : V → W linear. Dann
gilt
kφk = sup{kφ(x)k : kxk = 1} < ∞
genau dann, wenn φ : V → W in 0 stetig ist. In diesem Fall ist x in allen
Punkten x ∈ V stetig.
Beweis: Sei kφk = c < ∞ und > 0. Dann folgt
kxk <
⇒ kφ(x)k < .
c
Es folgt die Stetigkeit in 0. Wenn umgekehrt φ stetig in 0 ist, so gibt es zu = 1
ein δ > 0 mit
kxk ≤ δ ⇒ kφ(x)k ≤ 1.
Es folgt für kxk = 1
1
1
kφ(δx)k ≤ .
δ
δ
Also ist kφk < ∞. Wenn kφk < ∞ ist und x ∈ V , dann folgt
kφ(x)k ≤
kφ(x) − φ(y)k = kφ(x − y)k ≤ kφkkx − yk
34
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
2
Daraus folgt die Stetigkeit von φ in x.
1.93. Bemerkung: In der Tat haben wir gezeigt, dass jede lineare Abbildung
φ : X → Y gleichmäßig stetig auf X ist.
1.94 Satz: Sei V ein endlich-dimensionaler normierter Vektorraum und φ :
V → W linear. Dann ist φ stetig.
Beweis: Sei v1 , . . . , vn eine Basis von V . Dann gilt
n
n
X
X
kφ(
λi vi )k ≤
|λi | kφ(vi )k ≤ C max |λi |,
i=1
i
i=1
wobei C nur von der gewählten Basis abhängt. Wir müssen also nur noch zeigen,
dass es eine Konstante D > 0 gibt mit
max |λi | ≤ Dk
i
n
X
λi vi k
i=1
für alle λ1 , . . . , λn ∈ R. Dann folgt nämlich
kφk ≤ CD.
Die Menge
L = {λ ∈ Rn : maxi |λi | = 1}
ist kompakt. Wir betrachten die Abbildung ψ : Rn → V definiert durch
ψ(λ) =
n
X
λi vi
i=1
auf L. ψ −1 (v) ist dann die Basisdarstellung von v. Diese Abbildung ist linear
und aus dem Schwarzschen Lemma folgt
v
u n
n
X
uX
kvi k.
kψ(λ)k ≤
|λi |kvi k ≤ kλkt
i=1
i=1
Also ist ψ stetig nach dem obigen Satz, also ist auch ψ(L) kompakt. Die stetige
Abbildung x 7→ kxk auf V nimmt deswegen auf ψ(L) ein Minimum 1/D an. Es
folgt
n
n
X
X
1
λi
1
k
λi vi k = k
vi k ≥ ,
maxi |λi | i=1
max
|λ
|
D
i
i
i=1
womit unsere gesuchte Konstante D gefunden ist.
2
1.95. Bemerkung: Wenn v1 , . . . , vn eine Basis des normierten Vektorraums
V ist und
n
X
ψ(λ) =
λi vi
i=1
1.4. ANWENDUNGEN
35
eine Basisdarstellung wie im Beweis, so ist ψ bijektiv und linear. Folglich sind
sowohl ψ, als auch ψ −1 stetig.
1.96 Satz: Eine beschränkte und abgeschlossene Menge in einem endlichdimensionalen normierten Vektorraum ist kompakt.
Beweis: Sei ψ eine Basisdarstellung wie im Beweis des Satzes, K beschränkt
und abgeschlossen in V . Dann ψ −1 (K) abgeschlossen in Rn , da ψ stetig ist.
Andererseits ist
kψ −1 (x)k ≤ kψ −1 k kxk
für alle x ∈ K. Folglich ist ψ −1 (K) auch beschränkt. Es folgt, dass es als Teil2
menge des Rn kompakt ist. Also ist auch sein stetiges Bild K kompakt.
1.97. Bemerkung: Speziell sind die abgeschlossenen Kugeln in jedem endlichdimensionalen Vektorraum kompakt.
1.98 Satz: Seien kxka und kxkb zwei Normen auf einem endlich-dimensionalen Vektorraum V . Dann gibt es Konstanten 0 < c1 < c2 mit
c1 kxka ≤ kxkb ≤ c2 kxka .
Man nennt solche Normen äquivalente Normen.
Beweis: Es genügt, die Existenz von c2 > 0 zu zeigen. Die Identität id : V →
V ist aber stetig. Daraus folgt die Behauptung wegen Satz 1.92.
2
1.99 Satz: Sei V ⊆ W endlich-dimenstionale Unterraum in einem normierten Vektorraum W . Dann ist V abgeschlossen in W .
Beweis: Sei z ∈ V . Dann gibt es in jeder Umgebung von z einen Punkt aus
V . Man kann leicht sehen, dass es zum Beispiel für r = 2kzk in jeder Umgebung
von z einen Punkt
x ∈ Kr = {y ∈ V : kyk ≤ r}
geben muss. Kr ist aber in V kompakt, also auch in W . Es folgt, dass Kr
abgeschlossen ist. Also z ∈ V .
2
1.100 Aufgabe: Seien φ : V → W und ψ : W → U linear. Zeigen Sie
kψ ◦ φk ≤ kψk kφk.
Folgern Sie für bijektive φ : V → W mit stetiger Umkehrfunktion
kφ−1 k ≥
1
.
kφk
1.101 Aufgabe: Sei A ∈ Rm×d . Die Matrizen O ∈ Rm×m , V ∈ Rd×d seien orthogonal.
Zeigen Sie
kOAV k = kAk.
1.102 Aufgabe: Zeigen Sie für eine Matrix D ∈ Rm×d , die nur in der Diagonalen
Elemente ungleich 0 hat
kDk = max |µn |,
n=1,...,k
36
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
wobei µ1 , . . . , µk die Diagonalelemente von D seien.
1.103 Satz: Sei φ(x) = Ax linear, A ∈ Rm×d und λ1 , . . . , λd die Eigenwerte
von AT A. Dann ist
p
λn .
kφk = max
n=1,...,d
Beweis: In der linearen Algebra wird gezeigt, dass es eine Singulärwertzerlegung von A gibt, also
A = ODV
mit orthogonalen Matrizen O, V und einer Matrix D die nur auf der Diagonale
Elemente µ1 , . . . , µk ungleich 0 hat. Aus den obigen Übungen folgt daher
kAk = kDk = max |µn |.
n=1,...,k
Außerdem gilt
AT A = OT D2 O.
Es folgt, dass µ2n die Eigenwerte von AT A sind. Es folgt die Behauptung.
2
1.104 Aufgabe: Zeigen Sie, dass für A ∈ Rm×d die zur ∞-Norm zugehörige Matrixnorm gleich
d
X
kAk∞ = max
|an,k |
n=1,...,m
k=1
ist. Die ist die Zeilensummennorm auf dem Raum der Matrizen. Zeigen Sie analog
kAk1 = max
k=1,...,d
m
X
|an,m |,
n=1
für die zur k · k1 -Norm gehörige Matrixnorm.
1.4.2
Hauptsatz der Algebra
Wir beweisen hier den Hauptsatz der Algebra mit minimalen Mitteln. Es werden
lediglich Grundlagen des Rechnens mit komplexen Zahlen benötigt, sowie die
komplexe Exponentialfunktion und die Eulersche Formel
eiφ = cos(φ) + i sin(φ),
sowie die Tatsache, dass sich jede komplexe Zahl a ∈ C als
a = reiφ
mit r ≥ 0 und 0 ≤ φ < 2π darstellen lässt.
1.105 Satz: Jedes nicht konstante, komplexe Polynom hat mindestens eine
Nullstelle in C.
Beweis: Wir nehmen an, dass das komplexe Polynom
p(z) = a0 + a1 z + . . . + an z n ,
an 6= 0,
1.4. ANWENDUNGEN
37
keine Nullstelle in C hat.
(1) Wir zeigen zunächst, dass |p| ein Minimum in C annimmt. Zunächst ist p
stetig auf C. Wir identifizieren dabei den C mit dem R2 . Es gilt ja
|x + iy| = k(x, y)k,
für alle x, y ∈ R.
Wir wollen Beispiel 1.56 anwenden und berechnen
a
a1
0
+ an · |z|n .
|p(z)| = n + . . . +
z
z
Der erste Faktor konvergiert für |z| → ∞ gegen |an | 6= 0. Der zweite Faktor
konvergiert gegen ∞. Es folgt
lim |p(z)| = ∞.
|z|→∞
Also nimmt |p| ein Minimum an.
(2) Aufgrund unserer Annahme ist das Minimum von |p| nicht 0. Durch geeignete Multiplikation dürfen wir annehmen, dass es gleich 1 ist, und durch eine
Substitution z 7→ z − z0 , wobei Polynome auf Polynome übergeführt werden,
dürfen wir annehmen, dass es in 0 angenommen wird. Man kann also annehmen,
dass z die Form
p(z) = 1 − bk z k (1 + bk+1 z + . . . + bn z n−k ) = 1 − bk z k (1 + q(z)).
mit einem Polynom q vom Grad n − k hat, wobei
lim q(z) = 0.
z→0
Außerdem haben wir
|p(z)| ≥ 1
für alle z ∈ C.
Wir zeigen, dass dies nicht möglich ist. In C gilt
|1 − a|2 = (1 + a)(1 + a) = 1 − 2(re a) + |a|2 .
Sei nun bk = reiφ . Dann setzen wir für > 0
z=
1
.
r1/k eiφ/k
Es folgt z k = k /bk . Man berechnet
|p(z)|2 = 1 − k 2 (re (1 + q(z))) + k |1 + q(z)|2 .
Mit → 0 folgt z → 0 und daher
2 (re (1 + q(z))) + k |1 + q(z)|2 → 2.
Dieser Ausdruck wird für klein genug also größer als 1. Es folgt
|p(z)|2 < 1 − k < 1.
38
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
2
Dies ist ein Widerspruch.
1.106. Bemerkung: Wie in der linearen Algebra gezeigt, gewinnt man durch
Ausdividieren der Nullstellen als Folgerung, dass sich p in der Form
p(z) = an (z − z1 ) · . . . · (z − zn )
darstellen lässt, wobei diese Darstellung bis auf die Reihenfolge der Faktoren
eindeutig ist. Ein komplexes Polynom vom Grad n ≥ 1 hat also genau n Nullstellen, einschließlich Vielfachheit gezählt.
1.5
1.5.1
Suprema und Infima von Funktionenfolgen
Indikatorfunktionen
1.107. Definition: Sei X eine Menge. Dann definieren wir die Funktion 1M :
X → {0, 1} durch
(
1, x ∈ M,
1M =
0, x ∈
/ M,
für alle M ⊆ X. 1M heißt die Indikatorfunktion von M auf X.
Man kann mit Indikatorfunktionen anstelle von Mengenoperationen rechnen.
Dies zeigen die folgenden Aufgaben.
1.108 Aufgabe: Beweisen Sie
1A∩B = 1A · 1B ,
1A∪B = 1A + 1B − 1A · 1B ,
1A\B = 1B − 1A · 1B
für Teilmengen A, B ⊆ X.
1.109 Aufgabe: Zeigen Sie für eine Familie Mi ⊆ X, i ∈ I,
1Si∈I Mi = sup 1Mi ,
i∈I
1Ti∈I Mi = inf 1Mi .
i∈I
Punktweise ist dieses Supremum und das Infimum in Wirklichkeit ein Maximum bzw.
ein Minimum.
1.5.2
Limes Superior und Inferior
1.110. Definition: Der Limes Superior und der Limes Inferior einer Folge
xn ∈ [−∞, ∞], n ∈ N, sind definiert als
lim inf xn = sup inf xk ,
n→∞
n∈N k≥n
lim sup xn = inf sup xk .
n→∞
n∈N
k≥n
1.5. SUPREMA UND INFIMA VON FUNKTIONENFOLGEN
39
Diese etwas unübersichtliche Definition wird nach dem folgenden Satz klarer,
der zeigt, dass lim inf und lim sup die Minima und Maxima der Menge der
Häufungspunkte sind. Man beachte, dass die Menge der Häufungspunkte einer
Folge in [−∞, ∞] nicht leer ist.
1.111 Satz:
Sei xn ∈ [−∞, ∞], n ∈ N. Dann gilt
lim inf xn = min{a : a ist Häufungspunkt von xn },
n∈N
lim sup xn = max{a : a ist Häufungspunkt von xn }.
n∈N
Beweis: Sei zur Abkürzung
b = lim inf xn .
n→∞
Sei a ein Häufungspunkt der Folge. Dann enthält jede Umgebung von a unendlich viele Folgenglieder. Es folgt für alle k ∈ N
a ≥ inf xk .
k≥n
(Dies gilt auch im Fall a = −∞.) Also
a ≥ b.
b ist also eine unter Schranke der Häufungspunkte. Andererseits gibt es zu jedem
> 0 ein m ∈ N mit
b ≥ inf xk > b − .
k≥m
Folglich existieren in jeder Umgebung von b unendlich viele Folgenglieder und
b ist selbst ein Häufungspunkt der Folge xn . Analog zeigt man die Aussage für
den Limes Superior.
2
1.5.3
Halbstetige Abbildungen
Die Definition der Stetigkeit einer Abbildung f : X → R in x ∈ X besagt, dass
es zu jedem Intervall V = (x − , x + ) von f (x) eine Umgebung U von x gibt
mit
f (U ) ⊆ (x − , x + ).
Wir schwächen nun diese Bedingung etwas ab.
1.112. Definition: Eine Funktion f : X → R heißt unterhalb stetig in x,
wenn es zu jedem > 0 eine Umgebung U von X gibt, so dass
f (U ) ⊆ (f (x) − , ∞)
gilt. Entsprechend heißt f oberhalb stetig in x, wenn es zu jedem > 0 eine
Umgebung U von X gibt, so dass
f (U ) ⊆ (−∞, f (x) + )
40
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
f heißt unter- bzw. oberhalb stetig, wenn es überall unter- bzw. oberhalb stetig
ist.
1.113. Beispiel: Die Funktion


0, x < 0,
fa (x) = a, x = 0,


1, x > 0,
ist unterhalb stetig in 0 für a ≤ 0 und oberhalb stetig für a ≥ 1. denn es gilt für
jede Umgebung U von 0
f (U ) = {0, 1, a}.
Dieses Beispiel erklärt auch die Bezeichnungen unterhalb bzw. oberhalb stetig.
1.114. Bemerkung: Da der Schnitt von Umgebungen einen Umgebung ist,
ist jede Funktion, die gleichzeitig unterhalb und oberhalb stetig ist, stetig. Umgekehrt ist jede stetige Funktion unterhalb und oberhalb stetig.
1.115. Bemerkung: Man kann auch definieren, wann Funktionen f : X →
[−∞, ∞] unterhalb stetig in x sind. Im Fall f (x) < ∞ lautet die Definition
genauso. Falls f (x) = ∞, so muss es zu jeder Umgebung (c, ∞] von ∞ eine
Umgebung U von x geben mit
f (U ) ⊆ (c, ∞].
Dies ist aber genau die Definition der Stetigkeit im Fall f (x) = ∞. Also muss
dann
lim f (t) = ∞
t→x
gelten. Falls f (x) = −∞ ist, so ist f immer in x automatisch unterhalb stetig.
Analog behandelt man oberhalb stetige Funktionen.
1.116 Satz: Sei f : X → [−∞, ∞] unterhalb stetig in x. Dann gilt für jede
Folge xn , n ∈ N, in X
lim xn = x ⇒ f (x) ≤ lim inf f (xn ).
n→∞
n→∞
Wenn f in x oberhalb stetig ist, so gilt analog
lim xn = x ⇒ f (x) ≥ lim sup f (xn ).
n→∞
n→∞
Beweis: Sei f unterhalb stetig. Falls f (x) = ∞, so ist
f (x) = lim f (xn ) = lim inf f (xn ).
n→∞
n→∞
Sei nun f (x) < ∞ und a ein Häufungspunkt der Folge f (xn ). Da f unterhalb
stetig ist, gibt es zu jedem > 0 ein δ > 0 mit
d(xn , x) < δ ⇒ f (xn ) > f (x) − .
1.5. SUPREMA UND INFIMA VON FUNKTIONENFOLGEN
41
Es folgt insbesondere a ≥ f (x). Also
f (x) ≤ lim inf f (xn ).
n→∞
Analog oberhalb stetige Funktionen.
2
1.117. Bemerkung: Von diesem Satz gilt auch die Umkehrung, wenn man
das abzählbare Auswahlaxiom verwendet. Angenommen f ist nicht unterhalb
stetig in x. Dann existiert ein > 0, so dass für alle n ∈ N ein xn ∈ X existiert
mit
1
d(x, xn ) < , f (xn ) < f (x) − .
n
Man erhält eine Folge
lim xn = x,
n→∞
lim inf f (xn ) < f (x) − .
n→∞
Dies ist ein Widerspruch.
1.118 Satz: Eine Funktion f : X → R ist genau dann unterhalb stetig, wenn
f −1 (c, ∞)
für alle c ∈ R offen ist. Analog ist f : X → R ist genau dann oberhalb stetig,
wenn
f −1 (−∞, c)
für alle c ∈ R offen ist.
Beweis: Angenommen f ist unterhalb stetig und x ∈ f −1 (c, ∞). Dann gibt
es eine Umgebung U von x mit f (U ) ⊆ (c, ∞). Also U ⊆ f −1 (c, ∞). Also
ist f −1 (c, ∞) offen. Wenn umgekehrt f −1 (c, ∞) für alle c ∈ R offen ist, dann
ergibt sich unmittelbar aus der Definition, dass f unterhalb stetig ist. Analog
für oberhalb stetige Funktionen.
2
1.119. Bemerkung: Dieser Satz gilt auch für Abbildungen f : X → [−∞, ∞].
In diesem Fall müssen die Mengen f −1 (c, ∞] offen sein.
1.120 Aufgabe: Zeigen Sie, dass für A ⊆ X genau dann offen ist, wenn 1A unterhalb
stetig ist, und genau dann abgeschlossen, wenn 1A oberhalb stetig ist.
1.121 Satz: Eine unterhalb stetige Abbildung f : X → R nimmt auf jeder
kompakten Menge K ⊆ X ihr Minimum an, eine oberhalb stetige Funktion ihr
Maximum.
Beweis: Angenommen f ist unterhalb stetig, K ⊆ X kompakt. Die Mengen
f −1 (c, ∞), c ∈ R, bilden eine offene Überdeckung von K. Es gibt also eine
endliche Teilüberdeckung. Daraus folgt, dass f (K) nach unten beschränkt ist.
Sei
s = inf f (K).
Angenommen s ∈
/ f (K). Dann überdecken die Mengen f −1 (s + , ∞), > 0,
eine offene Überdeckung von K. Es gibt eine endliche Teilüberdeckung, so dass
f (K) ⊆ (s + , ∞) für ein > 0 gilt. Das ist ein Widerspruch dazu, dass s das
Infimum von f (K) ist. Analog für oberhalb stetige Funktionen.
2
42
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
1.122. Bemerkung: Dieser Satz gilt auch für Funktionen f : X → [−∞, ∞].
Als Beispiel ist die Funktion
f (x) =
1
,
|x|
x 6= 0,
oberhalb stetig in 0, wenn man f (0) = ∞ definiert. Sie nimmt auch auf jedem
Kompaktum ihr Maximum an.
1.123 Aufgabe: Beweisen Sie Satz 1.121 für Funktionen nach [−∞, ∞].
1.124 Satz: Das Supremum einer Familie von unterhalb stetigen Funktionen
ist unterhalb stetig. Das Infimum einer Familie von oberhalb stetigen Funktionen
ist oberhalb stetig.
Beweis: Seien fi : X → R, i ∈ I, eine Familie von unterhalb stetigen Funktionen und
f (x) = sup fi (x)
i∈I
−1
für alle x ∈ X. Sei dann x ∈ f (c, ∞), also f (x) > c. Dann gibt es ein i ∈ I
mit fi (x) > c. Also gibt es eine Umgebung U von x mit fi (U ) ∈ (−c, ∞). Es
folgt für alle x ∈ U
f (x) ≥ fi (x) > c.
Also f (U ) ⊆ (c, ∞). f ist also unterhalb stetig. Analog für oberhalb stetige
2
Funktionen.
1.125. Bemerkung: Dasselbe gilt für Familien von Funktionen fi : X →
[−∞, ∞].
1.126. Beispiel: Wenn Ui , i ∈ I, eine Familie von offenen Mengen ist, dann
ist
1Si∈I Ui = sup 1Ui
i∈I
unterhalb stetig. Es ist in der Tat eine offene Menge. Analoges gilt für den
Durchschnitt von abgeschlossenen Mengen.
1.127. Beispiel: fn (x) = xn , n ∈ N, ist eine Folge von stetigen Funktion auf
R. Es gilt

−∞, x < −1,



−x, −1 ≤ x < 0,
inf fn (x) =
n∈N

0,
0 < x < 1,



x,
x ≥ 1.
Diese Funktion ist oberhalb stetig.
1.6
Zusammenhang
Wir studieren in diesem Abschnitt zusammenhängende Mengen, und insbesondere konvexe Mengen. Auch konvexe Funktionen sind Inhalt dieses Abschnitts.
1.6. ZUSAMMENHANG
1.6.1
43
Konvexität
Konvexe Funktionen und Mengen tauchen auch in vielen anderen Gebieten der
Mathematik aus. Es ist deshalb nützlich, einen genaueren Blick auf sie zu werfen.
Die folgende Definition haben wir schon in der linearen Algebra kennen gelernt.
1.128. Definition: Eine Menge U ⊆ Rd heißt konvexe Menge, wenn sie mit
je zwei Punkten auch die Verbindungsstrecke enthält.
1.129. Bemerkung: Die folgenden Tatsachen werden hier nicht bewiesen.
(1) U ist genau dann konvex, wenn für alle
x1 , . . . , xn ∈ U,
λ1 , . . . , λn ≥ 0,
n
X
λi = 1
i=1
gilt
n
X
λi xi ∈ U.
k=1
Eine solche Darstellung kennt man Konvexkombination.
(2) Zu jeder Menge M ⊆ Rd gibt es eine kleinste konvexe Menge, die M umfasst.
Man nennt diese Menge die konvexe Hülle conv(M ) von M . Sie ist die Menge
aller Konvexkombinationen von Elementen aus M .
(3) Nach dem Satz von Carathéodory kann man sich bei der Erzeugung der
konvexen Hülle auf Konvexkombinationen der Länge n = d + 1 beschränken.
(4) Die konvexen Teilmengen von R sind die Intervalle.
1.130. Definition: Sei U ⊆ Rd konvex und φ : U → R eine Abbildung. Dann
heißt φ konvexe Funktion auf U , wenn
φ(λx + µy) ≤ λφ(x) + µφ(y)
für alle
x, y ∈ U,
λ, µ ≥ 0,
λ+µ=1
gilt.
1.131 Aufgabe: Zeigen Sie, dass Konvexität bedeutet, dass die Verbindungsgerade
zwischen (x, f (x)) und (y, f (y)) für alle x, y ∈ I oberhalb des Graphen von f liegt.
1.132 Aufgabe: Folgern Sie aus der Konvexität per Induktion
φ(
m
X
n=1
λn xn ) ≤
m
X
λn φ(xn )
n=1
wobei
x1 , . . . , xm ∈ U,
λ1 , . . . , λm ≥ 0,
m
X
n=1
sei.
λn = 1
44
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Der folgende Satz hilft uns, die Konvexität nachzurechnen.
1.133 Satz: Sei U ⊆ Rd offen und konvex, f : U → R zweimal stetig differenzierbar. Dann ist f genau dann konvex, wenn die Hessematrix Hf (x) überall
positiv semi-definit ist.
1.134. Bemerkung: Im Fall U = (a, b) ⊆ R bedeutet dies f 00 (x) ≥ 0. Beachten
Sie, dass die Intervalle die einzigen konvexen Teilmengen von R sind.
Beweis: Wir zeigen zunächst den Fall U ⊆ R. Sei a, b ∈ U . Sei f 00 ≥ 0 auf U .
Dann betrachten wir die Funktionen
h(λ) = f (λa + (1 − λ)b),
p(λ) = λf (a) + (1 − λ)f (b),
r(λ) = p(x) − h(x).
Es gilt r(0) = r(1) = 0 und
r00 (λ) = −(a − b)2 f 00 (λa + (1 − λ)b).
Also ist r00 ≤ 0 und damit r0 monoton fallend. Angenommen, r(ξ) < 0 für ein
ξ ∈ (a, b). Dann gibt es nach dem Mittelwertsatz
a < t1 < ξ < t2 < b
mit
r0 (ξ) < 0,
r0 (ξ) > 0.
Dies ist ein Widerspruch dazu, dass r0 monoton fällt. Es folgt r ≤ 0 auf (a, b)
und damit auch auf [a, b]. Dies beweist die Konvexität.
Sei umgekehrt f 00 (x) < 0 für ein x ∈ U . Dann gibt es eine Umgebung (a, b)
von x, wo f 00 < 0 ist. Definiert man r wie oben, so ist nun r0 nun streng monoton
steigend. Analog zur obigen Argumentation existiert dann kein ξ ∈ (a, b) mit
r(ξ) ≤ 0. Also ist f nicht konvex.
Im Fall U ⊆ Rd betrachten wir
ha,b (λ) = f (a + λ(b − a))
für a, b ∈ U und λ ∈ R, so dass a + λ(b − a) ∈ U ist. Es gilt
h00a,b (λ) = (b − a)T Hf (a + λ(b − a))(b − a).
(Übung!). Die Konvexität von f ist äquivalent zur Konvexität von ha,b für alle
a, b ∈ U (Übung!). Falls H(f ) positiv semi-definit ist, so ist also h00a,b (λ) ≥ 0 für
alle λ und folglich ha,b konvex. Falls dies nicht der Fall ist, so kann man a, b ∈ U
finden mit h00a,b (0) < 0. Dies ist dann auch in einer Umgebung von 0 der Fall.
Also ist h00a,b nicht konvex, wie im eindimensionalen Fall gezeigt wurde.
2
Der folgende Satz ist eine wichtige Anwendung für konvexe Funktionen.
1.135 Satz: Sei U ⊆ Rd offen und konvex, sowie f : U → R konvex. Dann
ist jedes lokale Minimum von f auf U auch globales Minimum auf U .
1.136 Aufgabe: Beweisen Sie diesen Satz.
1.137 Satz: Sei I ⊆ R ein offenes Intervall und φ : I → R konvex. Dann
existiert überall in I die rechts- und die linksseitige Ableitung von φ und es gilt
1.6. ZUSAMMENHANG
45
für alle s ∈ I
sup
t<s
φ(s) − φ(t)
φ(s) − φ(t)
φ(s) − φ(t)
φ(s) − φ(t)
= lim
≤ lim
= inf
.
t>s
t↑s
t↓s
s−t
s−t
s−t
s−t
Insbesondere ist φ stetig auf I.
Beweis: Sei s < t1 < t2 in I. Dann folgt aus der Konvexität
φ(t1 ) ≤
t2 − t 1
t1 − s
φ(s) +
φ(t2 ).
t2 − s
t2 − s
Es folgt
φ(t1 ) − φ(s)
φ(t2 ) − φ(s)
≤
.
t1 − s
t2 − s
Also ist der Differentialquotient mit t ↓ s monoton fallend. Analog ist er für
t ↑ s monoton steigend. Es folgt für beliebige a < s < t in I
φ(t) − φ(a)
φ(s) − φ(a)
φ(t) − φ(s)
≥
≥
.
t−s
t−a
s−a
Also ist der Differentialquotient für t > s nach unten beschränkt. Er hat daher
einen Grenzwert. Analog ist er für t < s nach oben beschränkt. Die Stetigkeit
folgt, da rechts- bzw. linksseitig differenzierbare Funktionen auch rechts- bzw.
linksseitig stetig sind.
2
Im Rd ist die Differenzierbarkeit unhandlicher. Wir werden daher nur die
Stetigkeit beweisen.
1.138 Satz: Sei U ⊆ Rd offen und konvex, und φ : U → R konvex. Dann ist
φ stetig auf U .
Beweis: Sei x ∈ U und r > 0, so dass die Kugel mit Radius r um x in U
enthalten ist. Wir konstruieren in der Umgebung
P
M = {y ∈ U : |xi − yi | < r}
von x Funktionen
φ1 ≤ φ ≤ φ2
mit
lim φ1 (x) = φ(x) = lim φ2 (x).
y→x
y→x
Diese Funktionen setzen wir aus 2d Stücken zusammen, die in den 2d Mengen
conv {x, x ± re1 , . . . , x ± red }
definiert sind. Die Vereinigung dieser Mengen ist nämlich M . Wir behandeln
nur den Fall
M1 = conv {x, x + re1 , . . . , x + red }
Die Darstellung von y ∈ M als Konvexkombination ist dann
!
d
d
X
X
yn − xn
yn − xn
y = 1−
x+
(x + ren ).
r
r
n=1
n=1
46
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Wir können also φ1 durch
φ2 (y) =
d
X
yn − xn
1−
r
n=1
!
φ(x) +
d
X
yn − xn
φ(x + ren ) ≥ φ(y).
r
n=1
definieren. In der Tat
lim φ2 (y) = φ(x).
y→x
Die Funktion φ1 gewinnen wir aus der Konvexkombination
1
P
x=
r + n (yn − xn )
ry +
d
X
!
(yn − xn )(x − ren ) ,
n=1
aus der wir
1
φ(y) ≥
r
!
r+
X
(yn − xn ) φ(x) −
n
d
X
!
(yn − xn )φ(x − ren )
n=1
erhalten. Mit y → x geht die rechte Seite gegen φ(x). Wir können aus dieser
2
Abschätzung also die gesuchte Funktion φ1 (y) gewinnen.
1.6.2
Zusammenhängende Mengen
1.139. Definition: Sei X ein metrischer Raum. Eine Teilmenge M ⊆ X heißt
zusammenhängend, wenn es keine offenen Mengen U1 , U2 ⊆ X gibt, so dass
U1 und U2 disjunkt sind, und
X ⊆ U1 ∪ U2 ,
sowie
X ∩ U1 6= ∅,
X ∩ U2 6= ∅.
1.140. Beispiel: Alle Intervalle in R sind zusammenhängend. Sei nämlich I
ein Intervall und, angenommen,
I ⊆ U1 ∩ U2
mit disjunkten offenen Mengen U1 , U2 , und
x1 ∈ U1 ∩ I,
x2 ∈ U2 ∩ I.
Falls x1 < x2 ist, so existiert
s = sup{t ∈ U1 ∩ I : t < x2 }.
Dann kann aber weder s ∈ U1 , noch s ∈ U2 sein. Dies ist ein Widerspruch.
1.141 Aufgabe: Zeigen Sie umgekehrt, dass alle zusammenhängenden Mengen in R
Intervalle sind.
1.6. ZUSAMMENHANG
47
Diese Definition wirkt auf den ersten Blick nicht natürlich. Aber der folgende
Satz macht zusammenhängende Mengen im Fall X = Rd anschaulicher. Ein
Weg von a ∈ X nach b ∈ X ist eine stetige Abbildung
γ : [0, 1] → X
mit
γ(0) = a,
γ(1) = b.
Wenn sich je zwei Punkte von M ⊆ X durch einen Weg verbinden lassen, so ist
heißt M weg-zusammenhängend.
1.142 Satz: Jede weg-zusammenhängende Menge eines metrischen Raums ist
zusammenhängend. Eine zusammenhängende offene Teilmenge eines normierten Raumes ist weg-zusammenhängend.
Beweis: Sei M weg-zusammenhängend, aber nicht zusammenhängend. Dann
gibt es eine disjunkte Überdeckung U1 , U2 von M mit offenen Mengen. Wir
wählen a ∈ U1 und b ∈ U2 und einen Weg γ von a nach b.
V1 = γ −1 (U1 ),
V2 = γ −1 (U2 )
sind offen in [0, 1], überdecken [0, 1] und sind nicht leer. Dies ist ein Widerspruch
dazu, dass [0, 1] zusammenhängend ist.
Sei M offen und zusammenhängend. Wir definieren U1 als Menge aller Punkte b, so dass ein Weg von a nach b existiert. Es ist leicht zu zeigen, dass U1 ⊆ M
offen ist. Denn man kann jeden Weg von a nach b innerhalb M nach c verlängern,
wenn
c ∈ Br (b) ⊆ M
ist. Aber auch das Komplement M \ U1 ist offen, wie man sich überlegt. Da M
zusammenhängend ist, folgt U2 = ∅.
2
1.143. Beispiel: Es folgt, dass konvexe Mengen zusammenhängend sind.
1.144 Satz: Sei f : X → Y stetig und M ⊆ X zusammenhängend. Dann ist
f (M ) zusammenhängend.
Beweis: Wenn U1 , U2 disjunkte offene Überdeckungen von f (M ) sind, so
sind f −1 (U1 ), f −1 (U2 ) disjunkte offene Überdeckungen von M . Daraus folgt die
Behauptung leicht.
2
1.145. Bemerkung: Als Folgerung kann für eine stetige und bijektive Abbildung f : [a, b] → Rd im Fall d ≥ 2 das Bild M = f ([a, b]) kein offenes Inneres
haben. Denn wenn
x ∈ Br (x) ⊆ M ◦
gilt, so ist sowohl M aus auch M \ {y} für alle y ∈ Br (x) zusammenhängend
(Übung!). Das Urbild von M \ {y} ist aber [a, b] \ f −1 (y), da f bijektiv ist.
Sie ist also nicht für alle y ∈ Br (x) zusammenhängend. f −1 ist stetig, da [a, b]
kompakt ist. Es folgt ein Widerspruch.
1.146 Satz: Die Vereinigung einer Familie von zusammenhängenden Mengen in einem metrischen Raum X, deren Schnitt nicht leer ist, ist zusammenhängend.
48
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Beweis: Angenommen
Mi , i ∈ I, ist eine Familie von zusammenhängenden
T
Mengen und x ∈ i∈I Mi . Angenommen U1 , U2 sind disjunkte offene Mengen,
die die Vereinigung überdecken. Falls x ∈ U1 ist, so folgt Mi ⊆ U1 für alle i ∈ I,
weil Mi zusammenhängend ist. Also
[
Mi ⊆ U1 .
i∈I
Es folgt, dass die Vereinigung zusammenhängend ist.
2
1.147. Bemerkung: Aufgrund dieses Satzes gibt es zu jedem x ∈ M ⊆ X eine
größte zusammenhängende Teilmenge von M , die x enthält. Man nennt diese
Menge die Zusammenhangskomponente von x.
1.148 Aufgabe: Zeigen Sie dass
M = {x ∈ Rd : kxk 6= 1}
nicht zusammenhängend ist. Diese Menge hat genau zwei Zusammenhangskomponenten.
1.149. Bemerkung: Aus der vorigen Aufgabe folgt, dass f (M ) für stetiges bijektives f zwei Zusammenhangskomponenten hat. Es gilt aber mehr. Sei nämlich
f : ∂Sd−1 → Rd bijektiv und stetig, wobei
Sd−1 = {x ∈ Rd : kxk = 1}
die Einheitssphäre in Rd ist, so hat
Rd \ f (Sd−1 )
genau zwei Zusammenhangskomponenten. Diese Aussagen nennt Jordanscher
Kurvensatz. Der Beweis geht über diese Einführung hinaus.
1.7
Topologische Räume
Wir haben die Sätze in diesem Kapitel aus Gründen der Anschaulichkeit auf
metrische Räume beschränkt, obwohl es leicht möglich gewesen wäre, eine Verallgemeinerung auf topologische Räume durchzuführen. Wir haben unsere Sätze
und Beweise so formuliert, dass sie dabei wörtlich erhalten bleiben.
1.150. Definition: Ein Mengensystem U auf einer Menge X heißt Topologie
auf X, wenn die folgenden Eigenschaften gelten.
(1) ∅, X ∈ U.
(2) Der Schnitt zweier Mengen in U liegt wieder in U.
(3) Beliebige Vereinigungen von Mengen aus U liegen wieder in U.
1.7. TOPOLOGISCHE RÄUME
49
X heißt dann ein topologischer Raum und die Mengen U ∈ U heißen
offene Mengen, ihre Komplemente abgeschlossene Mengen.
1.151. Beispiel: Die Menge aller offenen Mengen in einem metrischen Raum
ist eine Topologie auf diesem Raum. Man sagt, die Topologie sei die von der
Metrik erzeugte Topologie.
1.152. Beispiel: Die Potenzmenge ist eine Topologie auf jedem Raum.
1.153 Aufgabe: Zeigen Sie, dass in der Metrik aus Aufgabe 1.3 alle Mengen offen
sind. Die erzeugte Topologie ist also die Potenzmenge.
1.154. Beispiel: Das Mengensystem {∅, X} ist eine Topologie auf X.
1.155 Aufgabe: Finden Sie eine Metrik auf X, so dass die offenen Mengen gerade
die Mengen ∞ und X sind.
1.156. Beispiel: In [−∞, ∞] erhält man eine Topologie, indem man die offenen
Mengen in R nimmt, und alle Vereinigungen dieser Mengen mit Intervallen der
Form
[−∞, a), (b, ∞]
hinzufügt. Diese Topologie wird von der Metrik aus Bemerkung 1.37 erzeugt.
1.157. Beispiel: Es ist nicht einfach, sinnvolle Beispiele für einen topologischen
Raum, der kein metrischer Raum ist, zu beschreiben. Wir beschränkten uns
daher auf ein künstliches Beispiel. Sei U das System aller Mengen auf R, deren
Komplement endlich ist. Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass U eine Topologie
auf R ist, die ko-endliche Topologie. In jedem metrischen Raum gilt aber
{x} =
∞
[
B1/n (x).
n=1
Also ist jeder Punkt Durchschnitt von abzählbar vielen offenen Mengen. Dies ist
in der ko-endlichen Topologie auf einer überabzählbaren Menge nicht der Fall.
1.158. Definition: Analog zu den metrischen Räumen heißt M Umgebung
von x, wenn es eine offenen Menge U gibt mit
x ∈ U ⊆ M.
Wir können nun das offene Innere, den Abschluss und den Rand einer Menge genau wie in metrischen Räumen definieren, ebenso wie wir Stetigkeit und
Grenzwerte. Auch die Definition von kompakten Mengen kann wörtlich übertragen werden.
Da wir alle Sätze und Definitionen, bei denen das Sinn macht, mit Umgebungen formuliert haben, können wir diese Sachverhalte leicht auf Topologien
übertragen. Allerdings benötigt man den folgenden Satz, der auch begründet,
warum Bedingung (3) für Topologien gelten muss.
1.159 Satz: Sei U eine Topologie auf X. Dann ist U ∈ U genau dann, wenn
U Umgebung jedes Punktes x ∈ U ist.
50
KAPITEL 1. TOPOLOGIE DES EUKLIDSCHEN RAUMS
Beweis: Wenn U ∈ U ist, so ist U nach Definition Umgebung von x ∈ U .
Wenn umgekehrt U Umgebung aller seiner Punkte ist, so gilt
[
U = {V ⊆ U : V offen} ∈ U.
2
1.160. Bemerkung: Bedingung (2) für Topologien ist zum Beispiel beim
Beweis von Satz 1.24 Punkt (2) notwendig. Bedingung (1) besagt, dass jeder
Punkt mindestens eine Umgebung hat.
Kapitel 2
Das Lebesgue-Integral
2.1
Einführung
Ziel des Lebesgue-Integrals ist es, das Riemann-Integral deutlich zu erweitern.
Die Nachteile des Riemann-Integrals sind zu gravierend.
1. Das Riemann-Integral ist für die Integration von beschränkten Funktionen
auf beschränkten Mengen im Rd konzipiert. Die integrierbare Funktionenmenge ist zu klein, selbst wenn man uneigentliche Integrale dazunimmt.
Wir wollen irreguläre Funktionen auf dem Rd und auf anderen Mengen
integrieren können.
2. Zudem ist die Riemann-Integrierbarkeit von Funktionen und damit auch
die Riemann-Messbarkeit einer Menge nicht leicht nachzuprüfen. Wir wollen fast alle in der Praxis vorkommenden Mengen und Funktionen behandeln können.
3. Der Grenzübergang
Z
lim
fn (x) dx =
n→∞
Z lim fn (x) dx
n→∞
(2.1)
stimmt für das Riemann-Integral bei gleichmäßiger Konvergenz, versagt
aber im Allgemeinen. Wir wollen, dass dieser Grenzübergang in umfassender Form möglich wird.
2.1. Beispiel: Die Funktion
(
0, x ∈ Q,
f (x) =
1, sonst,
für x ∈ [0, 1] ist nicht Riemann-integrierbar. Sie ist aber punktweise Grenzwert
einer Riemann-integrierbaren Folge von Funktionen. Da nämlich Q abzählbar
ist, kann man eine Folge qn , n ∈ N, im Intervall [0, 1] wählen, so dass
Q ∩ [0, 1] = {qn : n ∈ N}
51
52
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
ist. Definiert man fn : [0, 1] → R durch
(
0, x = q1 , . . . , x = qn ,
fn (x) =
1, sonst,
so ist jedes fn Riemann-integrierbar mit Integral 1, denn es unterscheidet sich
von der konstanten Funktion 1 nur in endlich vielen Stellen. Aber der punktweise
und monoton fallende Grenzwert f der Folge fn ist nicht Riemann-integrierbar.
Wir möchten, dass auch diese Funktion integrierbar ist und das Integral 1 hat,
so dass der Grenzübergang in (2.1) wahr wird.
2.2. Beispiel: Man kann im vorigen Beispiel vielleicht damit leben, dass die
Grenzfunktion nicht Riemann-integrierbar ist. Wir geben noch ein anderes Beispiel. Dazu definieren wir ein symmetrisches Intervall der Gesamtlänge r1 < 1
um 1/2 und setzen t1 gleich seiner charakteristischen Funktion.
Abbildung 2.1: Die Funktion t2 mit r1 = r2 = 0.2.
Von (0, 1) ziehen wir dieses Intervall ab. Es bleiben zwei offene Intervalle
gleicher Länge. Dort definieren wir zwei Intervalle symmetrisch zur Mitte der
Intervalle mit der Gesamtlänge r2 < 1−r1 und definieren t2 als charakteristische
Funktion dieser Intervalle. Mit den 4 verbleibenden Intervallen verfahren wir
genauso. Wir setzen
t(x) =
r=
∞
X
tk (x),
k=0
∞
X
rk < 1.
k=0
Man nennt die Vereinigung der Intervalle, also den Träger von t, eine Cantorsche Menge.
2.1. EINFÜHRUNG
53
Die Grenzfunktion t ist nun genau dann Riemmann-integrierbar, wenn r = 1
ist. Denn dann bilden die Summen
sn = t1 + . . . + tn
Untersummen für t und die Obersumme wird durch 1[0,1] gebildet. Das Unterintegral und das Oberintegral sind beide gleich 1.
Falls r < 1 ist, so ist das Oberintegral immer noch 1. Denn die Längen
der 2d verbleibenden Intervalle sind höchstens 1/2d und damit gilt für jede
Treppenfunktion s ≥ t, dass s ≥ 1 auf [0, 1] sein muss. Das Unterintegral ist
aber r. In diesem Fall wäre also t nicht Riemann-integrierbar.
2.3. Beispiel: Allerdings funktioniert der Grenzübergang für das uneigentliche
Integral per Definition. Setzt man
(
0,
x < n1 ,
fn (x) =
1
√1 ,
n ≤ x ≤ 1,
x
so ist jedes fn Riemann-integrierbar und es gilt
1
Z
0
r !
1
fn (x) dx = 2 1 −
n
Der punktweise Grenzwert der Folge ist die Funktion
(
0,
x = 0,
f (x) =
√1 , 0 < x ≤ 1,
x
und es gilt in der Tat
1
Z
lim
n→∞
Z
1
fn (x) dx = 2 =
0
f (x) dx,
0
wobei rechts das uneigentliche Integral gemeint ist. Eine andere Möglichkeit ist
übrigens, die Funktionen
fn (x) = min{n, f (x)}.
zu betrachten.
2.4 Aufgabe: Für uneigentliche Integrale auf unendlichen Intervallen funktioniert
der Grenzübergang ebenfalls. Präzisieren Sie das anhand des uneigentlichen Integrals
Z ∞
1
.
x2
1
2.5 Aufgabe: Sei
(
f (x) =
1
,
x
x,
|x| > 1,
|x| ≤ 1.
Zeigen Sie, dass es für alle c ∈ R Folgen an → −∞, und bn → ∞ gibt mit
Z bn
f (x) dx = c.
lim
n→∞
an
54
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
In diesem Fall macht also das uneigentliche Integral keinen wohldefinierten Sinn. Berechnen Sie den Grenzwert für an = −bn . Diesen Wert nennt man den Hauptwert
dieses uneigentlichen Integrals.
Beispiel 2.1 zeigt, dass selbst das uneigentliche Riemann-Integral unseren
Ansprüchen nicht genügt. Unser neues, erweitertes Integral soll die folgenden
Eigenschaften haben.
1. Wir möchten eine möglichst große Menge von Funktionen integrieren können.
2. Die Menge der integrierbaren Funktionen ist ein Unterraum des Funktionenraums auf R. Das heißt, Summen und Vielfache von integrierbaren
Funktionen sind integrierbar.
3. Außerdem wollen wir, dass das Integral ein linearer Operator
Z
f 7→ f
ist, dass also gilt
Z
Z
Z
λf = λ
f,
Z
f +g =
Z
f+
g.
4. Das Integral soll ein monotoner Operator sein. Das heißt,
Z
Z
f ≤g ⇒
f ≤ g,
wobei die linke Ungleichung punktweise gemeint ist.
5. Der Operator soll das Riemann-Integral erweitern. Wenn also f : [a, b] →
R Riemann-integrierbar ist und
(
f (x), a ≤ x ≤ b,
f˜(x) =
0,
sonst,
die Fortsetzung auf ganz R, so soll
Z
b
Z
f (x) dx =
f˜
a
sein.
6. Es sollen möglichst allgemeine Grenzübergänge der Form
Z
Z
lim
fn = f
n→∞
möglich werden, wobei f (x) = limn→∞ fn (x) der punktweise Grenzwert
von fn ist.
2.1. EINFÜHRUNG
55
7. Für das Integral soll der Satz von Fubini gelten. Das bedeutet das man
das Integral auf dem Rd durch geschachtelte einfache Integrale berechnen
kann.
Z
Z Z
f=
...
f (x1 , . . . , xn ) dxn . . .
dx1 .
(2.2)
Dabei soll die Reihenfolge der Integration egal sein. Also zum Beispiel für
Funktionen auf dem R2
Z
Z Z
Z Z
f=
f (x, y) dx dy =
f (x, y) dy dx.
√
Abbildung 2.2: Einfache Funktion und f (x) = 1/ x
Es gibt verschiedene Wege, ein solches Integral einzuführen. In diesem Skript
wird ein maßtheoretischer Zugang gewählt, der den Vorteil hat, nicht nur im Rd
zu funktionieren. Wir skizzieren das weitere Vorgehen.
1. Wir definieren als erstes das Maß von Mengen. Dabei starten wir mit
einfachen Quadern, denen wir den gewohnten Inhalt, also das Produkt
der Seitenlängen, zuordnen. Also
µ(I1 × . . . × Id ) = µ(I1 ) · . . . · µ(Id ).
2. Das Maß auf Quadern erweitern wir dann mit Hilfe des Maßerweiterungssatzes von Carathéodory auf eine große Vielzahl von Mengen, die wir
messbare Mengen nennen. Es werden alle in der Praxis konstruierten Mengen messbar sein.
56
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
3. Schließlich integrieren wir einfache Funktionen. Einfache Funktionen sind
Funktionen, die nur endlich viele Werte λ1 , . . . , λn annehmen, und zwar
jeweils auf einer messbaren Menge. Also
für x ∈ Ai .
t(x) = λi ,
Dies erinnert an die Treppenfunktionen. Aber die Mengen Ai brauchen
keine Intervalle, Rechtecke bzw. Quader zu sein. Wir definieren dann
Z
n
X
t=
λi µ(Ai ).
i=1
4. Als nächstes definieren wir das Integral von nicht-negativen Funktionen
f ≥ 0 als
Z
Z
f = sup{ t : t ≤ f , t einfach}.
Im Unterschied zum Riemann-Integral ist kein Oberintegral nötig. Damit
dieses Integral die gewünschten Eigenschaften hat, müssen wir verlangen,
dass f punktweise monoton wachsend durch einfache Funktionen approximierbar ist. Solche Funktionen werden wir messbar nennen.
5. Im letzten Schritt definieren wir das Integral von Funktionen f = f+ − f−
durch
Z
Z
Z
f = f+ − f− .
Dabei sind f+ und f− die nicht-negative Funktionen
f+ = max{f, 0},
f− = − min{f, 0}.
Damit das Sinn macht, müssen diese beiden Integrale endlich sein. Solche
Funktionen nennen wir summierbar (oder integrierbar).
2.2
Treppenfunktionen, Elementarinhalt
Bei der Definition des Riemann-Integrals spielen Treppenfunktionen auf [a, b] die
entscheidende Rolle. Wir wollen hier diesen Begriff verallgemeinern und definieren Treppenfunktionen auf dem Rd , die allerdings außerhalb einer kompakten
Menge gleich 0 sein werden, also einen kompakten Träger haben.
Da wir einen maßtheoretischen Zugang anstreben, stehen aber nicht die Integrale von Treppenfunktionen im Vordergrund, sondern das Maß von Quadern,
das man Elementarinhalt nennt.
2.2.1
Definitionen
2.6. Definition: (1) Als halboffenen Quader (bzw. Rechteck oder Intervall)
bezeichnen wir Teilmengen des Rd der Form
Q = [a1 , b1 ) × . . . × [ad , bd ) = {x ∈ Rd : ai ≤ xi < bi für i = 1, . . . , d}
2.2. TREPPENFUNKTIONEN, ELEMENTARINHALT
57
wobei a1 , . . . , ad , b1 , . . . , bd ∈ R sind. Falls bi ≤ ai ist, so setzen wir [ai , bi ) = ∅.
(2) Den Inhalt eines halboffenen Quaders definieren wir dann als
µ(Q) = (b1 − a1 ) · . . . · (bd − ad ),
wenn der Quader nicht leer ist, sonst als 0.
(3) Die charakteristische Funktion eines halboffenen Quaders nennen wir eine
elementare Treppenfunktion.
(4) Eine Treppenfunktion t : Rd → R ist endliche Linearkombination von
elementaren Treppenfunktionen. Also
t(x) =
k
X
λn 1Qn (x),
n=1
wobei Q1 , . . . , Qk halboffene Quader sind und λ1 , . . . , λk ∈ R.
(5) Wir definieren dass Integral einer Treppenfunktion durch
Z
t=
k
X
λn µ(Qn ).
n=1
Abbildung 2.3: Treppenfunktion auf R
2.7. Beispiel: Die Treppenfunktion


1, 0 ≤ x < 1,
t(x) = 2, 1 ≤ x < 2,


0, sonst
lässt sich als
t = 1[0,1) + 2 · 1[1,2)
oder auch als
t = 1[0,2) + 1[1,2)
58
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
schreiben. Das Integral von t ist immer das gleiche, nämlich
Z
t = 1 · µ([0, 1)) + 2 · µ([1, 2)) = 1 · µ([0, 2)) + 1 · µ([0, 2)) = 3.
Wir werden im folgenden Satz nachweisen, dass das Integral einer Treppenfunktion nicht von seiner Darstellung abhängt. Nebenbei gewinnen wir eine Formel
für dieses Integral, die ein Spezialfall des Satzes von Fubini ist. An der Formel
ist außerdem ablesbar, das das Integral ein monotoner, linearer Operator im
Sinne der Einführung zu diesem Kapitel ist.
2.8 Satz: Das Integral einer Treppenfunktion t : Rd → R hängt nicht von
seiner Darstellung ab. Es gilt
Z
Z ∞ Z ∞
t(x1 , . . . , xd ) dxd . . . dx1 .
t=
...
−∞
−∞
Alle Integrale auf der rechten Seite existieren im Riemannschen Sinn, und sie
sind Integrale von Treppenfunktionen auf R. Es kommt außerdem nicht auf die
Reihenfolge der Integration nicht an. Also gilt zum Beispiel auch
Z
Z ∞ Z ∞
t=
...
t(x1 , . . . , xd ) dx1 . . . dxd .
−∞
−∞
Beweis: Man rechnet diesen Satz für elementare Treppenfunktionen in Rd
nach. Im R2 gilt etwa für Q = [a1 , b1 ) × [a2 , b2 )
Z
∞
Z
∞
t(x1 , x2 ) dx1
−∞
Z
b2
Z
!
b1
dx2 =
t(x1 , x2 ) dx1
−∞
a2
dx2
a1
= (b1 − a1 )(a2 − b2 ).
Dabei ist auch die Reihenfolge der Integration unerheblich. Für d > 2 überlassen
wir den Beweis als Übung. Wenn nun
t=
k
X
λn 1Qn (x)
n=1
mit halboffenen Quadern Q1 , . . . , Qk ist, so erhalten wir aufgrund der Linearität
des Riemann-Integrals, indem wir die Summe sukzessive aus den Integralen
herausziehen,
Z ∞ Z ∞
...
t(x1 , . . . , xn ) dxn . . . dx1
−∞
−∞
=
k
X
Z
=
Z
t dµ.
Z
∞
...
λn µ(Qn )
n=1
=
−∞
n=1
k
X
∞
λn
−∞
1Qn (x1 , . . . , xn ) dxn . . . dx1
2.2. TREPPENFUNKTIONEN, ELEMENTARINHALT
59
Das Integral ist also in der Tat unabhängig von der Darstellung von t als Linear2
kombination von elementaren Treppenfunktionen.
Unmittelbar aus dieser Darstellung ergibt sich die Linearität und die Monotonie des Integrals.
2.9 Satz: Der Raum der Treppenfunktionen ist ein linearer Unterraum aller
Funktionen. Das Integral auf dem Unterraum der Treppenfunktionen ein linearer, monotoner Operator auf diesem Raum.
2.10. Bemerkung: Als Folgerung aus dem obigen Satz erhalten wir eine endliche Summierbarkeit von Inhalten von halboffenen Quadern. Wenn etwa
Q1 , . . . , Qk
und Q disjunkte halboffene Quader sind mit
Q = Q1 ∪˙ . . . ∪˙ Qk ,
so gilt
µ(Q) = µ(Q1 ) + . . . + µ(Qn ).
Denn es gilt für disjunkte Vereinigungen
1Q = 1Q1 + . . . + 1Qk ,
und wir brauchen diese Funktionen nur auf beiden Seiten zu integrieren.
2.11 Aufgabe: Zeigen Sie für halboffene Quader mit
Q ⊆ Q1 ∪ . . . ∪ Qk
die Sub-Additivität
µ(Q) ≤ µ(Q1 ) + . . . + µ(Qk ).
Verallgemeinern Sie auf abzählbare Vereinigungen.
Wie der folgende Satz zeigt, können wir auch endlichen Vereinigungen von
halboffenen Quadern ein Maß zuordnen, indem wir diese Vereinigung als disjunkte Vereinigung darstellen. Die charakteristische Funktion einer solchen endlichen Vereinigung ist eine Treppenfunktion, deren Integral das Maß der Vereinigung ist. Zur Vorbereitung dienen folgende Aufgaben
2.12 Aufgabe: Zeigen Sie, dass der Schnitt von endlich vielen halboffenen Quadern
wieder ein halboffener Quader ist. Zeigen Sie zunächst, dass der Schnitt von halboffenen Intervallen ein halboffenes Intervall ist. Dann seien
Qn = I1,n × . . . × Id,n
für n = 1, . . . , m halboffene Quader. Zeigen Sie
m
\
Qn =
n=1
m
\
n=1
I1,n × . . . ×
m
\
Id,n .
n=1
Daraus folgt die Behauptung.
2.13 Aufgabe: Zeigen Sie, dass sich die Differenzmenge Q1 \ Q2 zweier halboffener
Quader als disjunkte Vereinigung von halboffenen Quadern schreiben lässt. Machen
Sie zunächst eine Skizze der möglichen Fälle im R2 .
60
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Sie dürfen aufgrund der vorigen Aufgabe Q2 ⊆ Q1 annehmen. Stellen Sie die Seiten
von Q1 in geeigneter Weise als disjunkte Vereinigung von 3 halboffenen Intervallen
dar. Die 3d möglichen Produkte zerlegen Q1 disjunkt. Eines dieser Produkte ist gleich
Q1 .
2.14 Aufgabe: Zeigen Sie für Mengen A1 , . . . , Ak und B1 , . . . , Bl
!
!
[
[
[
Ai ∩
Aj = (Ai ∩ Bj ).
i
j
i,j
2.15 Satz: Jede Vereinigung von halboffenen Quadern lässt sich zu einer Vereinigung von disjunkten Quadern verfeinern. Das heißt, zu halboffenen Quadern
Q1 , . . . , Qn existieren disjunkte halboffene Quader K1 , . . . , Km , so dass
Q1 ∪ . . . ∪ Qn = K1 ∪˙ . . . ∪˙ Km
und für alle i = 1, . . . , m existiert ein ji ∈ {1, . . . , n} mit
Ki ⊆ Qji .
Beweis: Wir verwenden Induktion nach der Anzahl der Quader. Wenn
Q1 , . . . , Qk
disjunkte halboffene Quader sind und Q ein weiterer halboffener Quader, so gilt
Q∪
k
[
n=1
Qn =
k
[
(Qn ∩ Q) ∪
k
[
(Qn \ Q) ∪
n=1
n=1
k
\
(Q \ Qn )
n=1
(Übung!). Die beteiligten Mengen sind disjunkt. Aus den obigen Aufgaben
folgt, dass sich die rechte Seite als disjunkte Vereinigung von halboffenen Quadern schreiben lässt, so dass jede der beteiligten Quader in einem der Quader
Q1 , . . . , Qk , Q enthalten ist.
2
2.16 Aufgabe: Folgern Sie aus dem obigen Satz, dass sich je zwei Treppenfunktionen t, s als Linearkombinationen von elementaren Treppenfunktionen auf denselben
disjunkten halboffenen Quadern darstellen lassen, also
t(x) =
k
X
λn 1Qn (x),
n=1
s(x) =
k
X
µn 1Qn (x).
n=1
2.17 Satz: Die Summe, die Differenz, das Produkt, das Maximum und das
Minimum zweier Treppenfunktionen sind wieder Treppenfunktionen.
Beweis: Summe und Differenz sind aufgrund der Definition trivial. Stellt man
zwei Treppenfunktionen mit einer gemeinsamen Menge von disjunkten Quadern
dar, so folgen auch die übrigen Behauptungen unmittelbar.
2
2.2. TREPPENFUNKTIONEN, ELEMENTARINHALT
2.2.2
61
Vereinigungen halboffener Quader
Wegen
1Q1 ∪...∪Qn = sup(1Q1 , . . . , 1Qn )
erhalten wir, dass die charakteristische Funktion einer Vereinigung von halboffenen Quadern im Rd eine Treppenfunktion ist und können daher den Inhalt
von solchen Mengen definieren.
2.18. Definition: Wir bezeichnen die Menge aller endlichen Vereinigungen
von halboffenen Quadern in Rd mit Hc , und definieren für H ∈ Hc den Inhalt
durch
Z
µ(H) = 1H .
2.19 Satz: (1) Hc ist stabil gegenüber endlichen Schnitten und Vereinigungen,
sowie gegenüber Differenzen. Das heißt
H 1 , H 2 ∈ H c ⇒ H 1 ∩ H 2 , H 1 ∪ H 2 , H 1 \ H2 ∈ H c .
(2) Wenn H1 , . . . , Hk ∈ Hc disjunkt sind, so gilt
µ
[k
˙
n=1
Hn
=
k
X
µ(Hn ).
n=1
(3) Der Inhalt ist außerdem monoton, also
H1 ⊆ H2 ⇒ µ(H1 ) ≤ µ(H2 )
für H1 , H2 ∈ Hc .
Beweis: Der Satz folgt unmittelbar aus den Erkenntnissen über Treppenfunktionen und deren Integralen. Beispielsweise gilt
1H1 \H2 = 1H1 − 1H1 1H2
2
und nach Satz 2.17 ist dies eine Treppenfunktion.
2.20. Definition: Als Erweiterung der Menge Hc definieren wir die Menge H
aller endlichen Vereinigungen von halboffenen Quadern der Form
Q = I1 × . . . × Id ,
wobei aber auch nicht beschränkte Intervalle zugelassen seien. Das heißt, jedes
Ik hat eine der Formen
(−∞, ∞),
(−∞, b),
[a, ∞),
[a, b).
Den Inhalt definieren wir wie in Hc , wenn alle Intervalle beschränkt sind und
sonst gleich ∞.
2.21. Bemerkung: Der obige Satz gilt auch für H. Dazu zeigt man auch dort,
dass sich jedes Element H ∈ H zu einer disjunkten Vereinigung von Quadern
62
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
verfeinern lässt, die nun aber nicht mehr beschränkt sein brauchen. Deswegen
ist sind auch Maxima, Minima, Produkte etc. von Treppenfunktionen auf H
wieder Treppenfunktionen auf H. Der Beweis des Satzes geht dann ganz analog.
Wir werden nun zeigen, dass die Inhalte auch abzählbar additiv (σ-additiv)
sind.
2.22 Satz: Sei Hn , n ∈ N, eine Folge von disjunkten Mengen in H, und
H=
[
Hn
n∈N
ebenfalls in H. Dann gilt
µ(H) =
∞
X
µ(Hn ).
n=1
Beweis: (1) Wir zeigen den Satz zunächst für den Fall, dass Q = H ein
halboffener beschränkter Quader ist und Qn = Hn ebenfalls halboffene Quader
sind, die dann natürlich auch beschränkt sein müssen. Es gilt aufgrund der
Monotonie
k
X
µ(Q) ≥
µ(Qn ).
n=1
für alle k ∈ N. Also konvergiert die Summe und
µ(Q) ≥
∞
X
µ(Qn ).
n=1
Wir vergrößern nun zu einem vorgegebenen > 0 jeden Quader Qn ein klein
wenig zu einem Quader Q̃n , so dass gilt
Qn ⊂ Q̃◦n ⊂ Q̃n
und
µ(Q̃n ) ≤ (1 + )µ(Qn ).
Außerdem verkleinern wir Q ein klein wenig zu einem halboffenen Quader Q̃,
so dass gilt
Q̃ ⊂ Q̃ ⊂ Q
und
µ(Q̃) ≥ µ(Q) − .
Dann bilden die Mengen Q̃◦n , n ∈ N, eine offene Überdeckung der kompakten
Menge
K = Q̃.
2.2. TREPPENFUNKTIONEN, ELEMENTARINHALT
63
Es gibt also eine endliche Überdeckung aus Mengen Q̃1 , . . . , Q̃k . Es folgt aus der
Monotonie des Inhalts
µ(Q) ≤ + µ(Q̃)
≤+
k
X
µ(Q̃n )
n=1
≤ + (1 + )
≤ + (1 + )
k
X
n=1
∞
X
µ(Qn )
µ(Qn ).
n=1
Mit → 0 folgt
µ(Q) ≤
∞
X
µ(Qn ).
n=1
(2) Nun nehmen wir an, dass Q = H ein unbeschränkter halboffener Quader
ist, und alle Qn = Hn halboffene Quader. Sei zu r > 0 der Quader
Rr = [−r, r) × . . . × [−r, r)
definiert. Dann definieren wir
Qr = Q ∩ Rr ,
Qn,r = Qn ∩ Rr .
Aufgrund von (1) folgt
∞
X
µ(Qn ) ≥
n=1
∞
X
µ(Qn,r ) = µ(Qr )
n=1
Man überlegt sich aber leicht, dass µ(Qr ) mit r → ∞ gegen ∞ konvergiert. Es
folgt
∞
X
µ(Qn ) = ∞ = µ(Q).
n=1
(3) Als nächstes nehmen wir nur noch an, dass Q = H ein halboffener Quader ist.
Dann sind die Hn allerdings endliche disjunkte Vereinigungen von halboffenen
Quadern. Die Behauptung folgt damit leicht aus der Additivität und Schritt (1)
und (2).
(4) Im allgemeinen Fall ist
H = Q1 ∪˙ . . . ∪˙ Qk
mit disjunkten halboffenen Quadern Qµ . Es gilt aufgrund der Voraussetzung
H=
k [
∞
[
µ=1 n=1
(Qµ ∩ Hn ).
64
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
und
Qµ =
[
˙ ∞
n=1
(Qµ ∩ Hn )
ist eine disjunkte Vereinigung. Aufgrund von Schritt (3) ist
µ(Qµ ) =
∞
X
µ(Qµ ∩ Hn )
n=1
2
für µ = 1, . . . , k. Durch Addition folgt die Behauptung.
2.23. Beispiel: Ein Beispiel in R ist eine monoton wachsende Folge
0 = x0 < x1 < x2 < . . .
mit
lim xn = a.
n→∞
Die Intervalle
In = [xn−1 , xn )
sind dann disjunkt, ihre Vereinigung ist [0, a), und es gilt in der Tat
!
∞
∞
∞
[
X
X
µ[0, a) = µ
In =
µ(In ) =
(xn − xn−1 ) = lim xm = a.
n=1
n=1
Denn
m
X
n=1
m→∞
(xn − xn−1 ) = xm .
n=1
Dieses Beispiel kann man für den R2 erweitern, indem man die Produkte
In × Im ,
n, m ∈ N
betrachtet. Dies sind abzählbar vielen Produkte. Setzt man
an = µ(IN ) = xn − xn−1 ,
also
∞
X
an = a,
n=1
so folgt aus der σ-Additivität
X
an am = a2 .
n,m∈N
Man kann diese Reihe beliebig anordnen. Zum Beispiel definieren wir die disjunkten Mengen
Hn = (I1 × In ) ∪ . . . ∪ (In × I1 ).
(siehe Abbildung 2.4). Wir erhalten


∞
X
X

ak an+1−k  = a2 .
n=1
k=1,...,n
2.3. SIGMA-ALGEBREN
65
Abbildung 2.4: Die Menge H4
Wählt man konkret an = 1/2n , so folgt
∞
X
n
= 1.
n+1
2
n=1
2.24 Aufgabe: Beweisen Sie diese Formel durch gliedweises Differenzieren der Potenzreihe
∞
X
1
xn =
1
−
x
n=1
für x ∈ (−1, 1).
2.3
Sigma-Algebren
Ziel der weiteren Überlegungen ist es, allgemeinere Treppenfunktionen zu erhalten. Die Form dieser Funktionen wird wieder
t(x) =
k
X
λn 1Qn
n=0
sein. Allerdings werden die Mengen Qn nicht notwendigerweise einfache Quader
oder auch Riemann-messbare Mengen sein. In diesem Abschnitt definieren wir
die Eigenschaften, die unser System von zulässigen Mengen haben soll.
2.3.1
Definition
Zur Abkürzung schreiben wir von nun an für das Komplement
Ac = Ω \ A,
solange klar ist, in welcher Menge Ω das Komplement genommen wird.
2.25. Definition: Ein Mengensytem A von Teilmengen einer Menge Ω heißt
(Mengen)-Algebra auf Ω, wenn
66
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
(1) Ω ∈ A.
(2) Für alle Mengen A gilt
A ∈ A ⇒ Ac ∈ A.
(3) Für alle Mengen A, B gilt
A, B ∈ A ⇒ A ∪ B ∈ A.
Eine Algebra A heißt σ-Algebra, wenn über Bedingung (3) hinaus gilt
(3’)
A1 , A2 , . . . ∈ A ⇒
∞
[
An ∈ A.
n=1
Einen Raum Ω zusammen mit einer σ-Algebra A nennt man Messraum,
auch wenn wir kein Maß auf dem Raum spezifiziert haben. Es ist üblich, eine
Menge A ⊆ Ω messbar zu nennen, wenn sie in der σ-Algebra ist.
2.26 Satz:
(1) Jede Algebra enthält die leere Menge.
(2) Eine Algebra enthält auch die Schnitte von je zwei Mengen aus der Algebra,
und daher die Schnitte und Vereinigungen von endlich vielen Mengen.
(3) Eine Algebra enthält außerdem die Differenzen zweier Mengen aus der Algebra.
(4) Eine σ-Algebra enthält auch abzählbare Schnitte von Mengen.
Beweis: (1) ∅ = Ωc .
(2) Es gilt
c
A ∩ B = (B c ∪ Ac ) .
(3) Es gilt
A \ B = A ∩ Bc.
(4) Eine Verallgemeinerung der obigen Formel für Schnitte gilt für abzählbare
Schnitte (Übung!).
2
2.27 Aufgabe: Zeigen Sie, dass man Bedingung (3) für Algebren durch
A, B ∈ A ⇒ A ∩ B ∈ A.
äquivalent ersetzen kann. Beweisen Sie die analoge Ersetzung auch für σ-Algebren.
Ein Mengensystem, das mit je zwei Menge auch deren Schnitt enthält, nennen wir ∩-stabil. Algebren sind also ∩-stabil.
2.28. Beispiel: Die Potenzmenge A = P(Ω) von Ω ist eine σ-Algebra. Diese
Algebra ist insbesondere für endliche und abzählbare Mengen interessant. Wenn
2.3. SIGMA-ALGEBREN
67
eine Algebra auf einer endlichem Menge die Punktmengen enthält, ist sie schon
die Potenzmenge. Dasselbe gilt für eine σ-Algebra auf abzählbaren Mengen.
2.29. Beispiel: Die kleinste σ-Algebra auf einer Menge Ω besteht aus den
Mengen
∅, Ω.
Das für uns zunächst wichtigste Beispiel halten wir nochmals in einen Satz
fest, den wir schon bewiesen haben.
2.30 Aufgabe: Für eine Grundmenge Ω ist das Mengensystem
{A ⊆ Ω : A oder Ac abzählbar oder endlich}
eine σ-Algebra auf Ω und das Mengensystem
{A ⊆ Ω : A oder Ac endlich}
eine Algebra.
2.31 Satz: Unsere Menge H von endlichen Vereinigungen von halboffenen
Quadern in Rd ist eine Algebra.
Dies ist das wichtigste Beispiel für eine Algebra. Wir nennen die Algebra die
Algebra der halboffenen Quader.
2.3.2
Die erzeugte Sigma-Algebra
2.32 Satz: Zu jede Mengensystem M von Teilmengen von Ω gibt es eine
kleinste σ-Algebra, die M umfasst. Wir nennen diese σ-Algebra die von M
erzeugte σ-Algebra.
Beweis: Es genügt zu zeigen, dass der Durchschnitt eines Systems von σAlgebren wieder eine σ-Algebra ist. Dies ist eine Übung. Da P(Ω) eine σ-Algebra
ist, die M umfasst, so kann man die erzeugte σ-Algebra als Durchschnitt aller
σ-Algebren definieren, die M umfassen.
2
2.33. Bemerkung: Im Unterschied zu dem aufgespannten Unterraum oder der
konvexen Hülle eine Menge kann man bei der erzeugten σ-Algebra keine einfache
konstruktive Beschreibung angeben. Man kann allerdings Elemente angeben,
die in dieser Algebra sein müssen, wie abzählbare Vereinigungen, Differenzen
und abzählbare Schnitte des Erzeugendensystems. Außerdem ist klar, dass ein
kleineres Erzeugendensystem eine kleinere oder gleiche σ-Algebra erzeugt.
2.34. Beispiel: Wenn
Ω = {x1 , x2 , . . .}
abzählbar oder endlich ist, so ist die von den Punktmengen
{x1 }, {x2 }, . . .
erzeugte σ-Algebra die Potenzmenge von Ω. Denn jedes σ-Algebra erhält abzählbare Vereinigungen und man kann alle Teilmengen von Ω als abzählbare oder
68
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
endliche Vereinigung von Punktmengen erhalten. Wenn allerdings Ω überabzählbar ist, so erhält man lediglich alle abzählbaren Teilmengen M und deren Komplemente M c , also die σ-Algebra aus Aufgabe 2.30.
Für die spätere Verwendung benötigen wir eine gegenüber (3) eingeschränkte
Bedingung. Wir fordern nur die Existenz disjunkter abzählbarer Vereinigungen.
Diese Einschränkung führt zu einer σ-Algebra, wenn ∩-Stabilität dazukommt.
2.35. Bemerkung: Sei A eine Algebra. Dann ist die Bedingung (3’) äquivalent dazu, dass disjunkte, abzählbare Vereinigungen in A liegen. Denn sei
A1 , A2 , . . . ∈ A. Dann sind für n ∈ N auch die Mengen
Bn = A1 ∪ . . . ∪ An
in A, sowie die Mengen Bn+1 \ Bn , weil A eine Algebra ist. Nun gilt
∞
[
An = A1 ∪˙
n=1
[
˙ ∞
n=1
(Bn+1 \ Bn ).
Diese Vereinigung ist disjunkt. Man kann also jede abzählbare Vereinigung
von Mengen einer Algebra als disjunkte Vereinigung von Mengen der Algebra
schreiben. Wenn A lediglich die Bedingungen (1) und (2) erfüllt, und disjunkte abzählbare Vereinigungen, dann braucht A keine σ-Algebra zu sein (siehe
Aufgabe 2.39).
2.36. Definition: Eine Mengensystem auf Ω mit den Eigenschaften (1) und
(2) und der Eigenschaft
A1 , A2 , . . . ∈ A disjunkt ⇒
[
˙ ∞
n=1
An ∈ A,
nennt man Dynkin-System.
2.37 Satz: Sei M eine ∩-stabiles Mengensystem auf Ω und D ein DynkinSystem, das M umfasst. Dann umfasst D auch die von M erzeugte σ-Algebra.
Beweis: Analog zur erzeugten Algebra gibt es ein minimales Dynkin-System,
dass M umfasst. Wir können annehmen, dass D dieses System ist.
(1) Wir zeigen, dass D ∩-stabil ist. Dazu definieren wir für A ∈ D
DA = {B ⊆ Ω : A ∩ B ∈ D}
Es genügt zu zeigen, dass DA ein Dynkin-System ist, denn daraus folgt D ⊆ DA ,
was beweist, dass D ∩-stabil ist. Offenbar ist Ω ∈ DA . Für B ∈ DA gilt
c
A ∩ B c = A \ B = ((A ∩ B) ∪˙ Ac ) ∈ D.
Wenn A1 , A2 , . . . disjunkt in DA sind, dann gilt
[
[
˙ ∞
˙ ∞
A∩
An =
(A ∩ An ) ∈ D.
n=1
n=1
(2) Wir zeigen nun, dass jedes ∩-stabile Dynkinsystem eine σ-Algebra ist. Daraus folgt dann die Behauptung. Zunächst gilt für A, B ∈ D mit B ⊆ A
c
A \ B = (B ∪˙ Ac ) ∈ D.
2.3. SIGMA-ALGEBREN
69
Es folgt für zwei Mengen A, B ∈ D
A ∪ B = A ∪˙ (B \ (A ∩ B)) ∈ D.
Dass Dynkin-System ist also eine Algebra. Mit Hilfe von Bemerkung 2.35 folgt,
2
dass es eine σ-Algebra ist.
2.38. Bemerkung: Aus diesem Satz folgt, dass das von einem ∩-stabilem
System erzeugte Dynkin-System gleich der von diesem System erzeugten σAlgebra ist. Denn jede σ-Algebra ist ja ein Dynkin-System.
2.39 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die Menge aller endlichen Teilmengen mit gerader
Elementezahl einer endlichen Teilmenge mit gerader Elementezahl ein Dynkin-System,
aber keine Algebra ist.
2.3.3
Borel-Mengen
2.40. Definition: Die von den offenen Mengen im Rd erzeugte σ-Algebra
heißt σ-Algebra der Borelmengen.
2.41 Satz: (1) Alle abgeschlossenen Mengen und alle endlichen oder abzählbaren Mengen sind Borelmengen.
(2) Wenn f : Rd → Rm stetig ist, dann ist das Urbild jeder Borelmenge in Rm
unter f wieder Borelmenge in Rd .
(3) Die σ-Algebra der Borelmengen in Rd enthält alle Produkte von Borelmengen
in R.
(4) Alle offenen, halboffenen und abgeschlossenen, beschränkten oder auch unbeschränkten Intervalle sind Borelmengen. Also auch alle Produkte von solchen
Intervallen.
Beweis: (1) Dies ist klar, da abgeschlossene Mengen Komplemente von offenen Mengen sind.
(2) Die Menge der Mengen, deren Urbilder Borelmengen sind, ist eine σ-Algebra
(Übung!). Da f stetig ist, enthält diese σ-Algebra alle offenen Mengen nach
Satz 1.26. Folglich enthält sie alle Borelmengen.
(3) Für alle k = 1, . . . , d ist die Projektion
πk (x1 , . . . , xd ) = xk
stetig. Folglich ist
A1 × . . . × Ad = π1−1 (A1 ) ∩ . . . ∩ πd−1 (Ad )
für Borelmengen A1 , . . . , Ad eine Borelmenge.
(4) Offene und abgeschlossene Intervalle sind Borelmengen. Halboffene Intervalle lassen sich als Schnitt eines offenen und eines abgeschlossenen Intervalls
schreiben.
2
70
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
2.42 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die σ-Algebra der Borelmengen in Rd von der Algebra
der halboffenen Quadern H erzeugt wird. Zeigen Sie dazu, dass alle offenen Mengen
abzählbare Vereinigungen von halboffenen Quadern sind.
2.43 Aufgabe: Zeigen Sie, dass auch die Intervalle (−∞, c], c ∈ R die Borelmengen
auf R erzeugen. Zeigen Sie dasselbe für die Mengen vom Typ (c, ∞), [c, ∞) bzw. vom
Typ (−∞, c).
2.4
Maße
Nachdem wir nun das System von Borelmengen definiert haben, müssen wir
auf diesen Mengen ein Maß finden, dass den Inhalt für Quader erweitert. Wir
verwenden dazu einen Maßerweiterungssatz, der auf Carathéodory zurück geht.
Dieser Satz kann für beliebige, aus einer Algebra erzeugte σ-Algebren bewiesen
werden.
2.4.1
Definition
2.44. Definition: Sei A eine Algebra in Ω. Eine mengenwertige Funktion
µ : A → [0, ∞] heißt Prämaß auf A, wenn die folgenden Bedingungen gelten.
(1) µ(∅) = 0
(2) Für disjunkte Mengen A1 , A2 , . . . ∈ A, deren Vereinigung in A ist, gilt
µ
[∞
˙
n=1
An
=
∞
X
µ(An ).
n=1
Diese Bedingung nennt man σ-Additivität von µ.
Ein Prämaß auf einer σ-Algebra nennt man Maß. Der zugehörige Raum
heißt dann Maßraum. Die Mengen in der σ-Algebra heißen messbare Mengen.
2.45. Bemerkung: Ein Maß ist auch additiv für endliche, disjunkte Vereinigungen. Denn seien A1 , . . . , An disjunkt, so kann man diese Folge durch
A1 , . . . , An , ∅, ∅, . . . fortsetzen und erhält aufgrund der σ-Additivität
µ(A1 ∪˙ . . . ∪˙ An ) =
n
X
µ(Ak ).
k=1
Deswegen ist ein Maß auch monoton, d.h.
A ⊆ B ⇒ µ(A) ≤ µ(B)
für messbare Mengen A, B. Denn wegen A ⊆ B gilt
B = A ∪˙ (B \ A)
2.4. MASSE
71
Es folgt
µ(B) = µ(A) + µ(B \ A) ≥ µ(A).
2.46. Beispiel: Das für uns wichtigste Beispiel ist das Prämaß auf H im Rd .
Dass dieses Prämaß σ-additiv ist, war die Inhalt von Satz 2.22.
2.47. Beispiel: In der Wahrscheinlichkeitsrechnung betrachtet man Maße auf
einer endlichen oder abzählbaren Menge Ω. Dabei ist die Potenzmenge die σAlgebra der messbaren Mengen. Sei also
Ω = {x1 , x2 , . . .}.
Dann braucht man nur
µi = µ({xi })
für alle i festzulegen und hat damit aufgrund der σ-Additivität des Maßes µ(M )
für alle M ⊆ Ω festgelegt. Denn es gilt dann
X
µ(M ) =
µ({x}).
x∈M
Dies ist eine abzählbare Summe, die unabhängig von der Anordnung der Summanden konvergiert. Im Falle von Wahrscheinlichkeiten nimmt man zusätzlich
an, dass
∞
X
µ(Ω) =
µi = 1
n=1
ist. Ein Maß mit µ(Ω) = 1 heißt Wahrscheinlichkeitsmaß. µ(M ) ist dann die
Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig“ aus Ω gezogenes Element in M liegt. Zur
”
Simulation eines Würfels wird man zum Beispiel
Ω = {1, 2, 3, 4, 5, 6}
setzen und
1
.
6
Folglich wäre die Wahrscheinlichkeit, einen geraden Wurf zu erreichen gleich
µ({1}) = . . . = µ({6}) =
µ({2, 4, 6}) = µ({2}) + µ({4}) + µ({6}) =
1
.
2
2.48. Beispiel: Auf einer beliebigen Menge Ω kann man das Zählmaß ζΩ
definieren. Dazu setzt man
(
|A|, A endliche Menge,
ζΩ (A) =
∞, sonst.
Dies ist ein Maß auf der Potenzmenge von Ω. Für endliche Mengen erhält man
ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf Ω durch
µ(A) =
|A|
.
|Ω|
72
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Man nennt dieses Maß das normierte Zählmaß auf Ω. Der Quotient ist dann
die Anzahl der günstigen Fälle durch die Gesamtzahl der Fälle“.
”
2.49 Satz: (1) Sei Ω ein Maßraum mit Maß µ. Für eine Folge An ⊆ Ω, n ∈ N,
mit
A1 ⊇ A2 ⊇ . . .
gilt
µ(A1 ) ≥ µ(A2 ) ≥ . . .
und
∞
\
µ
!
An
= lim µ(An ),
n→∞
n=1
wenn zusätzlich µ(A1 ) < ∞ vorausgesetzt wird.
(2) Falls
A1 ⊆ A2 ⊆ . . . ,
so gilt
µ(A1 ) ≤ µ(A2 ) ≤ . . .
und, auch ohne die Zusatzvoraussetzung aus (1),
!
∞
[
µ
An = lim µ(An ).
n∈N
n=1
Beweis: (1) Mit Bn = An \ An+1 folgt
! ∞
[
\
˙ ∞
An ∪˙
Bn = A1 ,
n=1
n=1
wobei diese Vereinigung disjunkt ist. Aus der σ-Additivität folgt
!
∞
∞
\
X
µ
An +
µ(Bn ) = µ(A1 ).
n=1
n=1
Nun gilt aber µ(Bn ) = µ(An ) − µ(An+1 ). Also
!
!
∞
k
\
X
µ
An = lim µ(A1 ) −
µ(Bn ) = lim µ(Ak+1 ).
k→∞
n=1
k→∞
n=1
(2) In Fall der aufsteigenden Folge setzen wir Bn = An+1 \ An . Es folgt aus der
σ-Additivität
!
k
X
lim µ(Ak+1 ) = lim µ(A1 ) +
µ(Bn )
k→∞
k→∞
n=1
= µ(A1 ) +
∞
X
n=1
=µ
∞
[
n=1
!
An
µ(Bn )
2.4. MASSE
73
2
2.50 Aufgabe: Zeigen Sie, dass in der Aussage über den abzählbaren Schnitt µ(A1 ) <
∞ notwendig ist. Betrachten Sie dazu
An = [n, ∞) ∩ N
und das Zählmaß ζN .
2.51. Bemerkung: Für ineinander geschachtelte Folgen A1 ⊇ A2 ⊇ . . . definiert man bisweilen
∞
\
inf An =
An
n∈N
n=1
Das Infimum der Maße ist dann das Maß des Infimum der Mengen. Da für
beliebige Mengenfolgen An , n ∈ N, die Mengen
Bn =
∞
[
Ak
k=n
ineinander geschachtelt sind, macht es Sinn, deren Durchschnitt zu berechnen
und zu definieren
∞ [
∞
\
lim inf An =
Ak .
n∈N
n=1 k=n
x ist in lim inf An genau dann, wenn es zu jedem n ∈ N ein k ≥ n gibt mit
x ∈ Ak . Analog definiert man den lim sup, indem man Schnitt und Vereinigung
vertauscht.
2.52 Aufgabe: Zeigen Sie, dass im Allgemeinen gilt
„
«
lim inf µ(An ) 6= µ lim inf An .
n∈N
n∈N
Geben Sie Beispiele mit <“ und mit >“ an. Dabei genügt es, Folgen von Intervallen
”
”
der Länge 1 geschickt zu wählen.
2.53 Aufgabe: Zeigen Sie, dass ein Prämaß auf einer Algebra σ-subadditiv ist. Das
heißt, falls
[
An
A⊆
n∈N
für eine Folge An von messbaren Mengen und eine messbare Menge A, so folgt
!
µ(A) ≤ µ
[
An
.
n∈N
Man beachte, dass dies für Maße auf σ-Algebren sofort aus der Monotonie des Maßes
folgt, da dann die Vereinigung in der σ-Algebra liegt.
74
2.4.2
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Maßerweiterung
Der folgende Maßerweiterungssatz ist in sehr vielen Fällen nützlich, um
tatsächlich ein Maß auf einer erzeugten σ-Algebra zu erhalten. Der Orginalbeweis stammt von Carathéodory. Er beruht darauf, dass man ein äußeres
Maß für Mengen wie folgt definiert.
2.54. Definition: Sei A eine Algebra auf einer Menge Ω und µ ein Maß auf
A. Das äußere Maß einer Menge A ⊆ Ω ist
(∞
)
X
S∞
∗
µ (A) = inf
µ(An ) : A1 , A2 , . . . in A mit A ⊆ n=1 An .
n=1
2.55. Bemerkung: Es gilt
µ∗ (A) = µ(A)
für alle A ∈ A.
Da man die Folge A, ∅, ∅, . . . betrachten kann gilt nämlich ≤“, und aus der
”
σ-Subadditivität des Prämaßes nach Aufgabe 2.53 folgt ≥“.
”
2.56. Bemerkung: Aufgrund von Bemerkung 2.35 kann man sich in der Definition auf disjunkte Vereinigungen beschränken.
2.57 Aufgabe: Zeigen Sie, dass das äußere Maß monoton ist. Also
A ⊆ B ⇒ µ∗ (A) ≤ µ∗ (B).
Geben Sie ein Beispiel an, bei dem links ⊂“ steht und rechts =“.
”
”
2.58 Satz: Das äußere Maß ist σ-subadditiv. Es gilt also für alle Folgen
A1 , A2 , . . . ∈ Ω
!
∞
∞
[
X
∗
µ
Ak ≤
µ∗ (Ak ).
k=1
k=1
Beweis: Man benötigt das abzählbare Auswahlaxiom. Sei > 0 vorgegeben.
Wir wählen dann nämlich zu jedem Ak eine Folge von Mengen An,k ∈ A, n ∈ N,
mit
∞
X
µ(An,k ) ≤ µ∗ (Ak ) + k ,
2
n=1
sowie
Ak ⊆
∞
[
An,k .
n=1
Die Menge der An,k , n, k ∈ N, ist dann abzählbar und wir können diese Mengen
also in einer Folge Bn , n ∈ N anordnen. Es folgt zunächst
∞
[
k=1
Ak ⊆
∞
[
Bn .
n=1
Sei nun m ∈ N. Dann gibt es ein M ∈ N, so dass jede der Mengen B1 , . . . , Bm
unter den Mengen
Ak,n , 1 ≤ k, n ≤ M
2.4. MASSE
75
vorkommt. Es folgt
m
X
µ(Bn ) ≤
n=1
M X
M
X
µ(Ak,n )
k=1 n=1
≤
M X
∞
X
µ(Ak,n )
k=1 n=1
≤
≤
M
X
)
2k
!
(µ∗ (Ak ) +
k=1
∞
X
µ∗ (Ak )
+ .
k=1
Mit m → ∞ folgt
∗
µ
∞
[
!
Ak
k=1
≤
∞
X
n=1
µ(Bn ) ≤
∞
X
!
∗
µ (Ak )
+
k=1
und damit die Behauptung.
2
Wir werden zeigen, dass das äußere Maß tatsächlich ein Maß auf der erzeugten σ-Algebra ist.
2.59 Satz: (Maßerweiterungssatz von Carathéodory) Jedes Prämaß auf
einer Algebra kann zu einem Maß auf der erzeugten σ-Algebra erweitert werden,
und zwar ist das äußere Maß ein Maß, das eine solche Erweiterung darstellt.
Beweis: Die Algebra sei A, und µ∗ bezeichne das oben definierte äußere Maß
auf Ω. Wir setzen
A∗ = {A ⊆ Ω : µ∗ (M ) = µ∗ (M ∩ A) + µ∗ (M ∩ Ac ) für alle M ⊆ Ω}
Wir werden zeigen, dass A∗ eine σ-Algebra ist, die A umfasst, und dass µ∗
ein Maß auf A∗ ist. Da µ∗ auf A mit µ übereinstimmt, ist µ∗ die gesuchte
Maßerweiterung auf die von A erzeugte Algebra.
(1) Ω ∈ A∗ ist klar. Offensichtlich enthält A∗ mit einer Menge A auch ihr
Komplement Ac . Wir behandeln zunächst endliche Vereinigungen. Sei A, B ∈
A∗ . Dann gilt für alle M ⊆ Ω
µ∗ (M ) = µ∗ (M ∩ A) + µ∗ (M ∩ Ac ),
µ∗ (M ∩ A) = µ∗ (M ∩ A ∩ B) + µ∗ (M ∩ A ∩ B c ),
µ∗ (M ∩ Ac ) = µ∗ (M ∩ Ac ∩ B) + µ∗ (M ∩ Ac ∩ B c ).
Es folgt
µ∗ (M ) = µ∗ (M ∩ A ∩ B) + µ∗ (M ∩ A ∩ B c )
+ µ∗ (M ∩ Ac ∩ B) + µ∗ (M ∩ Ac ∩ B c ).
76
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Diese Gleichung gilt für die Menge M ∩ (A ∪ B) an der Stelle von M . Also
µ∗ (M ∩ (A ∪ B)) = µ∗ (M ∩ A ∩ B) + µ∗ (M ∩ A ∩ B c )
+ µ∗ (M ∩ Ac ∩ B). (2.3)
Insgesamt
µ∗ (M ) = µ∗ (M ∩ (A ∪ B)) + µ∗ (M ∩ Ac ∩ B c )
= µ∗ (M ∩ (A ∪ B)) + µ∗ (M ∩ (A ∪ B)c ).
Also A∪B ∈ A∗ . A∗ ist also eine Algebra. Wir brauchen wegen Bemerkung 2.35
nur disjunkte Folgen A1 , A2 , . . . ∈ A∗ zu betrachten. Für disjunkte A, B ∈ A∗
liefert (2.3) für alle M ⊆ Ω
µ∗ (M ∩ (A ∪˙ B)) = µ∗ (M ∩ A) + µ∗ (M ∩ B).
Es folgt per Induktion für n ∈ N
[
˙ n
µ∗ (M ∩ (
k=1
Ak )) =
n
X
µ∗ (M ∩ Ak ).
k=1
Es folgt aus der Monotonie des äußeren Maßes
[
˙ n
µ∗ (M ) = µ∗ (M ∩ (
k=1
≥
n
X
[
˙ n
Ak )) + µ∗ (M ∩ (
k=1
Ak )c )
[
˙ ∞
Ak )c ).
µ∗ (M ∩ Ak ) + µ∗ (M ∩ (
k=1
k=1
Also aufgrund der σ-Subadditivität des äußeren Maßes
µ∗ (M ) ≥
∞
X
[
˙ ∞
Ak )c )
µ∗ (M ∩ Ak ) + µ∗ (M ∩ (
k=1
k=1
[
[
˙ ∞
˙ ∞
Ak )c ).
Ak )) + µ∗ (M ∩ (
≥ µ∗ (M ∩ (
k=1
k=1
Aufgrund der Subadditivität des äußerem Maßes gilt hier =“. Also ist die
”
Vereinigung der Ak in A∗ .
(3) Setzt man in der vorigen Gleichung
M=
[
˙ ∞
k=1
Ak ,
so folgt, dass µ∗ ein Maß auf A ist.
(4) Sei A ∈ A. Wir zeigen A ∈ A∗ . Sei M ⊆ Ω und A1 , A2 , . . . ∈ A mit
M⊆
n
[
Ak .
k=1
Dann folgt aufgrund der Additivität des Prämaßes
∞
X
k=1
µ(Ak ) =
∞
X
k=1
µ(Ak ∩ A) +
∞
X
k=1
µ(Ak ∩ Ac ) ≥ µ∗ (M ∩ A) + µ∗ (M ∩ Ac ).
2.4. MASSE
77
Also
µ∗ (M ) ≥ µ∗ (M ∩ A) + µ∗ (M ∩ Ac ).
2
Dort gilt also =“ und daher folgt A ∈ A∗ .
”
Die Erweiterung ist nicht immer eindeutig. Der folgende Satz gibt eine Bedingung dafür an, dass das erzeugte Maß eindeutig ist. Wir setzen voraus, dass
das Erzeugendensystem ∩-stabil ist. Außerdem müssen die Mengen mit endlichem Maß den gesamten Raum Ω im folgenden Sinn ausschöpfen.
2.60. Definition: Ein Maß µ auf einem Mengensystem M in Ω heißt σendlich, wenn es eine Folge von Mengen
M1 ⊆ M2 ⊆ . . .
gibt mit
µ(Mn ) < ∞
und
∞
[
für alle n ∈ N
Mn = Ω.
n=1
2.61 Satz: Sei M ein ∩-stabiles Erzeugendensystem der σ-Algebra A auf dem
Maßraum Ω mit einem Maß µ. µ sei σ-endlich auf M. Ist dann µ̃ ein weiteres
Maß auf Ω, das auf M mit µ übereinstimmt, so stimmen die Maße auf ganz A
überein.
Beweis: (1) Wir wählen die Mengen Mn ∈ M gemäß der Definition der
σ-Endlichkeit von µ. Wir zeigen, dass die Menge C aller D ∈ A mit
µ(D ∩ Mn ) = µ̃(D ∩ Mn )
für alle n ∈ N
ein Dynkin-System ist. Da die Maße auf M gleich sind, gilt Ω ∈ C. Es gilt für
A∈C
µ(Ac ∩ Mn ) = µ(Mn \ (A ∩ Mn )) = µ(Mn ) − µ(A ∩ Mn ),
da diese Maße endlich sind. Dasselbe gilt für µ̃, so dass also Ac ∈ C ist. Für
disjunkte A1 , A2 , . . . ∈ C und alle n ∈ N gilt
µ
[∞
˙
k=1
Ak
∩ Mn
=µ
[ ∞
˙
k=1
X
∞
(Ak ∩ Mn ) =
µ(Ak ∩ Mn ).
k=1
Dasselbe gilt für µ̃, so dass die abzählbare Vereinigung der Ak in C liegt. Aufgrund von Satz 2.37 folgt A ⊆ C.
(2) Es folgt für D ∈ A mit Satz 2.49
µ(D) = µ
∞
[
n=1
!
(D ∩ Mn )
= sup µ(D ∩ Mn ).
n→∞
Dasselbe gilt für µ̃, so dass wegen (1) die Behauptung bewiesen ist.
2
78
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
2.5
2.5.1
Das Lebesgue-Integral
Lebesgue-Maß
2.62. Definition: Die Maßerweiterung von H auf die Borelmengen im Rd
nennen wir das Lebesgue-Maß. Für diese Maß schreibt man auf R oft λ,
und auf dem Rd entsprechend λd . Die Borelmengen in Rd werden wir einfach
messbare Mengen nennen.
Der folgende Satz ist ein Spezialfall des Transformationssatzes für affine Abbildungen. Er besagt insbesondere, dass Verschiebungen und orthogonale Abbildungen das Maß einer Menge nicht ändern.
2.63 Satz: Sei φ : Rd → Rd definiert durch
φ(x) = M x + b,
mit regulärem M ∈ Rn×n , b ∈ Rd . Dann ist für eine messbare Menge A ⊆ Rd
die Menge φ(A) messbar, und es gilt
λd (φ(A)) = | det(M )| · λd (A).
Beweis: (1) Die Umkehrabbildung ψ = φ−1 ist stetig und daher ist φ(A) =
ψ −1 (A) messbar.
(2) Wir zeigen zunächst die Invarianz des Maßes bei Translationen, also den
Fall M = Id . Wir definieren
µ̃(A) = µ(A + b).
Dies ist ein Maß auf den Borelmengen, das für Quader mit dem Borelmaß übereinstimmt. Aufgrund von Satz 2.61 folgt
µ(A) = µ̃(A) = µ(A + b)
für alle Borelmengen.
(3) Sei nun φ(x) = M x + b eine Bewegung, also M orthogonal. Sei
Kr (a) = {y ∈ Rd : ky − ak ≤ r}
die Kugel mit Radius r um a im Rd . Dann ist Kr (a) − a = Kr (0) eine Kugel
um 0, die durch die orthogonale Abbildung M auf sich selbst überführt wird.
Also, aufgrund der Translationsinvarianz,
µ(φ(Kr (a)) = µ(M Kr (a) + b) = µ(M Kr (0) + (M a + b))
= µ(M Kr (0)) = µ(Kr (0)) = µ(Kr (0) + a) = µ(Kr (a)).
Die Kugeln Kr (a), r ≥ 0, a ∈ Rd , erzeugen aber die σ-Algebra der Borelmengen
im Rd . Analog zur obigen Argumentation gilt also die Invarianz des LebesgueMaßes unter Bewegungen.
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
79
(4) Sei D eine Diagonalmatrix mit Diagonalelementen λ1 , . . . , λd . Dann gilt
Dx = (λ1 x1 , . . . , λd xd ).
Man überprüft für halboffene Quader leicht, dass
µ(DQ) = |λ1 · . . . · λd |µ(Q) = | det(D)|µ(Q)
gilt. Es folgt die Behauptung analog zur Argumentation in (2).
(5) Sei nun M ∈ Rn×n beliebig. Nach einem Satz der linearen Algebra über
Singulärwertzerlegungen gibt es orthogonale Matrizen O1 und O2 und eine Diagonalmatrix D mit M = O1 DO2 . Es folgt
µ(M A + b) = µ(M A) = µ(O1 DO2 A) = µ(DO2 A)
= | det(D)|µ(O2 A) = | det(D)|µ(A).
2
Außerdem gilt det(D) = det(M ).
2.64 Aufgabe: Folgern Sie
µ(cA) = |c|d µ(A).
für messbares A ⊆ Rd und c ∈ R
2.65 Aufgabe: Zeigen Sie, dass echte affine Unterräume des Rd das Maß 0 haben.
Zeigen Sie dazu, dass die Menge
Mk = {x ∈ Rd : xk+1 = . . . = xd = 0}
für k ≥ 1 das Maß Null hat, indem Sie die Menge als abzählbare Vereinigung der
Mengen
Mk,r = {x ∈ Mk : |xi | < r für alle i}
darstellen, die das Maß 0 haben. Zeigen Sie dann, dass sich M bijektiv affin auf Mk
mit k = dim M abbilden lässt.
2.66. Beispiel: Mit Hilfe der Invarianz gegenüber Bewegungen und elementargeometrischen Überlegungen kann man, wie in der Schule, Flächeninhalte und
Volumina von Dreiecken und Pyramiden berechnen. Zum Beispiel kann man ein
Rechteck in zwei Dreiecke
R = D1 ∪ D2
zerlegen, die durch eine Spiegelung ineinander transformiert werden können und
daher gleiche Fläche haben. Der Schnitt dieser beiden Mengen ist in einem
affinen Unterraum enthalten und hat daher das Maß 0. Aufgrund der Additivität
folgt
1
µ(D1 ) = µ(D2 ) = µ(R).
2
Beliebige Dreiecke dreht man zunächst so, dass eine Seite achsenparallel ist.
Dabei ändert sich die Fläche nicht. Das entstehende Dreieck ist die Summe
oder die Differenz zweier Dreiecke, die Hälften von Rechtecken sind. Auf diese
Weise gewinnt man die Flächenformel
µ(D) =
1
aha
2
80
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
für Dreiecke. Denn die Länge der Seiten und auch der Höhe ändert sich bei der
Drehung ja ebenfalls nicht.
2.67. Beispiel: Für linear unabhängige a1 , . . . , ad ∈ Rd ist die Menge
P (a1 , . . . , ad ) = {λ1 a1 + . . . + λd ad : 0 ≤ λk ≤ 1 für alle k}
das Bild des Einheitsquaders [0, 1]d unter der Abbildung
e1 7→ a1 ,
...,
ed 7→ ad .
Im R2 ist diese Menge ein Parallelogramm und in R3 ein Parallelotop. Es folgt
µ(P (a1 , . . . , ad )) = | det(a1 , . . . , ad )|.
Abbildung 2.5: Die Menge M3 ⊆ R3
2.68. Beispiel: Man kann den Einheitswürfel Ed = [0, 1]d in d Mengen
Mk = {λx : x ∈ Ed , xk = 1, 0 ≤ λ ≤ 1}
zerlegen (siehe Abbildung 2.5). Diese Mengen lassen sich durch eine Koordinatenpermutation ineinander überführen und haben daher das gleiche Maß. Die
Schnittmengen von solchen Mengen sind in echten affinen Unterräumen enthalten und haben daher das Maß 0. Es folgt
µ(M1 ) = . . . = µ(Md ) =
1
.
d
2.69. Bemerkung: Man fragt sich, ob der obige Satz auch für nicht bijektive
affine Abbildungen φ gilt. φ(A) ist dann in einem echten affinen Unterraum des
Rd enthalten, der das Maß 0 hat. Allerdings ist in diesem Fall die Messbarkeit
von φ(A) unklar. Man kann das Lebesgue-Maß aber so erweitern, dass alle Teilmengen von Nullmengen das Maß 0 haben. In diesem erweiterten Sinn gilt der
Satz wieder, weil det M ja dann gleich 0 ist.
2.70. Bemerkung: Es ist nicht einfach, eine nicht-messbare Menge auf dem
Rd zu konstruieren. Man benötigt dazu das allgemeine Auswahlaxiom und eine
recht ausgefallene Konstruktion. Die Relation
x∼y ⇔ x−y ∈Q
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
81
ist eine Äquivalenzrelation auf R, wie man leicht nachprüft. Die Äquivalenzklassen
[x]∼ = {y : x ∼ y}
sind disjunkte Mengen, deren Vereinigung R ergibt. Man kann in jeder Äquivalenzklasse ein Element aus [0, 1] finden. Mit Hilfe des Auswahlaxioms bilden
wir aus diesen Elementen eine neue Menge M .
Angenommen, M ist messbar. Was ist dann das Maß von M ? Die abzählbare
Menge Q ∩ [0, 1] sei als
Q ∩ [0, 1] = {q1 , q2 , . . .}
geschrieben. Die Mengen M + qn haben aufgrund der Translationsinvarianz alle
das gleiche Maß, sind disjunkt, und es gilt
[
˙ ∞
n=1
Es folgt
∞
X
(M + qn ) ⊆ [0, 2]
∞
X
µ(M + qn ) =
n=1
µ(M ) ≤ 2.
n=1
Das kann nur gelten, wenn µ(M ) = 0 ist.
Dies ist aber auch nicht möglich. Es gilt nämlich
[0, 1] ⊆
∞
[
(M + q̃n ),
n=1
wobei q̃1 , q̃2 , . . . eine Abzählung von Q sei. Denn jedes y ∈ [0, 1] ist in einer
Äquivalenzklasse [x]∼ für ein x ∈ M . Es folgt y − x ∈ Q, also y − x = q̃n für ein
n. Also y ∈ M + q̃n . Da µ nun σ-subadditiv ist, würde
1≤
∞
X
µ∗ (M + qn ) = 0
n=1
folgen. Das ist ein Widerspruch..
Alle in der Praxis vorkommenden und mit elementaren Mitteln konstruierbare Teilmengen des Rd sind Borelmengen.
2.5.2
Messbare Abbildungen
2.71. Definition: Eine Abbildung
f : Ω1 → Ω2
von einem Messraum Ω1 in einen Messraum Ω2 heißt messbar, wenn das Urbild
jeder messbaren Menge in Ω2 messbar in Ω1 ist.
Wir werden diese Definition hier fast nur für Funktionen f : Ω → R verwenden. Dabei ist in R immer die σ-Algebra der Borelmengen gemeint. Die
82
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
folgende Aufgabe klärt den Zusammenhang zwischen den Begriffen messbare
”
Menge“ und messbare Abbildung“.
”
2.72 Aufgabe: Sei A eine σ-Algebra auf Ω. Zeigen Sie, dass M ⊆ Ω genau dann
messbar ist, wenn 1M : Ω → R messbar ist.
Die Überprüfung der Messbarkeit wird vereinfacht durch den folgenden Satz,
der besagt, dass nur die Urbilder eines Erzeugendensystems messbar sein müssen, damit die Abbildung messbar wird.
2.73 Satz: Seien Ω1 und Ω2 Messräume. Die σ-Algebra auf Y werde durch
das Mengensystem M erzeugt. Dann ist die Abbildung
f : Ω1 → Ω2
genau dann messbar, wenn das Urbild jeder Menge in M ∈ M messbar in Ω1
ist.
Beweis: Sie A die Algebra auf Ω1 und B die Algebra auf Ω2 . Man zeigt leicht,
dass die Menge
{B ⊆ Ω2 : f −1 (B) ∈ A}
eine σ-Algebra ist. Da sie nach Voraussetzung M umfasst, umfasst sie auch B.
2
2.74 Satz:
Wenn f : Rd → Rm stetig ist, so ist es messbar.
Diesen Satz haben wir schon bewiesen, er folgt aber unmittelbar daraus,
dass das stetige Urbild jeder offenen Menge offen ist, und offenen Mengen die
σ-Algebra der Borelmengen erzeugen. Wir wollten diesen wichtigen Satz hier
explizit noch einmal festhalten.
2.75 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die Hintereinanderausführung von messbaren Funktionen messbar ist.
2.76 Aufgabe: Zeigen Sie, dass f : Ω → R genau dann messbar ist, wenn −f messbar
ist.
Die folgende Charakterisierung von Messbarkeit für Funktionen nach R ist
für uns am praktischsten und wir werden sie sehr häufig verwenden. Er folgt
aus der Tatsache, dass die Intervalle der Form [c, ∞) die Borelmengen auf R
erzeugen. Aus dem Satz folgt insbesondere die Messbarkeit von halbstetigen
Funktionen.
2.77 Satz: Sei Ω ein Messraum und f : Ω → R eine Abbildung. Dann ist f
genau dann messbar, wenn für alle c ∈ R die Mengen
f −1 [c, ∞) = {x ∈ Ω : f (x) ≥ c}
messbar sind.
2.78 Aufgabe: Beweisen Sie unter Benutzung dieses Satzes, dass jede oberhalb stetige
Funktion f : Rd → R messbar ist. Zeigen Sie dasselbe für unterhalb stetige Funktionen.
2.79 Satz: Sie Ω ein Raum mit einer σ-Algebra. Seien f1 , f2 : Ω → R und
g : R2 → R messbar. Dann ist die Funktion h : Ω → R definiert durch
h(x) = g(f1 (x), f2 (x))
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
83
messbar. Insbesondere sind
f1 ± f2 ,
f1 f2 ,
max(f1 , f2 ),
min(f1 , f2 )
etc.
messbar. Wenn f2 (x) 6= 0 für alle x ∈ Ω ist, so ist f1 /f2 ist messbar. Wenn f
messbar ist so sind insbesondere die Funktionen
f+ = max{f, 0},
f− = − min{f, 0}
messbar.
Beweis: Die Borelmengen auf R2 werden durch Intervalle der Form
[a, ∞) × [b, ∞)
erzeugt. Sei h : Ω → R2 die Funktion
t(x) = (f1 (x), f2 (x)).
Es gilt
t−1 ([a, ∞) × [b, ∞)) = f1−1 [a, ∞) ∩ f2−1 [b, ∞).
Also ist h messbar und deswegen auch h = g ◦ t. Daraus folgt die Behauptung.
2
2.80. Beispiel: Setzt man eine messbare Funktion f : Ω → R außerhalb einer
messbaren Menge A ⊂ Ω gleich 0, so bleibt sie messbar. Denn für die entstehende
Funktion f˜ gilt
f˜ = 1A · f.
Insbesondere gilt dies für auf Ω = Rd stetige Abbildungen.
2.81 Aufgabe:
messbar ist.
2.5.3
Zeigen Sie, dass jede monoton wachsende Funktion f : R → R
Funktionen mit Werten im Unendlichen
Wir wollen unseren Funktionsbegriff noch erweitern und die Werte ±∞ zulassen.
Wir betrachten also Funktionen f : Ω → [−∞, ∞].
2.82. Definition: Die Borelschen Mengen auf R erweitern wir auf [−∞, ∞]
durch die Mengen
{−∞}, {∞},
die das Maß 0 haben sollen, und durch alle Vereinigungen von Borelschen Mengen mit diesen Mengen.
2.83. Bemerkung: Auf diese Weise ensteht eine σ-Algebra, die zum Beispiel
durch die Mengen [a, ∞], a ∈ R, erzeugt wird. Es folgt dass f : Ω → [−∞, ∞]
genau dann messbar ist, wenn f −1 [a, ∞] für alle a messbar ist.
2.84. Beispiel: Die Funktion
f (x) =
1
,
|x|
x 6= 0,
84
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
ist messbar, egal wie man f (0) festlegt. Sie ist aber nur für f (0) = ∞ stetig.
2.85. Bemerkung: Die oben definierte σ-Algebra wird wieder durch die offenen Mengen auf [−∞, ∞] erzeugt.
2.86 Satz: Sei fn , n ∈ N, eine Folge von messbarer Funktionen fn : Ω →
[−∞, ∞]. Dann sind
sup fn ,
lim sup fn ,
n→∞
n→∞
inf fn ,
n→∞
lim inf fn
n→∞
messbar. Insbesondere ist der punktweise Grenzwert von fn messbar, wenn er
existiert.
Beweis: Sei t = supn fn . Dann ist t(x) ≥ c genau dann, wenn für alle m ∈ N
ein n ∈ N existiert mit fn (x) > c − 1/m. Also
t−1 [c, ∞] =
\ [
fn−1 [c −
m∈N n∈N
1
, ∞].
m
Auf der rechten Seite steht aber eine messbare Menge. Für inf fn betrachte man
sup(−fn ). Also ist
lim sup fn = inf
n∈N
n→∞
sup fk .
k≥n
2
messbar. Analog für lim inf.
Alle in der Praxis vorkommenden, mit elementaren Mitteln
konstruierbare Funktionen und Grenzwerte von Funktionenfolgen sind messbar.
2.5.4
Nicht-negative, messbare Funktionen
Wir sind nun in der Lage, die Treppenfunktionen auf einfache Funktionen zu verallgemeinern, und auch deren Integral zu definieren. Mit Hilfe eines Grenzübergangs erreichen wir das Integral für alle nicht-negativen, messbaren Funktionen.
Für allgemeine messbare Funktionen werden wir die Einschränkung vornehmen,
dass das Integral endlich sein muss.
2.87. Definition: Sei Ω ein Maßraum mit einem Maß µ. Dann heißt eine
Funktion t : Ω → R einfache Funktion, wenn sie die Form
f (x) =
n
X
λk 1Qk
k=1
hat, wobei Q1 , . . . , Qn ⊆ Ω Mengen sind. Wenn diese Mengen messbar sind,
definieren wir
Z
n
X
f=
λk µ(Qk ).
k=1
Dabei wird 0 × ∞ = 0 gesetzt, falls λk = 0 und µ(Qk ) = ∞ ist.
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
85
R
Die abgekürzte Schreibweise f ist üblich, wenn klar ist, welches Maß µ
zugrunde liegt. Ansonsten schreibt man auch
Z
Z
Z
f = f dµ = f (x) dµ(x).
Die letzte Schreibweise betont die Funktionsvariable. Im Rd ist auch die Schreibweise
Z
Z
f dλd =
f (x1 , . . . , xd ) dλd (x1 , . . . , xd )
üblich, wobei dann λd das Lebesgue-Maß auf Rd bezeichnet.
2.88. Bemerkung: Eine Funktion f : Ω → R ist offenbar genau dann einfach, wenn sie nur endlich viele Werte hat. Wenn λ1 , . . . , λn diese paarweise
verschiedenen Werte sind, so gilt
f=
n
X
λk 1Qk
k=1
mit
Qk = f −1 ({λk }).
f ist genau dann messbar, wenn alle Qk messbar sind.
Wie üblich, müssen wir nachweisen, dass dieses Integral wohldefiniert ist.
2.89 Satz: (1) Zu jedem endlichen System A1 , . . . , An von messbaren Mengen
gibt es eine disjunkte Verfeinerung. Das heißt, es gibt ein endliches System
B1 , . . . , Bm von disjunkten messbaren Mengen, so dass
n
[
Ak =
k=1
m
[
Bm
k=1
und so dass für jedes Bk ein Al existiert mit Bk ⊆ Al .
(2) Das Integral für einfache, messbare Funktionen hängt nicht von der Darstellung ab.
Beweis: (1) Der Beweis erfolgt durch Induktion nach n ganz analog zum
Beweis von Satz 2.15.
(2) Wenn man zwei Darstellungen einer einfachen, messbaren Funktion hat,
so kann man sie voneinander subtrahieren und erhält eine einfache, messbare
Funktion
n
X
0=
λk 1Ak
k=1
Sei B1 , . . . , Bm eine disjunkte Verfeinerung. Dann ist jedes Ak endliche, disjunkte Vereinigung von Mengen aus B1 , . . . , Bm , also etwa
Ak =
[
˙ sk
i=1
Bi,k ,
Bi,k ∈ {B1 , . . . , Bm }.
86
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Es folgt
0=
sk
n X
X
λk 1Bi,k
k=1 i=1
und
n
X
λk µ(Ak ) =
sk
n X
X
λk µ(Bi,k ).
k=1 i=1
k=1
Sortiert man diese Doppelsumme nach B1 , . . . , Bm , so ist klar, dass sich die zu
jedem Bi gehörigen λi zu 0 aufsummieren müssen. Es folgt
n
X
λk µ(Ak ) = 0
k=1
und damit die Behauptung.
2
Wir weisen nun die wichtigsten Eigenschaften von Treppenfunktionen nach,
um diese Eigenschaften auf das spätere Integral übertragen zu können.
2.90 Satz: (1) Der Raum der einfachen, messbaren Funktionen ist ein linearer Unterraum des Raums der Funktionen. Das Integral ist ein positiver, linearer
Operator.
(2) Das Produkt und, soweit definiert, der Quotient von einfachen, messbaren
Funktionen sind wieder einfache, messbare Funktionen. Dasselbe gilt für das
Maximum und das Minimum.
2.91 Aufgabe: Beweisen Sie diesen Satz. Verwenden Sie dazu Darstellungen mit
disjunkten messbaren Mengen.
Nun sind wir in der Lage, alle positiven, messbaren Funktionen zu integrieren.
2.92. Definition: Sei Ω ein Maßraum. Für jede messbare Funktion f : Ω →
[0, ∞], definieren wir
Z
Z
f = sup{ t : t : Ω → R einfach, messbar und t ≤ f }.
2.93 Aufgabe: Zeigen Sie, dass das Integral für nicht-negative Funktionen ein monotoner Operator ist. Versuchen Sie zu zeigen, dass es ein linearer Operator ist. Worin
liegt das Problem?
Diese recht einfache Definition funktioniert natürlich auch für nicht messbare Funktionen f : Ω → [0, ∞]. Das enstehende Integral erfüllt jedoch nicht
die gewünschten Grenzwertsätze. Außerdem ist es in Hinblick auf diese Grenzwertsätze völlig natürlich, messbare Funktionen zu verwenden, wie der folgende
Satz zeigt.
2.94 Satz: Sei Ω ein Maßraum und f : Ω → [0, ∞]. Dann ist f genau dann
messbar, wenn es eine Folge von einfachen, messbaren, nicht-negativen Funktionen gibt, die punktweise und monoton wachsend gegen f konvergieren. In
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
87
diesem Fall kann man die punktweise gegen f konvergente Folge tn , n ∈ N so
wählen, dass
Z
Z
f = lim
tn
n→∞
gilt.
Beweis: Sei f messbar. Dann sind die Mengen
Ma,b = f −1 [a, b)
messbar. Wir definieren
2n
tn =
2
X
k−1
k=1
2n
1M(k−1)/2n ,k/2n + 2n 1M(2n ,∞] .
tn ist monoton wachsend, weil die definierenden Mengen dieser einfachen Funktion mit wachsendem n ineinander geschachtelt liegen. Außerdem gilt
0 ≤ f (x) − tn (x) ≤
1
,
2n
falls 0 ≤ f (x) ≤ 2n .
Also konvergiert tn punktweise gegen f . Es gibt außerdem eine monoton wachsende RFolge von messbaren einfachen Funktionen sn , n ∈ N deren Integrale
gegen f streben. Setzt man
t̃n = max{tn , sn }
für alle n ∈ N,
so erhält man eine monoton wachsende Folge von einfachen
R Funktionen, die
punktweise gegen f konvergiert und deren Integrale gegen f gehen.
Sei umgekehrt tn eine solche Folge. Dann ist f das Supremum der Folge, also
messbar nach Satz 2.86.
2
2.95. Bemerkung: Es genügt nicht, bei der Definition des Integrals nur Treppenfunktionen zuzulassen. Dies zeigt schon die Funktion
f = 1[0,1] − 1Q∩[0,1] .
Diese Funktion ist eine einfache Funktion und hat das Integral 1, weil Q ∩ [0, 1]
das Maß 0 hat. Aber 0 ist die einzige nicht-negative Treppenfunktion, die unterhalb von f liegt. Allerdings kann man argumentieren, dass die Treppenfunktion
1[0,1] bis auf die Nullmenge Q gleich f ist. Es gibt aber auch Beispiele, in denen denen die Treppenfunktionen weder von oben noch von unten das Integral
approximieren und immer auf einer Menge von positiven Maß nicht gegen f konvergieren. Man kann solche Beispiele mit Hilfe der Techniken aus Beispiel 2.2
konstruieren.
Die natürliche Frage, ob für jede monoton wachsende Folge von einfachen,
messbaren Funktionen automatisch das Integral gegen das Integral des Grenzwerts konvergiert, wird vom folgenden Satz beantwortet, sogar allgemeiner für
88
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Folgen von messbaren Funktionen. Den Satz nennt man Lebesgues Satz von
der monotonen Konvergenz.
2.96 Satz: (Satz von der monotonen Konvergenz) Sei fn : Ω → [0, ∞],
n ∈ N eine monoton wachsende Folge von messbaren Funktionen. Dann gilt
Z
Z
fn =
lim fn .
lim
n→∞
n→∞
Beweis: (1) Aufgrund von Satz 2.86 ist
f = lim fn
n→∞
messbar.
(2) Seien für jedes n ∈ N die Funktionen tk,n ≥ 0, k ∈ N, eine monoton wachsende Folge einfacher, messbarer Funktionen, die punktweise gegen fn konvergieren,
mit
Z
Z
lim
k→∞
tk,n =
fn .
Wir definieren für alle n ∈ N die einfachen, messbaren Funktionen
tk = max{tk,1 , . . . , tk,k }.
Dies ist eine monoton wachsende Folge und es gilt für alle k ≥ n
tk,n ≤ tk ≤ max{f1 , . . . , fk } = fk .
Da tk,n punktweise gegen fn konvergiert, folgt für alle n ∈ N
lim sup tk ≥ fn .
k→∞
Mit n → ∞ folgt
lim sup tk ≥ f.
k→∞
Aus tk ≤ fk folgt andererseits, dass tk punktweise gegen f konvergiert. Analog
folgt aus den Ungleichungen wegen der Monotonie des Integrals
Z
Z
lim
tk = lim
fk .
k→∞
k→∞
Damit haben wir den Satz auf eine monoton wachsende Folge von messbaren,
einfachen Funktionen tk , k ∈ N, reduziert.
(3) Angenommen
Z
Z
f > lim
k→∞
tk .
Dann existiert ein > 0 und eine einfache, messbare Funktion s ≤ f mit
Z
Z
s > tk + 2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
89
für alle k ∈ N. Wir setzen
t̃k = min{tk , s}.
Dann konvergiert t̃k monoton wachsend punktweise gegen s und es gilt
Z
Z
s > t̃k + .
Damit haben wir das Problem zusätzlich auf ein einfaches, messbares s reduziert.
Wir zeigen
Z
Z
lim
t̃k =
k→∞
s,
woraus ein Widerspruch folgt.
(4) Wir schreiben nun
m
X
s=
λν 1Qν
ν=1
mit disjunkten messbaren Mengen Qν . Setzt man
für alle ν = 1, . . . , m, k ∈ N,
hν,k = 1Qν t̃k ,
so ist hν,k eine monoton wachsende Folge von einfachen Funktionen, die gegen
λν 1Qν konvergiert. Wegen
m
X
hν,k = t̃k
ν=1
genügt es,
Z
hν,k → λν µ(Qν )
lim
k→∞
zu beweisen. Damit haben wir unser Problem auf eine Funktion s = 1Q mit
messbarem Q reduziert.
(5) Sei s = 1Q mit messbarem Q und hk , k ∈ N, eine monoton wachsende Folge
von einfachen Funktionen, die gegen s punktweise konvergiere. Wir betrachten
für 0 < c < 1 die Mengen
Mk,c = {x ∈ Q : hk (x) ≥ c}.
Es gilt
M1,c ⊆ M2,c ⊆ . . .
und
[
Mk,c = Q.
k∈N
Also
lim µ(Mk,c ) = µ(Q)
k→∞
nach Satz 2.49. Aufgrund der Monotonie des Integrals folgt
Z
hk ≥ cµ(Mk,c ),
90
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
also
Z
lim
k→∞
hk ≥ cµ(Q)
für alle 0 < c < 1. Also
Z
Z
lim
hk = µ(Q) =
k→∞
s.
2
2.97 Aufgabe: Zeigen Sie mit Hilfe dieses Satzes, dass für positive, messbare Funktionen f, g : R → [0, ∞] gilt
Z
Z
Z
(f + g) = f + g.
Verwenden Sie dazu die Folge f, f + g, f + g, . . .. Zeigen Sie außerdem für c ∈ R und
positiv, messbares f
Z
Z
cf = c f.
2.98. Bemerkung: Wir können den Satz auch anders formulieren. Wenn
sn : Ω → [0, ∞]
für n ∈ N eine Folge von messbaren Funktionen ist, so gilt aufgrund dieses
Satzes
!
Z X
∞ Z
∞
X
sn .
sn =
n=1
n=1
Integral und Summation ist also für nicht-negative Summanden vertauschbar.
2.99. Bemerkung: Daraus folgt umgekehrt die σ-Additivität des Maßes. Denn
wenn An , n ∈ N, eine Folge von disjunkten messbaren Mengen, so gilt für ihre
Vereinigung A
Z
µ(A) =
1A =
Z X
∞
1An =
∞ Z
X
n=1
n=1
1An =
∞
X
µ(An ).
n=1
Die folgende Konsequenz aus diesem Satz ist ein Hilfsresultat, dass man
Lemma von Fatou nennt.
2.100 Satz: Sei fn : Ω → [0, ∞], n ∈ N, eine Folge messbarer Funktionen.
Dann gilt
Z Z
lim inf fn ≤ lim inf fn .
n→∞
n→∞
Beweis: Wir setzen für n ∈ N
gn = inf fk .
k≥n
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
91
Dann ist gn monoton wachsend und messbar. Außerdem haben wir
Z
Z
gn ≤ fn
für alle n ∈ N. Es gilt
lim gn = lim inf fn .
n→∞
n→∞
Die Behauptung folgt aus dem Satz von der monotonen Konvergenz. Denn
Z
Z
Z
Z
gn ≤ lim inf fn .
lim inf fn =
lim gn = lim
n→∞
n→∞
n→∞
n→∞
2
2.101 Aufgabe: (1) Sei sn , n ∈ N eine Folge von nicht-negativen
messbaren FunkR
tionen, die monoton fallend gegen 0 konvergiere. Sei s1 < ∞. Dann gilt
Z
lim
sn = 0.
n→∞
Verwenden Sie zum Beweis den Satz von der monotonen Konvergenz, angewendet auf
s1 − sn .
(2) Geben Sie ein Beispiel dafür an, dass dieser Schluss falsch ist, wenn die VoraussetR
zung s1 < ∞ fallen gelassen wird.
2.5.5
Summierbare Funktionen
Um allgemeine Funktionen integrieren zu können, verwenden wirR die Zerlegung
R
f = f+ − f− . Dabei müssen wir allerdings voraussetzen,
R dass f+ und f−
endlich sind. Da |f | = f+ + f− ist, genügt es dazu, dass |f | endlich ist.
2.102. Definition: Sei Ω ein Maßraum. Eine messbare Funktion f : Ω →
[−∞, ∞] heißt Lebesgue-integrierbar (oder auch summierbar), wenn
Z
|f | < ∞
ist. In diesem Fall definieren wir
Z
Z
f=
Z
f+ −
f.
Wir nennen den Raum der summierbaren Funktionen auf dem Ω den L1 (Ω).
2.103. Bemerkung: Für positiv messbare Funktionen f gilt natürlich f = f+ ,
f− = 0, so dass jede nicht-negative messbare Funktionen mit endlichem Integral
summierbar ist. Umgekehrt stimmt die Definition für summierbare f ≥ 0 mit
der alten Definition überein. Auch für einfache, messbare Funktionen f : Ω → R
stimmt diese Definition des Integrals mit der dort gegebenen Definition überein.
2.104 Satz: Der Raum der summierbaren Funktionen ist ein Unterraum des
Raums der Funktionen und die Integration ist ein linearer und monotoner Operator.
92
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Beweis: Seien f, g : Ω → [−∞, ∞] summierbar. Dann ist f + g messbar, und
wegen
|f + g| ≤ |f | + |g|
ist f + g summierbar. Es gilt
(f + g)+ + f− + g− = f+ + g+ + (f + g)− .
Daraus folgt mit der obigen Aufgabe
Z
Z
Z
Z
Z
Z
(f + g)+ + f− + g− = f+ + g+ + (f + g)− .
Nach Umordnen erhält man
Z
Z
f +g =
Z
f+
g.
Mit f ist auch cf für alle c ∈ R summierbar und die Identität
klar. Wenn f ≤ g ist, so ist f − g ≥ 0 und es gilt
Z
Z
Z
Z
f = g + (f − g) ≤ g.
R
R
cf = c f ist
2
2.105 Aufgabe: Zeigen Sie, dass für
˛Z
˛
˛
˛
summierbares f gilt
˛ Z
˛
f ˛˛ ≤ |f |.
Für summierbare Funktionen können wir nun den folgenden, recht allgemeinen Grenzwertsatz definieren, den man Lebesgues Satz von der majorisierten Konvergenz nennt.
2.106 Satz: (Satz von der majorisierten Konvergenz) Sei fn : Ω →
[−∞, ∞], n ∈ N, eine Folge messbarer Funktionen, die punktweise gegen f
konvergiere. Außerdem existiere eine summierbare Funktion g mit
|fn | ≤ g
für alle n ∈ N. Dann ist f summierbar und es gilt
Z
lim
|fn − f | = 0
n→∞
und daher insbesondere
Z
lim
n→∞
Z
fn =
f.
Beweis: f ist als punktweiser Grenzwert einer Folge von messbaren Funktionen messbar und wegen |f | ≤ g ist f auch summierbar. Es gilt außerdem
|fn − f | ≤ 2g.
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
93
Daher kann man das Lemma von Fatou für die Funktionen 2g−|fn −f | anwenden
und erhält
Z
Z
2g = lim inf (2g − |fn − f |)
n→∞
Z
≤ lim inf (2g − |fn − f |)
n→∞
Z
Z
= 2g + lim inf − |fn − f |
n→∞
Z
Z
= 2g − lim sup |fn − f |.
n→∞
Da
R
2g endlich ist, folgt
Z
Z
lim
n→∞
|fn − f | = lim sup
|fn − f | = 0
n→∞
Aufgrund der obigen Aufgabe folgt
Z
Z lim fn − f = 0.
n→∞
2
Dies ist die Behauptung.
2.5.6
Eingeschränkte Integrale
2.107 Aufgabe: Sei A eine σ-Algebra auf Ω und A ∈ A. Zeigen Sie, dass dann die
Menge
AA = {B ∈ A : B ⊆ A}
eine σ-Algebra auf A ist. Man nennt AA die Einschränkung von A auf A. Zeigen
Sie, dass man äquivalent definieren kann
AA = {B ∩ A : B ∈ A}.
2.108. Definition: Für eine messbare Teilmenge M eines Maßraums Ω definieren wir in nahe liegender Weise
Z
Z
f dµ = 1M f dµ.
M
2.109. Bemerkung: Wenn f messbar ist, so ist es auch das Produkt 1M · f .
Und wenn f summierbar ist, so ist es auch 1M · f . Die Definition macht also
Sinn, wenn das Integral existiert.
2.110. Bemerkung: Sei A eine σ-Algebra auf Ω und AM für M ∈ A die
Einschränkung auf M gemäß Aufgabe 2.107. Natürlich ist µ auch ein Maß auf
94
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
AM , das wir hier mit µ|M bezeichnen. Wenn f : Ω → [−∞, ∞] in A messbar
ist, dann ist f |M : M → [−∞, ∞] offenbar in AM messbar.
2.111 Satz:
Mit den obigen Bezeichnungen gilt
Z
Z
f dµ = f |M dµ|M ,
M
wenn dieses Integral existiert.
Beweis: Aufgrund der Definition des Integrals braucht man diese Identität
letztlich nur für Funktionen f = 1B mit messbarem B ⊆ M zu beweisen. Dort
ist sie aber klar. Auf beiden Seiten kommt µ(B) heraus.
2
Die Einschränkung ist nur ein Spezialfall der folgenden Definition für die
Inklusion idA : A → Ω, definiert durch idA (x) = x für alle x ∈ A.
2.112 Satz: Sei Ω ein Messraum mit der σ-Algebra A und T : M → Ω eine
Abbildung, dann ist das Mengensystem
T −1 A = {T −1 (A) : A ∈ A}
eine σ-Algebra auf M . Wenn M ein Erzeugendensystem von A ist, so erzeugt
die Menge der Urbilder
T −1 M = {T −1 (A) : A ∈ M}
die σ-Algebra T −1 A.
Beweis: Dass T −1 A eine σ-Algebra ist, ist eine Übung. Sie umfasst offenbar
T −1 M, also auch die davon erzeugte Algebra Ã, also à ⊆ T −1 A. Umgekehrt
zeigt man, dass die Menge
{A ⊆ Ω : T −1 (A) ∈ Ã}
eine σ-Algebra auf Ω ist, die M umfasst. Sie umfasst also auch A. Es folgt
T −1 (A) ∈ Ã für alle A ∈ A. Folglich T −1 A ⊆ Ã. Es folgt die Behauptung. 2
2.113. Beispiel: Die Urbilder der Inklusion idM : M → Ω sind die Schnitte
A ∩ M,
A ∈ A.
Diese Schnitte bilden die σ-Algebra AA . Wenn A von M erzeugt wird, dann
erzeugen die Schnitte die Algebra AA . Als konkretes Beispiel wird die Einschränkung der σ-Algebra der Borelmengen auf eine offene Menge U ⊆ Rd von
allen offenen Teilmengen, oder auch von allen halboffenen Quadern Q ⊆ U
erzeugt.
2.5.7
Nullmengen
2.114. Definition: Sie µ ein Maß auf Ω. Eine Menge mit Maß 0 heißt µNullmenge. Eine Eigenschaft gilt µ-fast überall wenn sie außerhalb einer
µ-Nullmenge gilt.
2.115. Bemerkung: Im Rd macht es auch Sinn, Nullmengen zu definieren, die
nicht Borelmengen sind, aber das äußere Maß 0 haben. Solche Mengen nennt
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
95
man manchmal auch Lebesgue-Nullmengen. In diesem Fall gibt zu jedem
> 0 eine Folge von halboffenen Quadern Qn , n ∈ N, so dass
N⊆
∞
[
Qn
n=1
und
∞
X
µ(Qn ) < n=1
Wie die folgende Aufgabe zeigt, sind solche Nullmengen aber in Borel-Nullmengen enthalten. Umgekehrt haben alle Borel-Nullmengen das äußere Maß 0
wegen der Sätze 2.59 und 2.61.
2.116 Aufgabe: Zeigen Sie, dass jede Menge M ⊆ Rd mit äußerem Maß 0 in einer
Borelmenge mit Maß 0 enthalten ist.
2.117 Aufgabe: Sei µ ein Maß auf einem Maßraum Ω. Dann kann man erweiterte
Nullmengen dadurch charakterisieren, dass sie Teilmengen von messbaren Nullmengen
sind. Zeigen Sie dass das Mengensystem
{A ∪ N : A messbar, N erweiterte Nullmenge}
eine σ-Algebra auf Ω ist und dass
µ(A ∪ N ) = µ(A)
ein Maß auf dieser σ-Algebra definiert. Dies definiert die Vervollständigung der
σ-Algebra.
2.118. Bemerkung: Offenbar kann man im Satz über die monotone Konvergenz und im Satz über die majorisierte Konvergenz die Voraussetzung der
punktweisen Konvergenz durch die punktweise Konvergenz fast überall ersetzen.
Die folgenden Resultate sind nützlich, um Informationen über messbare
Funktionen aus deren Integralen zu gewinnen.
R
2.119 Satz: Sei f : Ω → [0, ∞] messbar. Dann gilt f = 0 genau dann, wenn
f fast überall gleich 0 ist.
R
Beweis: Sei f = 0. Dann sind die Mengen
Mn = {x ∈ Ω : f (x) ≥ 1/n}
messbar und
Z
0=
f≥
1
µ(Mn ).
n
Also µ(Mn ) = 0. Außerdem gilt
N = {x : f (x) 6= 0} =
∞
[
Mn .
n=1
Es folgt
µ(N ) ≤
∞
X
n=1
µ(Mn ) = 0.
96
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Wenn umgekehrt µ(N ) = 0 ist, so gilt f ≤ ∞ · 1N . Diese Funktion hat nach
2
Definition das Integral 0.
2.120. Bemerkung: Aus diesem Satz folgt, dass man eine nicht-negative
Funktion f ≥ 0 auf einer Nullmenge beliebig abändern kann, ohne das Integral zu ändern, solange sie messbar bleibt. Legt man die Vervollständigung des
Lebesgue-Integrals zugrunde, so kann man sie sogar beliebig abändern.
Analog bleibt eine summierbare Funktion summierbar, wenn Sie nur auf
einer Nullmenge geändert wird, und das Integral ändert sich nicht.
2.121 Satz: Sei fn : Ω → [0, ∞] eine monoton fallende Folge von messbaren
Funktionen und
Z
lim
fn = 0.
n→∞
Dann konvergiert fn fast überall gegen 0.
Beweis: fn konvergiert gegen eine Funktion f . Nach dem Satz von der dominierten Konvergenz gilt
Z
Z
fn =
0 = lim
n→∞
f.
2
Folglich ist f = 0 fast überall.
2.122. Beispiel: Man kann sich fragen, ob man hier die Bedingung der Monotonie weglassen kann. Dies ist aber nicht der Fall. Dazu definieren wir die
Funktionen
fn,i = 1[i/n,(i+1)/n]
und betrachten die Folge
f0,1 , f0,2 , f1,2 , f0,3 , f1,3 , f2,3 , . . .
Die Integrale dieser Funktion konvergieren gegen 0, aber für keinen Punkt in
[0, 1] konvergiert die Folge gegen 0.
Es gilt allerdings der folgende Satz
2.123 Satz: Sei fn : Ω → [0, ∞] eine Folge messbarer Funktionen mit
Z
fn = 0.
lim
n→∞
Dann gibt es eine Teilfolge von fn , die fast überall gegen 0 konvergiert.
Beweis: Sei nk , k ∈ N, eine Folge in N mit
Z
1
fnk ≤ 3
k
und
Mk = {x ∈ Ω : fnk (x) ≥
1
}.
k
Dann gilt
1
µ(Mk ) ≤
k
Z
fnk ≤
1
k3
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
97
Es folgt µ(Mk ) ≤ 1/k 2 . Sei
\[
M=
Mk .
l∈N k≥l
Wenn dann x ∈
/ M ist, so existiert ein l, so dass
x∈
/ Mk
für alle k ≥ l.
Dies ist äquivalent zu fnk (x) < 1/k für alle k ≥ l. Es gilt also
x∈
/ M ⇒ lim fnk (x) = 0.
n→∞
Andererseits

µ(M ) = lim µ 
l→∞

[
∞
X
1
= 0.
l→∞
k2
Mk  ≤ lim
k≥l
k=l
2
Den folgenden Satz werden wir im Zusammenhang mit dem Satz von Fubini
benötigen.
2.124 Satz: Eine summierbare Funktion ist fast überall endlich.
Beweis: Es genügt, den Beweis für messbares f ≥ 0 mit endlichem Integral
zu beweisen. Wir setzen
Mn = {x ∈ Ω : f (x) ≥ n}
Dann gilt
∞
\
N = {x : f (x) = ∞} =
Mn .
n=1
Andererseits f ≥ n1Mn für alle n ∈ N. Es folgt
Z
nµ(Mn ) ≤ f.
Also konvergiert µ(Mn ) nach 0. Es folgt die Behauptung aus Satz 2.49.
2.5.8
2
Das Riemann-Integral
Ziel dieses Abschnittes ist, das Riemann-Integral auf dem Rd zu definieren und
zu zeigen, dass es identisch mit dem Lebesgue-Integral ist, wenn es existiert.
Damit können wir den Hauptsatz der Differential und Integralrechnung anwenden und Lebesgue-Integrale berechnen. Für Funktionen, die nicht Riemannintegrierbar sind, helfen meist Konvergenzsätze.
2.125. Definition: Eine Funktion f : Rd → R heißt Riemann-integrierbar,
wenn es zu jedem > 0 Treppenfunktionen s, t gibt, so dass s ≤ f ≤ t und
Z
(t − s) < .
98
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
In diesem Fall definieren wir
Z
Z
f (x1 , . . . , xd ) dx1 . . . dxd = sup{ s : s Treppenfunktion, s ≤ f }
2.126. Bemerkung: Da alle Treppenfunktionen beschränkt sind und einen beschränkten Träger haben, muss dasselbe für Riemann-integrierbare Funktionen
gelten. Dies schränkt die Verwendung stark ein.
Die Definition stimmt mit der Definition auf R überein. Außerdem sind Treppenfunktionen natürlich Riemann-integrierbar.
2.127 Satz: Jede Riemann-integrierbare Funktion ist Lebesgue-integrierbar
mit gleichem Integral.
Beweis: Für Riemann-integrierbare Funktionen kann man offenbar eine monoton wachsende Folge sn , n ∈ N, und eine monoton fallende Folge tn , n ∈ N
von Treppenfunktionen finden, so dass
Z
(tn − sn ) = 0.
sn ≤ f ≤ tn ,
lim
n→∞
Aus Satz 2.121 folgt, dass tn − sn fast überall gegen 0 geht. Folglich konvergiert
sn fast überall gegen f . Aus dem Satz über dominierte Konvergenz folgt, dass
f integrierbar ist und
Z
Z
sn (x)dx.
f (x)dx = lim
n→∞
2
2.128. Bemerkung: Es kann vorkommen, dass das uneigentliche RiemannIntegral für Funktionen existiert, die nicht Lebesgue-integierbar sind. Als Beispiel betrachten wir
Z ∞
sin(x)
dx.
x
0
Wir setzen
Z
(n+1)π
an =
nπ
sin(x)
dx.
x
Dann wechselt an im Vorzeichen und es gilt für n ≥ 1
c
c
≤ |an | ≤ .
n+1
n
mit
Z
c=
π
sin(x) dx
0
(Übung!). Nach dem Leibnitz-Kriterium konvergiert die Summe der an und man
zeigt
Z ∞
Z r
∞
X
sin(x)
sin(x)
dx = lim
dx =
an .
r→∞ 0
x
x
0
n=1
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
99
Es folgt aber auch
Z
∞
0
∞
X
| sin(x)|
dx ≥
|an | = ∞.
x
n=1
Also ist die Funktion nicht Lebesgue-integrierbar.
Manche Definitionen des Riemann-Integrals auf [a, b] benutzen die Feinheit
der Unterteilung. Wir zeigen im folgenden Satz, dass dies äquivalent ist.
2.129. Definition: Sei f : Rd → R eine Funktion, die außerhalb des beschränkten halboffenen Quaders Q gleich 0 ist. Sei dann
Q=
[
˙ n
k=1
Qk
in disjunkte halboffene Quader zerlegt, und xk ∈ Qk für alle k. Dann heißt
S=
n
X
f (xk )λd (Qk )
k=1
eine Riemannsche Zwischensumme von f der Feinheit
h = max diam Qk .
k=1,...,n
Dabei ist
diam S = max{kx − yk : x, y ∈ S}
der Durchmesser von S.
2.130 Satz: Sei f : Rd → R wie in der Definition. Dann ist f genau dann
Riemann-integrierbar, wenn jede Folge von Riemannschen Zwischensummen,
deren Feinheit gegen 0 konvergiert, gegen denselben Grenzwert konvergiert. In
diesem Fall ist dieser Grenzwert das Integral von f .
Beweis: Sei f Riemann-integrierbar. Wir zeigen, dass Ralle Folgen von Zwischensummen, deren Feinheit gegen 0 konvergiert, gegen f konvergieren. Zu
> 0 existieren dann Treppenfunktionen mit
Z
s ≤ f ≤ t,
(t − s) < .
Die Zwischensummen hängen monoton von der Funktion ab, mit der sie gebildet
werden. Die Zwischensumme von f liegt also zwischen den Zwischensummen von
s und t. Es genügt folglich, die Behauptung für Treppenfunktionen zu beweisen.
Aufgrund der Additivität der Zwischensumme genügt, es f = 1M für einen
halboffenen Quader
M = [a1 , b1 ) × . . . × [ad , bd ) ⊆ Q
zu betrachten. Sei S eine Zwischensumme zu 1M der Feinheit h mit Quadern
Q1 , . . . , Qn . Wir definieren die Quader
Mh = [a1 + h, b1 − h) × . . . × [ad + h, bd − h).
100
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Dann überlegt man sich
λd (Mh ) ≤ S ≤ µ(M−h ).
Mit h → 0 konvergieren diese Maße aber gegen λd (M ) =
R
1M .
Umgekehrt nehmen wir nun an, dass alle Zwischensummen konvergieren und
wählen eine Folge von Unterteilung Q1,n , . . . , Qmn ,n deren Feinheiten gegen 0
konvergieren. Dann konvergieren auch die Summen
Sn =
Tn =
mn
X
k=1
mn
X
k=1
λd (Qk ) inf f (x),
x∈Qk,n
λd (Qk ) sup f (x),
x∈Qk,n
da es Riemannsche Zwischensummen auf denselben Unterteilungen gibt, die S
und T beliebig genau annähern. Sn und Tn sind aber Integrale von Treppen2
funktionen sn ≤ f ≤ tn . Es folgt, dass f Riemann-integrierbar ist.
Als weitere Resultate über Riemann-Integrale beweisen wir noch, dass alle
stetigen Funktionen mit kompaktem Träger Riemann-integrierbar sind und dass
der Satz von Fubini für diese Funktionen gilt.
2.131 Satz: Sei f : Rd → R stetig mit kompaktem Träger. Dann ist f
Riemann-integrierbar.
Beweis: f ist also außerhalb einer kompakten Menge
Kr = [−r, r] × . . . × [−r, r]
identisch 0. f ist als stetige Funktion in Kr und folglich in ganz Rd gleichmäßig
stetig. Es existiert also zu > 0 ein δ > 0 mit
kx − yk < δ ⇒ kf (x) − f (y)k < für alle x, y ∈ Rd . Wir können nun Kr in endlich viele paarweise disjunkte
Quader Q1 , . . . , Qk aufteilen, deren Durchmesser kleiner als δ ist. Nun setzen
wir
s(x) = inf f (x), t(x) = sup f (x)
x∈Qn
x∈Qn
für x ∈ Qn . Außerhalb Q setzen wir t und s gleich 0. s, t sind dann Treppenfunktionen mit
s≤f ≤t
in Q und
t−s≤
in Kr und t = s außerhalb von Kr , insgesamt also t − s ≤ 1Kr . Also
Z
Z
(t − s) ≤ 1Kr = λd (Kr ).
Also ist f Riemann-integrierbar.
2
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
2.132 Satz:
Z
101
Sei f : Rd → R Riemann-integrierbar. Dann gilt
Z r Z r
f (x1 , . . . , xn ) dxn . . . dx1 ,
f (x) dx =
...
−r
−r
wenn alle diese Riemann-Integrale existieren.
Beweis: Es existieren dann Folgen von Treppenfunktionen sn und tn mit
sn ≤ f ≤ tn
und
Z
(tn − sn ) = 0.
lim
n→∞
Aufgrund der Monotonie des Riemann-Integrals gilt
Z
Z
. . . sn (x1 , . . . , xd ) dx1 . . . dxd
Z
Z
≤ . . . f (x1 , . . . , xd ) dx1 . . . dxd
Z
Z
≤ . . . tn (x1 , . . . , xd ) dx1 . . . dxd ,
wie man durch
Induktion nach d zeigt. Die linke und die rechte Seite konvergieR
ren gegen f . Es folgt die Behauptung.
2
2.133. Definition: M ⊆ Rd heißt Riemann-messbar, wenn 1M Riemannintegrierbar ist.
2.134. Bemerkung: Riemann-messbare Mengen Q mit Maß 0 sind dann offenbar dadurch charakterisiert, dass es zu jedem > 0 endlich viele halboffenen
Quader Q1 , . . . , Qn gibt mit
Q ⊆ Q1 ∪ . . . ∪ Qn
mit
n
X
λd (Qk ) < .
k=1
Denn
t = tQ1 ∪...Qn ≥ tQ
ist dann eine Treppenfunktion, so dass das Oberintegral von 1Q kleiner oder
gleich ist. Solche Mengen nennt man auch Jordan-Nullmengen.
2.135 Satz:
(1) Jede kompakte Lebesgue-Nullmenge ist Jordan-Nullmenge.
(2) Eine beschränkte Menge ist genau dann Riemann-messbar, wenn ihr Rand
eine Lebesgue-Nullmenge (und damit auch eine Jordan-Nullmenge) ist.
Beweis: (1) Sei Q kompakte Lebesgue-Nullmenge und > 0. Dann existiert
eine Folge Q1 , Q2 , . . . von halboffenen Quadern mit
[
Q⊆
Qn ,
n∈N
∞
X
n=1
λd (Qn ) <
.
2
102
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Wir vergrößern die halboffenen Quader Qn zu halboffenen Quadern Un mit
Qn ⊆ Un◦ ⊂ Un
λd (Un ) < λd (Qn ) +
2n+2
Da Q kompakt ist, existiert eine Teilüberdeckung von Q. Also existiert ein N ∈
N mit
Q⊆
N
[
Un◦ ⊆
n=1
N
X
λd (Un ) ≤
n=1
N
X
N
[
Un
n=1
(λd (Qn ) +
n=1
) ≤ + = .
2n+2
2 2
(2) Sei K beschränkt und Riemann-integrierbar. Dann gibt es zu jedem > 0.
Treppenfunktionen s ≤ 1K ≤ t mit
Z
(t − s) <
2
Indem man die Quader von s ein wenig verkleinert und die Quader von t ein
wenig vergrößert, erhält man Treppenfunktionen
s̃ ≤ 1K ◦ ≤ 1K ≤ 1K ≤ t̃
Z
λd (∂K) < (t̃ − s̃) < .
Sei umgekehrt der Rand der beschränkten Menge K eine Lebesgue-Nullmenge.
Da er kompakt ist, ist er eine Jordan-Nullmenge. Es gibt ein r > 0, so dass
K ⊆ Q = [−r, r)d ist. Angenommen Q1 , . . . , Qn ist eine Unterteilung von Q
der Feinheit δ. Dann definieren wir zwei Treppenfunktionen s und t auf diesen
Unterteilungen, so dass
sδ ≤ 1K ◦ ≤ 1K ≤ 1K ≤ tδ
ist. Dazu setzen wir sδ = 1 genau auf den Qk die in RK ◦ liegen, und tδ = 0 genau
auf den Qk , die K nicht anschneiden. Es folgt, dass (tδ − sδ ) eine Riemannsche
Zwischensumme
R für 1∂K ist. Da diese Menge Riemann-integrierbar mit Maß 0
ist, folgt, dass (tδ − sδ ) gegen 0 geht, wenn die Feinheit δ gegen 0 konvergiert.
Also ist 1K Riemann-integrierbar.
2
2.5.9
Dichten
In der Wahrscheinlichkeitstheorie werden sehr viele Maße mit Hilfe des folgenden
Satzes definiert. Man sagt, dass das dort definierte Maß die Dichte f hat.
2.136 Satz: Sei Ω ein Maßraum und f : Ω → [0, ∞] messbar. Dann ist die
Mengenfunktion f µ definiert durch
Z
f µ(A) =
f (x) dµ(x)
A
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
103
ein Maß auf Ω. Für messbare Funktionen g : Ω → [0, ∞] gilt
Z
Z
g d(f µ) = gf dµ.
Dasselbe gilt für summierbare Funktionen.
Beweis: Dass f µ ein Maß ist, folgt unmittelbar aus dem Satz über monotone
Konvergenz, insbesondere aus Bemerkung 2.98. Für einfache Funktionen folgt
die Behauptung unmittelbar aus der Linearität (Übung!). Aufgrund der Definition des Integrals folgt der Satz für alle messbaren, nicht-negativen Funktionen
g durch Grenzübergang. Für summierbare Funktionen folgt der Satz nun auch.
2
Abbildung 2.6: Normalverteilung und [c, ∞)-Quantil
2.137. Beispiel: Ein wichtiges Beispiel ist die Gaußsche Normalverteilung,
deren Dichte auf R durch
2
1
f (x) = √ e−x /2
2π
R
gegeben ist. Wir werden später nachweisen, dass f dλ = 1 ist, so dass das
entstehende Maß ν ein Wahrscheinlichkeitsmaß ist (siehe Beispiel 2.171. Die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis größer oder gleich c ist, ist dann
Z ∞
2
1
ν[c, ∞) = √
e−x /2 dx.
2π c
2.138 Aufgabe: Berechnen Sie den Erwartungswert und die Varianz der Normalverteilung. Dies sind die Integrale
Z
Z
E = x dν, S = (x − E)2 dν.
Der folgende Satz von Radon-Nikodym beschreibt umgekehrt, wann ein
Maß ν eine Dichte bezüglich eines anderen Maßes µ hat. Wegen Satz 2.119 muss
104
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
dazu gelten, dass jede µ-Nullmenge auch ν-Nullmenge ist. Man sagt dann, dass
Maß ν sei µ-stetig.
2.139 Satz: Sei µ ein σ-endliches Maß auf Ω. Jedes µ-stetige Maß ν auf Ω
besitzt dann eine Dichte bezüglich µ.
Wir beweisen diesen Satz hier nicht.
2.5.10
Parameterabhängige Integrale
2.140. Bemerkung: Eine typische Anwendung des Satzes von der majorisierten Konvergenz sind parameterabhängige Integrale. Sei dazu Ω ein
Messraum, X ein metrischer Raum und
f : A × X → [−∞, ∞]
eine Funktion, so dass fx (t) = f (t, x) für alle x ∈ X integrierbar ist, und so dass
es eine integrierbare Funktion F : A → [0, ∞] gibt, mit
|fx (t)| ≤ F (t)
für alle x ∈ X, t ∈ A.
Falls dann fx für x → a fast überall punktweise konvergiert, so gilt
Z
Z
lim fx (t) dµ(t) = fa (t) dµ(t).
x→a
Dies ist eine unmittelbare Anwendung des Satzes von der majorisierten Konvergenz. Man kann also unter diesen Bedingungen Integral und Limes vertauschen.
2.141. Beispiel: Die Gammafunktion ist für x > 0 als
Z ∞
Γ(x) =
tx−1 e−t dt,
0
definiert. Da für α > 0 die Funktion tx−1 e−αt auf [1, ∞] beschränkt ist, gibt es
ein cα > 0 mit
tx−1 e−t ≤ tx−1 e−t ≤ cα e−(1−α)t .
Diese Funktion ist auf [1, ∞] integrierbar. Auf [0, 1] ist die Funktion tx−1 e−t
stetig und daher beschränkt. Insgesamt ist als die Gammafunktion wohldefiniert.
Außerdem für 0 < a < x < b
tx−1 e−t ≤ F (t) = max{ta−1 e−t , tb−1 e−t }
Diese Funktion ist aber in der Tat integrierbar. Folglich ist die Gammafunktion
in (a, b) und daher auf ganz (0, ∞) stetig.
2.142 Aufgabe: Zeigen Sie
xΓ(x) = Γ(x + 1)
für x > 0 und folgern Sie
Γ(n + 1) = n!
2.5. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
105
2.143 Satz: Sei Ω ein Messraum, I ein reelles Intervall und
f : Ω × I → [−∞, ∞]
eine Funktion, so dass fx (t) = f (t, x) für alle x ∈ I integrierbar ist, so dass für
alle t die Funktion f (t, x) nach x partiell differenzierbar ist, und so dass es eine
integrierbare Funktion F : Ω → [0, ∞] gibt, mit
|
∂
f (t, x)| ≤ F (t)
∂x
für alle x ∈ I, fast alle t ∈ Ω.
Dann gilt
∂
∂x
Z
Z
f (t, x) dµ(t) =
∂
f (t, x) dµ(t)
∂x
für alle x ∈ I.
Beweis: Es gilt für x, x + h ∈ I
Z
Z
Z
1
f (t, x + h) − f (t, x)
fx+h − fx =
dµ(t)
h
h
Der Integrand ist wegen des Mittelwertsatzes
f (t, x + h) − f (t, x)
∂
=
f (t, ξh,x )
h
∂x
für alle t durch F (t) beschränkt und konvergiert punktweise fast überall mit
h → 0. Also folgt
Z
Z
Z
1
∂
f (t, x) dµ(t)
lim
fx+h − fx =
h→0 h
∂x
aus dem Satz über die majorisierte Konvergenz.
2
2.144. Bemerkung: Man beachte, dass in diesem Satz auch die einseitige
Ableitung gemeint sein kann.
2.145. Beispiel: Betrachten wir
(
1, t ≤ x,
f (t, x) =
0, t > x,
für x, t > 0. Dann gilt
Z
∞
f (t, x) dt = x.
0
Diese Funktion ist überall differenzierbar, obwohl f (t, x) für alle t in x = t nicht
differenzierbar ist.
2.146 Aufgabe: Man zeige, dass die Gammafunktion auf (0, ∞) unendlich oft differenzierbar ist, und das
Z ∞
Γ(n) (x) =
(ln t)n tx−1 e−t dt
0
ist.
106
2.6
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Mehrfache Integration
Unser nächstes Ziel ist es, den Satz von Fubini in der Form von Gleichung (2.2)
herzuleiten. Nun ist aber das Maß auf dem Rd nur ein Spezialfall eines Produktmaßes. Wir werden den Satz daher auch in diesem allgemeinen Zusammenhang
formulieren und beweisen.
2.6.1
Produktmaße
Ganz in Analogie zur Definition des Maßes auf halboffenen Quadern
Q = I1 × . . . × Id
durch das Produkt der Intervalllängen können wir das Maß auf dem Produkt
von messbaren Mengen definieren. Wir brauchen nur den Fall von zwei Mengen
zu betrachten, da sich endliche Produkte dann per Induktion ergeben.
2.147 Satz: Seien Ω1 und Ω2 Maßräume. Die Menge M aller endlichen
Vereinigungen von Produkten A1 ×A2 mit messbaren Mengen A1 ∈ Ω1 , A2 ∈ Ω2
ist eine Algebra auf Ω1 × Ω2 .
Beweis: Offensichtlich ist der endliche Schnitt von Produktmengen A1 × A2
wieder ein solches Produkt. Es folgt wegen der allgemeinen Mengengleichheit
[
[
[
Mi ∩ Mj = (Mi ∩ Mj ),
i
j
i,j
dass der endliche Schnitt von Mengen aus M wieder in M ist. Außerdem gilt
(Ω1 × Ω2 ) \ (A1 × A2 ) = (Ω1 × (Ω2 \ A2 )) ∪ ((Ω1 \ A1 ) × Ω2 )
Wegen
(M1 ∪ . . . ∪ Mn )c = M1c ∩ . . . ∩ Mnc
für alle M1 , . . . , Mn ⊆ Ω1 × Ω2 folgt, dass Komplemente von Mengen in M
wieder in M sind.
2
2.148. Definition: Seien Ω1 und Ω2 Maßräume mit Maßen µ1 und µ2 und
σ-Algebren A1 und A2 . Dann definieren wir
Z Z
µ(M ) =
1M (x, y) dµ1 (x) dµ2 (x).
für alle M ∈ M.
2.149. Bemerkung: Für M ∈ M und y ∈ Ω2 ist
Z
1M (x, y) dµ1 (x)
messbar. Denn jedes M ∈ M lässt sich als disjunkte Vereinigung von Mengen
der Form A1 × A2 darstellen und
Z
1A1 ×A2 (x, y) dµ1 (x) = µ1 (A1 )1A2 (y).
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
107
Daher ist die obige Funktion als Summe solcher Funktionen messbar. Außerdem
gilt
µ(A1 × A2 ) = µ(A1 ) · µ(A2 )
für alle A1 ∈ A1 und A2 ∈ A2 , wenn man 0 × ∞ = 0 setzt (Übung!).
µ ist ein Prämaß auf M.
2.150 Satz:
Beweis: Es gilt µ(∅) = 0. Sei Q1 , Q2 , . . . ∈ M eine disjunkte Folge und
Q=
[
˙ ∞
n=1
Qn ∈ M.
Dann bilden die Indikatorfunktionen
tn = 1Q1 ∪...∪Qn =
n
X
1Qk
k=1
eine aufsteigende Folge, die punktweise gegen t = 1Q konvergiert. Wir nutzen
nun den Satz von der monotonen Konvergenz zweimal, um
n
X
Z Z
µ(Qn ) =
tn (x, y) dµ1 (x) dµ2 (y)
k=1
Z Z
→
t(x, y) dµ1 (x) dµ2 (y) = µ(Q)
für n → ∞ zu zeigen. Dazu definieren wir
tn,y (x) = tn (x, y),
ty (x) = t(x, y)
sowie
Z
φn (y) =
Z
tn,y (x) dµ2 (x),
φ(y) =
ty (x) dµ2 (x).
Die Funktionen φn sind messbar. Da tn,y punktweise monoton wachsend gegen
ty konvergiert, konvergiert φn gegen φ punktweise und monoton wachsend. Es
2
folgt die Behauptung.
Um den Maßerweiterungssatz in eindeutiger Weise anzuwenden, benötigt
man außerdem die σ-Endlichkeit der beiden Maße. Das Prämaß ist dann natürlich auch σ-endlich.
2.151. Definition: Seien µ1 und µ2 σ-endliche Maße. Dann heißt das Maß,
das man durch eindeutige Erweiterung des oben definierten Prämaßes µ auf die
von M erzeugte σ-Algebra erhält, das Produktmaß von µ1 und µ2 . Es wird
mit µ1 ⊗ µ2 bezeichnet.
2.152. Bemerkung: Da das Produktmaß wieder σ-endlich ist, kann man das
Produktmaß von mehreren Maßen induktiv definieren. Also
µ1 ⊗ . . . ⊗ µd = (. . . (µ1 ⊗ µ2 ) . . .) ⊗ µd .
108
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Aus dem folgenden Satz von Fubini folgt, dass die Klammerung dabei gleichgültig ist. Man kann also die Produkte auch von rechts nach links nehmen. Es
entsteht dasselbe Maß.
2.153. Beispiel: Das für uns wichtigste Beispiel ist das Lebesgue-Maß auf dem
Rd , das wir mit λd bezeichnen. Wir haben
λd = λ ⊗ . . . ⊗ λ
| {z }
d mal
wobei λ das Lebesgue-Maß auf R bezeichne.
2.154. Beispiel: Sei Ω = {1, . . . , 6} der Raum der Würfelergebnisse und
µ(x) = 1/6 für alle x ∈ Ω das Wahrscheinlichkeitsmaß auf Ω. Dann können
wir auf Ωd das Maß µd definieren. Es gilt dann nach Definition des Produktmaßes
1
µ{(x1 , . . . , xd )} = d
6
für alle (x1 , . . . , xd ) ∈ Ωd . Damit wird die unabhängige Hintereinanderausführung von d Würfen moduliert.
Wir können nun den in der Praxis wichtigsten Satz in diesem Zusammenhang
formulieren und beweisen. Man beachte, dass wir immer von σ-endlichen Maßen
µ1 und µ2 ausgehen.
2.155 Satz: Für eine positive, messbare Funktion f : Ω1 × Ω2 → [0, ∞] gilt
Z
f d(µ1 ⊗ µ2 )
Z Z
Z Z
=
f (x, y) dµ1 (x) dµ2 (y) =
f (x, y) dµ2 (y) dµ1 (x).
Dabei existieren die inneren Integrale
Z
φ(y) = f (x, y) dµ1 (x),
Z
φ̃(x) =
f (x, y) dµ2 (y)
als Integrale über positive messbare Funktionen und sie sind selbst messbare
Funktionen. Falls f : Ω1 × Ω2 → [−∞, ∞] summierbar ist, so existieren die
inneren Integrale φ und φ̃ fast überall und sie sind selbst summierbar.
Beweis: (1) Wir zeigen den Satz zunächst für Indikatorfunktionen f = 1Q ,
wobei Q ⊆ Ω = Ω1 × Ω2 messbar ist und für endliche Maße µ1 und µ2 , für die
dann auch µ = µ1 ⊗ µ2 endlich ist.
Wie im obigen Beweis stimmt die Behauptung für Elemente aus der Algebra
M. Dies ist ein ∩-stabiler Erzeuger. Wir wenden nun Satz 2.37 an. Sei D die
Menge aller Mengen Q, so dass die Behauptung für f = 1Q richtig ist. Offenbar
Ω ∈ D. Sei nun A ∈ D. Dann ist
1Ac (x, y) = 1 − 1A (x, y),
und daher ist diese Funktion bei festem y in x messbar und umgekehrt. Außerdem ist
Z
Z
1Ac (x, y) dµ1 (x) = µ1 (Ω1 ) − 1A (x, y) dµ1 (x)
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
109
messbar. Integriert man diese Gleichung nach µ2 , so folgt
Z Z
1Ac (x, y) dµ1 (x) dµ2 (y) = µ(Ω) − µ(A) = µ(Ac ).
Es folgt Ac ∈ D. Wenn die disjunkten Mengen A1 , A2 , . . . ∈ D sind, so folgt
unmittelbar aus der σ-Additivität des Integrals, dass die Vereinigung in D ist.
(2) Sei nun µ nicht endlich, aber σ-endlich. Dann können wir Folgen Ωn,1 , Ωn,2 ,
n ∈ N, messbarer Mengen mit endlichem Maß finden, so dass
Ω1,i ⊆ Ω2,i ⊆ . . . ,
∞
[
Ωn,i = Ωi
n=1
für i = 1, 2. Wir setzen Ωn = Ωn,1 ×Ωn,2 und schränken den Produktraum auf Ωn
ein. Diese Einschränkung ist Produktraum der entsprechenden Einschränkungen
wegen Satz 2.112. Nach (1) gilt also unser Satz für alle messbaren Q ⊆ Ωn . Mit
Hilfe des Satzes über die monotone Konvergenz zeigt man, dass er auch für alle
messbare Q ∈ Ω gilt (Übung!).
(3) Aufgrund der Additivität gilt der Satz dann auch für alle einfachen Funktionen, und aufgrund des Satzes über monotone Konvergenz für alle positiven,
messbaren Funktionen.
(4) Um die Aussage für summierbare Funktionen zu zeigen, genügt es für positive, messbare Funktionen zu zeigen, dass die Funktionen φ und φ̃ fast überall
endlich sind. Das Integral dieser Funktionen ist endlich, weil das Gesamtintegral
endlich ist. Die Behauptung folgt also aus Satz 2.124.
2
2.6.2
Anwendungen
Wir halten den Satz von Fubini noch einmal ausdrücklich für den Rd fest. In
diesem Abschnitt rechnen wir einige charakteristischen Beispiele zu diesem Satz
durch.
2.156 Satz: Im Rd folgt aus dem Satz von Fubini für summierbare oder für
positive messbare Funktionen
Z
Z ∞ Z ∞
f=
...
f (x1 , . . . , xn ) dxn . . . dx1 .
−∞
−∞
Die Reihenfolge der Integration ist dabei gleichgültig.
Der folgende Satz ist eine unmittelbare Folgerung und wir Prinzip von
Cavalleri genannt.
2.157 Satz:
Sei Q messbar in Rd und für x1 ∈ R
Qx1 = {(x2 , . . . , xd ) ∈ Rd−1 : (x1 , . . . , xd ) ∈ Q}.
Dann gilt
d
λ (Q) =
Z
λd−1 (Qx1 ) dλ(x1 ).
110
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Beweis: Wegen
1Q (x1 , . . . , xd ) = 1Qx1 (x2 , . . . , xd ).
gilt
λd (Q) =
Z
1Q dλd
Z Z Z
=
1Q (x1 , . . . , xn )d, λ(x2 ) . . . dλ(xd ) dλ(x1 )
...
Z Z
=
1Qx1 dλd−1 dλ(x1 )
Z
= λd−1 (Qx1 ) dλ(x1 ).
2
2.158. Beispiel: Als Beispiel berechnen wir die Fläche des Kreises
Br = {x ∈ R2 : x21 + x22 ≤ r2 }.
Wegen Satz 2.63 und der darauf folgenden Aufgabe genügt es, r = 1 zu betrachten. Da die Funktion x21 + x22 stetig ist, ist B1 abgeschlossen, und daher messbar
und wir können den Satz von Fubini anwenden. Bezeichne
Qx = {y : x ∈ B1 }
Es folgt unter Verwendung des Riemann-Integrals
λ2 (Br ) =
Z
Z
1
µ(Qx ) dλ(x) = 2
p
1 − x2 dx = π
−1
(Übung!). Also
λ2 (Br ) = λ2 (rB1 ) = r2 λ2 (B1 ) = r2 π.
Mit Hilfe dieses Ergebnisses kann man wiederum das Volumen der Einheitskugel
B1 im R3 berechnen.
Z
3
1
λ (B1 ) =
−1
Z
λ2 (B√1−x2 ) dλ(x3 )
3
1
=π
(1 − x23 ) dx3
−1
2
4π
= π(2 − ) =
.
3
3
Also für die Kugel mit Radius r
λ3 (Br ) =
4πr3
.
3
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
111
Für die Kugel Kd,r mit Radius r im Rd , d ≥ 4, findet man in rekursiv in ganz
analoger Weise
Z 1
d
λ (Kd,1 ) =
λd−1 (Kd−1,√1−x2 ) dx
−1
= λd−1 (Kd−1,1 )
Z
1
(1 − x2 )
d−1
2
dx.
−1
Dabei gilt
Z
1
(1 − x2 )
cd =
d−1
2
π
Z
sind (x) dx = 2
dx =
−1
Z
π/2
sind (x) dx.
0
0
Man zeigt mit Hilfe von partieller Integration für d ≥ 2
cd =
d−1
cd−2 .
d
Wegen c0 = π und c1 = 2 erhält man
c2k = π
k
Y
2m − 1
,
2m
m=1
c2k+1 = 2
Für jedes d ∈ N gilt daher
cd cd−1 =
k
Y
2m
.
2m
+1
m=1
2π
.
d
Es folgt für d ≥ 3 die Rekursion
λd (Kd,1 ) =
2π d−2
λ (Kd−2,1 )
d
mit den Anfangswerten
K1,1 = 2,
Also
λ2k (K2k,1 ) =
πk
,
k!
K2,1 = π.
λ2k+1 (K2k+1,1 ) =
2k+1 π k
.
1 · 3 · . . . · (2k + 1)
Dies werden wir in Aufgabe 2.173 mit Hilfe der Gammafunktion darstellen.
2.159 Aufgabe: Zeigen Sie
c2k+2
= 1.
c2k
Folgern Sie aus der Monotonie der Folge cd
c2k+1
lim
= 1.
n→∞ c2k
lim
n→∞
Folgern Sie daraus
∞
Y
π
4n2
=
.
2
4n2 − 1
n=1
Diese Darstellung nennt man Wallissches Produkt
2.160. Bemerkung: Das Prinzip von Cavalleri gilt auch allgemeiner für beliebige Produktmaße in der Form
Z
(µ1 ⊗ µ2 )(Q) = µ2 (Qx ) dµ1 (x),
112
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
mit
Qx = {y : (x, y) ∈ Q}.
(Übung!). Für µ1 = λd−1 , µ2 = λ ergibt sich die Form des Prinzips aus dem
obigen Satz. Für die umgekehrte Wahl ergibt sich
Z
λd (Q) = λ(Q(x1 ,...,xd−1 ) ) dλd−1 (x1 , . . . , xd−1 )
mit
Q(x1 ,...,xd−1 ) x = {xd : (x1 , . . . , xd ∈ Q}.
2.161. Beispiel: Seien f, g : Rd → R messbar, f ≤ g. Dann ist die Menge der
Punkte, die zwischen den Graphen der beiden Funktionen liegen gleich
M = {x ∈ Rd+1 : f (x1 , . . . , xd ) ≤ xd+1 ≤ f (x1 , . . . , xd )}.
Diese Menge ist messbar, denn sie ist Differenz der beiden Mengen
{x ∈ Rd+1 : f (x1 , . . . , xd ) − xd+1 ≤ 0}
{x ∈ Rd+1 : g(x1 , . . . , xd ) − xd+1 < 0}
Wir definieren
M(x1 ,...,xd ) = {xd+1 ∈ R : (x1 , . . . , xd+1 ) ∈ M }
mit
λ(M(x1 ,...,xd ) ) = f (x1 , . . . , xd ) − g(x1 , . . . , xd ).
Aus dem Satz von Fubini folgt in diesem Fall
Z
Z
λd+1 (M ) = λ(Mx1 ,...,xd ) dλd (x1 , . . . , xd ) = (f − g) dλd .
2.162. Bemerkung: Sei f : Q → R summierbar für messbares Q ⊆ Rd . Um
das Integral
Z
f dλd
Q
zu berechnen, wenden wir dieselbe Technik wie beim Prinzip von Cavalleri an.
Wir stellen uns also f durch 0 auf ganz Rd fortgesetzt vor und erhalten aus dem
Satz von Fubini
!
Z
Z Z
f dλd =
Q
f (x1 , . . . , xd ) dλd−1 (x2 , . . . , xd )
Qx1
mit Qx1 wie oben.
2.163. Beispiel: Sei
M = {(x, y) ∈ R2 : |x| + |y| ≤ 1},
f (x, y) = 1 + x.
dλ(x1 )
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
113
Dann folgt


0 ≤ x ≤ 1,
[−(1 − x), 1 − x],
Mx = [−(1 + x), (1 + x)], −1 ≤ x ≤ 0,


∅,
sonst.
Also
Z
Z
f dλ2 =
M
1
Z
0
µ(Mx )(1 + x) dλ(x) = 2
(1 + x)2 dx + 2
Z
−1
−1
1
(1 − x2 ) dx = 2.
0
Wenn man allerdings bemerkt, dass x 7→ µ(Mx )x eine ungerade√Funktion ist,
und dass M das um 45 Grad gedrehte Quadrat mit Seitenlängen 2 ist, so folgt
sofort
Z
Z
f dλ2 = µ(Mx ) dλ(x) = µ(M ) = 2.
M
2.164 Aufgabe: Der Schwerpunkt eines Körpers M ⊆ Rd ist der Punkt y ∈ Rd mit
Z
1
xi dλd ,
i = 1, . . . , d.
yi = d
λ (M ) M
(a) Berechnen Sie den Schwerpunkt des Dreiecks D mit den Ecken (0, 0), (1, 0) und
(0, 1).
(b) Berechnen Sie den Schwerpunkt der oberen Halbkugel
H = {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + y 2 + z 2 ≤ 1, z ≥ 0}
mit Hilfe des Satzes von Fubini.
2.165. Beispiel: Für messbares f : R → [0, ∞) ist der Rotationskörper des
Graphen um die x-Achse die Menge
R = {(x, y, z) ∈ R3 : y 2 + z 2 ≤ f (x)2 }.
Die Menge ist messbar. Die Schnitte Rx ∈ R2 sind Kreise mit Radien f (x). Es
folgt aus dem Prinzip von Cavalleri
Z
3
λ (R) = π f (x)2 dλ(x).
2.166 Aufgabe: Berechnen Sie das Volumen der rotierten Parabel bis zur Höhe y.
2.167 Aufgabe: Sei
K = {x ∈ R3 : 0 ≤ x3 ≤ 1, x21 + x22 ≤ x23 }.
Zeichnen Sie diesen Kegel und berechnen Sie sein Volumen mit Hilfe der Formel für
Rotationskörper.
2.168 Aufgabe: Ein allgemeiner Kegel ist die konvexe Hülle einer Menge M in der
x1 -x2 -Ebene und einem Punkt x ∈ R3 . Genauer
K = {x + λ(y − x) : (y1 , y2 ) ∈ M , y3 = 0, 0 ≤ λ ≤ 1},
114
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
wobei M ⊆ R2 eine messbare Menge ist. Zeigen Sie
λ3 (K) =
x3 2
λ (M ).
3
2.169. Beispiel: Wir wollen die folgende Formel herleiten.
Z
Z ∞
f dµ =
µ({f ≥ x}) dλ(x).
(2.4)
0
wobei wir die übliche Abkürzung
{f ≥ x} = {w : f (w) ≥ x}
verwenden. Sei f : Ω → [0, ∞) messbar und g : [0, ∞) → [0, ∞) stetig, in (0, ∞)
differenzierbar und monoton wachsend mit g(0) = 0. Es gilt dann
f (z)
Z
g 0 (x) dx =
g(f (z)) =
Z
1[0,f (z)] (x)g 0 (x) dλ(x).
0
Nun haben wir für alle x ∈ [0, ∞) und z ∈ Ω.
1[0,f (z)] (x) = 1{w:f (w)≥x} (z).
Es folgt
Z
Z Z
(g ◦ f ) dµ =
1[0,f (z)] (x)g (x) dλ(x) dµ(z)
Z Z
0
=
1[0,f (z)] (x)g (x) dµ(z) dλ(x)
Z Z
=
1{w:f (w)≥x} (z) dµ(z) g 0 (x) dλ(x)
Z ∞
=
µ({f ≥ x})g 0 (x) dλ(x),
0
0
Mit g(x) = x folgt speziell (2.4).
2.170 Aufgabe: Berechnen Sie mit Hilfe dieser Formel
Z 1
xα dx
0
für α ≥ 0 aus und vergleichen Sie mit dem gewohnten Ergebnis.
2.171. Beispiel: Wir wollen das folgende Integral herleiten, das in der Statistik
im Zusammenhang mit der Normalverteilung wichtig ist.
Z
√
2
e−x dλ(x) = π.
(2.5)
Dazu wenden wir das obige Beispiel an und berechnen zunächst
Z
Z 1
−x2 −y 2
e
dλ(x, y) =
π| ln(z)| dz = π.
0
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
115
2
Abbildung 2.7: Die Funktion e−x
−y 2
Denn es gilt
2
e−x
−y 2
≥ z ⇔ x2 + y 2 ≤ − ln(z).
Für 0 < z ≤ 1 gilt also
2
µ{(x, y) : e−x
−y 2
≥ z} = µ(B√| ln(z)| ) = π| ln(z)|.
Wir können dieses Integral aber auch anders berechnen. Es gilt nämlich
Z
Z
Z
Z
2
2
2
2
2
e−x −y dλ(x, y) = e−x ( e−y dy) dx = ( e−x dx)2 .
Es folgt (2.5).
2
2.172 Aufgabe: Berechnen Sie das Integral von e−x
onskörpers.
−y 2
mit Hilfe eines Rotati-
2.173 Aufgabe: Zeigen Sie
Γ
„ «
√
1
= π.
2
Folgern Sie
λd (Kd,1 ) =
π d/2
Γ(d/2 + 1)
wobei Kd,1 die Einheitskugel im Rd ist.
2.174. Beispiel: Wir weisen nach, dass

Z
µ(K (0)) d , 0 < α < d
1
1
d
dλ
(x)
=
d−α
α
∞,
K1 (0) kxk
α ≥ d,
116
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
ist, wobei wieder K1 (0) die abgeschlossene Einheitskugel im Rd sei. Es gilt
nämlich für t ≥ 1
f (x) =
1
≥ t ⇔ x ∈ Kt−1/α (0).
kxkα
Für 0 ≤ t < 1 und x ∈ K1 0 gilt immer f (x) ≥ t. Es folgt für d > α
Z
K1 (0)
1
dλd (x) =
kxkα
Z
1
Z
∞
µ(K1 (0)) +
µ(Kt−1/α (0))
0
Z
1
∞
= µ(K1 (0)) 1 +
t
−d/α
dt
1
t1−d/α
= µ(K1 (0)) 1 +
1 − d/α
t=∞ !
t=1
d
= µ(K1 (0))
.
d−α
Für d ≤ α sieht man, dass dieses Integral gleich ∞ wird.
2.175 Aufgabe: Rechnen Sie
Z
0
1
1
dr
rα
für α > 0 direkt nach.
2.176. Beispiel: Als weiteres interessantes Beispiel berechnen wir das uneigentliche Riemann-integral aus dem Beispiel 2.128. Das Ergebnis ist
Z ∞
π
sin(x)
dx = .
x
2
0
Um dieses Ergebnis zu erhalten, wenden wir folgenden Trick an.
Z r
Z r Z ∞
Z ∞ Z r
sin(x)
−xy
−xy
sin(x)e
dy dx =
sin(x)e
dx dy.
=
x
0
0
0
0
0
Das innere Integral lässt sich nun durch zweifache partielle Integration berechnen (Übung!). Es folgt
Z
0
r
x=r
−xy
e
(cos(x) + y sin(x))
sin(x)e−xy dx = −
1 + y2
x=0
=−
e−ry (cos(r) + y sin(r))
1
+
.
1 + y2
1 + y2
Die erste Funktion lässt sich leicht durch 2e−ry abschätzen und es folgt
Z ∞ −ry
e (cos(r) + y sin(r)) dy ≤ 1 .
lim
r→∞ 0
1 + y2
r
Insgesamt erhalten wir
Z r
Z ∞
sin(x)
1
π
∞
lim
=
= [arctan(y)]0 = .
2
r→∞ 0
x
1
+
y
2
0
2.6. MEHRFACHE INTEGRATION
117
2.177. Beispiel: Sei
Kd = {x ∈ Rd : xi ≥ 0 für alle i,
Pd
i=1
xi ≤ 1}
Mit Hilfe des Prinzips von Cavalleri berechnen wir
d
1
Z
λ (Kd ) =
λ
d−1
Z
1
(Kd,xd ) dλ =
0
(1 − xd )d−1 Kd−1 dλ =
0
1 d−1
λ (Kd−1 ),
d
wobei
Kd,xd = {x ∈ Rd−1 : xi ≥ 0 für alle i,
Pd−1
i=1
xi ≤ 1 − xd } = (1 − xd )Kd−1
ist. Es folgt per Induktion
λd (Kd ) =
1
.
d!
Seien nun y1 , . . . , yd+1 ∈ Rd . Dann ist die konvexe Hülle dieser Punkte die
Menge
d+1
X
P
K={
λi yi : λi ≥ 0 für alle i,
λi = 1}.
i=1
Es folgt
K = {y1 +
d
X
µi (yi+1 − y1 ) : λi ≥ 0 für alle i,
P
µi ≤ 1} = y1 + f (Kd )
i=1
mit
f (µ1 , . . . , µd ) =
d
X
µi (yi+1 − y1 ).
i=1
Es folgt aus der Transformationsformel für affine, bijektive Abbildungen
λd (K) =
1
| det(y2 − y1 , . . . , yd+1 − y1 )|,
d!
falls diese Determinante nicht 0 ist. Falls sie aber 0 ist, so ist K in einem
d − 1-dimensionalen affinen Unterraum von Rd enthalten und somit in einer
Nullmenge. Da K selbst messbar ist, ist K eine Nullmenge.
2.178 Aufgabe: Seien
Sx = {(x, y, z) ∈ R3 : y 2 + z 2 ≤ 1},
Sy = {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + z 2 ≤ 1},
Sz = {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + y 2 ≤ 1},
punkta Berechnen Sie das Volumen von Sx ∩ Sy mit Hilfe des Satzes von Fubini.
(b) Berechnen Sie das Volumen von Sx ∩ Sy ∩ Sz . Setzen Sie dazu die Menge aus einem
√
Würfel mit Kantenlänge 2 und 6 angesetzten Kappen zusammen.
118
2.6.3
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Das Zählmaß
Wir kommen zurück auf das ζΩ aus dem Beispiel 2.48.
2.179. Bemerkung: Wenn
Ω = {ω1 , ω2 , . . .}
abzählbar ist, so ist das Zählmaß σ-endlich. Außerdem ist f : Ω → [0, ∞) genau
dann integrierbar, wenn |f | endlich integrierbar ist. Wir können |f | durch die
einfachen Funktionen
k
X
tk (x) =
|f (ωi )|1{ωi }
n=1
approximieren, die offenbar punktweise gegen f konvergieren. Die Integrale
konvergieren gegen
Z
∞
X
tk =
|f (ωi )|.
lim
k→∞
R
tk
n=1
Genau dann, wenn diese Reihe konvergiert, ist f integrierbar und
Z
f dζΩ =
∞
X
f (ωi ).
n=1
Das Integral ist dann nicht von der Reihenfolge der Summanden abhängig, da
man ja dieselbe Argumentation auch mit einer Umordnung durchführen kann.
Dies ist der große Umordnunssatz, der besagt, dass man eine absolut konvergente Reihe beliebig umordnen kann.
2.180. Beispiel: Als Beispiel für den Satz von Fubini betrachten wir die Doppelsumme
∞
∞ X
X
an,m
n=1 m=1
mit an,m ∈ R. Diese Summe berechnen wir als Integral der Funktion
f (n, m) = an,m
auf N × N mit dem Maß ζN ⊗ ζN . Dass f dort summierbar ist, ist äquivalent mit
∞ X
∞
X
|an,m | < ∞.
n=1 m=1
Der Satz von Fubini sagt in diesem Fall
∞ X
∞
X
n=1 m=1
an,m =
∞ X
∞
X
an,m .
m=1 n=1
Dies ist der Umordnungssatz für Doppelreihen. Außerdem kann man dann
N × N = {(n1 , m1 ), (n2 , m2 ), . . .}
2.7. DER TRANSFORMATIONSSATZ UND DAS BILDMASS
119
in beliebiger Art und Weise aufzählen und erhält
∞ X
∞
X
an,m =
n=1 m=1
∞
X
ank ,mk .
k=1
2.181. Beispiel: Das Zählmaß auf einer überabzählbaren Menge ist nicht σendlich. Folglich kann der Satz von Fubini versagen. Als Beispiel betrachten wir
den Maßraum [0, 1] × ζ[0,1] und die Funktion
(
1,
f (x, y) =
0,
x = y,
x 6= y.
Es gilt
Z Z
2.7
Z Z
f (x, y) dλ(x) dζ[0,1] = 0 6= 1 =
f (x, y) dζ[0,1] (y) dλ(x).
Der Transformationssatz und das Bildmaß
Ziel dieses Abschnitts ist, den sogenannten Transformationssatz zu beweisen.
In Satz 2.63 haben wir für affine, bijektive Abbildungen φ : Rd → Rd und
messbares A gezeigt
µ(φ(A)) = | det(φ)|µ(A).
Wenn nun f : Rd → Rd stetig differenzierbar ist, so lässt es sich sehr gut lokal
in x0 durch die affine Abbildung
f (x) ≈ f (x0 ) + Df (x0 )(x − x0 )
approximieren. Es ist naheliegend, dass
d
Z
λ (f (A)) =
| det(Df (x0 ))| dλd
A
gilt. Dies ist der Transformationssatz.
Für eine affine Abbildung φ gilt dieser Satz wegen Dφ(x) = φ für alle x.
Also gilt er lokal in einer Umgebung eines Punktes x0 für differenzierbare Abbildungen mit einem Fehler der relativ klein gegenüber dem Durchmesser der
Umgebung ist. Zerlegt man A in kleine disjunkte Mengen, so erhält man eine
Motivation für den allgemeinen Transformationssatz.
Als Folgerung erhalten wir eine Formel für Integrale von Funktionen auf
f (A), die in vielen Fällen sehr nützlich ist. Wir beginnen allerdings zunächst
mit allgemeinen Maßtransformationen.
120
2.7.1
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Das Bildmaß
Mit Hilfe des folgenden Satzes können wir das Bildmaß eines Maßes definieren
und Funktionen in diesem Bildmaß integrieren. Bei der Transformationsformel
wird das Bildmaß durch eine differenzierbare, bijektive Abbildung f erzeugt
werden.
2.182 Satz: Sei f : Ω1 → Ω2 eine messbare Abbildung, µ ein Maß auf Ω1 .
Dann ist f (µ), definiert durch
f (µ)(A) = µ(f −1 (A))
für messbares A ∈ Ω2 ein Maß auf Ω2 . Für eine nicht-negative, messbare Abbildung g : Ω2 → [−∞, ∞] gilt
Z
Z
g df (µ) = (g ◦ f ) dµ.
Das gleiche gilt, wenn die Abbildung g ◦ f integrierbar ist, in diesem Fall ist g
Integrierbar bezüglich f (µ).
Beweis: Es ist leicht nachzurechnen, dass f (µ) ein Maß ist. Die gesuchte
Gleichung gilt dann für charakteristische Funktionen wegen
Z
Z
Z
1A df (µ) = f (µ)(A) = µ(f −1 (A)) = 1f −1 (A) dµ = (1A ◦ f ) dµ.
Die letzte Gleichheit folgt aus 1f −1 (A) = 1A ◦ f (Übung!). Folglich gilt die Behauptung für alle einfachen Funktionen und per Grenzübergang für alle nichtnegativen, messbaren Funktionen. Durch Zerlegen in den positiven und negativen Teil sieht man, dass sie auch gilt, wenn g ◦ f integrierbar ist.
2
2.183. Beispiel: Bezeichne
K = {x ∈ R2 : kxk = 1}
den Rand des Einheitskreises. Dann ist K = f [0, 2π)) mit
f (t) = (cos(t), sin(t)).
Das Bildmaß des Lebesgue-Maßes auf [0, 2π) ist dann die Gleichverteilung auf
K. Man beachte, dass dies nicht das eingeschränkte Lebesgue-Maß des R2 auf
auf K ist. Denn K ist im R2 eine Nullmenge.
2.184. Bemerkung: Wenn f : Ω1 → Ω2 bijektiv ist, so gilt einerseits für alle
messbaren Mengen A ⊆ Ω2
f (µ)(A) = µ(f −1 (A))
aufgrund der Definition des Bildmaßes, und andererseits
f (µ)(f (B)) = µ(B)
2.7. DER TRANSFORMATIONSSATZ UND DAS BILDMASS
121
für alle messbaren Mengen B ⊆ Ω1 .
2.185. Bemerkung: In der Transformationsformel ist f bijektiv. Das Bildmaß
taucht in folgendem Zusammenhang auf. Wir behaupten, dass das Bildmaß
des Maßes ν mit der Dichte | det(Df (x))| unter f das Lebesguemaß ist, also
f (ν) = λd . Denn dann gilt für alle messbaren B im Urbildraum von f
Z
| det(Df (x))| dλd = ν(B) = f (ν)(f (B)) = λd (f (B)).
B
2.7.2
Der Transformationssatz
2.186. Definition: Sei U ⊆ Rd offen, f : U → Rd stetig differenzierbar
und bijektiv, sowie Df (x) für alle x ∈ U invertierbar. Dann heißt f ein C 1 Diffeomorphismus von U auf φ(U ).
2.187. Bemerkung: Aufgrund des Satzes von der offenen Abbildung ist f (U )
dann offen. Außerdem ist die Umkehrabbildung f −1 stetig differenzierbar und
es gilt
D(f −1 ) = (Df )−1 .
2.188 Satz:
gilt
Sei U ⊆ Rd offen und f ein C 1 -Diffeomorhismus auf U . Dann
Z
d
| det(Df (x))| dλd (x),
λ (f (A)) =
A
für messbare A ⊆ U , und für alle messbaren g : f (U ) → [0, ∞] gilt
Z
Z
d
g(y) dλ (y) =
g(f (x))| det(Df (x))| dλd (x).
f (U )
U
Dasselbe gilt für summierbare g : f (U ) → [−∞, ∞].
Beweis: (1) A 7→ λd (f (A)) ist ein Maß auf U , das wir mit dem Maß mit
der Dichte | det(Df (x))| vergleichen müssen. Aufgrund der Eindeutigkeit der
Maßerweiterung genügt es, diesen Sachverhalt für halboffene Quader Q mit
closure Q = K ⊆ U
zu beweisen.
Für jeden Punkt x ∈ U und jedes h ∈ Rd mit x + h ∈ U gilt
f (x + h) = f (x) + Df (x) · h + R(x, h),
mit
kR(x, h)k
= 0.
h→0
khk
lim
Die Funktion
s(x, h) =
1
R(x, h)
khk
122
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
ist also stetig in x und h. Für eine kompakten Menge K ⊆ U gibt es dann ein
r > 0, so dass x + h ∈ U für alle x ∈ U und khk ≤ r. Außerdem ist s(x, h) für
x ∈ K und khk ≤ r gleichmäßig stetig. Wir schließen daraus, dass es für jedes
> 0 ein δ > 0 gibt, so dass
kf (x + h) − f (x) − Df (x) · hk < khk,
für alle x ∈ K, khk < δ.
Außerdem ist die Abbildung x 7→ Df −1 (x) stetig und daher ist kDf −1 k auf K
nach oben beschränkt. Setzt man
gx (y) = x + Df (x)−1 (f (y) − f (x)),
so existiert also eine Konstante CK mit
kgx (y) − yk < CK ky − xk,
für alle x ∈ K, ky − xk < δ
gx ist dann eine invertierbare Funktion, die fast die Identität ist.
Wir teilen den Quader Q in kompakte Quader mit einem Durchmesser δ auf.
Sei L einer dieser Quader und x ∈ L beliebig. Aufgrund unserer Abschätzung
für gx (y) − y ist gx (L) in einem Quader enthalten, dessen Seiten höchstens um
den Faktor 1 + 2CK größer sind. Es folgt
λd (gx (L)) ≤ λd (L)(1 + 2Ck )d .
Umgekehrt enthält gx (L) einen Quader L̃, dessen Seiten höchstens um den
Faktor 1/(1 + 2CK ) kleiner sind, da für jedes Element x + h ∈ L̃ die obige
Abschätzung für gx (h) gilt. Also
λd (gx (L)) ≥
λd (L)
.
(1 + 2Ck )d
Wir wenden nun Satz 2.63 an und erhalten
| det(Df (x))|λd (gx (L)) = λd (Df (x)(gx (L))) = λd (f (L) + c) = λd (f (L))
Also
λd (L)| det(Df (x))|
≤ λd (f (L)) ≤ λd (L)| det(Df (x))|(1 + 2Ck )d .
(1 + 2Ck )d
Es folgt
λd (f (L))
≤ λd (L)| det(Df (x))| ≤ λd (f (L))(1 + 2Ck )d .
(1 + 2Ck )d
Aufsummieren über alle L ergibt
X
λd (f (Q))
≤
λd (L)| det(Df (x))| ≤ λd (f (Q))(1 + 2Ck )d .
d
(1 + 2Ck )
L
In der Mitte steht nun eine Riemannsche Zwischensumme mit Feinheit δ für die
Funktion | det(Df (x))|. Mit → 0 lassen wir auch die Feinheit δ → 0 gehen. Es
folgt, dass diese Funktion Riemann-integrierbar ist und
Z
λd (f (Q)) =
| det(Df (x))| dλd (x).
Q
2.7. DER TRANSFORMATIONSSATZ UND DAS BILDMASS
123
(2) Wir betrachten das Maß
Z
| det(Df (x))| dλd (x)
ν(A) =
A
auf U . Dieses Maß hat die Dichte | det(Df (x))| bezüglich λd . Also
Z
Z
(g ◦ f ) dν =
g(f (x))| det(Df (x))| dλd (x).
U
U
Wir haben gezeigt, dass ν(A) = λd (f (A)) für alle messbaren A ⊆ U gilt. Da f
bijektiv ist, ist f (ν) das Maß λd . Folglich
Z
Z
Z
d
gf (U ) dλ =
g df (ν) =
(g ◦ f ) dν.
f (U )
U
2
Es folgt die Behauptung.
2.189. Beispiel: Im R2 lässt sich jeder Punkt x 6= 0 eindeutig mit Polarkoordinaten
(x, y) = f (φ, r) = r(cos(φ), sin(φ)),
0 < r,
0 < φ < 2π
darstellen. f ist eine bijektive Abbildung
f : (0, 2π) × (0, ∞) → R2 \ P
wobei
P = {x ∈ R2 : x2 = 0, x1 > 0}
eine Nullmenge ist. Aus dem Transformationssatz folgt wegen | det Df (r, φ)| = r
Z
Z ∞ Z 2π
2
g dλ =
g(r(cos(φ), sin(φ)))r dφ dr.
0
0
Dabei kann man noch die Reihenfolge der Integration rechts vertauschen.
2.190. Beispiel: Die Fläche des Einheitskreises im R2 ist
Z 1 Z 2π
Z 1
λ2 (B1 ) =
r dφ dr =
2πr dr = π.
0
0
0
2.191 Aufgabe: Formulieren und beweisen Sie den Transformationssatz für U =
(a, b) und einen Diffeomorphismus f : U → V .
2.192. Bemerkung: Der Transformationssatz bezieht sich auf messbare Teilmengen von offenen Mengen. Jedoch kann ihn oft auf den Abschluss der offenen
Menge fortsetzen, wenn der Rand der Menge eine Nullmenge ist.
2.193 Aufgabe: Zeigen Sie, dass der Rand der Einheitskugel BR ⊆ Rd eine Nullmenge sein muss, indem Sie
∂B1 ⊆ BR \ B1
verwenden.
für alle R > 1
124
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Das Bild einer Nullmenge unter einem Diffeomorphismus ist nach dem Transformationssatz wieder eine Nullmenge. Auf diese Art kann man oft beweisen,
dass Ränder Nullmengen sind. Ein Beispiel ist der folgende Satz über implizite
Nullmengen.
2.194 Satz:
Sei U ⊆ Rd offen und g : U → R differenzierbar, sowie
M = {x ∈ U : g(x) = 0}.
Auf M sei der Gradient von g nirgends gleich 0. Dann ist M eine Nullmenge.
Beweis: Sei x ∈ M und zum Beispiel
∂g
(x) 6= 0.
∂xd
Wir setzen
f (x1 , . . . , xd ) = (x1 , . . . , xd−1 , g(x1 , . . . , xd )).
Dann ist Df (x) regulär, wie man sofort nachrechnet. Es gibt also nach dem
Satz über die lokale Umkehrfunktion eine offene Umgebung Ux von x, so dass f
dort injektiv ist, f (Ux ) offen und f −1 auf f (Ux ) ein Diffeomorphismus. Es folgt
M ∩ Ux = f −1 (f (Ux ) ∩ Vd )
mit
Vd = {x ∈ Rd : xd = 0}.
Vd ist aber eine Nullmenge, und damit auch M ∩ Ux nach dem Transformationssatz. Ux enthält aber einen offenen Quader mit rationalen Endpunkten, der
x enthält. Es gibt also zu jedem x ∈ M einen offenen Quader Qx mit rationalen
Endpunkten, der x enthält, so dass Qx ∩ M Nullmenge ist. Von diesen Quadern
gibt es nur abzählbar viele in U . Es folgt, dass M insgesamt Nullmenge ist. 2
2.195. Beispiel: Aus diesem Satz folgt sofort, dass die Ränder der meisten
Mengen, die durch Ungleichungen gegeben sind, Nullmengen sind. Die Punkte,
in denen der Gradient verschwindet, sind meist nur endlich viele Ausnahmepunkte.
2.196. Beispiel: Eine etwas andere Technik wird bei parametrisierten Mengen
verwendet. Seien
f1 , f2 : R → R
zweimal stetig differenzierbare Abbildungen. Dann ist
γ(t) = (f1 (t), f2 (t)) ∈ R2
eine Kurve im R2 . Falls nun γ 0 (t) 6= 0 in einen Intervall [a, b] ist und γ dort
injektiv, so ist die Abbildung
f (t, s) = (f1 (t) − sf20 (t), f2 (t) + s(f10 (t))
2.7. DER TRANSFORMATIONSSATZ UND DAS BILDMASS
125
aufgrund des Satzes von der offenen Abbildung lokal um das Intervall [a, b] auf
der x-Achse im R2 ein Diffeomorphismus (Übung!), und es gilt γ(t) = f (t, 0).
Es folgt, dass das Wegstück γ([a, b]) eine Nullmenge ist.
2.197 Aufgabe: Zeigen Sie auf diese Art, dass der Rand des Einheitskreises eine
Nullmenge ist.
2.198. Bemerkung: Man beachte, dass der Diffeomorphismus f im Transformationssatz bijektiv sein muss!
2.199. Beispiel: Wir kommen nochmals auf Beispiel 2.171 zurück. Man erhält
wieder
ZZ
Z ∞
2
−x2 −y 2
e
dx dy =
2πre−r dr = π.
0
2.200. Beispiel: Analog kann man Kugelkoordinaten für die Einheitskugel
B1 ⊆ R3 einführen. Dabei sind alle x ∈ R3 darstellbar durch
(x, y, z) = r(cos(ψ) cos(φ), cos(ψ) sin(φ), sin(ψ)),
mit
π
π
≤ψ≤
2
2
Die Darstellung ist für fast alle x eindeutig. Für die Transformation f gilt
0 ≤ r,
0 < φ ≤ 2π,
−
det(Df (r, φ, ψ) = r2 cos(ψ).
(Übung!). Wir erhalten
Z
3
Z
∞
Z
2π
Z
π/2
g(f (r, φ, ψ))r2 cos(ψ) dψ dφ dr.
g dλ =
0
0
−π/2
2.201. Beispiel: Das Volumen von B1 ergibt sich als
Z
0
1
Z
0
2π
Z
π/2
r2 cos(ψ) dψ dφ dr
−π/2
Z
1
Z
2π
2r2 dφ dr =
=
0
0
Z
1
4πr2 dr =
0
4π
.
3
2.202 Aufgabe: Sei g(x) = φ(kxk) für x ∈ R3 . Zeigen Sie mit Hilfe von Kugelkoordinaten
Z
Z ∞
g dλ3 =
4πr2 φ(r) dr.
0
2
2
2
Wenden Sie diese Formel für g(x, y, z) = e−x −y −z an, und zeigen Sie so
√
Z ∞
2
π
r2 e−r dr =
.
4
0
Zeigen Sie dieselbe Formel durch partielle Integration.
2.203. Beispiel: Sei
M ⊆ {(x, z) ∈ R2 : x > 0}
126
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
messbar. Dann kann man M um die z-Achse im R3 rotieren lassen, also
p
K = {(x, y, z) ∈ R3 : ( x2 + y 2 , z) ∈ M }.
Um das Volumen von K zu berechnen, verwenden wir Zylinderkoordinaten
g(r, φ, z) = (r cos(φ), r sin(φ), z).
Es folgt
λ3 (K)
Z
2π
∞
Z
Z
∞
1K (r cos(φ), r sin(φ), z) dzr dr dφ
0
−∞
0
∞
Z
λ(Mr )r dr,
= 2π
0
wobei
Mr = {z : (r, z) ∈ M }
ist. Der Schwerpunkt von M hat die r-Koordinate
Z ∞
1
R= 2
λ(Mr )r dr.
λ (M ) 0
Dies bedeutet, dass das Volumen des Rotationskörpers gleich dem Produkt der
Fläche von M ist mit der Länge des Weges, die der Schwerpunkt zurücklegt. Es
folgt
λ3 (K) = 2πRλ2 (M ).
Dies ist die Guldinsche Regel für Volumina von Rotationskörpern.
2.204 Aufgabe: Berechnen Sie das Volumen des Torus mit Durchmesser d und
Durchmesser des Innenrings von r.
2.205. Beispiel:
Kurve
Wir wollen die Fläche berechnen, die der Fahrstrahl der
g(φ) = r(φ)(cos(φ), sin(φ))
von 0 aus überstreicht, wenn φ in [a, b] ⊆ [0, 2π) läuft. Dies ist die Fläche der
Menge
Ma,b = {ρ(cos(φ), sin(φ)) : 0 ≤ ρ ≤ r(φ), a ≤ φ ≤ b}
Diese Menge ist das Bild von
F = {(x, y) : a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ r(x)}
unter der Abbildung
(x, y) 7→ y(cos(x), sin(x))
mit Determinante y. Es folgt
Z b
µ(Ma,b ) =
a
Z
!
r(φ)
y dy
0
Z
dx. =
a
b
r(φ)2
dφ.
2
Dabei haben wir den Satz von Fubini verwendet. Für r(φ) = R ergibt sich damit
die Fläche eines Kreiswinkels WR (a) der Größe a mit Radius R
Z a 2
R
aR2
2
λ (W1 (a)) =
dφ =
.
2
2
0
2.8. DIE LP-RÄUME
127
2.206 Aufgabe: Sei M = [0, 1]2 ⊆ R2 , und
f (x, y) = (x2 − y 2 , 2xy).
(a) Zeigen Sie, dass f injektiv ist und berechnen Sie λ2 (f (M )).
(b) Berechnen Sie mit der Transformationsformel den Schwerpunkt von f (M ).
(c) Skizzieren Sie f (M ), indem Sie die Bilder der Eckpunkte berechnen. Berechnen Sie
λ2 (f (M )) mit dem Prinzip von Cavalleri.
2.207 Aufgabe: Sei M ⊆ R3 eine punktsymmetrische Menge (also M = −M ). Zeigen
Sie, dass dann 0 der Schwerpunkt von M ist.
2.208 Aufgabe: Berechnen Sie die Fläche von
M = {(x, y) ∈ R2 : (x − y)2 + 2(x + y)2 ≤ 1}
mit Hilfe des Transformationssatzes.
2.8
Die Lp-Räume
Wir haben in der linearen Algebra schon die 2-Norm
s
Z b
kf k2 =
|f (x)|2 dx
a
für f ∈ C[a, b] kennen gelernt. Ziel dieses Abschnitts ist es, diese Norm auf
summierbare Funktionen auf ganz R zu erweitern. Dabei tritt die Schwierigkeit
auf, dass kf k = 0 sein kann, obwohl f 6= 0 ist.
Wir betrachten außerdem gleich allgemeiner die Lp -Norm
Z
kf kp =
1/p
|f (x)|p dµ
für 1 ≤ p < ∞ und deren Grenzwert für p → ∞
kf k∞ = ess sup |f |.
2.8.1
Die Supremumsnorm
Die naheliegende Supremums-Norm
sup{|f (x)| : x ∈ Ω}
ist für unsere Zwecke nicht geeignet. Wir wollen, dass Funktionen, die fast überall 0 sind auch die Norm 0 haben.
2.209. Definition: Aus dem Raum der messbaren Funktionen f : Ω → R
dividieren wir den Raum der Funktionen aus, die fast überall 0 sind. Den entstehenden Raum bezeichnen wir mit M(Ω).
128
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Wir haben es also statt mit Funktionen mit Klassen von Funktionen zu tun,
die fast überall gleich sind. Dennoch werden wir die normale Funktionsschreibweise beibehalten, da alle Definitionen und Rechnungen für fast überall gleiche
Funktionen dieselben sind.
2.210. Definition: Sei Ω ein Maßraum und f : Ω → [−∞, ∞] messbar. Dann
definieren wir
kf k∞ = ess sup |f (x)| = inf{c : c ≥ |f | fast überall}.
x∈Ω
Wir setzen
L∞ (Ω) = {f ∈ M(Ω) : kf k∞ < ∞}.
Man schreibt oft auch L∞ (µ), um das Maß zu betonen.
2.211. Bemerkung: Wenn f fast überall gleich f˜ ist, so gilt offenbar
kf k∞ = kf˜k∞ .
kf k∞ ist also auf M(Ω) wohldefiniert.
2.212. Bemerkung: Es gilt
{x : f (x) ≤ c} =
∞
\
{x : f (x) ≤ c + 1/n} =
n=1
∞
[
!c
{x : f (x) > c + 1/n}
.
n=1
Also ist diese Menge für c = ess sup f Komplement einer Nullmenge. Daher ist
das Infimum in der Definition von ess sup“ ein Minimum und es gilt
”
|f | ≤ kf k∞
fast überall.
2.213 Satz:
kf k∞ ist eine Norm auf L∞ (Ω).
Beweis: Wenn kf k = 0 ist, so ist f fast überall 0 und es folgt f = 0 im Raum
M(Ω). Die Dreiecksungleichung und die positive Linearität der Norm sind leicht
zu zeigen (Übung!).
2
2.214. Bemerkung: Wenn das Maß µ auf Ω endlich ist, so sind alle Funktionen
f ∈ L∞ (µ) summierbar. Im Rd mit dem Lebesgue-Maß ist das aber nicht der
Fall, wie schon die konstante Funktion 1 zeigt. Umgekehrt gibt es summierbare
Funktionen, die nicht im L∞ sind.
2.8.2
Jensensche Ungleichung
Wir beweisen nun ein nützliches Hilfsmittel, das man Jensensche Ungleichung nennt.
2.215 Satz: Sei µ ein Maß auf Ω mit µ(Ω) = 1 und f : Ω → I summierbar,
wobei I ⊆ R ein offenes Intervall ist. Sei φ : I → [0, ∞) konvex. Dann gilt
Z
Z
φ
f dµ ≤ (φ ◦ f ) dµ.
2.8. DIE LP-RÄUME
Beweis: Sei s =
R
129
f dµ. Dann gilt s ∈ I. Sei
β = sup
t<s
φ(t) − φ(s)
φ(t) − φ(s)
≤ inf
.
t>s
t−s
t−s
Es folgt
φ(t) − φ(x) ≥ β(t − s)
für alle s ∈ I. Also für alle x ∈ Ω
φ(f (x)) − φ(s) ≥ β(f (x) − s).
Das Integral über die rechte Seite ist aber 0 wegen µ(Ω) = 1 und unserer Wahl
2
von s. Es folgt die Behauptung.
2.216. Beispiel: Wenn speziell Ω = {x1 , . . . , xn } endlich ist und µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf Ω, also zum Beispiel
µ{xk } = αk ,
mit
n
X
k = 1, . . . , n,
αk = 1.
k=1
Dann folgt
φ
n
X
k=1
!
αk y
≤
n
X
φ(αk yk )
k=1
mit f (xk ) = yk . Dies ist die diskrete Form der Jensenschen Ungleichung.
2.217 Aufgabe: Zeigen Sie diese Formel durch Induktion nach n unter Verwendung
der Konvexität von φ.
P
2.218 Aufgabe: Zeigen Sie für αi > 0 mit i αi = 1 und y1 , . . . , yn > 0.
y1α1 · . . . · ynαn ≤ α1 y1 + . . . + αn yn .
2.8.3
Die Lp-Räume
Unser Ziel ist die Untersuchung der in der Einführung definierten Norm kf kp .
Insbesondere zeigen wir, dass es sich hier um eine Norm handelt. Die Dreiecksungleichung ist nicht einfach zu zeigen.
2.219. Bemerkung: Wir wollen kf kp für 1 ≤ p < ∞ definieren. Für p > 1
spielt dabei die Zahl q > 1 mit
1 1
+ =1
p q
eine wichtige Rolle, die man den zu p konjugierten Exponent nennt.
130
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Der folgende Satz zeigt, dass
Z
p
kf kp =
1/p
|f | dµ
eine Norm auf M(Ω) ist. Die Ungleichung, die als Hilfsmittel verwendet wird,
nennt man Höldersche Ungleichung. Für den Fall p = 2 nennt man sie
Schwarzsche Ungleichung. Die Dreiecksungleichung aus diesem Satz nennt
man auch Minkowskische Ungleichung.
2.220 Satz: Seien p und q konjugierte Exponenten, 1 < p < ∞, sowie Ω ein
Maßraum. Für messbare f, g : Ω → [0, ∞] gilt dann
Z
f g dµ ≤ kf kp kgkq
und
kf + gkp ≤ kf kp + kgkp .
Beweis: (1) Wir beweisen zunächst die Höldersche Ungleichung. Wenn einer
der Faktoren auf der rechten Seite gleich 0 ist, so ist f = 0 fast überall oder
g = 0 fast überall, und damit ist die linke Seite gleich 0. Wenn ansonsten ein
Faktor gleich ∞ ist, so gilt die Ungleichung trivialerweise. Wir nehmen daher
an, dass beide Faktoren endlich, aber nicht 0 sind, und setzen
F =
1
f,
kf kp
G=
1
g.
kgkq
Es folgt
Z
Z
F p dµ =
Gq dµ = 1.
Für x ∈ Ω mit
0 < F (x) < ∞,
0 < G(x) < ∞
existieren s, t ∈ R mit
F (x) = es/p ,
G(x) = et/q .
Aus der Konvexität der Exponentialfunktion folgt
es/p+t/q ≤
Also
F (x)G(x) ≤
es
et
+ .
p
q
F (x)p
G(x)q
+
.
p
q
Diese Gleichung gilt in der Tat für alle x ∈ Ω. Wir integrieren auf beiden Seiten
und erhalten
Z
1 1
F G dµ ≤ + = 1.
p q
Rechnet man dies für f, g um, so folgt die Behauptung.
2.8. DIE LP-RÄUME
131
(2) Wir schreiben
(f + g)p = f (f + g)p−1 + g(f + g)p−1 .
Aus der Hölderschen Ungleichung folgt
Z
f (f + g)p−1 dµ ≤ kf kp k(f + g)p−1 kq .
Dasselbe kann man für den zweiten Summanden machen. Addiert man die beiden Summanden, so folgt
Z
(f + g)p dµ ≤ k(f + g)p−1 kq (kf kp + kgkp ).
Es gilt
p−1
k(f + g)
Z
kq =
(p−1)q
(f + g)
1/q Z
1/q
p
dµ
=
(f + g) dµ
Da die Dreiecksungleichung für kf kp = ∞ oder kgkp = ∞ gilt, nehmen wir an,
dass diese Werte endlich sind. Weil tp konvex auf [0, ∞) ist, gilt außerdem
p
f +g
1
≤ (f p + g p ).
2
2
R
Es
auch die linke Seite (f + g)p endlich ist. Wir dürfen also durch
R folgt, dass
p 1/q
( (f + g) )
dividieren und erhalten die Behauptung wegen 1 − 1/q = 1/p.
2
2.221 Aufgabe: Analysieren Sie den Beweis der Hölderschen Ungleichung für den
Fall, dass die rechte Seite kleiner ∞ ist, und folgern Sie, =“ genau dann gilt, wenn es
”
Konstanten 0 < α, β gibt, so dass αf p = βg q fast überall gilt.
2.222. Beispiel: Wir zeigen, dass Γ logarithmisch konvex ist, das heißt,
dass ln Γ konvex ist. Wir müssen also zeigen
ln Γ(λx + µy) ≤ λΓ(x) + µΓ(y)
für x, y > 0 und λ, µ > 0 mit λ + µ = 1. Äquivalent ist
Γ(λx + µy) ≤ Γ(x)λ Γ(y)µ .
Dazu setzen wir p = 1/λ und µ = 1/(1 − λ), so dass also 1/p + 1/q = 1 ist.
Dann wenden wir die Höldersche Ungleichung auf
f (t) = t
x−1
p
e
−t
p
,
g(t) = t
y−1
q
e
−t
q
an. Wegen
x
y
f (t)g(t) = t p + q −1 e−t ,
f (t)p = tx−1 e−t ,
g(t)q = ty−1 e−t
folgt die Behauptung unmittelbar aus der Hölderschen Ungleichung. Mit der
logarithmischen Konvexität der Gammafunktion folgt für x ∈ (0, 1)
Γ(n + x) ≤ Γ(n)1−x Γ(n + 1)x = Γ(n)1−x Γ(n)x nx = (n − 1)!nx
n! = Γ(n + 1) ≤ Γ(n + x)x Γ(n + 1 + x)1−x = Γ(n + x)(n + x)1−x .
132
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Man erhält also
n!(n + x)x−1 ≤ Γ(n + x) ≤ (n − 1)!nx .
Also
(n − 1)!nx
n!(n + x)x−1
≤ Γ(x) ≤
x(x + 1) . . . (x + n − 1)
x(x + 1) . . . (x + n − 1)
Daraus folgt
(n − 1)!nx
n→∞ x(x + 1) . . . (x + n − 1)
Γ(x) = lim
Wegen Γ(1) = 1 gilt diese Formel auch für x = 1. Sie gilt dann auch für x > 1,
da
Γ(x + 1) = xΓ(x)
(n − 1)!nx
n→∞ (x + 1) . . . (x + n − 1)
(n − 1)!nx+1
= lim
n→∞ (x + 1) . . . (x + n − 1)(x + n)
= lim
ist. Wie haben durch diese Formel gezeigt, dass jede logarithmisch konvexe
Funktion F mit F (x + 1) = xF (x) und F (1) = 1 gleich der Gammafunktion ist.
2.223. Definition: Sei 1 ≤ p ≤ ∞. Dann definieren wir den Raum Lp (Ω) als
den Raum aller Funktionen f ∈ M(Ω) mit kf kp < ∞. Diesen Raum schreibt
man auch gerne als Lp (µ).
2.224. Bemerkung: Man weist mit dem vorhandenen Wissen leicht nach,
dass sie Normen auf M(Ω) sind.
2.225. Bemerkung: Im Fall p = 1 bedeutet dies
Z
kf k1 = |f | dµ < ∞.
Dies ist äquivalent zur Summierbarkeit der Funktion f . Im Fall p = ∞ bedeutet
es, dass
kf k∞ = ess sup |f (x)| < ∞
x∈Ω
ist. Es gibt dann also eine Nullmenge, außerhalb derer f beschränkt ist.
Der folgende Satz zeigt, dass die Räume Lp eine weitere wichtige Eigenschaft
haben.
2.226 Satz:
nachraum.
Für 1 ≤ p ≤ ∞ ist der Raum Lp (Ω) vollständig, also ein Ba-
Beweis: Sei zunächst 1 ≤ p < ∞. Sei fn eine Cauchyfolge in Lp (Ω). Analog
zum Beweis von Satz 1.83 nehmen wir eine Teilfolge mit
kfnk+1 − fnk kp ≤
1
.
2k
2.9. ZUSÄTZLICHES
133
Wir setzen
gm =
m
X
|fnk+1 − fnk |.
k=1
und
g=
∞
X
|fnk+1 − fnk |.
k=1
Es folgt aus der Dreiecksungleichung der Norm k · kp , dass kgm kp ≤ 1 gilt.
p
folgt kgkp ≤ 1.
Aus dem Lemma von Fatou (Satz 2.100), angewendet auf gm
Insbesondere ist g < ∞ fast überall. Die Reihe
fn1 +
∞
X
fnk+1 − fnk
k=1
konvergiert daher fast überall absolut. Wir setzen die Summe gleich f , wo die
Reihe konvergiert, und setzen sonst f (x) = 0. Die Partialsummen
fnm+1 = fn1 +
m
X
fnk+1 − fnk
k=1
sind eine Teilfolge der Cauchy-Folge fn in Lp (Ω). Es genügt daher zu zeigen,
dass diese Teilfolge in Lp (Ω) gegen f konvergiert. Das folgt aber aus
kf − fnm kp ≤
∞
X
kfnk+1 − fnk kp ≤
k=m+1
1
.
2m
Für p = ∞ ist der Beweis einfacher, da in diesem Fall fn (x) für fast alle x eine
Cauchy-Folge ist. Wir überlassen die Details als Übung.
2
2.227. Bemerkung: Als wichtige Konsequenz folgt, dass absolut konvergente
Reihen in Lp (Ω) konvergieren.
2.228. Bemerkung: Im obigen Beweis haben wir gezeigt, dass eine CauchyFolge in Lp (Ω) mit Grenzwert f ∈ Lp (Ω) eine Teilfolge hat, die fast überall
gegen f konvergiert.
2.9
2.9.1
Zusätzliches
Approximationssätze
In diesem Abschnitt wollen wir klären, inwieweit sich integrierbare Funktionen durch Treppenfunktionen oder gar durch stetige Funktionen approximieren
lassen. Zunächst beweisen wir einen sehr allgemeinen Approximationssatz,
der messbare Mengen mit Mengen der erzeugenden Algebra approximiert. Wir
erinnern daran, dass für A, B ⊆ Ω
A4B = (A \ B) ∪ (B \ A)
134
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
die symmetrische Differenz von A und B ist. A4B enthält alle Punkte, die
in genau einer der beiden Mengen sind.
2.229 Aufgabe: Zeigen Sie
1A4B = |1A − 1B |
für A, B ⊆ Ω.
2.230 Satz: Sei M eine Algebra, die die σ-Algebra A auf Ω erzeugt. Dann
existiert für alle A ∈ A mit µ(A) < ∞ und alle > 0 ein M ∈ M so dass
µ(A4M ) < gilt.
Beweis: Wir zeigen, dass die Menge D der Mengen aus A, für die der Satz
richtig ist, ein Dynkinsystem ist, das M umfasst. Nach Satz 2.37 ist die Aussage
also für alle A ∈ A richtig.
Zunächst ist klar, dass D alle Mengen aus M enthält. Also ∅, Ω ∈ D. Außerdem gilt
A4M = Ac 4M c .
Also folgt aus A ∈ D auch Ac ∈ D. Sei A1 , A2 , . . . eine disjunkte Folge in D, so
dass
!
∞
∞
X
[
µ(An ) < ∞.
µ
An =
n=1
n=1
Wir wählen M1 , M2 , . . . in M mit
2n+1
µ(An 4Mn ) <
für n ∈ N. Es gilt
∞
[
!
An
4
n=1
!
m
[
⊆
Mn
n=1
m
[
!
An 4Mn
n=1
∪
∞
[
An
n=m+1
(Übung!). Wir wählen m so groß, dass
∞
X
µ(An ) <
n=m+1
.
2
Dann folgt
µ
∞
[
n=1
!
An
4
m
[
n=1
!!
Mn
≤
+ = .
2 2
2
2.231. Bemerkung: Die Voraussetzung µ(A) < ∞ ist notwendig. Als Beispiel
sei
∞
[
A=
[2n, 2n + 1).
n=1
2.9. ZUSÄTZLICHES
135
Dann gibt es keine Element M in H, so dass λ(A4M ) 6= ∞ ist (Übung!).
2.232 Satz: Für jede messbare Menge A ⊆ Rd und jedes > 0 gibt es eine
offene Menge U ⊆ Rd mit
µ(A4U ) < .
Beweis: (1) Sei zunächst µ(A) < ∞. Dann existiert ein M ∈ H mit
µ(A4M ) < /2.
Indem wir alle halboffenen Quader in wenig erweitern, bekommen wir ein offene
Menge U ⊃ M mit
µ(U \ M ) < .
2
Nun gilt
µ(A4U ) = µ(A \ U ) + µ(U \ A)
≤ µ(A \ M ) + µ(M \ A) +
2
< .
(2) Ansonsten schöpfen wir Rd mit offenen Mengen
V1 ⊂ V2 ⊂ . . .
mit endlichem Maß aus. Man findet offene Mengen U1 , U2 , . . . mit
µ((A ∩ Vn )4Un ) <
.
2n
Es folgt
µ(A4
∞
[
Un ) ≤ µ
n=1
≤µ
∞
[
!
A ∩ Vn
4
n=1
∞
[
∞
[
!
Un
n=1
!
(A ∩ Vn )4Un
n=1
≤
∞
X
µ((A ∩ Vn )4Un )
n=1
≤ .
2
2.233 Satz: Zu jeder summierbaren Abbildung f : Rd → R und zu jedem
> 0 gibt es eine stetige Abbildung g : Rd → [−∞, ∞] mit
Z
|f − g| dλd < .
136
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
Beweis: Wegen Satz 2.94 genügt es, den Satz für einfache Funktionen zu
zeigen. Denn
|f − (g1 + g2 )| ≤ |f+ − g1 | + |f− − g2 |
Wenn das Integral auf der rechten Seite beliebig klein gemacht werden kann,
dann auch das Integral auf der linken Seite. Aus analogen Gründen genügt es,
den Satz für Indikatorfunktionen 1A , A messbar und λd (A) < ∞, zu zeigen.
Wegen
|1A − 1M | = 1A4M
genügt es aufgrund des Approximationssatzes M ∈ H zu betrachten. M ist dann
endliche Vereinigung von halboffenen Quadern. Alle Quader sind beschränkt,
weil sonst λd (M ) = ∞ folgen würde und damit λd (A) = ∞. Es genügt also,
halboffene Quader Q zu betrachten. Sei
Q = [a1 , b − 1) × . . . × [ad , bd ).
Wir definieren für n ∈ N mit ak < bk − 1/n für alle k die Funktionen


0, x < ak − 1/n,
fk,n (x) = 1, ak ≤ x ≤ bk ,


0, x > bk − 1/n,
wobei wir die Funktion linear und stetig in den Intervallen [ak − 1/n, ak ] und
[bk − 1/n, bk ] fortsetzen. Sei dann
fn (x) = f1,n (x) · . . . · fd,n (x).
Diese stetigen Funktionen konvergieren punktweise gegen 1Q und es gilt
Z
lim
|cQ − fn | = 0.
n→∞
2
2.234. Bemerkung: Es gibt also eine Folge gn von stetigen Funktionen mit
Z
lim
|f − gn | = 0.
n→∞
Aufgrund von Satz 2.123 gibt es eine Teilfolge, die punktweise fast überall gegen
f konvergiert.
2.235. Bemerkung: Man kann es so einrichten, dass die Funktion g bis auf
eine Menge mit Maß gleich der Funktion f ist. Es ensteht der Satz von Lusin,
auf den wir nicht weiter eingehen.
2.10
Faltung
2.236. Definition: Man definiert für zwei Funktionen f, g : R → R
Z ∞
(f ? g)(x) =
f (t)g(s − t) dt,
−∞
2.10. FALTUNG
137
als Faltung von f und g, sofern dieses Integral existiert.
2.237. Beispiel: Sei etwa
gδ =
1
1[−δ,δ]
2δ
und f integrierbar. Dann gilt
(f ? gδ )(x) =
1
2δ
Z
x+δ
f (t) dt.
x−δ
Die Faltung wirkt hier also wie eine Glättung durch das lokalen Mittel in einem
kleinen Intervall um x.
2.238 Aufgabe: (1) Zeigen Sie mit Hilfe von majorisierter Konvergenz, dass f ? gδ
stetig ist.
(2) Zeigen Sie für stetiges f , dass f ? gδ differenzierbar ist, und berechnen Sie die
Ableitung.
(3) Zeigen Sie, dass f ? gδ mit δ → 0 in allen Punkten gegen f konvergiert, in denen
f stetig ist.
2.239 Satz: Wenn f und g integrierbar sind, dann ist f ? g fast überall
definiert und f ? g ist integrierbar.
Beweis: Es gilt nach dem Satz von Fubini und mit Hilfe der Transformationsformel, angewandt auf die Abbildung t 7→ s − t
Z
Z Z
|(f ? g)(s)| ds ≤
|f (t)g(s − t)| dt ds
Z Z
=
|f (t)g(s − t)| ds dt
Z
Z
= |f (t)|
|g(s − t)| ds dt
Z
Z
=
|f (t)| dt
|g(t)| dt
< ∞.
Also ist
Z
|f (t)g(s − t)| dt
für fast alle s endlich und damit f ? g fast überall definiert, und selbst integrierbar.
2
2.240. Bemerkung: Wenn g integrierbar und beschränkt ist und f integrierbar, so ist f ? g überall definiert und integrierbar.
2.241 Aufgabe: Seien f, g, h integrierbar. Dann gilt
f ? g = g ? f,
f ? (g ? h) = (f ? g) ? h
138
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
dort, wo diese Faltungen definiert sind. Argumentieren Sie insbesondere für die zweite
Gleichheit sorgfältig mit Hilfe der Transformationsformel.
2.242 Satz: Sei f integrierbar, g fast überall stetig und beschränkt. Dann ist
f ? g stetig. Wenn g zusätzlich differenzierbar mit beschränkter Ableitung ist, so
ist f ? g differenzierbar und
(f ? g)0 = f ? g 0 .
Falls die Ableitung von g zusätzlich stetig ist, so ist es auch die Ableitung von
f ? g.
Beweis: Die erste beiden Aussagen sind unmittelbare Konsequenzen aus den
Resultaten über parameterabhängige Integrale, insbesondere Satz 2.143. Falls
g 0 stetig ist, so folgt deswegen auch, dass (f ? g)0 stetig ist.
2
2.243. Definition: Seien X, Y metrische Räume. Dann definieren wir den
Stetigkeitsmodul von f : X → Y als
ωf (δ) = sup{d(f (x), f (y)) : d(x, y) < δ}.
2.244 Aufgabe: Zeigen Sie für eine differenzierbare Funktion f : I → R, I ein
Intervall in R,
ωf (δ) ≤ δ sup |f 0 (x)|.
x∈I
Inwieweit gilt davon die Umkehrung?
2.245 Aufgabe: Zeigen Sie, dass
lim ωf (δ) = 0.
δ→0
genau dann gilt, wenn f : X → Y auf X gleichmäßig stetig ist.
2.246 Satz:
Sei g ≥ 0 und
R
g = 1, f beschränkt. Dann gilt
Z
|(f ? g)(s) − f (s)| ≤ ωf (δ) + 2kf k∞
g(x) dx
|x|≥δ
für alle δ > 0 und s ∈ R.
R
Beweis: Man berechnet wegen g = 1
Z
|(f ? g)(s) − f (s)| = (f (t) − f (s))g(s − t) dt
Z
≤
|f (t) − f (s)||g(s − t)| dt
|s−t|<δ
Z
+
|f (t) − f (s)||g(s − t)| dt
|s−t|≥δ
Z
≤ ωf (δ)
|g(s − t)| dt
|s−t|<δ
Z
+ 2kf k∞
|g(s − t)| dt
|s−t|≥δ
Z
≤ ωf (δ) + 2kf k∞
g(x) dx.
|x|≥δ
2.10. FALTUNG
139
2
2.247. Beispiel: Sei g ≥ 0 eine beschränkte Funktion mit
R
g = 1, und
gr (x) = rg(rx).
Dann gilt
R
gr = 1 und
Z
Z
g(x) dx → 0
gr (x) dx =
|x|≥δ
|x|≥δr
mit r → ∞ nach dem Satz von der monotonen Konvergenz. Es folgt für gleichmäßig stetige, beschränkte Funktionen f : R → R
f ? gr → f
gleichmäßig auf ganz R.
2.248. Beispiel: Wir setzen im vorigen Beispiel
2
1
g(x) = √ e−x /2 .
2π
R
Dann ist g = 1, und man bezeichnet f ? gr als Glättung mit dem Gauß-Kern.
Alls Funktionen f ? gr sind dann unendlich oft differenzierbar. Eine genauere
Analyse des Beweises des obigen Satzes ergibt, dass wir anstatt der Beschränktheit lediglich
f (x) ≤ C|x|n
für ein n > 0 benötigen, um die gleichmäßige Konvergenz auf Kompakta für
r → ∞ herzuleiten, auf denen f stetig ist.
2.249 Satz: (Weierstraß) Für jede stetige Funktion f : [a, b] → R gibt es eine
Folge von Polynomen, die gleichmäßig gegen f auf [a, b] konvergieren.
Beweis: Die Funktion f setzen wir stetig und beschränkt auf ganz R fort, so
dass f (s) = 0 für |s| ≥ R wird. Für vorgegebenes > 0 gibt es also ein r > 0
mit
|f (s) − (f ? gr )(s)| ≤ für alle s ∈ R,
wobei gr den obigen Gaußkern bezeichne. Wir approximieren gr für gegebenes
r > 0 mit seiner Taylorreihe
pn (x) =
n
X
r2k+1 (−1)k
2k k!
k=0
Dann ist
Z
x2k .
∞
f (t)pn (s − t) dt
(f ? pn )(s) =
0
ein Polynom in s. Es gilt für vorgegebenes > 0
Z
R
|(f ? gr )(s) − (f ? pn )(s)| ≤
|f (t)(gr (s − t) − pn (s − t))| dt < −R
140
KAPITEL 2. DAS LEBESGUE-INTEGRAL
für alle |s| ≤ R wenn n groß genug gewählt wird.
2
2.250. Bemerkung: Falls f : K → R nur auf einem Kompaktum K ⊆ R
definiert und stetig ist, so gilt dieser Satz ebenfalls. Dazu setzen wir f mit dem
Fortsetzungssatz von Tietze auf R fort, so dass f (x) = 0 für |x| ≥ R gilt.
2.251. Bemerkung: Man kann die Faltung in gleicher Weise auch für Funktionen f, g : Rn → R definieren. Es gelten dann dieselben Resultate. Man erhält,
dass jede stetige Funktion f : K → R, die auf einem Kompaktum stetig ist,
gleichmäßig durch Polynome in mehreren Variablen approximiert werden kann.
Kapitel 3
Differentialgleichungen
3.1
Einführung
Eine gewöhnliche Differentialgleichung ist eine Gleichung oder ein System
von Gleichungen für Funktionen, in der die Funktionen selbst, sowie Ableitungen beliebiger Ordnung und die Funktionsvariable der gesuchten Funktionen
vorkommen. Die größte Ableitung, die in der Differentialgleichung vorkommt,
nennt man die Ordnung der Differentialgleichung.
Falls die Funktionen mehrere Parameter haben und partielle Ableitungen
vorkommen, so nennt man die Gleichung partielle Differentialgleichung.
Solche Gleichungen behandeln wir hier allerdings nicht.
3.1. Beispiel: Man schreibt eine Differentialgleichung gewöhnlich in der Form
y 0 = xy
und meint damit, dass eine Funktion y : I → R gesucht ist, die auf einem
Intervall I definiert ist, so dass
y 0 (x) = xy(x)
für alle x ∈ I
gilt. Dies ist eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung. Wir werden
sehen, dass alle Lösungen die Form
2
y(x) = cex
/2
haben, wobei c ∈ R beliebig vorgegeben werden kann. Man kann zusätzlich einen
Anfangswert
y(x0 ) = y0
vorgeben. Eine Differentialgleichung mit einem Anfangswert nennt man ein Anfangswertproblem. Die Lösung des Anfangswertproblems lautet hier
y(x) = y0 e(x−x0 )
2
/2
141
=
y0 x2 /2
e
.
2
x
e 0 /2
142
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
3.2. Beispiel: Eine gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung ist die
Schwingungsgleichung
y 00 = −ω 2 y.
Wir werden sehen, dass alle Lösungen die Form
y(x) = a sin(ωx) + b cos(ωx)
haben. Um die Lösung eindeutig festzulegen, benötigt man hier zwei Anfangswerte, gewöhnlich in der Form
y(x0 ) = y0 ,
y 0 (x0 ) = y1 .
3.3 Aufgabe: Zeigen Sie, dass mit diesen Anfangswerten y eindeutig festgelegt ist.
3.4. Definition: Eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung hat die Form
y 0 = f (x, y)
wobei f : D → R eine stetige Funktion ist, D ⊆ R2 . Für eine Lösung y : I → R,
I ein Intervall muss also der Graph
Γy = {(x, y(x)) : x ∈ I}
ganz in D enthalten sein, sowie
y 0 (x) = f (x, y(x))
für alle x ∈ I
gelten. Zusätzlich kann ein Anfangswert
y(x0 ) = y0
gegeben sein mit (x0 , y0 ) ∈ D. Für die Lösung muss dann natürlich x0 ∈ I
gelten.
3.5. Bemerkung: Es ist oftmals sinnvoll nur nach Lösungen rechts (oder links)
von x0 zu fragen, die dann auf Intervallen y = [x0 , b] definiert sind.
3.6. Bemerkung: Lösungen von Differentialgleichungen sind natürlich differenzierbar, aber aufgrund der Gleichung y 0 = f (x, y) auch stetig differenzierbar.
Je nach Differenzierbarkeit der Funktion f existieren auch höhere Ableitungen.
3.7. Bemerkung: Falls (x0 , y0 ) ∈ ∂D liegt, so interessieren eventuell nur
einseitige Ableitungen der Lösung mit y 0 = f (x, y). Wenn etwa D = [0, ∞) × R
ist, so nennen wir y : [0, ∞) → R eine Lösung der Differentialgleichung, wenn
nur die rechtsseitige Ableitung in 0 gleich f (0, y(0)) ist.
3.8. Bemerkung: Differentialgleichungen können auch implizit gegeben sein,
also in der Form
f (x, y, y 0 ) = 0.
Kann man diese Gleichung nach y 0 auflösen, so erhält man die obige Darstellung
in normaler Form.
3.9. Beispiel: Man kann eine Differentialgleichung durch ihr Richtungsfeld
veranschaulichen, und oft auch das Verhalten der Lösung visuell erkennen.
3.1. EINFÜHRUNG
143
Abbildung 3.1: Richtungsfeld von y 0 = xy.
In Abbildung 3.1 ist für jeden Punkt (x, y) ∈ R2 eine Steigung xy eingetragen. Die Lösungen von y 0 = xy, von denen einige eingezeichnet sind, folgen
diesen Steigungen.
3.10 Aufgabe: Zeichnen Sie die Richtungsfelder von
y0 =
y
,
x
y0 =
x
y
in geeigneten Mengen D ⊆ R2 .
3.11. Bemerkung: Ein einfaches, aber in vielen Fällen wirkungsvolles Verfahren zur Lösung einer gewöhnlichen Differentialgleichung erster Ordnung ist
die Trennung der Variablen Dazu schreibt man die Gleichung als
f (y)y 0 = g(x),
wenn dies möglich ist, und integriert auf beiden Seiten.
3.12. Beispiel: Wir führen das Verfahren für y 0 = xy durch. Dazu nehmen wir
an, dass y(x) 6= 0 auf einem offenen Intervall (a, b). Wenn die Anfangsbedingung
y(x0 ) = y0 > 0 erfüllt ist, so ist das in einer Umgebung von x0 sicher der Fall.
Man erhält
y 0 (x)
=x
y(x)
144
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
für x ∈ (a, b). Wir bestimmen nun auf beiden Seiten eine Stammfunktion und
erhalten
x2
ln |y(x)| =
+ c.
2
Man beachte dazu, dass mit einer Stammfunktion F von f gilt
Z
f (y(x))y 0 (x) dx = F (y(x)) + c.
Man beachte außerdem, dass die Stammfunktion von 1/t die Funktion ln |t| ist.
Also
2
2
y(x) = ±ec ex /2 = c̃ex /2
mit c̃ ∈ R beliebig, allerdings c̃ 6= 0. Eine Probe ergibt, dass diese Funktionen
in der Tat Lösungen der Differentialgleichung sind, und zwar alle Lösungen mit
y(x) 6= 0 in (a, b), da wir die Lösungen ja berechnet haben. In der Tat können
wir als Intervall ganz R wählen.
3.13. Bemerkung: Wir müssen noch den Fall y(x) = 0 für ein x ∈ R behandeln. In diesem Fall muss y(x) = 0 für alle x ∈ R gelten, wie wir allerdings erst
später beweisen können. Damit erhalten wir, dass die Lösungen der Differentialgleichung y 0 = xy die Funktionen
2
y(x) = cex
/2
sind mit c ∈ R beliebig.
3.14 Aufgabe: Finden Sie mit Hilfe der Methode der Trennung der Variablen alle
Lösungen der Differentialgleichungen
p
y 0 = y 2 , y 0 = |y|, y 0 = |y|.
Gegen Sie jeweils das maximale Intervall an, auf dem die Lösung definiert ist.
3.15. Definition: Ein System von Differentialgleichungen hat die Form
y10 = f (x, y1 , . . . , yn ),
..
.
yn0 = f (x, y1 , . . . , yn ).
Wir schreiben dies wieder in der Form
y 0 = f (x, y)
wobei f : D → Rn stetig ist und D ⊆ R × Rn . Gesucht ist eine Funktion
y : I → Rn , I ⊆ R ein Intervall mit
Γy = {(x, y1 (x), . . . , yn (x)) : x ∈ I} ⊆ D
und
y 0 (x) = f (x, y(x))
für alle x ∈ I,
wobei die Ableitung der Kurve y wie üblich elementweise genommen wird. Ein
Anfangswert hat hier die Form
y(x0 ) = y0 ∈ Rn
3.1. EINFÜHRUNG
145
Abbildung 3.2: Jäger-Beute Gleichung nach Lotke-Volterra.
mit (x0 , y0 ) ∈ D.
3.16. Beispiel: Ein Beispiel ist eine Jäger-Beute-Gleichung nach Lotke und
Volterra
0 y1
10y1 (1 − y2 )
=
.
y200
y2 (y1 − 1)
Da die rechte Seite hier nicht von x abhängt, kann man wieder ein Richtungsfeld
im R2 zeichnen. Gesucht sind Kurven y : R → R2 , die dem Richtungsfeld
folgen. In Abbildung 3.2 sind einige Lösungen eingezeichnet. Offenbar entstehen
periodische Lösungen.
3.17 Aufgabe: Zeichnen Sie das Richtungsfeld des Systems
„ 0« „
«
y1
−y2
=
.
0
y2
y1
sowie die Lösungen
yr (x) = r
„
«
cos(x)
.
sin(x)
Man zeige, dass die Funktionen yr (x + c) für alle c ∈ R Lösungen sind. Man zeige
außerdem, dass sich jede solche Lösung als
„
«
„
«
cos(x)
− sin(x)
yr (x + c) = α1
+ α2
sin(x)
cos(x)
146
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
schreiben lässt, und umgekehrt.
3.18. Definition: Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung hat die Form
y (n) = f (x, y, y 0 , . . . , y (n−1) ).
mit f : D :→ R, D ⊆ R × Rn . Eine n-mal differenzierbare Funktion y : I → R,
I ⊆ R ein Intervall, heißt Lösung, wenn
{(x, y(x), . . . , y (n−1) (x)) : x ∈ I} ⊆ D
ist, und die Funktion die Differentialgleichung in naheliegender Weise erfüllt.
3.19. Bemerkung: Man kann jede Differentialgleichung n-ter Ordnung in ein
äquivalentes System von Differentialgleichungen erster Ordnung

 0  
v1
v0

 v10  
v2

 


 ..  
.
..

 . =

 

0

 
vn−2
vn−1
0
f (x, v0 , . . . , vn−1 )
vn+1
umschreiben. Aus einer Lösung diesem System gewinnt man eine Lösung der
Differentialgleichung n-ter Ordnung durch y = v0 , und umgekehrt ist


y
 y0 

v=
 ... 
y (n−1)
eine Lösung des Systems, wenn y eine Lösung der Differentialgleichung n-ter
Ordnung ist.
3.20 Aufgabe: Schreiben Sie y 00 = −ω 2 y als System von Differentialgleichungen.
3.21. Beispiel: Eine wichtige Rolle in der Physik spielt das System der Differentialgleichungen, dem ein Planet in der Anziehung eines festen Massezentrums
im Punkt 0 in der Ebene genügt. Bezeichne x den Ort des Planeten und ẋ, ẍ
seine Geschwindigkeit und Beschleunigung, so genügt der Planet der Gleichung
ẍ = −
c
x.
kxk3
Dies lässt in ein System von Differentialgleichungen mit 4 Funktionen x1 , x2 und
x01 , x02 umschreiben. Die Lösung besteht bekanntlich aus Kurven, die Ellipsen mit
Brennpunkt in 0 sind.
3.2
Existenz und Eindeutigkeit
3.22. Definition: f : D → Rn , D ⊆ R × Rn , genügt in y einer Lipschitzbedingung mit Konstante L, wenn gilt
kf (x, y) − f (x, ỹ)k ≤ Lky − ỹk
3.2. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT
147
für alle (x, y), (x, ỹ) ∈ D. Falls f nur in einer Umgebung eines jeden Punktes
(x, y) ∈ D einer Lipschitzbedingung genügt, so sagt man, f erfülle eine lokale
Lipschitzbedingung.
3.23 Aufgabe: Sei D = R2 . Zeigen Sie, dass f (x, y) = ky einer globalen, und
f (x, y) = kxy einer lokalen Lipschitzbedingung genügt.
3.24 Satz: Sei D ⊆ R × Rn offen und f : G → Rn stetig und bezüglich
y1 , . . . , yn stetig partiell differenzierbar. Dann genügt f in D einer lokalen Lipschitzbedingung.
Beweis: Der Satz ist eine unmittelbare Folgerung des erweiterten Mittelwertsatzes für stetig differenzierbare Kurven γ : (a, b) → Rn , nämlich der
Abschätzung
kγ(a) − γ(b)k ≤ max kγ 0 (t)k |a − b|.
t∈(a,b)
Wir erhalten mit γ(t) = f (x, y + t(ỹ − y)) nach der Kettenregel
γ 0 (t) =
∂
∂
∂
f (γ(t))(ỹ − y).
f (γ(t))(ỹ1 − y1 ) + . . . +
f (γ(t))(ỹn − yn ) =
∂y1
∂y1
∂y
Dabei sei
 ∂
f1
 ∂y1

∂
∂
∂
.
f=
f, . . . ,
f =
 ..
∂y
∂y1
∂yn
 ∂
fn
∂y1
...
...

∂
f1
∂yn 
.. 

. .

∂
fn
∂yn
Die partiellen Ableitungen sind stetig und daher
kf (x, y) − f (x, ỹ)k = kγ(1) − γ(0)k ≤ max k
t∈(0,1)
∂
f (γ(t))k ky − ỹk ≤ Lky − ỹk
∂y
2
für eine Konstante L lokal um (x, y).
3.25 Satz: f : D → R genüge in D ⊆ R×Rn einer lokalen Lipschitzbedingung
in y. Dann ist die Lösung y : I → Rn des Anfangswertproblems auf einem
Intervall I ⊆ R
y 0 = f (x, y), y(x0 ) = y0
eindeutig bestimmt.
Beweis: Man zeigt die Eindeutigkeit zunächst lokal in [x0 , x0 + δ]. Hat man
zwei Lösungen y, ỹ, so kann man mit der äquivalenten Integralgleichung
Z x
y(x) = y(x0 ) +
f (t, y(t)) dt
x0
die Gleichung
Z
x
y(x) − ỹ(x) =
(f (t, y(t)) − f (t, ỹ(t))) dt
x0
148
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
erhalten. Man beachte, dass dabei Funktionen nach Rn elementweise integriert
werden. Man erhält wegen der lokalen Lipschitzbedingung
Z x
ky(x) − ỹ(x)k ≤ L
ky(t)) − ỹ(t)k dt ≤ L|x − x0 | sup ky(t) − ỹ(t)k.
x0 ≤t≤x
x0
und damit erst recht
sup ky(t) − ỹ(t)k ≤ L|x − x0 | sup ky(t) − ỹ(t)k.
x0 ≤t≤x
x0 ≤t≤x
Für genügend kleines δ folgt
sup ky(t) − ỹ(t)k = 0.
x0 ≤t≤x
Also y(t) = ỹ(t) in [x0 , x0 + δ]. Sei nun δ maximal mit dieser Eigenschaft, aber
x0 +δ im Innern von I. Dann können wir dasselbe Argument an der Stelle x0 +δ
durchführen und erhalten einen Widerspruch.
2
3.26. Beispiel: Das Anfangswertproblem
y 0 = xy,
y(x0 ) = 0
hat die eindeutige Lösung y = 0, weil es eine Lipschitzbedingung erfüllt.
3.27. Beispiel: Das Anfangswertproblem
y0 =
1p
|y|,
2
y(x0 ) = 0
hat keine eindeutige Lösung. Alle Funktionen

2

−(x − a) , x < a
y(x) = 0,
a≤x≤b


(x − b)2 ,
x>b
p
mit a ≤ x0 ≤ b sind Lösungen. In der Tat erfüllt |y| auch keine Lipschitzbedingung in y = 0. Betrachtet man das System allerdings in D = R × (0, ∞), so
√
erfüllt es eine lokale Lipschitzbedingung, weil y stetig differenzierbar ist. Die
Lösungen sind
yb (x) = (x − b)2
für b ∈ R. Sie sind aber nur auf (b, ∞) definiert.
3.28 Satz: (Picard-Lindelöf ) f : D → R genüge in der offenen Menge
D ⊆ R × Rn einer lokalen Lipschitzbedingung in y. Dann hat jedes Anfangswertproblem eine lokale Lösung. Das heißt, es gibt für jedes Anfangswertproblem
y 0 = f (x, y),
y(x0 ) = y0
mit (x0 , y0 ) ∈ D ein > 0, so dass eine Lösung
y : (x0 − , x0 + ) → Rn
3.2. EXISTENZ UND EINDEUTIGKEIT
149
existiert.
Beweis: Wir verwenden die Picard-Iteration
h0 (x) = y0
Z
x
hk+1 (x) = y0 +
f (t, hk (t)) dt. = Φhk (x).
x0
Jeder Fixpunkt Φh = h ist Lösung der Differentialgleichung. Wir beweisen nun
induktiv
|x − x0 |k+1
khk+1 − hk k ≤ M Lk
(k + 1)!
für alle |x − x0 | < wobei M , L und geeignet gewählt werden. Gleichzeitig
zeigen wir, dass die Iteration in jedem Schritt durchführbar ist. Dazu wählen
wir eine beschränkte Umgebung
U = {(x, y) : |x − x0 | < δ, ky − y0 k < δ} ⊆ D,
in der f eine Lipschitzbedingung mit Konstante L erfüllt und setzen
M = sup{kf (x, y0 )k : |x − x0 | < δ}.
Wir wählen nun > 0 mit
M L
(e − 1) < δ.
L
Man erhält
Z
x
kh1 − h0 k = k
Z
x
f (t, y0 ) dtk ≤ |
x0
kf (t, y0 )k dt| ≤ M |x − x0 |.
x0
Unter Verwendung der Exponentialreihe gilt
M ≤
M L
(e − 1) < δ.
L
Es folgt (x, h1 (x)) ∈ U ⊆ D für alle |x − x0 | < . Also kann man die Iteration
mit h1 fortführen. Induktiv berechnet man
Z x
khk+1 − hk k = k
(f (t, hk (t)) − f (t, hk−1 (t)) dtk
x0
Z x
≤ L|
khk (t) − hk+1 (t)k dt|
x0
k
≤
ML
|
k!
Z
x
|x − x0 |k dt|
x0
|x − x0 |k+1
≤ M Lk
.
(k + 1)!
Mit Hilfe der Dreiecksungleichung folgt
khk+1 − h0 k ≤
M L
(e − 1) < .
L
150
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Die Iteration kann also für hk+1 fortgesetzt werden. Mit der Exponentialreihe
folgt die gleichmäßige Konvergenz der Funktionen hk gegen h auf [x − , x + ].
Da man das Integral mit dem gleichmäßigen Limes vertauschen kann, ist h
2
Fixpunkt von Φ und damit lokal Lösung der Differentialgleichung.
3.29. Bemerkung: Wir haben außerdem gezeigt, dass
kh(x) − y0 k ≤
M L|x−x0 |
(e
− 1)
L
für alle |x − x0 | < gilt, wenn
M = sup{kf (x, y0 )k : |x − x0 | < }
ist und f in
U = {(x, y) : |x − x0 | < und ky − y0 k <
M L
L (e
− 1)}
definiert ist und einer Lipschitzbedingung mit Konstante L genügt. Lösungen von Differentialgleichungen mit globaler Lipschitzbedingung wachsen also
höchstens exponentiell auf jedem kompakten Intervall.
3.30 Satz: Sei f : D → Rn stetig, D ⊆ R × Rn offen. f genüge einer
lokalen Lipschitzbedingung auf D. Dann existiert eine maximale Lösung des
Anfangswertproblems
y 0 = f (x, y),
y(x0 ) = y0 .
Das heißt, wenn y auf dem Intervall I definiert ist und b = sup I < ∞ ist
und y beschränkt in einer Umgebung von b, dann hat (x, y(x)) für x → b nur
Randpunkte von D als Häufungspunkte. Analog für a = inf I > −∞.
3.31. Bemerkung: Zählt man die unbeschränkten Punkte x = ±∞ und
kyk = ∞ zum Rand von D, so kann man sagen, dass die Lösung y immer
so weit fortgesetzt werden kann, bis der Graph von y den Rand von D erreicht.
Beweis: Wenn (x, y(x)) einen Häufungspunkt (x1 , y1 ) in D hat, so ist f dort
lokal beschränkt und daher auch y 0 . Man kann daher f bis nach x1 fortsetzen und
das Intervall I durch die lokale Lösung mit Anfangswert y(x1 ) = y1 erweitern.
2
3.32. Bemerkung: Wenn D = R × Rn ist und f einer globalen Lipschitzbedingung genügt, so ist also jede Lösung auf ganz R fortsetzbar, da jede Lösung
höchstens exponentiell wächst.
3.33. Bemerkung: Wenn f einer globale Lipschitzbedingung auf D genügt,
so kann jede Lösung nur exponentiell wachsen. Wenn also b = sup I < ∞
ist, so muss sich (x, y(x)) gegen den Rand von D häufen, denn es kann nicht
unbeschränkt sein. In diesem Fall kann man dann zeigen, dass (x, y(x)) für x → b
gegen einen Randpunkt von D konvergiert.
3.3. ANDERE LÖSUNGSMETHODEN
3.3
151
Andere Lösungsmethoden
3.34. Definition: Man kann versuchen, eine Differentialgleichung
y 0 = f (x, y),
y(x0 ) = y0
in diskreten Schritten zu lösen. Dazu wählen wir Punkte
x0 < x1 < x2 < . . .
und definieren
yn+1 = yn + f (xn , yn )(xn+1 − xn )
Verbindet man die Punkte (xn , yn ) mit einem Streckenzug s, so entsteht ein
Eulerscher Streckenzug, auch Cauchy-Streckenzug genannt. Es gilt
s0+ (xn ) = f (xn , s(xn )),
wobei s0+ die rechtsseitige Ableitung von s bezeichne.
3.35. Bemerkung: In der Numerik wird unter der Voraussetzung der lokalen
Lipschitzbedingung gezeigt, dass der Eulersche Streckenzug gegen die Lösung
konvergiert, wenn die maximale Schrittweite gegen 0 konvergiert.
3.36. Beispiel: Im Fall y 0 = y, y(0) = 1 wählen wir ein N ∈ N und
xn =
n
N
für alle n ∈ N. Man berechnet
yN = (1 +
1 N
) .
N
Dies konvergiert in der Tat gegen y(1) = e.
3.37. Definition: Eine andere Methode beruht auf einer Potenzreihenentwicklung von y um x0 . Einsetzen in eine Reihenentwicklung von f (x, y) und
Koeffizientenvergleich führt zur Potenzreihenmethode.
3.38. Beispiel: Im Beispiel y 0 = y, y(0) = 0 entwickeln wir um 0 und setzen
also
∞
X
y(x) =
ak xk .
k=0
Differenzieren und Koeffizientenvergleich ergibt
a0 = a1 ,
a1 = 2a2 ,
Also
ak =
Wir erhalten
y(x) =
...
1
k!
∞
X
1 k
x = ex .
k!
k=0
152
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
3.39. Bemerkung: Es gibt Kriterien dafür, dass y tatsächlich in eine Potenzreihe entwickelbar ist. Aber man kann die Methode als einen Versuch sehen.
Führt er zum Erfolg, so ist eine Lösung gefunden.
3.40 Aufgabe: Lösen Sie die Aufgabe y 0 = y/x, y(1) = 1 mit der Potenzreihenmethode, indem Sie die äquivalente Aufgabe
y 0 (x)(x − 1) = y(x) − y 0 (x)
betrachten und y um den Punkt 1 entwickeln.
3.4
Lineare Differentialgleichungen
3.41. Definition: Eine System von Differentialgleichungen der Form
y 0 (x) = A(x)y(x) + b(x)
heißt System linearer Differentialgleichungen. Dabei ist A(x) ∈ Rn×n für
jedes x eine Matrix, und b(x) ∈ Rn ein Vektor. Wir nehmen an, dass die auf
D ⊆ R definierten Abbildungen
A : D → Rn×n ,
b : D → Rn
stetig sind, wobei der Raum mit der Matrizen mit der zur euklidischen Norm
gehörigen Matrixnorm versehen sei. Wenn b(x) = 0 ist heißt die Gleichung
homogen. Wenn zusätzlich A = A(x) konstant ist, spricht man von einer homogenen, linearen Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten.
3.42. Bemerkung: Rn×n ist ein endlich dimensionaler Vektorraum, auf dem
alle Normen äquivalent sind. Eine Abbildung x 7→ A(x) ist genau dann stetig,
wenn die Komponentenabbildungen x 7→ ai,j (x) stetig sind. In diesem Fall hängt
dann auch die Norm kA(x)k stetig von x ab.
3.43. Beispiel: Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung der Form
y (n) (x) = an−1 (x)y (n−1) (x) + . . . + a0 (x)y(x) + b(x)
lässt sich in ein System linearer Differentialgleichungen
 0  




y0
0
1
y0
0
 y10  
  y1 
0
1

 

  . 
 ..  
  ..   .. 
.. ..
 . =
 .  + 
.
.
.

 

  0 
0
yn−2
 



0
1
yn−2
b(x)
0
yn−1
a0 (x)
...
an−1 (x)
yn−1
umschreiben.
3.44. Definition: Im Raum der Matrizen Kn×n (K = R oder K = C) definieren wir die Exponentialfunktion für Matrizen als
∞
X 1
1
1
eA = In + A + A2 + A3 + . . . =
Ak
2
6
k!
k=0
3.4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
153
für A ∈ Kn×n .
3.45. Bemerkung: Diese Reihe konvergiert absolut im endlich dimensionalen
Raum Kn×n wegen
∞
∞
X
X
1 k
1
kAkk = ekAk .
k A k≤
k!
k!
k=0
k=0
Man beweist wie für die reelle Exponentialfunktion
eA+B = eA · eB = eB · eA .
Natürlich gilt eO = In . Insbesondere ist
eA
−1
= e−A
und eA immer regulär.
3.46 Aufgabe: Zeigen Sie für Ak ∈ Kn×n , k ∈ N0
Ak eA = eA Ak .
Zeigen Sie dasselbe für reguläres A und k < 0, k ∈ Z.
3.47. Bemerkung: Für α ∈ Kn und A ∈ Kn×n ist die Funktion
y(t) = etA α =
∞ k
X
t
k=0
k!
Ak α
auf ganz R definiert. Es wird oft auch etwas verwirrend eAt = etA geschrieben.
3.48 Aufgabe: Zeigen Sie
y 0 (t) = AetA α.
Zeigen Sie dasselbe für K = C. Dabei definiert man
y 0 (t) =
d
d
Re y(t) + i Im y(t).
dt
dt
für reelles t ∈ R.
3.49 Satz:
Die Lösung des Anfangswertproblems
y 0 = Ay,
y(x0 ) = y0
ist eindeutig bestimmt und auf ganz K gegeben durch
y(t) = e(t−x0 )A y0 .
Beweis: Nachrechnen ergibt
Ay(t) = Ae(t−x0 )A (y0 + A−1 b) − b = y 0 (t) − b,
y(x0 ) = y0 .
Man kann die Formel auch mit der Picard-Iteration herleiten.
2
154
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
3.50. Bemerkung: Vereinfacht gilt also für die Lösungen des homogenen,
linearen Systems mit konstanten Koeffizienten y 0 = Ay
y(t) = etA α
mit α ∈ Kn beliebig. Schreibt man
etA = X(t) = (x1 (t), . . . , xn (t))
so gilt
y(t) = X(t)α =
n
X
αk xk (t).
k=1
Die Funktionen xk (t) sind linear unabhängig, da X(t) für alle t ∈ R regulär ist.
3.51. Bemerkung: Zur Berechnung der homogenen Lösungen
y(t) = etA α,
α ∈ Rn
beachten wir, dass für ähnliche Matrizen
A = T BT −1
gilt
etA = T etB T −1
Wenn also y(t) = etB α eine Lösung von y 0 = By, ist so ist
ỹ(t) = T y(t)T α = T y(t)α̃
eine Lösung von y 0 = Ay. Wenn etwa A diagonalisierbar ist, also A = T DT −1
mit einer Diagonalmatrix D mit den Eigenwerten λ1 , . . . , λn und T der Matrix
aus zugehörigen Eigenvektoren, so erhält man ein Fundamentalsystem für y 0 =
Ay durch
 λt

e 1
0


..
X(t) = T etD = T 
.
.
eλn t
0
Die Lösungen haben daher die Form
y(t) = X(t)α =
n
X
αk eλk t vk ,
k=1
wobei v1 , . . . , vn die zu λ1 , . . . , λn gehörigen Eigenvektoren sind.
3.52. Beispiel: Die Differentialgleichung
2 1
y0 =
y
1 2
hat die Lösungen
1
1
t
y(t) = α1 e
+ α2 e
.
1
−1
3t
3.4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
155
3.53. Bemerkung: Wenn B eine Blockmatrix
B1 0
B=
0 B2
ist, so gilt
tB
e
=
etB1
0
0
etB2
.
Das Problem reduziert sich also auf die Matrizen B1 und B2 . Wenn
α1
T = (T1 , T2 ), α =
α2
die entsprechende Aufteilung der Transformationsmatrix T und von α ∈ Kn
sind, so erhält man die Lösungen
y(t) = T etB α = T1 etB1 α1 + T2 etB2 α2 .
Da jede Matrix A ∈ Cn ähnlich zu einer Blockmatrix aus Jordanmatrizen ist,
muss man etJ für eine Jordanmatrix


λ 1
0


.. ..


.
.
J =


λ 1
0
λ
berechnen. Dies gelingt durch die Zerlegung J = λIn + N , wobei N eine nilpotente Matrix ist mit N n = 0. Es gilt
etN = In + tN + . . . +
tn−1
N n−1 .
(n − 1)!
N k hat in der k − 1-ten Nebendiagonalen 1, sonst überall 0. Also


tk−1
t2
...
1 t
2
(k − 1)! 




.
.
.


.. .. ..

tJ
λIn tN
λt 
e =e e =e 
.
2
t


1
t


2




1
t
1
Man beachte, dass man zur Lösung der Diffentialgleichung y 0 = Ay, wenn A
ähnlich zu J ist, die Matrix T = (v1 , . . . , vn ) der darstellenden Matrix verwenden
muss. Also ist
X(t) = T etJ = eλt (v1 , tv1 + v2 , . . . ,
tn−1
v1 + . . . + tvn−1 + vn ).
(n − 1)!
ein Fundamentalsystem von Lösungen von y 0 = Ay. Setzt man für α ∈ Cn
p(t) = α1 + α2 t + . . . + αn
tn−1
,
(n − 1)!
156
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
so ergibt sich als allgemeine Lösung
y(t) = X(t)α = T eJt α = eλt (p(t)v1 + . . . + p(n−1) (t)vn ).
Man ermittelt also alle Fundamentallösungen, indem man den Eigenvektor v1
zum Eigenwert λ berechnet, sowie die Jordankette
Av2 = λv2 + v1 , . . . , Avn = λvn + vn−1
und für p ein beliebiges Polynom vom Grad n − 1 nimmt.
3.54. Beispiel: Sei
A=
1
2
7 −1
.
1 5
Dann hat A den Eigenwert 2 mit algebraischer Vielfachheit 2 und geometrischer
Vielfachheit 1. A ist also ähnlich zur Jordanmatrix
3 1
J=
.
0 3
Der Eigenwert v1 von A zu λ = 2 berechnet sich als
1
v1 =
1
Der Vektor v2 erfüllt Av2 = 2v2 + v1 . Also (A − 2I2 )v2 = v1 . Man berechnet
1
v2 =
.
−1
Damit kann man die Lösungen als
1
1
1
t+1
3t
3t
y(t) = e
(a + bt)
+b
=e
a
+b
1
−1
1
t−1
schreiben.
3.55. Bemerkung: Hat eine Matrix A ∈ Rn×n einen komplexen, nicht-reellen
Eigenwert λ = a+ib mit Eigenvektor v ∈ Cn , so ist auch λ = a−ib ein Eigenwert
mit Eigenvektor v. Man kann dann die beiden komplexen Fundamentallösungen
eλt v,
eλt v
durch die beiden reellen Fundamentallösungen
Re(eλt v) = eat (cos(bt) Re(v) − sin(bt) Im(v)),
Im(eλt v) = eat (cos(bt) Im(v) + sin(bt) Re(v))
ersetzen, die denselben Lösungsraum erzeugen. Man kann dieses neue Fundamentalsystem als
(x1 (t), x2 (t)) = (Re(v), Im(v)) · eat D(bt)
3.4. LINEARE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
157
schreiben, wobei
D(φ) =
cos(φ) − sin(φ)
sin(φ) cos(φ)
die Drehmatrix ist. Äquivalent verfährt man mit Jordanmatrizen zu komplexen
Eigenwerten.
3.56. Beispiel: Sei
A = Da,b =
a −b
.
b a
Dann hat A die Eigenwerte λ = a ± ib mit Eigenvektoren
1
v=
.
∓i
Die Matrix (Re(v), Im(v)) ist in diesem Fall die Einheitsmatrix. Ein reelles Fundamentalsystem von Lösungen ist daher
at cos(bt)
at − sin(bt)
e
, e
.
sin(bt)
cos(bt)
3.57 Aufgabe: Sei
0
0
B
B
B
A := B
B
@
a0
1
0
1
1
..
.
C
C
C
C.
C
1 A
..
.
0
...
an−1
Zeigen Sie, dass jeder Eigenwert von A die Gleichung
λn = an−1 λn−1 + . . . + a1 λ + a0
erfüllt, dass alle Eigenräume eindimensional sind, und die zugehörigen Eigenvektoren
die Form
0
1
1
B λ C
B
C
v = αB . C.
@ .. A
λn−1
haben mit α 6= 0.
3.58. Beispiel: Schreibt man die lineare homogene Differentialgleichung n-ter
Ordnung mit konstanten Koeffizienten
y (n) (x) = an−1 y (n−1) (x) + . . . + a0 y(x)
wie in Beispiel 3.43 gezeigt in ein System von Differentialgleichungen um, so
ergibt sich das System y 0 = Ay mit A aus der obigen Aufgabe. Die Matrix heißt
Begleitmatrix des Polynoms aus der Gleichung
λn = an−1 λn−1 + . . . + a1 λ + a0 .
158
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Diese Gleichung erhält man übrigens sofort, wenn man den Ansatz y(x) = eλx
macht. Wir interessieren uns im System nur für y = y1 . Da die erste Komponente jedes Eigenvektors ungleich 0 ist, kann man die Lösung nach den obigen
Überlegungen als
m
X
y(t) =
eλk t pk (t)
k=1
schreiben, wobei pk ein beliebiges Polynom lk − 1-ersten Grades ist, und lk die
algebraische Vielfachheit des Eigenwerts λk . λ1 , . . . , λm sind die m verschiedenen
Nullstellen der obigen Polynomgleichung. Falls λk = ak + ibk nicht reell ist, so
erhält man wieder reelle Lösungen indem man
eλk t pk (t) + eλk t p̃k (t)
durch
eak t cos(bk t)pk (t) + eak t sin(bk t)p̃k (t)
mit beliebigen reellen Polynomen pk , p̃k vom Grad lk ersetzt.
3.59. Bemerkung: Man kann diese Gleichung und ihre Lösung auch anders
darstellen. Dazu sei
p(x) = xn − an−1 xn−1 − . . . − a1 x − a0 .
Die Differentialgleichung lautet dann
p(D)y = Dn y − an−1 Dn−1 y − . . . − a1 Dy − a0 y = 0,
wobei D der Differentialoperator Dy = y 0 sei. Falls nun
p(x) =
m
Y
(x − λk )lk
k=1
auf diese Weise in Linearfaktoren zerfällt, so ist die Differentialgleichung äquivalent zu
!
m
Y
lk
(D − λk )
y = 0.
k=1
Dies folgt daraus, dass p1 (D)p2 (D) = p2 (D)p1 (D) für alle Polynome p1 , p2 gilt.
Für unsere angeblichen Lösungen
y(t) = eλk t pk (t)
gilt offenbar
Dy(t) = λk y(t) + eλk t Dpk (t).
Setzt man dies fort, so erhält man
(D − λk )l y(t) = eλk t Dl pk (t),
also in der Tat
(D − λk )lk y(t) = 0.
3.5. VARIATION DER KONSTANTEN
159
Durch Umordnen der Faktoren von p folgt
p(D)y = 0.
Auch der komplexe Fall lässt sich so erklären. Wenn λ = a + ib ist, so ist
(D − λ)(D − λ) = D2 − 2aD + a2 + b2
und es gilt für
y(t) = eak t cos(bk t)pk (t) + eak t sin(bk t)p̃k (t)
in der Tat
(D2 − 2aD + a2 + b2 )lk y = 0.
3.5
Variation der Konstanten
3.60 Satz:
Die Lösungen des homogenen Anfangswertproblems
y 0 (t) = A(t)y(t),
y(x0 ) = y0
sind auf ganz R definiert und hängen linear und injektiv von der Anfangsbedingung y0 ab. Es gibt ein Fundamentalsystem
X(t) = (x1 (t), . . . , xn (t))
von linear unabhängigen Lösungen.
Beweis: Die Existenz der Lösung auf ganz R folgt daraus, dass die Differentialgleichung auf jedem kompakten Intervall J eine globale Lipschitzbedingung
mit
L = max kA(t)k
t∈J
erfüllt. Dass die Lösungen linear und injektiv von dem Anfangswert abhängen,
ist einfach zu zeigen. Wählt man linear unabhängige Anfangsbedingungen, so
enstehen deswegen auch linear unabhängige Lösungen.
2
3.61 Satz:
Problems
Sei X(t) ein Fundamentalsystem von Lösungen des homogenen
y 0 (t) = A(t)y(t).
Die Lösungen des allgemeinen Problems
y 0 (t) = A(t)y(t) + b(t)
haben dann die Form
Z
y(t) = X(t)(α +
X(t)−1 b(t) dt),
wobei das Integral für eine beliebige Stammfunktion steht. Sie haben also die
Form
y(t) = u(t) + v(t),
160
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
wobei u(t) alle Lösungen des homogenen Systems durchläuft, und v(t) eine feste
Lösung des inhomogenen Systems ist.
Beweis: Man beachte, dass X(t) überall regulär sein muss, weil X(t)α für α 6=
0 wegen des Eindeutigkeitssatzes nirgends gleich 0 werden kann. Die Darstellung
der Lösung des allgemeinen Problems y 0 = A(t)y + b(t) folgt mit dem Ansatz
y(t) = X(t)α(t),
den man Variation der Konstanten nennt. Man erhält
y 0 (t) = X 0 (t)α(t) + X(t)α0 (t) = AX(t)α(t) + X(t)α0 (t) = y(t) + X(t)α0 (t)
Es folgt b = Xα0 . Also
Z
α(t) =
X(t)−1 b(t) dt + α
mit einer Konstanten α ∈ Rn . Man prüft in der Tat nach, dass dann X(t)α(t)
eine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung ist.
2
3.62. Beispiel: Die Lösungen der allgemeinen, eventuell inhomogenen Differentialgleichung y 0 = Ax + b mit regulärer Matrix A haben die Form
y(t) = X(t)α + s(t) = etA α − A−1 b.
Man überprüft nämlich sofort, dass die konstante Funktion y(t) = −A−1 b
Lösung der Differentialgleichung ist. In der Tat genügt
b ∈ Bild(A).
Denn wenn b = Av0 ist, so ist y(t) = −v0 eine spezielle Lösung der Differentialgleichung.
3.63 Aufgabe: Zeigen Sie für reguläres A, dass sich die spezielle Lösung y = −A−1 b
auch aus dem obigen Satz ergibt.
3.64 Aufgabe: Zeigen Sie, dass
„Z
y(t) =
t
«
esA ds b
0
0
eine spezielle Lösung von y = Ay + b ist. Dabei ist das marixwertige Integral elementweise zu verstehen. Gewinnen Sie diese Lösung mit Hilfe der Trennung der Variablen,
und machen Sie die Probe durch Einsetzen. Leiten Sie die entsprechende Darstellung
für die Gleichung y 0 = Ay + b(t) her.
3.65. Bemerkung: Falls A nicht regulär ist, so führt der Ansatz
y(t) =
tk
vk + . . . + tv1 + v0
k!
zum Ziel. Man gewinnt für k ≥ 1 die Gleichungen
Avk = 0,
Avk−1 = vk , . . . ,
Av1 = v2 ,
Av0 + b = v1 .
3.5. VARIATION DER KONSTANTEN
161
3.66. Beispiel: Im einfachen Spezialfall k = 1 erhält man
Av1 = 0,
Av0 + b = v1 .
Dies ist genau dann lösbar, wenn
b ∈ Kern(A) + Bild(A)
ist.
3.67. Beispiel: Wir lösen die Differentialgleichung
y 00 + y = x
mit Hilfe der Variation der Konstanten. Das äquivalente System lautet
0 0 1
y1
y1
0
=
+
.
y200
−1 0
y2
x
Die Lösungen des homogenen Systems haben wir schon ermittelt. Ein Fundamentalsystem von Lösungen ist
cos(t) sin(t)
X(t) =
.
− sin(t) cos(t)
Der Ansatz y(t) = X(t)α(t) ergibt
Z cos(t) − sin(t)
0
t cos(t) − sin(t)
α(t) = c +
dt = c +
.
sin(t) cos(t)
t
t sin(t) + cos(t)
Man erhält
y(t) = y1 (t)
= cos(t)(c1 + t cos(t) − sin(t)) + sin(t)(c2 + t sin(t) + cos(t))
= c1 cos(t) + c2 sin(t) + t.
3.68. Bemerkung: Allgemein findet man spezielle Lösungen der Gleichung
P (D)y(x) = q(x)
für Polynome q(x) durch den Ansatz y(x) = h(x), wobei h ein Polynom vom selben Grad ist wie q. Dieses Verfahren könnte man Ansatz vom Typ der rechten Seite nennen. Der Koeffizientenvergleich ergibt ein lineares Gleichungssystem. Im Spezialfall P (0) = 0 muss man allerdings eventuell Polynome h mit
höherem Grad ansetzen.
3.69. Beispiel: Die Gleichung
y 00 + y = x2
ergibt mit dem Ansatz
y(x) = ax2 + bx + c
die Gleichungen
a = 1,
b = 0,
2a + c = 0.
162
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Eine spezielle Lösung ist also
y(x) = x2 − 2.
Die Gleichung
y 000 + y 0 = x2
hat also die spezielle Lösung y 0 (x) = x2 − 2, und daher
y(x) =
1 3
x − 2x
3
Man muss hier also ein Polynom dritten Grades ansetzen.
3.70. Bemerkung: Eine Ähnliches Verfahren durch Ansatz erhält man für
P (D)y(x) = eλx
mit dem Ansatz y(x) = ceλx . Dies führt zum Erfolg, wenn λ keine Nullstelle
von P ist. Man erhält
1
c=
P (λ)
Falls aber P (λ) = 0 ist, so muss man y(t) = tk eλt ansetzen, wobei λ die Vielfachheit der Nullstelle ist.
3.71. Beispiel: Wir lösen
y 00 − 2y + y = et .
Die homogenen Lösungen sind et und e2t . Man erhält mit dem Ansatz y(t) =
ct2 et
y 00 (t) − 2y(t) + y(t) − et = et (2c − 1).
Setzt man c = 1/2, so erhält man offenbar eine Lösung der Differentialgleichung.
3.6
Wronski-Determinante
3.72. Definition: Die Determinante
W (t) = det X(t)
heißt Wronski-Determinante des Fundamentalsystems X(t) von y 0 = A(t)y.
3.73 Satz:
Es gilt für die Wronski-Determinante
W 0 (t) = (Spur A(t))W (t)
für alle t ∈ R, also
Rx
W (t) = W (x0 )e
x0
Spur A(t) dt
Beweis: Sei zunächst speziell X(x0 ) = In , also
X 0 (x0 ) = A(x0 ).
.
3.6. WRONSKI-DETERMINANTE
163
Dann gilt
n
X
d
det X(t) =
det(x1 (t), . . . , xi−1 (t), x0i (t), xi+1 (t), . . . , xn (t)),
dt
i=1
wie man durch Ableiten der Lagrange-Darstellung der Determinante beweist.
Es folgt
d
0
det X(t)
W (x0 ) =
dt
t=x0
=
=
n
X
i=1
n
X
det(e1 , . . . , ei−1 , A(x0 ), ei+1 , . . . , xn )
ai,i
i=1
= Spur A(x0 ).
Alle anderen Fundamentalsysteme haben die Form
X̃(t) = X(t) · T
mit einer invertierbaren Matrix T . Entsprechend
W̃ (t) = W (t) · T.
Es folgt
W̃ 0 (t) = W 0 (t) · T = (Spur A(t)) W (t)T = (Spur A(t)) W̃ (t).
2
Da x0 ∈ R beliebig ist, folgt die Behauptung.
3.74. Beispiel: Falls y 0 = Ay konstante Koeffizienten hat, so erhält man das
Fundamentalsystem X(t) = eAt und es gilt
W (t) = det X(t) = det etA = e(Spur A)t .
Um diese Gleichheit einzusehen, Sei A ähnlich zur komplexen Jordanmatrix J.
Dann gilt
det etA = det etJ =
n
Y
P
eλi t = e
λi t
= e(Spur J)t = e(Spur A)t .
i=1
In der Tat
W 0 (t) = (Spur A)W (t).
3.75. Bemerkung: Die Wronski-Determinante kann verwendet werden, um
eine spezielle Lösung des Differentialgleichung
y (n) (t) = an−1 (t)y (n−1 )(t) + . . . + a0 (t)y(t) + b(t)
164
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
zu erhalten. Sei u1 (t), . . . , un (t) ein Fundamentalsystem von Lösungen der homogenen Gleichung. Dann schreibt sich die spezielle Lösung als
Z
z(t) = U (t) U (s)−1 B(s) ds,
wobei


0
 .. 


B(s) =  . 
 0 
b(s)
ist. Man kann daher die Cramersche Regel zur Berechnung von a = U −1 B
verwenden und erhält
vi
ai =
,
W
wobei W = det U (t) die Wronski-Determinante ist, und
vi = det(u1 , . . . , ui−1 , b, ui−1 , . . . , un ).
Im Spezialfall n = 2 erhält man
Z t
Z t
b(s)u2 (s)
b(s)u1 (s)
z(t) = −u1 (t)
dsu2 (t)
ds.
W (s)
W (s)
a
a
3.76. Beispiel: Wir berechnen nochmals die Lösung von
y 00 = −y + t.
Man erhält die Lösungen des homogenen Systems
u1 (t) = cos(t),
u2 (t) = sin(t).
Als System
U (t) =
u1 (t) u2 (t)
cos(t)
=
u01 (t) u02 (t)
− sin(t)
sin(t)
cos(t)
Die Wronski-Determinante ist konstant 1, wie ja auch die Spur des äquivalenten
Systems gleich 0 ist. Also
Z t
Z t
z(t) = − cos(t)
s sin(s) ds + sin(t)
s cos(s) ds.
a
a
Dies ergibt dieselbe Lösung, die wir schon einmal erhalten haben.
3.7
Vektorfelder
3.77. Definition: Eine Funktion f : G → Rn mit G ⊆ Rn heißt Vektorfeld
auf G. Falls G offen ist, heißt die Funktion F : G → R Stammfunktion oder
Integral von f , wenn
grad F (x) = f (x)
für alle x ∈ G
3.7. VEKTORFELDER
165
gilt. Also
∂
F (x) = fk (x)
∂xk
für alle x ∈ G und k = 1, . . . , n.
3.78. Beispiel: Das Vektorfeld
x
2x
f
=
y
2y
auf R2 hat die Stammfunktion
F (x, y) = x2 + y 2 .
Man findet diese Stammfunktion durch Integration nach x und nach y. Denn
aus
∂
F (x, y) = 2x
∂x
∂
F (x, y) = 2y
∂y
folgt
Z
F (x, y) =
Z
F (x, y) =
2x dx = x2 + c(y),
2y dy = y 2 + c(x).
Daraus ermittelt man leicht die Funktion
F (x, y) = x2 + y 2
als Stammfunktion.
3.79. Bemerkung: Dieses einfache Verfahren der Integration führt zum Ziel,
wenn man die Stammfunktionen von f = (f1 , f2 ) in der Form
Z
F (x, y) = f1 (x, y) dx = h(x, y) + h1 (x) + c(y),
Z
F (x, y) = f2 (x, y) dy = h(x, y) + h2 (y) + c(x)
schreiben kann. Denn dann ist
F (x, y) = h(x, y) + h1 (x) + h2 (y)
eine Stammfunktion von f .
3.80. Definition: Sei γ : [a, b] → G ein stetig differenzierbarer Weg in der
offenen Menge G ⊆ Rn . Dann definieren wir für stetige f : G → Rn das Wegintegral
Z
Z b
f=
hf (γ(t)), γ 0 (t)i dt.
γ
a
166
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Im Fall eines stückweise stetig differenzierbaren Weges definieren wir das Wegintegral als Summe der Wegintegrale längs der Stücke.
3.81. Beispiel: Wir integrieren unser Vektorfeld f (x, y) = (2x, 2y) von (0, 0)
bis (x0 , y0 ) längs des Weges
t ∈ [0, 1].
γ(t) = (tx0 , ty0 ),
Man erhält
Z
Z
1
(2tx20 + 2ty02 ) dt = x20 + y02 .
f=
0
γ
Wie wir sehen werden, ist es kein Zufall, dass dabei die Stammfunktion von f
herauskommt.
3.82. Bemerkung: Für das Wegintegral sind auch die folgenden Schreibweisen
üblich
I
I
f=
f ◦γ
γ
Aufgrund der Definition des Wegintegrals ist auch die folgende Schreibweise
sinnvoll
Z
I
f=
f1 (x) dx1 + . . . + fn (x) dxn .
γ
γ
Denn x = γ(t) und in gewissem Sinne dxi = γi0 (t) dt.
3.83 Aufgabe: Sei γ : [a, b] → Rn ein stetig differenzierbarer Weg, und φ : [c, d] →
[a, b] stetig differenzierbar. Zeigen Sie
Z
Z
f=
f.
γ
γ◦φ
Zeigen Sie insbesondere, dass man das Parameterintervall jedes Wegs beliebig legen
kann, ohne das Wegintegral zu ändern.
3.84. Bemerkung: Für zusammengesetzte Wege schreibt man oft γ = γ1 +γ2 ,
wobei
γ1 : [a, ξ] → Rn , γ2 : [ξ, b] → Rn
Wege sind, die den Weg
γ : [a, b] → Rn
definieren. Man setzt also
Z
Z
f=
γ
Z
f+
γ1
f.
γ2
Auf diese Weise kann man jeden Weg auch in zwei Teilwege aufspalten. Aufgrund
der obigen Aufgabe kann den Definitionsbereich jeden Weges verschieben und
die Wege
γ1 : [a, b] → Rn , γ2 : [c, d] → Rn
stetig zusammensetzen, solange nur γ1 (b) = γ2 (c) ist.
3.85. Beispiel: Wir integrieren das Vektorfeld f (x) = (2x, 2y) längs des zusammengesetzten Weges γ = γ1 + γ2 mit
γ1 (x) = (x, 0), 0 ≤ x ≤ x0 ,
γ2 (y) = (x0 , y) 0 ≤ y ≤ y0 .
3.7. VEKTORFELDER
167
γ ist dann stetig wegen γ1 (x0 ) = γ2 (0). Wir erhalten
Z y0
Z
Z x0
2y dy = x20 + y02 .
2x dx +
f=
0
0
γ
Dieser Weg liefert also dasselbe Integral.
3.86 Satz: (1) Sei G ⊆ Rn offen und f : G → Rn stetig. Genau dann ist
F : G → R Stammfunktion von f : G → Rn , wenn für das Integral längs jedem
Weg γ in G
Z
f (t) dt = F (γ(a)) − F (γ(b)).
γ
gilt.
(2) Genau dann hat f eine Stammfunktion F , wenn das Integral längs jedem
Weg in G nur vom Anfangs- und vom Endpunkt des Weges abhängt. In diesem
Fall ist
Z
F (x) =
f
γx
eine Stammfunktion von f auf der Zusammenhangskomponenten von a ∈ G,
wobei γx ein Weg von a nach x ist.
(3) Auf einer zusammenhängenden, offenen Menge G unterscheiden sich zwei
Stammfunktionen nur durch eine Konstante.
Beweis: (1) Wir zeigen zunächst die eine Richtung. Wenn F Stammfunktion
von f ist, so gilt
d
F (γ(t)) = (grad F (γ(t))) · γ 0 (t) = hf (γ(t)), γ 0 (t)i.
dt
Aus dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung folgt daher
Z
Z b
f=
hf (γ(t)), γ 0 (t)i dt = F (γ(a)) − F (γ(b)),
γ
a
und damit die Behauptung.
(2) Wegen (1) ist klar, für Funktionen f mit Stammfunktion das Integral nicht
vom Weg abhängt, solange die Endpunkte gleich bleiben. Falls umgekehrt das
Integral nur noch vom Anfangs- und Endpunkt des Weges abhängt, so definieren
wir F (x) wie in der Behauptung. F ist damit auf der Zusammenhangskomponenten von a definiert. Dies ist eine offene Menge. Dieselbe Definition wiederholen
wir auf allen Zusammenhangskomponenten von G. Es bleibt zu zeigen, dass
F dann Stammfunktion von f ist. Dazu definieren wir für k ∈ {1, . . . , n} und
h ∈ R mit Dh (x) ∈ G den Weg
γk (t) = x + ξhek ,
t ∈ [0, 1].
Sei γ ein Weg von a nach x. Dann ist γ + γk ein Weg von a nach x + hek . Es
folgt nach dem Zwischenwertsatz der Integralrechnung
Z
F (x + hek ) =
f = fk (x + ξhek )h
γk
168
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
für ein ξ ∈ (0, 1). Also
∂
F (x + hek ) − F (x)
F (x) = lim
= fk (x).
h→0
∂xk
h
Daraus folgt auch die Umkehrung von (1). Wenn die behauptete Identität für
alle Wege gilt, so folgt
Z
F (x) = F (a) +
f.
γx
Auf der rechten Seite steht aber eine Stammfunktion von f .
(3) Für zwei Stammfunktionen F, F̃ auf einer offenen, zusammenhängenden
Menge und einen Weg γ von a nach x gilt
Z
F (x) − F (a) =
f = F̃ (x) − F̃ (a).
γ
2
Also ist F − F̃ = F (a) − F̃ (a) konstant.
3.87. Bemerkung: Wenn f : G → Rn ein stetig differenzierbares Vektorfeld
mit Stammfunktion F : G → R ist, so folgt aufgrund der Vertauschbarkeit der
partiellen Ableitungen
∂
∂2
∂2
∂
fk =
F =
F =
fm
∂xm
∂xm ∂xk
∂xk ∂xm
∂xk
Dies ergibt eine notwendige Bedingung dafür, dass f eine Stammfunktion besitzt. Diese Bedingung ist im allgemeinen nicht hinreichend.
3.88. Beispiel: Die Funktion
f (x, y) = (x2 + y 2 , xy)
hat keine Stammfunktion, aber man berechnet mit einfacher Integration für die
Funktion
f (x, y) = (x2 + y 2 , 2xy)
eine Stammfunktion.
3.89 Aufgabe: Sei f : R2 \ {0} → R2 definiert durch
«
„
x
−y
,
.
f (x, y) =
x2 + y 2 x2 + y 2
Zeigen Sie
∂
∂
f1 (x, y) =
f2 (x, y).
∂y
∂x
Berechnen Sie
Z
f
γ
für den Weg γ(t) = (cos t, sin t) und folgern Sie, dass f keine Stammfunktion hat.
Zeigen Sie aber, dass
“y”
F (x) = arctan
x
3.7. VEKTORFELDER
169
auf (0, ∞) × R eine Stammfunktion ist.
3.90 Satz: (Poincaré) Seien f : G → Rn stetig differenzierbar, und G ⊆ Rn
offen. Dann gibt es genau dann zu jedem Punkt x ∈ G eine Umgebung U und
eine lokale Stammfunktion F : U → R von f auf U , wenn
∂
∂
fm (x) =
fk (x)
∂yk
∂ym
für alle x ∈ G und 1 ≤ k, m ≤ n ist.
Beweis: Die Notwendigkeit wurde schon in der obigen Bemerkung festgestellt.
Da F (x − c) Stammfunktion zu f (x − c) genau dann ist, wenn F (x) Stammfunktion zu f (x) ist, können wir zur Vereinfachung der Schreibweise 0 ∈ G als
Punkt x annehmen. Wir wählen nun ein r > 0 mit
U = (−r, +r) × . . . × (−r, +r) ⊆ G,
und setzen
Z
F (x) =
x1
Z
f1 (t, 0, . . . , 0) dt +
0
0
x2
f2 (x1 , t, 0, . . . , 0) dt+
Z xn
... +
fn (x1 , . . . , xn−1 , t) dt.
0
Dies ist eigentlich ein Integral über die Zusammensetzung von n Wegen, die
eine Weg von 0 nach x ergeben, so dass für jede Stammfunktion F von f mit
F (0) = 0 notwendigerweise diese Gleichung gelten muss. Wir zeigen nun für
k = 1, . . . , n
∂
F (x) = fk (x).
∂xk
Dazu berechnen wir für h 6= 0
Z xk +h
F (x + hek ) − F (x) =
fk (x1 , . . . , xk−1 , t, 0, . . . , 0) dt
xk
Z xk+1
+
(fk+1 (x1 , . . . , xk + h, t, 0, . . . , 0)
0
− fk+1 (x1 , . . . , xk , t, . . . , 0)) dt
...
Z
+
xn
(fn (x1 , . . . , xk−1 , xk + h, xk+1 , . . . , xn−1 , t)−
0
− fn (x1 , . . . , xn−1 , t)) dt.
Für den ersten Summand erhält man
Z
1 xk +h
lim
fk (x1 , . . . , xk−1 , t, 0, . . . , 0) dt = fk (x1 , . . . , xk−1 , 0, . . . , 0).
h→0 h x
k
Es gilt
1
(fk+1 (x1 , . . . , xk + h, t, 0, . . . , 0) − fk+1 (x1 , . . . , xk , t, . . . , 0))
h
∂
=
fk+1 (x1 , . . . , xk−1 , ξt , t, . . . , 0)
∂xk
170
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
mit einem |ξt − xk | < h. Aufgrund der gleichmäßigen Stetigkeit der partiellen
Ableitungen auf kompakten Mengen folgt
Z
1 xk+1
lim
(fk+1 (x1 , . . . , xk + h, t, 0, . . . , 0)
h→0 h 0
− fk+1 (x1 , . . . , xk , t, . . . , 0)) dt
Z xk +1
∂
fk+1 (x1 , . . . , xk , t, 0, . . . , 0).
=
∂xk
0
Wegen der vorausgesetzten Vertauschbarkeit erhält man
Z
0
xk +1
∂
fk+1 (x1 , . . . , xk , t, 0, . . . , 0) dt
∂xk
Z xk +1
∂
=
fk (x1 , . . . , xk , t, 0, . . . , 0) dt
∂x
k+1
0
= fk (x1 , . . . , xk+1 , 0, . . . , 0) − fk (x1 , . . . , xk , 0, . . . , 0).
Analog behandelt man die anderen Summanden. Insgesamt erhält man
F (x + hek ) − F (x)
= fk (x1 , . . . , xn ).
h→0
h
lim
2
Dies ist die Behauptung.
3.91. Definition: Zwei Wege γ0 , γ1 : [a, b] → G, G ⊆ Rn mit
γ0 (a) = γ1 (a),
γ0 (b) = γ1 (b)
heißen homotop, wenn es eine stetige Abbildung
γ : [0, 1] × [a, b] → G
gibt, so dass
γ(0, t) = γ0 (t),
γ(1, t) = γ1 (t)
für alle t ∈ [a, b] und
γ(s, a) = γ0 (a) = γ1 (a),
γ(s, b) = γ0 (b) = γ1 (b)
für alle s ∈ [0, 1] gilt. Eine wegzusammenhängende Menge G ⊆ Rn heißt einfach
zusammenhängend, wenn je zwei Wege von xa ∈ G nach xb ∈ G homotop
sind. Ein geschlossener Weg γ : [0, 1] → G, also ein Weg mit
γ(a) = γ(b),
heißt nullhomotop, wenn er homotop zum konstanten Weg γ̃(t) = γ(a) = γ(b)
ist.
3.92. Bemerkung: Wir fordern für unsere Zwecke zusätzlich, dass für stückweise stetige differenzierbare Wege γ0 und γ1 die Zwischenwege γs der Homotopie ebenfalls stückweise stetig differenzierbar sind. Man kann zeigen, dass man
dies für homotope Wege immer erreichen kann, wenn die Menge G offen ist.
3.93. Bemerkung: Eine Homotopie von Wegen bedeutet, dass der eine Weg
in den anderen stetig übergeführt werden kann. Dabei halten wir die Endpunkte
3.7. VEKTORFELDER
171
fest. Ein nullhomotoper geschlossener Weg kann also stetig auf den Endpunkt
zusammengezogen werden, wie wenn eine Schlinge zugezogen wird.
3.94. Beispiel: In einer konvexen Menge sind alle Wege homotop. Denn man
kann
γ(s, t) = sγ2 (t) + (1 − s)γ1 (t)
wählen. Konvexe Mengen sind natürlich wegzusammenhängend. Sie sind also
einfach zusammenhängend.
3.95 Aufgabe: Sei G ⊆ Rn konvex und φ : G → Rn injektiv, stetig mit stetiger
Umkehrung. Zeigen Sie, dass dann f (G) einfach zusammenhängend ist.
3.96 Aufgabe: (1) Sei G wegzusammenhängend und γ ein geschlossener Weg in G.
Zeigen Sie, dass γ genau dann nullhomotop ist, wenn er homotop zu einem konstanten
Weg γ̃(t) = c ∈ G ist, wobei auf das Festhalten der Endpunkte verzichtet wird.
Betrachten Sie dazu den Weg γ1 von c zum Anfangs- und Endpunkt von γ und den
Weg
γ2 = γ1 + γ − γ1 ,
wobei −γ1 der umgekehrt durchlaufene Weg γ1 sei.
(2) Folgern Sie, dass jedes sternförmige Gebiet G ⊆ Rn einfach zusammenhängend ist.
Dabei heißt ein Gebiet sternförmig, wenn
x ∈ G ⇒ λx ∈ G
für alle λ ∈ [0, 1], x ∈ G gilt.
3.97 Aufgabe: Zeigen Sie, dass Homotopie eine Äquivalenzrelation in der Menge der
Wege von xa ∈ G nach xb ∈ G ist.
3.98 Satz: Eine wegzusammenhängende Menge G ⊆ Rn ist genau dann einfach zusammenhängend, wenn jeder geschlossene Weg nullhomotop ist.
Beweis: Die eine Richtung ist trivial. Seien γ1 , γ2 zwei Wege mit gleichem
Anfangs- und gleichem Endpunkt. Wir betrachten den Weg
γ = γ1 − γ1 + γ2 .
Einerseits ist γ1 − γ1 offenbar nullhomotop. Daraus gewinnt man leicht eine
Homotopie zwischen γ und γ2 . Andererseits ist −γ1 + γ2 nullhomotop. Daraus
gewinnt man eine Homotopie von γ zu γ1 .
2
3.99 Satz: Sei G ⊆ Rn offen, sowie f : G → Rn ein stetiges Vektorfeld, dass
lokal in jedem x ∈ G eine Stammfunktion hat. Dann ist für je zwei stückweise
stetig differenzierbare homotope Wege γ1 , γ2 in G
Z
Z
f=
f.
γ1
γ2
Beweis: Sei
γ : [0, 1] × [a, b] → G
172
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
die Homotopie zwischen γ1 und γ2 und
γs (t) = γs (t).
Es genügt zu zeigen, dass
Z
f
γs
konstant ist in einer Umgebung von jedem s ∈ (0, 1). Da das Bild von γs kompakt ist, gibt es ein > 0, so dass f in jeder Kugel B (γs (t)), t ∈ [a, b] eine
Stammfunktion hat. Wir wählen nun eine Unterteilung
a = t0 < . . . < tn = b,
so dass
γs (t) ∈ B/2 (γs (tk ))
für alle t ∈ [tk , tk+1 ], k = 0, . . . , n − 1
gilt, sowie δ > 0 so klein, dass
|γu (t) − γs (t)| <
2
für alle |s − u| < δ
ist. Sei dann Fk eine Stammfunktion von f in B (γs (tk )), sowie γk,s der Teil
von γs zwischen tk und tk+1 . Dann folgt
Z
f = Fk (γs (tk+1 )) − Fk (γs (tk )).
γk,s
Also
Z
f=
γs
n−1
X
(Fk (γs (tk+1 )) − Fk (γs (tk )))
k=0
= Fn−1 (b) +
n−1
X
(Fk (γs (tk )) − Fk−1 (γs (tk ))) − F0 (a).
k=1
Dasselbe gilt für γu , falls |u−s| < δ. Beachtet man nun, dass Fk und Fk−1 beide
in B (γs (tk )) definiert sind, so unterscheiden sich diese beiden Stammfunktionen
nur durch eine Konstante. Es folgt
Fk (γs (tk )) − Fk−1 (γs (tk )) = Fk (γu (tk )) − Fk−1 (γu (tk )).
Also
Z
Z
f=
γs
f.
γu
2
3.100. Bemerkung: Zusammenfassend erhalten wir, dass eine Funktion stetig
differenzierbare f genau auf einer einfach zusammenhängenden offenen Menge
G ⊆ Rn genau dann eine Stammfunktion hat, wenn die Vertauschungsrelationen
∂
∂
fm (x) =
fk (x)
∂yk
∂ym
3.7. VEKTORFELDER
173
für alle x ∈ G und 1 ≤ k, m ≤ n gelten.
3.101. Bemerkung: Das Wegintegral lässt sich physikalisch als Arbeit deuten,
die man beim Bewegen eines Punktes x längs einem Weg γ im Kraftfeld f leisten
muss. Denn
1
hf (γ(t)), 0
γ 0 (t)i
kγ (t)k
ist die Projektion des Kraftvektors f (γ(t)) auf die Tangente an den Weg γ. Die
pro Zeiteinheit dt zurückgelegte Wegstrecke ist andererseits kγ 0 (t)k dt. Summiert
man diese
R Produkte aus Weg und Kraft, so ergibt sich die geleistete Energie als
Integral γ f . Wenn das Kraftfeld f also eine Stammfunktion F hat, die man
als Potential des Feldes bezeichnet, so gilt der Satz von der Energieerhaltung.
Die längs einem geschlossenen Weg geleistete oder gewonnene Arbeit ist dann
gleich 0. Aus diesem Grund nennt man Vektorfelder, für das Wegintegral nur
vom Anfangs- und Endpunkt abhängt auch konservative Vektorfelder.
3.102 Aufgabe: Berechnen Sie das Potential des Gravitationsfeldes
f (x) = −
1
x,
kxk3
definiert auf x ∈ R3 \ {0}.
3.103 Aufgabe: Sei f : R2 \ {0} → R2 das Vektorfeld
„
«
„ «
e−y
−y cos x + x sin x
x
.
f
= 2
y sin x + x cos x
y
x + y2
Zeichnen Sie den Weg γ, der sich aus den folgenden Teilwegen zusammensetzt
γ1 (t) = (t, 0),
1/R ≤ t ≤ R,
γ2 (t) = (R, t),
0 ≤ t ≤ R,
−R ≤ t ≤ R,
γ3 (t) = (−t, R),
γ4 (t) = (−R, R − t),
γ5 (t) = (t, 0),
0 ≤ t ≤ R,
−R ≤ t ≤ −1/R,
γ6 (t) = (cos(π − t)/R, sin(π − t)/R),
0 ≤ t ≤ π.
Zeigen Sie, das das Gebiet
U = {(x, y) ∈ R2 : y > 0 oder x 6= 0}
sternförmig und daher einfach zusammenhängend ist. Begründen Sie, warum
gelten muss. Zeigen Sie
Z
Z
f=
f = 0.
γ4
γ2
Zeigen Sie
Z
lim
R→∞
f =0
γk
für k = 2, 3, 4. Zeigen Sie, dass
lim hf (γ6 (t)), γ60 (t)i = −1
R→∞
gleichmäßig auf [0, π] gilt, und folgern Sie
Z
lim
f = −π.
R→∞
γ6
R
γ
f =0
174
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Folgern Sie schließlich
Z
R
lim
R→∞
3.8
−R
sin(x)
= π.
x
Exakte Differentialgleichungen
3.104. Definition: Eine Differentialgleichung der Form
∂
∂
F (x, y) +
F (x, y)y 0 = 0
∂x
∂y
heißt exakte Differentialgleichung. Dabei ist F : G → R eine stetig partiell
differenzierbare Funktion, G ⊆ R2 offen.
3.105. Bemerkung: Bisweilen ist die Schreibweise
h(x, y)dx + g(x, y)dy = 0
üblich, wobei h, g die obigen partiellen Ableitungen sind.
√
3.106. Beispiel: Die Lösung y(x) = 1 − x2 des Anfangswertproblems
2x + 2yy 0 = 0,
y(0) = 1,
kann mit Hilfe der Trennung der Variablen berechnet werden. Die Differentialgleichung ist jedoch exakt mit
F (x, y) = x2 + y 2 .
3.107 Satz: Sei y : I → R, I ein Intervall, eine Lösung der exakten Differentialgleichung
∂
∂
F (x, y) +
F (x, y)y 0 = 0.
∂x
∂y
Dann ist F (x, y(x)) konstant. Sei umgekehrt eine Teilmenge der Niveaulinie
F (x, y) = c für x ∈ I, I ein Intervall, nach y auflösbar, dann ist die entstehende
Funktion y : I → R eine Lösung der exakten Differentialgleichung.
Beweis: Sei y : I → R eine Lösung. Man berechnet
d
∂
∂
F (x, y(x)) =
F (x, y) +
F (x, y)y 0 (x) = 0.
dx
∂x
∂y
Also ist die Abbildung x 7→ F (x, y(x)) konstant. Wenn umgekehrt y : I → R
eine Funktion mit
F (x, y(x)) = c
für alle x ∈ I
ist, so ist y nach dem Satz über implizite Funktionen differenzierbar und aufgrund der obigen Identität Lösung der exakten Differentialgleichung.
2
3.9. OBER- UND UNTERFUNKTIONEN
175
3.108. Beispiel: Unsere Differentialgleichung 2x + 2yy 0 = 0 hat also mit dem
Anfangswert y(0) = 1 eine Lösung, für die
F (x, y) = x2 + y 2 = 1
gilt. Dies kann man im Intervall (−1, 1) nach y auflösen und erhält mit dem
Anfangswert y(0) = 1
p
y(x) = 1 − x2 .
3.9
Ober- und Unterfunktionen
3.109. Bemerkung: Wenn die Differentialgleichung y 0 = f (x, y) auf ihrem Definitionsgebiet eine lokale Lipschitzbedingung erfüllt, so folgt für zwei Lösungen
y, ỹ : I → R und einen festen Punkt x0 ∈ I
y(x0 ) < ỹ(x0 ) ⇒ y(t) < ỹ(t)
für alle t ∈ I.
Denn sonst müsste y(ξ) = ỹ(ξ) für ein ξ ∈ I gelten, was wegen der Eindeutigkeit
der Lösung nicht möglich ist. Daher kann man eine leicht zu berechnende Lösung
y als Separatorfunktion verwenden, die die Lösungen in zwei Hälften trennt.
3.110. Beispiel: Die Differentialgleichung
y 0 = sin(y)ecos(y)
hat sicherlich die konstanten Lösungen
yn = nπ,
n ∈ Z.
Alle anderen Lösungen liegen also immer zwischen zwei dieser Konstanten.
3.111. Definition: Als Defekt von φ bezüglich der Differentialgleichung y 0 =
f (x, y) bezeichnen wir die Funktion
P φ(x) = φ0 (x) − f (x, φ(x)).
Lösungen haben also den Defekt 0.
3.112 Satz: Seien φ, ψ : J → R, J = [x0 , b] differenzierbare Funktionen, so
dass P φ(x) und P ψ(x) für alle x ∈ J definiert sind, und
φ(x0 ) ≤ ψ(x0 )
sowie
P φ(x) < P ψ(x)
für alle x ∈ J
Dann folgt
φ(x) ≤ ψ(x)
für alle x ∈ J.
Analog folgt aus φ(b) ≤ ψ(b) und P φ > P ψ auf J die Ungleichung φ ≤ ψ auf
J.
176
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Beweis: Angenommen, die Behauptung ist falsch. Sei dann
ξ = inf{x ∈ J : φ(x) > ψ(x)}.
Wegen φ(x0 ) ≤ ψ(x0 ) folgt φ(ξ) = ψ(ξ). Dann gibt es in jeder Umgebung
[ξ, ξ + ) ein x mit φ(x) > ψ(x). Also φ0 (ξ) ≥ ψ 0 (ξ). Es folgt
P φ(ξ) = φ0 (ξ) − f (ξ, φ(ξ)) ≥ ψ 0 (ξ) − f (ξ, ψ(ξ)) = P ψ(ξ),
2
was ein Widerspruch zur Annahme ist.
3.113. Bemerkung: Fordert man lediglich P φ ≤ P ψ so wird die Behauptung
falsch. Denn wenn keine Lipschitz-Bedingung vorliegt, kann eine Differentialgleichung zwei Lösungen haben, die dann beide natürlich den Defekt 0 haben.
3.114 Satz:
Das Anfangswertproblem
y = f (x, y),
y(x0 ) = y0
genüge einer Lipschitzbedingung in y. Wenn dann
φ(x0 ) ≤ y0 ≤ ψ(x0 )
und
P φ(x) ≤ 0 ≤ P ψ(x)
für alle x ∈ J = [x0 , b]
gilt, wobei diese Defekte auf J definiert seien, so gibt es eine Lösung y auf J
mit
φ ≤ y ≤ ψ.
Beweis: Wir zeigen, dass aus P φ ≤ P ψ unter den Bedingungen des Satzes
φ ≤ ψ auf J folgt. Sei ξ wie im Beweis des vorigen Satzes. Dann wählen wir
δ > 0 mit δL < 1, wobei L die Lipschitzkonstante der Differentialgleichung ist.
Es gibt dann im Intervall [ξ, ξ + δ] ein η und ein δ0 > 0 mit φ < ψ auf [η, η + δ0 ],
sowie φ(η) = ψ(η). Wähle x ∈ [η, η + δ0 ] so dass φ(x) − ψ(x) maximal ist. Dann
folgt
Z x
(φ0 (t) − ψ 0 (t)) dt
φ(x) − ψ(x) = φ(η) − ψ(η) +
η
Z
x
(φ0 (t) − ψ 0 (t)) dt
=
η
Z
x
≤
(f (t, φ(t)) − f (t, ψ(t))) dt
η
Z
≤
x
|f (t, φ(t)) − f (t, ψ(t))| dt
η
≤ (x − η)L sup |φ(t) − ψ(t)|
t∈[η,x]
= (x − η)L(φ(x) − ψ(x)).
Dies ist ein Widerspruch wegen (x − η)L ≤ δL < 1. Der Rest der Behauptung
2
folgt aus dem Existenzsatz von Picard-Lindelöff.
3.9. OBER- UND UNTERFUNKTIONEN
177
3.115. Bemerkung: Als Anwendung sagen wir, dass φ eine Unterfunktion
des Anfangswertproblems
y 0 = f (x, y),
y(x0 ) = y0
Wenn φ(x0 ) ≤ y0 ist und
φ0 (x) < f (x, φ(x))
für alle x ∈ J,
das heißt P φ < 0. Analog definieren wir, was eine Begriff Oberfunktion ψ ist.
Aufgrund des Satzes folgt
φ≤y≤ψ
für alle Lösungen y auf jedem Intervall [x0 , b], auf dem die Defekte von φ und
ψ definiert sind. Zur Berechnung von Unterfunktionen lösen wir eine Differentialgleichung
φ0 = f˜(x, φ), φ(x0 ) = y0
mit f˜ < f . Es gilt dann für eine Lösung φ dieses Anfangswertproblems und eine
Lösung y des Originalproblems
P φ(x) = φ0 (x) − f (x, φ(x)) < φ0 (x) − f˜(x, φ(x)) = 0 = P y(x).
Also φ ≤ y auf dem Definitionsintervall [x0 , b].
3.116. Beispiel: Wir betrachten das Anfangswertproblem
y 0 = x2 + y 2 ,
y(0) = 1.
Für x > 0 finden wir eine Unterfunktion als Lösung von
φ0 = φ2 ,
y(0) = 1.
Dieses Anfangswertproblem hat die Lösung
φ(x) =
1
.
1−x
Als Folgerung erhalten wir
1
1−x
Insbesondere ist y höchstens auf einem Intervall [0, b] mit b ≤ 1 definiert. Also
erhalten wir durch
ψ 0 (x) = 1 + ψ 2 , ψ(0) = 1
y(x) ≥
eine Oberfunktion von y. Dieses Problem hat die Lösung
π
ψ(x) = tan x +
.
4
Es folgt, dass y mindestens auf einem Intervall [0, b] mit b ≥ π/4 definiert ist.
3.117 Aufgabe: Finden Sie eine bessere Oberfunktion der Form
ψ(x) =
1
1 − x/b
für das obige Beispiel, indem Sie b optimal groß wählen, so dass
ψ 0 (x) > ψ(x)2 + x2
für alle x ∈ [0, b) gilt.
178
KAPITEL 3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
Kapitel 4
Oberflächenintegrale
4.1
Karten
Wir wollen in diesem Kapitel Mannigfaltigkeiten definieren. Unsere Mannigfaltigkeiten sind hier immer Teilmengen von Rn . Man sagt, sie sind in den Rn
eingebettet. Wie nehmen an, dass die Mannigfaltigkeiten in fast allen Punkten
eine lokale Karte besitzen. Dies ist eine Abbildung φ von einer offenen Menge
des Rk auf die Umgebung eines gegebenen Punktes in der Mannigfaltigkeit. Von
der Kartenabbildung φ fordern wir, dass sie injektiv und glatt genug ist. Die
wichtigsten Beispiele sind Flächen im R3 und Kurven im R2 oder R3 .
Zunächst nehmen wir an, dass die Mannigfaltigkeit vollständig parametrisiert ist. Die Karte gilt also in diesem Fall für die gesamte Mannigfaltigkeit.
4.1. Beispiel: Wir betrachten die Oberfläche der Einheitskugel im R3
S2 = {x ∈ R3 : x21 + x22 + x23 = 1}.
Diese Menge ist hier durch eine Gleichung gegeben, also als Menge der Nullstellen der Funktion g : R3 → R mit
g(x) = x21 + x22 + x23 − 1.
Diese Darstellung unterscheidet sich von der Darstellung in parametrisierter
Form. Sei dazu
φ : [0, 2π] × [−π/2, π/2] → R3
definiert durch


cos(t) cos(s)
φ(t, s) =  sin(t) cos(s)  .
sin(s)
Dann ist φ(t, s) ∈ S2 für alle t, s. Der Parameter t entspricht dem Breitengrad
auf der Kugeloberfläche, und s dem Längengrad. φ ist nicht injektiv, aber surjektiv. Die beiden Pole haben unendlich viele Urbilder, und jeder Punkt des
179
180
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Abbildung 4.1: Parametrisierte Kugel, partielle Ableitungen von φ.
Längengrads t = 0, s ∈ (−π/2, π/2) hat zwei Urbilder. Die Parameter s, t sind
also nicht für jeden Punkt auf S2 eindeutig.
Die Abbildung ist nicht winkeltreu. Lediglich die Bilder von Längen- und
Breitengraden bleiben senkrecht aufeinander. Die Abbildung verzerrt außerdem
die Flächen, je näher den Polen, desto mehr.
Man überprüft, dass φ auf der offenen Menge
U = (0, 2π) × (−π, π)
injektiv ist. Allerdings ist φ(U ) 6= S2 . Es fehlt der Längengrad t = 0. Für den
Rest der Kugel ist dies eine eindeutige Parametrisierung aller Punkte.
4.2. Beispiel: Man kann die Kugel auch völlig anders parametrisieren. Die
naheliegendste Art ist, die obere Halbkugel als Graph einer Funktion h darzustellen, also


x
ψ(x, y) =  y 
h(x, y)
mit
h(x, y) =
p
1 − x2 − y 2
4.1. KARTEN
181
definiert für x2 + y 2 ≤ 1. Diese Art der Parametrisierung entspricht der senkrechten Projektion der oberen Halbkugel auf eine Ebene. Sie wird deswegen
orthographische Projektion genannt.
4.3. Beispiel: Eine andere, geometrisch interessante Parametrisierung ergibt
sich, indem man bemerkt, dass die Gerade durch die Punkte
 
 
0
x
P1 = 0 , P2 (x, y) =  y 
1
−1
die Kugel S2 außer in P1 nur in nur einem weiteren Punkt


4x
1

.
4y
P (x, y) = 2
x + y2 + 4
x2 + y 2 − 4
schneidet. Die Tangentialebene im Südpol wird in Richtung Nordpol auf die
Kugel projiziert. Die Abbildung
P : R2 → S2
ist injektiv, und parametrisiert S2 bis auf den Nordpol. Mann nennt diese Projektion polar stereographische Projektion. Wir werden später nachweisen,
dass diese Projektion winkeltreu ist.
Abbildung 4.2: Stereographische Projektion.
4.4 Aufgabe: Rechnen Sie die Behauptungen dieser Beispielse nach. Weisen Sie
insbesondere die behaupteten Injektivitäten bzw. Surjektivitäten nach.
4.5 Aufgabe: Erweitern Sie die stereographische Parametrisierung auf die Einheitskugel
Sn−1 = {x ∈ Rn : kxk = 1}
182
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
im Rn .
4.6. Definition: Als C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit bezeichnen wir
das Bild einer stetig differenzierbaren, injektiven Abbildung
φ : U → Rn ,
wobei U ⊂ Rk offen, k ≤ n, so dass
φ−1 : φ(U ) → U
stetig ist, mit der zusätzlichen Bedingung
Rang Dφ(x) = k
für alle x ∈ U .
k heißt die Dimension der Mannigfaltigkeit. φ wird als Karte von φ(U ) bezeichnet.
4.7. Bemerkung: Seien φ1 , . . . , φn die Komponentenabbildungen von φ, also


φ1 (x)


φ(x) =  ...  .
φn (x)
Dann gilt
∂
φ (x) . . .
 ∂x1 1

..
Dφ(x) = 
.

 ∂
φn (x) . . .
∂x1


∂
φ1 (x)

∂xk

..
.
.


∂
φn (x)
∂xk
Die Bedingung über den Rang besagt also, dass die partiellen Ableitungen


∂
φ1 (x)
 ∂xi



∂
..
,
φ(x) = 
i = 1, . . . , k
.


∂xi
 ∂

φn (x)
∂xi
linear unabhängig sind. Wenn das nicht der Fall ist, so kann zum Beispiel eine
parametrisierte Fläche im R3 (also k = 2 und n = 3) zu einer Kurve entarten.
4.8 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die im obigen Beispiel angegebenen Parametrisierungen von S2 auf dem offenen Inneren der Definitionsbereiche C1 -Parametrisierungen
sind. Dadurch wird jeweils ein großer Teil von S2 zu einer C1 -parametrisierten Mannigfaltigkeit.
4.9 Aufgabe: Zeigen Sie, dass jeder k-dimensionaler affine Unterraum von Rn eine
C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit der Dimension k ist.
4.10. Beispiel: Der Zylinder
Z = {x ∈ R3 : x21 + x22 = 1}
4.1. KARTEN
183
kann durch
x


p
x2 + y 2 



φ(x, y) =  p y



2
2
x
+
y
p
2
2
log x + y
vollständig C1 -parametrisiert werden. Wir werden später feststellen, dass diese
Parametrisierung winkeltreu ist.
4.11 Aufgabe: Führen Sie Umkehrung der polaren stereographischen Projektion und
die Parameterabbildung auf den Zylinder der obigen Aufgabe hintereinander aus. Dies
bildet S2 ohne den Nord- und Südpol auf den Zylinder winkeltreu ab. Geben Sie an,
in welcher Höhe x3 der Breitengrad s nun liegt.
4.12 Aufgabe: Den Torus mit Durchmesser 2 und Innendurchmesser 2 erhält man
durch Drehen des Kreises mit Radius 1 und einem Mittelpunkt, der vom Zentrum 2
Einheiten entfernt ist um die z-Achse. Geben Sie eine Beschreibung als Lösung einer
Gleichung an und eine Parametrisierung.
4.13. Beispiel: Sei f : U → R stetig differenzierbar, U ⊆ Rk offen. Dann ist
der Graph
G = {(x1 , . . . , xk , f (x1 , . . . , xk )) : (x1 , . . . , xk ) ∈ U }
eine C1 -parametrisierbare Mannigfaltigkeit im Rn , n = k + 1. Und zwar kann
man einfach die Funktion


x1


..


.
h(x1 , . . . , xk ) = 



xk
f (x1 , . . . , xk )
als Parametrisierung wählen.
4.14 Aufgabe: Verallgemeinern Sie dieses Beispiel für Funktionen f : U → Rm .
4.15. Beispiel: Im Fall k = 1 und U = (a, b) entsteht ein Kurvenbogen im
Rn . Gemäß unserer Voraussetzungen für die Parametrisierung ist der Kurvenbogen einfach, schneidet sich also selbst nicht, und
 0 
φ1 (t)


φ0 (t) =  ... 
φ0n (t)
wird niemals 0. Es ist sinnvoll, die Definition von φ auf [a, b] auszudehnen, und
φ(a) und φ(b) als die Endpunkte des Kurvenbogens zu bezeichnen, sowie φ[a, b]
als einen Weg, der die beiden Endpunkte verbindet.
4.16. Bemerkung: Falls die Endpunkte einer Kurve gleich sind, so spricht
man von einer geschlossenen Jordankurve. Geschlossene Jordankurven sind
Beispiele für Mannigfaltigkeiten, die sich nur nur lokal parametrisieren lassen.
Das heißt, für jeden Punkt der Kurve gibt es eine Umgebung, so dass sich der
184
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Schnitt dieser Umgebung mit der Kurve parametrisieren lässt. Der S2 ist ein
anderes Beispiel für eine solche Mannigfaltigkeit.
4.17 Satz: (1) Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung von M = φ(U ),
U ⊆ Rk . Sei x ∈ U , sowie
x̃ = (x1 , . . . , xk , 0, . . . , 0) ∈ Rn .
Dann gibt es eine Umgebung Ũ von x̃, und eine injektive, stetig differenzierbare
Abbildung
φ̃ : Ũ → Rn
so dass Dφ̃(t) für alle t ∈ Ũ regulär ist, und so dass gilt
φ̃(t) ∈ M ⇔ t = (t1 , . . . , tk , 0, . . . , 0) mit (t1 , . . . , tk ) ∈ U
für alle t ∈ Ũ .
(2) Die Dimension einer k-dimensionalen C1 -parametrisierten Mannigfaltigkeit
ist eindeutig bestimmt.
Beweis: (1) Wir ergänzen für unseren festen Punkt x ∈ U die partiellen
Ableitungen zu einer Basis
∂
∂
φ(x), . . . ,
φ(x), vk+1 , . . . , vn
∂x1
∂xk
des Rn . Wir setzen nun
φ̃(t) = φ(t1 , . . . , tk ) + tk+1 vk+1 + . . . + tn vn .
für alle t ∈ Rn mit (t1 , . . . , tk ) ∈ U . φ ist stetig differenzierbar und
Dφ̃(x̃) = (
∂
∂
φ(t), . . . ,
φ(t), vk+1 , . . . , vn )
∂t1
∂tk
ist regulär. Nach dem Satz von der offenen Abbildung existiert die eine offene
Umgebung Ũ1 von x̃, auf der φ̃ injektiv ist und auf der Dφ̃ regulär ist. Bezeichne
U1 die Menge aller (t1 , . . . , tk ) in U mit
(t1 , . . . , tk , 0, . . . , 0) ∈ Ũ1 .
Dann gibt es eine Umgebung V ⊆ φ̃(U1 ) von φ(x) mit
φ−1 (V ) ⊆ Ũ1 ,
weil φ−1 in φ(x) stetig ist. Die Menge
Ũ = φ̃−1 (V )
erfüllt nun die Behauptungen des Satzes. Denn für
(t1 , . . . , tk ) ∈ U,
(t1 , . . . , tk , 0, . . . , 0) ∈ Ũ
gilt nach Definition
φ̃(t1 , . . . , tk , 0, . . . , 0) = φ(t1 , . . . , tk ) ∈ M.
4.2. TANGENTIALRÄUME
185
Wenn umgekehrt φ̃(t) ∈ M für t ∈ Ũ ist, so setzen wir
(s1 , . . . , sk ) := φ−1 (φ̃(t)).
Es folgt (s1 , . . . , sk ) ∈ U1 . Es gilt aber
φ̃(s1 , . . . , sk , 0, . . . , 0) = φ(s1 , . . . , sk ) = φ̃(t).
Aufgrund der Injektivität von φ̃ folgt
t = (s1 , . . . , sk , 0, . . . , 0)
wie verlangt.
(2) Wir nehmen an, dass wir zwei C1 -Parametrisierungen
φi : Ui → Rn ,
i = 1, 2,
derselben Menge M ⊆ Rn haben, mit Ui ⊆ Rni für i = 1, 2. Wir erweitern diese
Abbildungen nach Punkt (1) und erhalten die stetig differenzierbare Abbildung
φ = φ̃−1
2 ◦ φ1
die bijektiv auf einer Menge Ũ ⊆ Rn definiert ist, so dass Dφ̃(x̃) regulär ist. φ
hat außerdem die Eigenschaft, dass die ersten n1 partiellen Ableitungen in x̃ in
einem n2 -dimensionalen Unterraum von Rn liegen. Es folgt n2 ≥ n1 und analog
n1 ≥ n2 .
2
4.18 Aufgabe: Man konstruiere ein Beispiel, so dass φ : (a, b) → R2 eine C1 Parametrisierung ist, aber φ−1 nicht stetig. Denken Sie an eine 8“.
”
4.19. Bemerkung: Es ist klar, dass sich keine kompakte Mannigfaltigkeit
(wie etwa S2 ) durch eine C1 -Parametrisierung φ mit stetiger Umkehrfunktion
parametrisieren lässt, weil das Bild von kompakten Mengen kompakt ist und
unsere Parametermenge offen. Es ist aber in der Tat so, dass man S2 auch
nicht mit einer kompakten Parametermenge und einer stetigen Abbildung φ
parametrisieren kann. Zum Beweis benötigt man tiefere topologische Einsichten.
4.20 Aufgabe: Zeigen Sie, dass sich der Rand des Einheitskreises S1 ∈ R2 nicht
vollständig mit stetiger Umkehrfunktion parametrisieren lässt.
4.2
Tangentialräume
4.21. Definition: Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung, U ⊆ Rk offen,
x ∈ U . Dann ist der Tangentialraum in φ(x) der von den partiellen Ableitungen
aufgespannte affine Unterraum durch φ(x), also
Tφ(x) = {φ(x) +
k
X
i=1
λi
∂
φ(x) : λ1 , . . . , λk ∈ R}.
∂xi
186
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
4.22 Satz: Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung, x ∈ U , und K die
Menge aller Häufungspunkte von
1
(φ(xn ) − φ(x)),
kφ(xn ) − φ(x)k
für alle Folgen (xn ), die in U gegen x konvergieren. Dann gilt
Tφ(x) = {φ(x) + λv : λ ∈ R, v ∈ K}.
Beweis: Konvergiere xn → x und
1
(φ(xn ) − φ(x)) → v.
kφ(xn ) − φ(x)k
Aufgrund der Definition der Ableitung
1
(φ(xn ) − φ(x))
kφ(xn ) − φ(x)k
1
1
=
Dφ(x)(xn − x) +
Rx (xn ),
kφ(xn ) − φ(x)k
kφ(xn ) − φ(x)k
mit einer Restfunktion Rx , so dass gilt
1
Rx (xn ) = 0.
n→∞ kxn − xk
lim
Mit Hilfe der Erweiterung φ̃, deren Umkehrung stetig differenzierbar ist, und
dem erweiterten Mittelwertsatz der Analysis sieht man
kxn − xk ≤ max kDφ−1 (ξ)k · kφ(xn ) − φ(x)k,
ξ∈M
wobei M eine genügend kleine, kompakte Umgebung von φ(x) ist. Es folgt
v = lim
n→∞
1
Dφ(x)(xn − x).
kφ(xn ) − φ(x)k
Also ist v Linearkombination der partiellen Ableitungen und daher
φ(x) + λv ∈ Tφ(x)
für alle λ ∈ R. Sei umgekehrt v mit kvk = 1 und dieser Eigenschaft. Dann
existiert ein µ ∈ Rk mit
Dφ(x)µ = v.
Man setze
1
µ.
n
Wieder aufgrund der Definition der Ableitungen erhält man
xn = x +
1
(φ(xn ) − φ(x)) → v.
kφ(xn ) − φ(x)k
4.2. TANGENTIALRÄUME
187
2
4.23. Bemerkung: Da die Umkehrabbildung φ−1 auf der Mannigfaltigkeit
M = φ(U ) in y = φ(x) stetig ist, so kann man die Menge K auch als Menge der
Häufungspunkte von Folgen
1
(yn − y)
kyn − yk
erhalten, wobei yn , n ∈ N, eine Folge in M ist, die gegen y konvergiert. Der
Tangentialraum also durch M allein bestimmt, und die Parametrisierung φ wird
nicht benutzt. Dies zeigt erneut, dass die Dimension einer Mannigfaltigkeit eindeutig bestimmt ist. Sie ist gleich der Dimension des Tangentialraumes in irgend
einem Punkt.
4.24 Satz: Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung von M = φ(U ), V eine
Umgebung von φ(x), und h : V → R stetig differenzierbar, so dass
y ∈ V ∩ M ⇒ h(y) = 0
gilt. Dann steht der Gradient von h senkrecht auf der Tangentialebene.
Beweis: Wir verwenden wieder die Erweiterung φ̃. Wegen
h(φ̃(x̃)) = 0
für alle x ∈ U erhält man durch Differenzieren
0=
∂
∂
h(φ̃(x̃)) = grad h(x) ·
(φ(x))
∂xi
∂xi
2
für i = 1, . . . , k. Es folgt die Behauptung.
4.25 Aufgabe: Berechnen Sie die partiellen Ableitungen der Parametrisierung φ(t, s)
mit Längen und Breitengrad des S2 ohne den Längengrad 0, und zeigen Sie, dass der
Gradient von h(x, y, z) = x2 +y 2 +z 2 −1 tatsächlich senkrecht auf dem Tangentialraum
in (x, y, z) steht.
4.26. Bemerkung: Eine C1 -Parametrisierung heißt winkeltreu, wenn für alle
x ∈ U die Abbildung
(λ1 , . . . , λn ) 7→
k
X
i=1
λl
∂
φ(x)
∂xi
die Winkel erhält. Dies ist nach den Ergebnissen der linearen Algebra genau
dann der Fall, wenn die partiellen Ableitungen senkrecht aufeinander stehen
und die gleiche Norm c haben. In diesem Fall ist
M (x) =
1
Dφ(x)
c
eine orthogonale Abbildung. Angenommen, zwei stetig differenzierbare Kurven
g1 und g2 , die in U verlaufen, schneiden sich in
x = g1 (t1 ) = g2 (t2 )
188
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
im Winkel α, also
hg10 (t1 ), g20 (t2 )i
.
kg1 (t1 )k kg2 (t2 )k
Dann schneiden sich die Bildkurven φ ◦ g1 und φ ◦ g2 in φ(x) in demselben
Winkel.
cos α =
4.27 Aufgabe: Zeigen Sie, dass die sterographische Projektion aus Beispiel 4.3 und
die Zylinderprojektion aus Beispiel 4.10 winkeltreu sind.
4.28 Satz: (1) Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung von M = φ(U ),
U ⊆ Rk offen. Dann existiert zu jedem y ∈ M eine Umgebung V und n − k
stetig differenzierbare Funktionen
h1 , . . . , hn−k : V → R
so dass für alle w ∈ V gilt
h1 (w) = . . . = hn−k (w) = 0 ⇔ w ∈ M,
und so dass die Gradienten
grad h1 (y), . . . , grad hn−k (y)
linear unabhängig sind.
(2) Existiert umgekehrt für eine Teilmenge M ⊆ Rn eine solche Umgebung V
von y, sowie solche Funktionen h1 , . . . , hn−k , so ist Ṽ ∩ M eine C1 -parametrisierbare Mannigfaltigkeit der Dimension k für eine Umgebung Ṽ ⊆ V von y.
Beweis: (1) Sei y = φ(x) und φ̃ wie im obigen Satz auf Ũ definiert. Betrachten
wir die Umkehrung ψ = φ̃−1 auf V = φ̃(Ũ ), so können wir einfach setzen
h1 = ψk+1 , . . . , hn−k = ψn .
Denn genau für w ∈ V ∩ M gilt
ψ(w) = (0, . . . , 0, tk+1 , . . . , tn ).
Außerdem ist Dψ regulär, woraus die lineare Unabhängigkeit der Gradienten
folgt.
(2) Wir können die Gradienten mit Einheitsvektoren zu einer Basis von Rn
ergänzen. Zur Vereinfachung der Schreibweise nehmen wir an, dass e1 , . . . , ek
diese Basisvektoren sind. Für x ∈ V setzen wir dann
ψ(w) = (h1 (w), . . . , hn−k (w), w1 , . . . , wk ).
Dann gilt
ψ(w) = (0, . . . , 0, tk+1 , . . . , tn )
genau dann, wenn w ∈ V ∩M ist. Außerdem ist Dψ regulär. Nach dem Satz über
die lokale Umkehrbarkeit gibt es eine lokale Inverse φ̃, die auf einer Umgebung
von Ũ von x̃ definiert ist. Dann ist
φ(x) = φ̃(x1 , . . . , xk , 0, . . . , 0)
eine C1 -Parametrisierung von φ̃(Ũ ) ∩ M .
2
4.29. Bemerkung: Nach dem vorigen Satz stehen alle Gradienten von h auf
dem Tangentialraum senkrecht.
4.3. DAS OBERFLÄCHENMASS
4.3
189
Das Oberflächenmaß
4.30. Beispiel: Es gibt einen Fall, in dem das Oberflächenmaß in natürlicher
Weise vorgegeben ist, nämlich für affine Unterräume A ⊆ Rn . Falls dim A = k
ist, so existiert eine Isometrie
F : Rk → A,
also eine linear affine Abbildung
F (x) = Ox + b,
wobei die Spalten von O ∈ Rn×k normiert sind und senkrecht aufeinander stehen, woraus
kF (x) − F (y)k = kx − yk
für alle x, y ∈ Rk folgt. Es liegt nahe, dass Bildmaß des Lebesguemaßes unter
F als Maß auf A zu verwenden, also
µA (B) = λk (φ−1 (B))
für alle Lebesgue-messbaren B ⊆ A.
4.31 Aufgabe: Zeigen Sie, dass das eben definierte Maß auf einem affinen Unterraum
unabhängig von der gewählten Isometrie F ist.
4.32. Bemerkung: Mit Hilfe unseres Maßes auf affinen Unterräumen können
wir den Spezialfall behandeln, dass die k-dimensionale Mannigfaltigkeit M =
φ(U ) ganz im k-dimensionalen affinen Unterraum A von Rn liegt,
M ⊆ A ⊆ Rn .
Für messbares B ⊆ U gilt dann
µF (φ(B)) = λk (F −1 (φ(B)).
Die Abbildung h = F −1 ◦ φ ist auf U wohldefiniert und bildet U injektiv in
den Rk ab, wobei F −1 auf A definiert sei. Wie bei der Konstruktion von φ̃
können wir Rk in Rn einbetten, und auf gleiche Weise die Isometrie F zu einer
Isometrie F̃ erweitern. Dann ist F̃ −1 ◦ φ̃ differenzierbar. Die Einbettung und die
Projektion sind ebenfalls differenzierbar, so dass h stetig differenzierbar ist. Es
gilt F ◦ h = φ, also
O · Dh(x) = Dφ(x).
Da O orthonormale Spalten enthält, folgt
Dh(x)T Dh(x) = Dφ(x)T Dφ(x).
Dh(x) ist quadratische Matrix, und auf beiden Seiten stehen nun k×k-Matrizen.
190
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Aufgrund der Transformationsformel haben wir
Z
µF (φ(B)) =
| det(Dh(x))| dλk (x)
M
Z p
det(Dh(x))2 dλk (x)
=
B
Z q
det(Dh(x)T Dh(x)) dλk (x)
=
B
Z q
=
det(Dφ(x)T Dφ(x)) dλk (x).
B
4.33. Definition: Die Determinante
gram φ(x) = det(Dφ(x)T Dφ(x))
bezeichnet man als Gramsche Determinante von φ.
Allgemeine C1 -Manigfaltigkeiten liegen nun lokal angenähert in ihren jeweiligen Tangentialebenen. Setzt man U aus lauter kleinen Stücken zusammen, so
kann man dieselbe Formel für allgemeine Mannigfaltigkeiten als Definition des
Oberflächenmaßes nehmen.
4.34. Definition: Als Maß auf einer durch φ : U → Rn C1 -parametrisierten
Mannigfaltigkeit M verwenden wir
Z
p
µM (B) =
gram φ(x) dλk (x)
φ−1 (B)
für alle messbaren B ⊆ M .
Beachten Sie, dass wir noch zeigen müssen, dass das Maß µM nicht von der
Parametrisierung abhängt.
4.35. Bemerkung:
Das Maß ist also das Bildmaß des Maßes auf U mit der
p
Dichte gram φ(x). Es folgt wie bei der Transformationsformel für messbare
Abbildungen f : M → R
Z
Z
p
f dµF =
f (φ(x)) gram φ(x) dλk (x)
M
U
In der Tat ist die Transformationsformel der Spezialfall k = n. Denn in diesem
Fall ist
gram φ(x) = det Dφ(x)2 .
Man schreibt für das Oberflächenmaß dµM auch einfach dS, so dass unsere
Integrationsformel sich als
Z
Z
p
f dS =
f (φ(x)) gram φ(x) dx1 . . . dxn
M
U
schreibt.
4.36. Beispiel: Als ersten Test berechnen wir die Oberfläche von S2 . Dazu
verwenden wir die Parametrisierung φ(t, s) mit Längen- und Breitengraden. Es
4.3. DAS OBERFLÄCHENMASS
191
gilt


− sin(t) cos(s) − cos(t) sin(s)
Dφ(t, s) =  cos(t) cos(s) − sin(t) sin(s)  .
0
cos(s)
Man erhält daher
gram φ(t, s) = det
cos(s)2
0
0
= cos(s)2 .
1
Also mit U = (0, 2π) × (−π/2, π/2)
Z
2π
Z
π/2
| cos(s)| ds dt = 4π.
µS2 (φ(U )) =
0
−π/2
Dies ist nicht der ganze S2 . Aber sobald wir auf dem ganzen S2 ein Maß definieren können, so wird sich herausstellen, dass der fehlende Längengrad eine
Nullmenge ist.
4.37 Aufgabe: Berechnen Sie die Oberfläche der Einheitskugel mit Hilfe der stereographischen Projektion aus Beispiel 4.3 und Integration mittels Polarkoordinaten.
4.38. Beispiel: Für Kurven φ : (a, b) → Rn ist φ(a, b) eine C1 -Mannigfaltigkeit,
wenn φ stetig differenzierbar mit Ableitung ungleich 0 ist. In diesem Fall erhält
man für die Länge der Kurve L = φ(a, b) und [c, d] ⊂ (a, b) die bekannte Formel
Z
µL (φ[c, d]) =
d
kφ0 (t)k dt.
c
Denn
gram φ(t) = det(hφ0 (t), φ0 (t)i) = kφ0 (t)k2 .
4.39 Satz: Seien φ1 : U1 → Rn und φ2 : U2 → Rn zwei C1 -Parametrisierungen von
M = φ1 (U1 ) = φ2 (U2 ),
U1 , U2 ⊆ Rk offen. Dann gilt
µ1 = µ2 ,
wobei µ1 bzw. µ2 das von den jeweiligen Parametrisierungen erzeugte Maß sei.
Beweis: Wir betrachten die Abbildung φ : U1 → U2 definiert durch
φ(x) = φ−1
2 (φ1 (x)).
Mit Hilfe unserer Erweiterungen φ̃1 und φ̃2 sieht man, dass φ stetig differenzierbar ist. Außerdem gilt
φ2 ◦ φ = φ1 ,
woraus mit y = φ(x)
Dφ2 (y) · Dφ(x) = Dφ1 (x)
folgt, also
DφT · (DφT2 · Dφ2 ) · Dφ = DφT1 Dφ1
192
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Nimmt man die Determinante auf beiden Seiten, so erhält man
p
gram Dφ1 (x)
| det Dφ(x)| = p
gram Dφ2 (y)
Sei nun B ⊆ M messbar. Dann gilt aufgrund der Transformationsformel
Z
p
µ2 (B) =
gram φ2 (x) dλk (x)
φ−1
2 (B)
Z
p
=
gram φ2 (x) dλk (x)
φ(φ−1 (B))
Z
p
=
gram φ2 (φ(x))| det Dφ(x)| dλk (x)
φ−1
1 (B)
Z
=
φ−1
1 (B)
p
gram φ1 (x) dλk (x)
= µ1 (B).
Die beiden Maße sind also gleich.
2
4.40. Beispiel: Bei der Berechnung der Kugeloberfläche haben wir einen kompletten Längengrad ausgelassen. Parametrisiert man nun die Kugeloberfläche
mit einer der erwähnten Parametrisierungen so, dass dieser Längengrad in φ(U )
enthalten ist, so hat er immer das Maß 0. Der obige Satz zeigt, dass dies auch
für alle anderen, möglichen C1 -Parametrisierungen der Fall sein muss.
4.4
Lokale Karten
4.41. Definition: Eine Teilmenge M ⊆ Rn heißt C1 -glatte Mannigfaltigkeit
der Dimension k, wenn es für alle x ∈ M eine offene Umgebung U von x gibt,
so dass M ∩ U eine C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit der Dimension k ist.
4.42. Beispiel: Der Rand der Einheitskugel ∂D1 im Rn ist eine C1 glatte
Mannigfaltigkeit der Dimension n − 1. Denn wir können mittels einer stereographischen Projektion ∂D1 bis auf einen Punkt parametrisieren. Man benötigt also
lediglich zwei solche Parametrisierungen, um für alle Punkte lokal eine Karte zu
erhalten.
4.43. Beispiel: Wenn g : Rn → R stetig differenzierbar ist, und der Gradient
nirgends 0 ist, ist die Niveaumenge
Nc = {x ∈ Rn : g(x) = c}
eine C1 -glatte Mannigfaltigkeit. Dies folgt aus Satz 4.28.
4.44. Beispiel: Der Rand des Einheitswürfels ist keine C1 glatte Mannigfaltigkeit. Er besitzt zum Beispiel in den Punkten x1 = x2 = 1 keine lokale C1 -Karte,
keinen Tangentialraum und keinen Normalenvektor.
4.45. Definition: Wir definieren ein Maß M auf einer C1 -glatten Mannigfaltigkeit auf folgende Art und Weise. Zu jeder Menge A ⊆ M existieren aufgrund
4.4. LOKALE KARTEN
193
der Definition von glatten Mannigfaltigkeiten offene Mengen Ui , i ∈ N, so dass
[
A⊆
Ui ,
i∈N
und so dass Ui ∩ M eine C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit ist, sowie eine
disjunkte Unterteilung
[
A=
Ai
i∈N
von A mit Ai ⊆ Ui für alle i ∈ N. Wir definieren
µM (A) =
∞
X
µUi ∩M (Ai ).
i=1
4.46. Bemerkung: Wir müssen zeigen, dass dieses µM nicht von der willkürlichen Unterteilung von Ai und der Wahl der Ui abhängt. Aber zu zwei abzählbaren Unterteilungen in Mengen Ai ⊆ Ui und Ãi ⊆ Ũi gibt es eine gemeinsame
Unterteilung Bi , i ∈ N, so dass jedes Bi in einem Ak und einem Ãl ist. Es genügt
dazu die Mengen
Ak ∩ Ãl , k, l ∈ N
zu nehmen. Nun muss nun aber gelten
µUk ∩M (Bi ) = µŨl ∩M (Bi ),
da zwei Oberflächenmaße auf Uk ∩ Ũl ∩ M gemäß Satz 4.39 übereinstimmen.
Daraus folgt auf einfache Weise die Gleichheit der Summen.
4.47. Beispiel: Wir haben die Oberfläche der Einheitskugel bis auf einen
Längengrad berechnet. Da dieser Längengrad in einer anderen Parametrisierung
das Maß 0 hat, ist die gesamte Oberfläche damit berechnet.
4.48. Beispiel: Sei φ : [0, 1] → Rn stetig differenzierbar (am Rand nur einseitig
differenzierbar), in (0, 1) injektiv mit
φ0 (0) = φ0 (1),
φ(0) = a = φ(1),
sowie
φ0 (t) 6= 0
für alle t ∈ [0, 1].
Dann ist J = φ[0, 1] eine C1 -glatte Mannigfaltigkeit, die man geschlossene, C1 glatte Jordankurve nennt. Denn aufgrund der Kompaktheit von [, 1 − ] ist
φ−1 stetig auf J \ {a}. Daher ist φ : (0, 1) → Rn eine C1 -Parametrisierung von
J \ {a}. Eine Karte für eine Umgebung von a erhält man durch
(
φ(t),
0 ≤ t ≤ ,
φ̃(t) =
φ(1 + t), − ≤ t < 0,
für t ∈ (−, ), 0 < < 1/2. Für die Länge dieser Kurve gilt
Z
l(J) = µJ (J) =
0
1
kφ0 (t)k dt.
194
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
4.49 Satz: Der Rand ∂Dr (y) der abgeschlossenen Kugel mit Radius r um
y ∈ Rn ist für r > 0 eine C1 -glatte Mannigfaltigkeit der Dimension n − 1. Es
gilt für jede auf Dr (y) integrierbare Funktion
!
Z
Z
Z
r
f=
Dr (y)
f dS
0
dρ.
∂Dρ (y)
Insbesondere gilt für R ≥ 0
d n
λ (Dr (y))
µ(∂DR (y)) =
= Rn−1 µ(∂D1 (y)),
dr
r=R
wobei µ das jeweilige Oberflächenmaß bezeichne.
Beweis: Wir können, zum Beispiel mit der stereographischen Projektion, die
Mannigfaltigkeit ∂D1 (0) bis auf einen Punkt parametrisieren. Sei φ : U → Rn
eine solche Parametrisierung. Dann ist
ψ(x, ρ) = y + ρφ(x)
eine bijektive, stetig differenzierbare Abbildung von U × (0, r) auf Dr (y) bis auf
eine Nullmenge. Es gilt
Dψ(x, ρ) = (ρ
∂
∂
φ(x), . . . , ρ
φ(x), φ(x)).
∂x1
∂xn−1
Da φ(x) die Normale auf ∂Dρ (y) im Punkt x + ρφ(x) ist, steht es senkrecht auf
den partiellen Ableitungen. Also
q
p
| det Dψ(x, ρ)| = det Dψ(x, ρ)T Dψ(x, ρ) = ρn−1 gram φ(x).
Andererseits parametrisiert φρ (x) = y + ρφ(x) für x ∈ U die Mannigfaltigkeit
∂Dρ (y) bis auf einen Punkt, und man berechnet
q
p
gram φρ (x) = ρn−1 gram φ(x).
Insgesamt erhält man mit der Transformationsformel und dem Satz von Fubini
Z
Z r Z
n−1
f=
f (ψ(x, ρ))| det Dψ(x, ρ)| dλ
(x) dρ
Dr (y)
0
Z
U
r
!
Z
=
f dS
0
dρ.
∂Dρ (y)
Durch Differenzieren nach r folgt mit f = 1 mit dem Hauptsatz der Differential
und Integralrechnung
Z
d n
λ (Dr (y))
=
dS = µ(∂DR (y)).
dr
∂DR (y)
r=R
Die letzte Behauptung folgt entweder aus
λn DR (y) = Rn λn (D1 (y))
oder durch direktes Nachrechnen mit der Parametrisierung φr (x).
2
4.5. DER GAUSSSCHE INTEGRALSATZ
4.5
195
Der Gaußsche Integralsatz
4.50. Definition: Sei φ(U ) = M ⊆ Rn eine C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit der Dimension n − 1. Mit Hilfe der Abbildung φ̃−1 , definiert in einer
Umgebung V von φ(x) ∈ M , können wir lokal eine Seite einer Mannigfaltigkeit
als
{w ∈ V : πn ◦ φ̃−1 ≥ 0}
definieren. Dabei ist πn (x) = xn die Projektion auf die n-te Koordinate.
4.51. Bemerkung: Da M lokal in einer Umgebung V von y ∈ M auch als
Nullstellenmenge einer stetig differenzierbaren Funktion h dargestellt werden
kann, können wir die Seite auch durch
{w ∈ V : h(w) ≥ 0}
festlegen. Dies stimmt mit der obigen Definition überein.
4.52. Definition: Ein Kompaktum mit glattem Rand ist eine kompakte
Menge K ⊆ Rn , deren Rand C1 -glatt ist. Als äußere Normale in y ∈ ∂K
bezeichnen wir denjenigen normierten Vektor ν(y), der senkrechte auf der Tangentialebene in y steht, und für den
y + ν(y) ∈
/K
für alle 0 ≥ > 0 gilt mit einem 0 > 0.
4.53. Beispiel: Im Fall k = n − 1 besteht ein Zusammenhang zwischen der
Gramschen Determinanten und dem Kreuzprodukt. Wir erinnern zunächst an
das Kreuzprodukt von n − 1 Vektoren v1 , . . . , vn−1 im Rn . Bezeichne
 T 
v1


M =  ... 
T
vn−1
und Mi die Matrix, bei der aus M die i-te Spalte gestrichen wurde, so definiert
man
w = v1 × . . . × vn−1
durch
wi = (−1)n+i det Mi
für alle i = 1, . . . , n − 1.
Dann steht dieses Kreuzprodukt v1 × . . . × vn−1 auf v1 , . . . , vn senkrecht und
kv1 × . . . × vn−1 k2 = det(v1 , . . . , vn−1 , v1 × . . . × vn−1 ).
Bezeichne M die Matrix auf der rechten Seite, so folgt durch Berechnung von
det(M T M )


hv1 , v1 i
...
hv1 , vn−1 i


..
..
kv1 × . . . × vn−1 k2 = det 

.
.
hvn−1 , v1 i . . . hvn−1 , vn−1 i
196
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Wir erhalten daher für k = n − 1 die alternative Formel
Z
∂
∂
µM (N ) =
k
φ(x) × . . . ×
φ(x)k dλk (x).
∂x
∂x
−1
1
n−1
φ (N )
für messbare Teilmengen N der Mannigfaltigkeit.
4.54. Beispiel: Sei U ⊆ Rn−1 offen und
g:U →R
stetig differenzierbar. Dann ist
φ(x) = (x, g(x))
für x ∈ U eine C1 -Parametrisierung mit partiellen Ableitungen


1
0


..


.
Dφ(x) = 
.
 0

1
∂g/∂x1 . . . ∂g/∂xn−1
Man berechnet

∂φ
∂φ
× ... ×
∂x1
∂xn−1

−∂g/∂x1


..


.
=
.
−∂g/∂xn−1 
1
Also
p
p
gram φ(x) = 1 + k grad φ(x)k2 ,
und


−∂g/∂x1


..
1


.
ν(x) = p


2

1 + kgrad g(x)k
−∂g/∂xn−1 
1
ist die äußere Normale für kompakte Mengen mit Rand M , die unterhalb des
Funktionsgraphen liegen. Für den Fall n = 1 kennt man die Formel als Kurvenlänge des Funktionsgraphen.
4.55. Bemerkung: Aus diesen Übrelegungen folgt, dass die Normale ν(x)
in einer C1 -parametrisierten Mannigfaltigkeit stetig vom x abhängt. Für ein
Kompaktum mit glattem Rand kann man folgern, dass die äußere Normale
stetig vom Punkt abhängt, in dem sie gebildet wird.
4.56. Beispiel: Die Abbildung


cos(t) + cos(t/2)r
φ(r, t) =  sin(t) + cos(t/2)r 
sin(t/2)r
4.5. DER GAUSSSCHE INTEGRALSATZ
197
Abbildung 4.3: Das Möbiusband.
für −1/2 < r < 1/2, 0 ≤ t < 2π ist injektiv und parametrisiert ein Möbiusband (siehe Abbildung 4.3). Diese Menge lässt sich nicht global parametrisieren,
und man kann auch die Normale nicht stetig auf der ganzen Menge auswählen.
4.57 Aufgabe: Sei h : [0, R] → R eine stetig differenzierbare Funktion und g(x) =
h(kxk) für x ∈ R2 . Zeigen Sie für die Oberfläche O des Graphen von g : DR → R
Z
O = 2π
R
r
p
1 + h0 (r)2 dr.
0
Berechnen Sie auf diese Weise erneut die Oberfläche der halben Einheitskugel S2 .
4.58 Satz: (Gaußscher Integralsatz) Sei K ⊆ Rn ein Kompaktum mit C1 glattem Rand M , f : U → Rn stetig differenzierbar, U eine offene Obermenge
von K. Dann gilt
Z
Z
div f dλn =
K
hf, νi dµM .
M
Dabei bezeichnet
div f (x) =
n
X
∂
fi (x)
∂xi
i=1
die sogenannte Divergenz von F .
4.59. Bemerkung: Es ist üblich, dS für das Oberflächenmaß dµM und dV für
das Volumenmaß dλn zu schreiben, also
Z
Z
div f dV =
hf, νi dS.
K
∂K
4.60. Beispiel: Sei F : f → Rn stetig differenzierbar
f (x) = 0
für alle x ∈ ∂K.
198
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Wir werden später sehen, dass es solche Funktionen tatsächlich in großer Zahl
gibt. Dann gilt natürlich
Z
hf, νi dS = 0.
∂K
In der Tat gilt auch
Z
Z
∂
∂
fi dλn =
fi dV
∂x
∂x
n
i
i
K
R
Z
Z
∂
fi dxi dx1 . . . dxi−1 dxi+1 . . . dxn
=
...
R
R ∂xi
= 0,
da die Stammfunktion fi außerhalb eines kompakten Intervalls gleich 0 ist. Als
Z
div f dV = 0.
K
Dies beweist den Gaußschen Integralsatz für Funktionen, deren Träger ganz in
K ◦ liegt.
4.61. Beispiel: Wir zeigen den Satz in einem anderen Spezialfall. Sei M der
glatte Rand des Kompaktums K. Jede C1 -parametrisierte Mannigfaltigkeit M ⊆
Rn der Dimension n − 1 lässt sich lokal in einem Punkt v ∈ M als Graph einer
stetig differenzierbaren Funktion g : U → R, U ⊆ Rn−1 offen, schreiben. Es gibt
also o.B.d.A. eine Umgebung V von v so dass für alle x ∈ U gilt
(x, y) ∈ V ∩ M ⇔ y = g(x).
Es gibt dann außerdem ein Intervall [α, β] ∈ R, so dass g(U ) ⊆ (α, β) ist, und
so dass für alle x ∈ U , y ∈ [α, β] gilt
(x, y) ∈ K ⇔ y ≤ g(x).
f habe nun einen kompakten Träger T in U × (α, β). Wir zeigen nun den Gaußschen Integralsatz für solche Funktionen.
Wegen f = f1 e1 + . . . + fn en genügt es, dies für hi = fi ei zu zeigen. Wir
erinnern daran, dass wir sowohl die Normale, als auch die Gramsche Determinante nach Beispiel 4.54 kennen. Für den Fall i = n folgt nach dem Satz von
Fubini
Z
Z
hhn , νi dµK =
fn νn dµK
M
ZM
=
fn (x, g(x)) dλn−1 (x)
U
!
Z
Z g(x)
∂
=
fn (x, t) dt dx1 . . . dxn
∂xn
U
α
Z
∂
=
fn (x) dλn−1 (x)
∂x
n
K
Z
=
div hn (x) dλn−1 (x).
K
4.5. DER GAUSSSCHE INTEGRALSATZ
199
Für 1 ≤ i ≤ n − 1 und x ∈ U definieren wir
Z y
fi (x, t) dt.
F (x, y) =
α
Es gilt mit Hilfe des Differenzierens unter dem Integral
Z y
∂
∂
∂
F (x, y) = fi (x, y),
F (x, y) =
fi (x, t) dt.
∂y
∂xi
∂x
i
α
Also folgt mit der Kettenregel
∂
∂xi
g(x)
Z
∂
F (x, g(x))
∂xi
Z g(x)
∂
∂
=
fi (x, t) dt + fi (x, g(x))
g(x).
∂xi
∂xi
α
f (x, t) dt =
α
Außerdem zeigt man analog zu dem obigen Beispiel
!
Z g(x)
Z
∂
fi (x, t) dt dλn−1 = 0,
∂x
i
U
α
da die Funktion
g(x)
Z
x 7→
fi (x, t) dt
α
einen kompakten Träger in U hat. Wir erhalten
Z
div hi dλn =
Z
Z
K
U
α
Z
=
!
∂
fi (x, t) dt dλn−1
∂xi
!
Z g(x)
fi (x, t) dt) dλn−1
g(x)
U
∂
∂xi
α
Z
−
fi (x, g(x))
U
∂
g(x) dλn−1
∂xi
Z
hhi , νi dµM .
=
M
4.62. Beispiel: Sei
F (x, y, z) = z
Dann ist
div F (x, y, z) =
∂
∂
∂
F (x, y, z) +
F (x, y, z) +
F (x, y, z) = 1.
∂x
∂y
∂z
Folglich
Z
div F dV = V (K).
K
Wenn K ein Körper ist, der ganz im Wasser mit der Oberfläche z = 0 treibt,
so wirkt auf diesen Körper in der Tiefe z ein Wasserdruck der Größe −cz mit
200
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
einer Konstanten c. Dieser Druck bewirkt auf die Oberfläche in (x, y, z) also
eine Druckkraft cν(x, y, z). Als Auftrieb tritt die z-Komponente
c hF (x, y, z), ν(x, y, z)i
dieser Kraft. Nach dem Gaußschen Integralsatz ist der gesamte Auftrieb also
gleich cV (K).
Beweis: Zum Beweis des Gaußschen Integralsatzes genügt es, f in eine endliche Summe
f = f1 + . . . + fm
zerlegen, so dass auf jede der Funktion fi der Fall aus Beispiel 4.60 oder Beispiel 4.61 zutrifft. Dazu wählen wir zu jedem Punkt x ∈ K eine Umgebung der
Form
n
Y
Ux =
[xi − rx , xi + rx ],
i=1
mir rx > 0, so dass Ux entweder ganz in K ◦ liegt, oder ∂K in einer Umgebung
von Ux der Graph einer Funktion ist. Nun wählen wir auf Ux die Funktion
gx (t) =
n
Y
grx (ti − xi ),
i=1
wobei
(
2
2
e−1/(r −t ) , |t| ≤ r,
gr (t) =
0,
|t| > r,
sei. gx ist dann unendlich oft differenzierbar mit Traäger auf Ux . Es gibt nun
endlich viele Punkte x1 , . . . , xm mit
K⊆
m
[
Ux◦i .
i=1
Wir setzen dann
gxi (x)
.
gx1 (x) + . . . + gxm (x)
Da jeder Punkt x ∈ K im Innern eines Ux◦i liegt, wird der Nenner nie 0, und
wir erhalten
h1 (x) + . . . + hm (x) = 1
hi (x) =
für alle x ∈ K. Die Funktionen hi bilden eine sogenannte Zerlegung der Eins.
Setzt man fi = hi f , so erhält man die gewünschten Funktionen f1 , . . . , fm . 2
4.63 Aufgabe: (1) Sei K ⊆ R2 ein Kompaktum mit glattem Rand, der durch die
geschlossene C1 -glatte Jordankurve γ : (a, b) → R2 parametrisiert werde. Für ein
Vektorfeld f : U → R2 auf einer offenen Obermenge von K nennt man
rot f =
∂f2
∂f1
−
∂x1
∂x2
die Rotation von f . Folgern sie
Z
I
rot f =
K
f
γ
aus dem Gaußschen Integralsatz.
(2) Erklären Sie aufgrund dieser Formel mit einer Zeichnung, warum die Rotation so
heißt.
4.6. HARMONISCHE FUNKTIONEN
4.6
201
Harmonische Funktionen
4.64. Definition: Für eine zweimal stetig differenzierbare Funktion f : U →
R, U ⊆ Rn offen, bezeichnet
∆f (x) =
n
X
∂2
f (x)
∂x2i
i=1
den Laplace-Operator. f heißt in U harmonisch, wenn
∆f (x) = 0
für alle x ∈ U gilt.
4.65 Aufgabe: Sei φ : Rn \ {0} → R zweimal stetig differenzierbar. Zeigen Sie
∆φ(kxk) = φ00 (kxk) + (n − 1)
φ0 (kxk
.
kxk
Zeigen Sie, dass
1
,
kxkn−2
φ(kxk) = log kxk,
>
>
:
|x|,
8
>
>
<
n > 3,
n = 2,
n = 1,
harmonisch sind. Diese Funktion und deren Vielfache sind in der Tat die einzigen
radialen Funktionen die harmonisch sind.
4.66 Aufgabe: (1) Sei
h(r, φ) = g(r cos(φ), r sin(φ))
mit stetig differenenzierbarem g für (r, φ) in einer offenen Menge U ⊆ R2 . Zeigen Sie
grad g(r cos(φ), r sin(φ))
=
„
«
∂h
1
∂h
∂h
1
∂h
cos(φ)
− sin(φ) , sin(φ)
+ cos(φ)
.
∂r
r
∂φ
∂r
r
∂φ
(2) Zeigen Sie mit Hilfe dieser Formel für g(r cos φ, r sin φ) = rn cos(nφ) mit n ∈ N
grad g(r cos φ, r sin φ) = nrn−1 (cos ((n − 1)φ) , − sin ((n − 1)φ)) ,
sowie die entsprechende Formel für g̃(r cos φ, r sin φ) = rn sin(nφ).
(3) Folgern Sie durch erneutes Anwenden des Ergebnisses aus (b) auf die beiden Komponenten des Gradienten, dass die beiden Funktionen g und g̃ aus (b) harmonisch
sind.
(4) Folgern Sie alltemein
∆g(r cos(φ), r sin(φ)) =
1 ∂h
∂2h
1 ∂2h
(r, φ) +
(r, φ) + 2
(r, φ).
2
∂φ
r ∂r
r ∂φ2
4.67. Bemerkung: Es gilt
∆f (x) = div grad f (x).
202
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Es ist in diesem Zusammenhang üblich
grad f (x) = ∇f (x)
zu schreiben. Man erhält für ein Kompaktum mit glattem Rand aus dem Integralsatz
Z
Z
∆f dV =
h∇f, νi dS.
K
∂K
Dabei schreibt man die Richtungsableitung in Richtung ν auch als
h∇f, νi =
∂f
.
∂ν
Dies ist der Zuwachs von f senkrecht zur Oberfläche. Für harmonische Funktionen ist der mittlere Zuwachs auf dem Rand also 0, also
Z
∂f
dS = 0.
∂K ∂ν
4.68 Satz: (Greensche Formel) Sei K ⊆ Rn ein Kompaktum mit C1 glattem Rand, U eine offene Obermenge von K und f, g : U → R zwei zweimal
stetige Funktionen. Dann gilt
Z
Z ∂g
∂f
(f ∆g − g∆f ) dV =
f
−g
dS
∂ν
∂ν
K
∂K
Beweis: Der Beweis folgt aus der Formel
div (f ∇g) = f ∆g + h∇f, ∇gi.
mit der analogen Formel für g∇f folgt
div (f ∇g − g∇f ) = f ∆g − g∆f.
Wegen
∂f
∂g
−g
∂ν
∂ν
folgt die Behauptung aus dem Gaußschen Integralsatz.
hf ∇g − g∇f, νi = f
2
4.69 Satz: Für eine harmonische Funktion f : U → R auf einer offenen
Menge U ⊆ Rn und Dr (y) ⊆ U gilt
Z
1
f dS.
f (y) =
µ(∂Dr (y)) ∂Dr (y)
wobei µ das Oberflächenmaß auf ∂Dr bezeichnet, sowie
Z
1
f (y) = n
f (x) dλn (x).
λ (Dr (y)) Dr (y)
4.6. HARMONISCHE FUNKTIONEN
203
Beweis: Wir wenden den Greenschen Satz auf die harmonischen Funktionen
f (x) und g(x) = φ(x − y) aus Aufgabe 4.65 an. Für K setzen wir
K = Dr (y) − Dρ (y)
für 0 < ρ < r. Der Rand besteht aus den glatten Rändern ∂Dρ (y) und ∂Dr (y).
Aus der Greenschen Formel folgt
Z
∂g
∂f
(f
− g ) dS = 0,
∂ν
∂ν
∂Dρ (y)∩∂Dr (y)
also
Z
Z
∂g
f
dS +
∂ν
∂Dρ (y)
∂g
f
dS =
∂ν
∂Dr (y)
Z
∂f
g
dS +
∂Dρ (y) ∂ν
Z
g
∂Dr (y)
∂f
dS.
∂ν
Dabei bezeichnet ν auf ∂Dr die äußere Normale und auf ∂Dρ die auf dieser
Kugel nach innen zeigende Normale. Nun ist g auf den ∂Dr (y) konstant und f
harmonisch. Also wird die rechte Seite aufgrund der vorigen Bemerkung gleich
0. Es folgt
Z
Z
∂g
∂g
dS = −
f
dS.
f
∂Dr (y) ∂ν
∂Dρ (y) ∂ν
Man berechnet für x ∈ ∂Dr (y)
1
∂g
(x) =
.
∂ν
kx − ykn−1
Für x ∈ Dρ (x) gilt dasselbe mit geändertem Vorzeichen. Also
Z
f
∂Dr (y)
1
∂g
dS = n−1
∂ν
r
Z
f dS.
∂Dr (y)
Andererseits mit der Parametrisierung aus dem Beweis von Satz 4.49
Z
Z
1
∂g
dS = n−1
f dS
−
f
ρ
∂Dρ (y)
∂Dρ (y) ∂ν
Z
p
1
= n−1
f (φρ (x)) gram φr (x) dλn−1 (x)
ρ
U
Z
p
=
f (φρ (x)) gram φ(x) dλn−1 (x).
U
Nun konvergiert die Funktion f (φρ (x)) für ρ → 0 gleichmäßig gegen f (y). Man
erhält daher
Z
∂g
−
f
dS → f (y)µ(∂D1 (y)).
∂ν
∂Dρ (y)
Insgesamt
f (y)µ(∂D1 (y)) =
1
rn−1
Z
f dS.
∂Dr (y)
204
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
Wegen µ(∂Dr (y)) = rn−1 µ(∂D1 (y)) nach Satz 4.49 folgt die Behauptung. Aufgrund desselben Satzes erhalten wir
!
Z
Z
Z
r
f (x) dλn =
Dr (y))
f dS
0
Z
dr
∂Dr (y)
r
µ(∂Dr (y)) dr
= f (y)
0
n
= f (y)λ (Dr (y)).
Falls f ein lokales Minimum in y ∈ U hat, so folgt, dass f lokal um y konstant
2
ist.
4.70 Satz: Eine nicht konstante harmonische Funktion auf einer zusammenhängenden offenen Menge U ⊆ Rn hat in U kein globales Maximum und
kein globales Minimum.
Beweis: Angenommen in x0 ∈ U liege ein globales Maximum der harmonischen Funktion h : U → R. Sei
M = {x ∈ U : h(x) = x0 }.
Dann ist U \ M offen, da h stetig ist. Diese Menge ist nicht leer, weil M nicht
konstant ist. Aus der Mittelwerteigenschaft von harmonischen Funktionen folgt
aber, dass auch M offen ist. Denn jede Kugel um ein x ∈ M , die Teilmenge von
U ist, muss ganz in M liegen. M und U \ M würde aber U zerlegen, was nicht
möglich ist.
2
4.71. Bemerkung: Also ist eine harmonische Funktion, die in x0 ∈ U ein
lokales Minimum oder Maximum hat, auf der Zusammenhangskomponenten von
x0 konstant.
4.7
Stückweise glatte Mannigfaltigkeiten
4.72. Definition: Um noch allgemeinere Oberflächen mit Maßen versehen zu
können, nehmen wir an dass wir abzählbar viele C1 -glatten Mannigfaltigkeiten
φi (Ui ) = Mi , i ∈ N der Dimension k haben, und
[
M⊆
φi (Ai ),
i∈N
wobei Ai ⊂ Ui abgeschlossene Mengen sind, deren Rand eine Nullmenge ist,
so dass die Mengen φi (A◦i ) paarweise disjunkt sind. Dann definieren wir für
messbares A ⊆ M
X
µM (A) =
µMi (Mi ∩ A).
i∈N
Wir nennen eine solche Menge stückweise C1 -glatte Mannigfaltigkeit.
4.73. Bemerkung: Es ist nicht ganz einfach zu zeigen, dass diese Definition
nicht von der Wahl der Mi abhängt. Dazu benötigt man, dass eine Nullmenge
4.7. STÜCKWEISE GLATTE MANNIGFALTIGKEITEN
205
in einer C1 -glatten Mannigfaltigkeit in jeder C1 -glatten Mannigfaltigkeit, in der
sie enthalten ist, Nullmenge ist. Der Rest des Abschnittes ist der Klärung dieser
Frage gewidmet.
4.74. Definition: Man definiert für A ⊆ Rn
n
X
S
Hηs (A) = inf{
diam(Ai )s : A ⊆ i∈N Ai , diam(Ai ) < η für alle i ∈ N},
i=1
wobei diam(Ai ) die Durchmesser der Mengen Ai seien. Dann nennt man
H s (A) = lim Hηs (A)
η→0
das s-dimensionale Hausdorff-Maß von A. Man definiert die HausdorffDimension einer Teilmenge A ⊆ Rn als
dim A = inf{s > 0 : H s (A) = 0}.
4.75. Beispiel: Im Fall s = n ist Hs bis auf eine Konstante gleich dem äußerem
Maß
µ∗ (A) = inf{
n
X
µ(Qi ) : A ⊆
S
i∈N
Qi , Qi halboffener Quader}.
i=1
Dazu zeigt man zunächst, dass sich dieses äußere Maß nicht ändert, wenn zusätzlich diam(Qi ) < η für alle i ∈ N gefordert wird, und wenn die Quader Qi von
der Form
Qi = [x1 , x1 + h) × . . . × [xn , xn + h)
sein sollen, also Quadrate im Fall n = 2 bzw. Würfel im Fall n = 3 sind. Für
solche Quader gilt
n
diam(Qi )
√
= cn diam(Qi )n
µ(Qi ) =
n
mit der gesuchten Konstanten cn > 0.
4.76 Aufgabe: Zeigen Sie dass Hηs σ-subadditiv ist.
4.77 Satz: Sei φ : U → Rn stetig differenzierbar, U ⊆ Rn offen. Dann gilt
für alle A ⊆ U und s > 0
H s (A) = 0 ⇒ H s (φ(A)) = 0.
Falls Dφ(x) in jedem Punkt x ∈ U regulär ist, so gilt auch die umgekehrte
Implikation.
Beweis: Sei zunächst A beschränkt. Sei H s (A) = 0 und > 0. Man findet
dann ein η > 0, so dass für
K = closure {x ∈ Rn : d(x, A) < η} ⊆ U.
206
KAPITEL 4. OBERFLÄCHENINTEGRALE
und Hηs (A) < . Da Dφ auf der kompakten Menge K stetig ist, gibt es eine
Konstante c > 0 mit
d(φ(B)) ≤ cd(B)
für alle B ⊆ K. Es folgt nun leicht
s
Hcη
(φ(A)) ≤ cs ,
also insgesamt H s (φ(A)) = 0.
Wenn A unbeschränkt ist, so betrachten wir An = A ∩ Dn (0) und wenden
2
die σ-Additivität an.
4.78 Satz: Sei φ : U → Rn eine C1 -Parametrisierung von M = φ(U ), U ⊆
Rn offen. Dann ist N ⊆ M genau dann eine Nullmenge, wenn H k (N ) = 0 ist.
Beweis: Wir nehmen zunächst an, dass N ⊆ K ◦ für eine kompakte Menge
K ⊆ U ist, und dass unsere Erweiterung φ̃ auf ganz K existiert. Dann folgt aus
dem vorigen Satz die Behauptung.
Für allgemeines N beachten wir, dass U abzählbare Vereinigung von offenen,
beschränkten Mengen ist, auf denen φ̃ global definierbar ist. Zerlegt man N
entsprechend in abzählbar viele Teile, so folgt dass φ(N ) abzählbare Vereinigung
von Nullmengen ist, also selbst Nullmenge. Auf die gleiche Weise zeigt man, dass
2
N Nullmenge ist, falls φ(N ) Nullmenge ist.
4.79. Bemerkung: Aus dem Satz folgt, dass eine Nullmenge N , die in einer
k-dimensionalen C1 -parametrisierten Mannigfaltigkeit liegt, auch Nullmenge in
jeder anderen k-dimensionalen C1 -parametrisierten Mannigfaltigkeit ist, in der
sie liegt.
Index
C 1 -Diffeomorphismus, 121
∩-stabil, 66
µ-Nullmenge, 94
µ-fast überall, 94
µ-stetig, 104
σ-Additivität, 70
σ-Algebra, 66
σ-additiv, 62
σ-endlich, 77
σ-subadditiv, 73
Überdeckung, 21
äquivalente Normen, 35
äußere Normale, 195
äußeres Maß, 74
Divergenz, 197
Durchmesser, 99
Dynkin-System, 68
abgeschlossene Menge, 12
Abschluss einer Menge, 12
absolut konvergent, 30
Abstand, 18
Algebra, 65
Algebra der halboffenen Quader, 67
Anfangswert, 141
Anfangswertproblem, 141
Ansatz vom Typ der rechten Seite, 161
Approximationssatz, 133
Banachraum, 29
Begleitmatrix, 157
Bildmaß, 120
Borelmengen, 69
Cantorsche Menge, 52
Cauchy-Folge, 29
Cauchy-Streckenzug, 151
Defekt, 175
Dichte, 102
Differentialgleichung n-ter Ordnung, 146
Dimension, 182
disjunkte Vereinigungen, 14
disjunkte Verfeinerung, 85
diskrete Metrik, 11
einfach, 183
einfach zusammenhängend, 170
einfache Funktion, 84
Einheitssphäre, 48
Einschränkung, 93
elementare Treppenfunktion, 57
Elementarinhalt, 56
Endpunkte, 183
erweiterte Zahlachse, 20
erzeugte σ-Algebra, 67
erzeugte Topologie, 49
Euklidsche Metrik, 10
Euklidsche Norm, 10
Eulerscher Streckenzug, 151
exakte Differentialgleichung, 174
Exponentialfunktion für Matrizen, 152
Faltung, 137
folgenkompakt, 28
folgenstetig, 27
Fortsetzungssatz von Tietze, 32
Fundamentalsystem, 159
Gammafunktion, 104
Gaußsche Normalverteilung, 103
gewöhnliche Differentialgleichung, 141
gleichmäßig, 31
gleichmäßig stetig, 26
Gramsche Determinante, 190
Grenzwert, 19
Grenzwert der Folge, 27
große Umordnunssatz, 118
Guldinsche Regel, 126
Häufungspunkt, 27
Höldersche Ungleichung, 130
halboffenen Quader, 56
harmonisch, 201
207
208
Hauptwert, 54
Hausdorff-Dimension, 205
Hausdorff-Maß, 205
Hilbertraum, 29
homogen, 152
homotop, 170
implizite Nullmengen, 124
Indikatorfunktion, 38
Inhalt eines halboffenen Quaders, 57
Inklusion, 94
Integral einer Treppenfunktion, 57
Jensensche Ungleichung, 128
Jordan-Nullmengen, 101
Jordankurve, 183
Jordanscher Kurvensatz, 48
Karte, 182
ko-endliche Topologie, 49
Kompaktum mit glattem Rand, 195
Komponenten, 16
konjugierter Exponent, 129
konservative Vektorfelder, 173
konvexe Funktion, 43
konvexe Hülle, 43
konvexe Menge, 43
Konvexkombination, 43
Kreuzprodukt, 195
Kugelkoordinaten, 125
Kurvenbogen, 183
Laplace, 201
Lebesgue-integrierbar, 91
Lebesgue-Maß, 78
Lebesgue-Nullmengen, 95
Lemma von Fatou, 90
Limes Inferior, 38
Limes Superior, 38
linearer Operator, 54
Lipschitzbedingung, 146
logarithmisch konvex, 131
lokale Lipschitzbedingung, 147
lokale Stammfunktion, 169
Möbiusband, 197
Maß, 70
Maßerweiterungssatz, 74
Maßraum, 70
majorisierte Konvergenz, 92
Mannigfaltigkeit, 182
INDEX
maximale Lösung, 150
messbar, 66
messbare Mengen, 70
Messraum, 66
Metrik, 10
metrischen Raum, 10
Minkowskische Ungleichung, 130
monotoner Operator, 54
Niveau-Mengen, 18
Norm, 10
normiertes Zählmaß, 72
nullhomotop, 170
Oberfunktion, 177
oberhalb stetig, 39
offene Innere, 12
offene Menge, 11
Operatornorm, 33
Ordnung, 141
orthographische Projektion, 181
parameterabhängige Integrale, 104
partielle Differentialgleichung, 141
Picard-Iteration, 149
Polarkoordinaten, 123
Potenzreihenmethode, 151
Prämaß, 70
Prinzip von Cavalleri, 109
Produktmaß, 107
punktweise, 31
Rand, 12
Relativtopologie, 15
Riemann-messbar, 101
Riemannsche Zwischensumme, 99
Rotationskörper, 113
Satz von der monotonen Konvergenz,
88
Satz von Fubini, 55
Satz von Heine-Borel, 23
Satz von Radon-Nikodym, 103
Schwarzsche Ungleichung, 130
Schwarzsches Lemma, 10
Schwingungsgleichung, 142
Seite, 195
Separatorfunktion, 175
stückweise C1 -glatte Mannigfaltigkeit,
204
Stammfunktion, 164
INDEX
stereographische Projektion, 181
stetig, 15
stetig in einem Punkt, 15
stetige Ergänzung, 19
Stetigkeitsmodul, 138
Sub-Additivität, 59
summierbar, 91
symmetrische Differenz, 134
System linearer Differentialgleichungen,
152
System von Differentialgleichungen, 144
Topologie, 48
topologischer Raum, 49
Transformationssatz, 119
Trennung der Variablen, 143
Treppenfunktion, 57
Umgebung, 11
uneigentliche Grenzwerte, 20
Unterfunktion, 177
unterhalb stetig, 39
Variation der Konstanten, 160
Vektorfeld, 164
Vervollständigung, 30, 95
vollständig, 29
Wahrscheinlichkeitsmaß, 71
Wallissches Produkt, 111
Weg, 47, 183
weg-zusammenhängend, 47
Wegintegral, 165
winkeltreu, 187
Wronski, 162
Zählmaß, 71, 118
Zeilensummennorm, 36
Zerlegung der Eins, 200
zusammenhängend, 46
Zusammenhangskomponente, 48
Zylinderkoordinaten, 126
209
Zugehörige Unterlagen
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